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Summer of '99

Die Herren des Todes
von

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Der Raum der Wünsche

Als Albus zur Großen Treppe gelangte, gab er jeden Versuch auf, weiter im Verborgenen zu bleiben. Obgleich die Sonne mittlerweile untergegangen war und das gewaltige Treppenhaus nun ganz im flackernden Licht vereinzelter Kerzenleuchter lag, war er sich dennoch der vielen tausend Gemälde bewusst, die mit wachsamen Augen die Wände der großen Treppe säumten.

Gellerts Rabengestalt zog nervös über ihm seine Kreise, doch Albus spürte keine Sorge in sich. Dies war so viele Jahre sein Zuhause gewesen, und er wollte sehen, ob es ihm nicht mit der gleichen Euphorie begegnete, die er seit heute Nachmittag beim ersten Anblick des Schlosses verspürte.

Mit einem Lächeln auf den Lippen trat er ins Licht.

Augenblicklich begann ein Tuscheln der Portraits in seiner Nähe, doch er schritt voran, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.

„Guten Abend, Mrs. Burke, Mr. Gagwilde“, grüßte er zwei ehemalige Schulleiter mit Spitzhut, die ihm vom zweiten Stock aus verblüfft entgegenblickten. So fuhr er fort mit jedem Bild, das er erkannte, und schon bald erhob sich ein andächtiges Murmeln in den Reihen der Portraits. Mit jedem Stockwerk, das er erklomm, und jeder Biegung, die er nahm, blickte er in weitere vertraute Gesichter, und sie alle, Hexen wie Zauberer, jung und alt, lächelten und nickten ihm zu.

Im allgemeinen Staunen, das er erzeugte, bemerkte niemand den Raben, der mit schnellen Flügelschlägen aufsteigende Kreise zog. Umso überraschter war Albus, als er plötzlich auf Höhe des sechsten Stocks von zwei Vogelkrallen an der Kapuze gezogen wurde.

„Was tust du?“, rief er. Der Rabe krächzte alarmierend und verschwand dann mit ein paar Flügelschlägen in den Schatten unter der nächsten Treppe. Albus blickte erschrocken in die Richtung, aus der er gekommen war, und erkannte schnell den Grund für seine Aufregung: Auf dem Treppenabsatz, der hinauf zum siebten Stock führte, schwebte ein Geist. Es war der Fast Kopflose Nick.

„Sir Nicolas!“, rief er und eilte erfreut die letzten Stufen hinauf. Der Hausgeist von Gryffindor begrüßte ihn, indem er seinen fast abgetrennten Kopf lüpfte wie einen Hut. Albus verbeugte sich leicht.

„Der junge Mr. Dumbledore!“, rief Nick erfreut. „Ich hatte mich gefragt, was die Portraits so in Aufruhr gebracht hat. Dachte, der Zaubereiminister persönlich müsste jeden Moment heraufkommen. Aber es sind Sie!“

„Ja … nur ich“, sagte Albus verlegen. Ein Rabenkrächzen ertönte von weiter oben.

„Entschuldigen Sie“, meinte Albus zum Fast Kopflosen Nick, „ich nutze ein neues Botensystem aus Deutschland“ – erneutes Krächzen – „oder Österreich! Ha, das weiß man ja nie so richtig, nicht wahr?“

Er ging langsam an Nick vorbei, um dem Ruf des Raben zu folgen.

„Oh, nehmen Sie sich in Acht vor den Bräuchen deutscher Zauberer! Raben sind heimtückisch. Man munkelt, nur die schwarzmagischen Alchemisten des Kaisers können sie kontrollieren.“

„Der hier … scheint mir ganz gut geraten, aber danke“, sagte Albus und setzte einen Fuß auf die Stufen der nächsten Treppe.

„Ich muss weiter, Sir, es tut mir leid. Der Rabe erinnert mich an meinen Termin mit Professor Black.“

„Ach, der Schulleiter erwartet Sie, mein junger Herr? Sehr gut, sehr gut. Wissen Sie … wir vermissen Sie hier alle ganz schrecklich. Hogwarts hatte nie einen bemerkenswerteren Schüler.“

Albus warf einen Blick auf die namhaften Portraits ringsum. „Ich vermisse das hier auch alles sehr, Sir.“

Er verbeugte sich zum Abschied und eilte weiter. Nick blieb auf der Treppe zurück und schwebte schließlich abwärts.

Zum Glück hat er nicht darauf bestanden, mich zu begleiten, dachte Albus, denn seine Lüge wäre spätestens an der nächsten Abzweigung aufgeflogen: Zu seinem Ziel musste er in den Ostflügel des Stockwerks, weit entfernt vom Büro des Schulleiters.

Der Rabe hockte auf einem Vorsprung am Seiteneingang des siebten Stocks. Den Kopf demonstrativ unter den rechten Flügel gesteckt, als sei er während des Gesprächs zwischen Albus und dem Fast Kopflosen Nick vor Langeweile eingeschlafen. Albus murmelte „Ventus!“ und schubste ihn mit einem Windstoß vom Vorsprung hinunter. Der Rabe krächzte empört und flog dicht an Albus’ Kopf vorbei in den Seiten Eingang, wobei er ihm das Haar mit einem Schlag seiner Schwingen zerzauste. Albus lachte und folgte ihm.

Er kam in einen langen Gang mit hohem, prächtigem Bogengewölbe aus weißem Marmor. Hier brannten keine Kerzen, und so fiel nur das bläuliche Mondlicht durch die hohen Fenster. Seine Schritte hallten auf dem blanken Boden, als er dem Weg um eine Biegung folgte. An einer Seite des Ganges sah er den großen Wandteppich von Barnabas dem Bekloppten beim Versuch, einer Gruppe Trolle das Balletttanzen beizubringen. Beinahe gegenüber, im Schatten einer steinernen Säule, lehnte Gellert, wieder in seiner normalen Gestalt. Er schien sich imaginären Staub vom Ärmel seines Umhangs zu klopfen und blickte zu Boden. Sein Stiefelabsatz kratzte über den Marmor.

„Mich ham’s von der Schule suspendiert. Und dir hoffieren’s hier, als wärst du ein Kaiser, oder was?“

Albus zuckte die Schultern. „Wir haben eben beide ein Mal an unserer Schule hinterlassen.“

Sein Interesse galt der Wand neben Gellert. Für das bloße Auge war dort nichts anderes zu sehen als das blanke unscheinbare Mauerwerk, aber er wusste, dass dieser Schein trog. Also ordnete er seine Gedanken und ging dann mit zügigen Schritten dreimal vor der Wand auf und ab.

Gellert musterte ihn mit hochgezogener Augenbraue. „Dein Mal, das du hinterlassen hast. Besteht das aus Selbstgefälligkeit?“

Albus blieb stehen und starrte die Wand erwartungsvoll an, doch nichts passierte. Er versuchte seine Enttäuschung darüber zu beherrschen. Was hatte er falsch gemacht? War sein Wunsch nicht stark genug gewesen?

„Ich bin nicht selbstgefällig“, murmelte er.

„Na, Bescheidenheit sieht jedenfalls anders aus“, stichelte Gellert weiter.

Albus kam eine Idee. Zu Gellerts Verwunderung fuhr Albus plötzlich zu ihm herum, stützte die Hand neben seinem Kopf an die Wand und drängte sich dicht an ihn heran. Fast flüsternd, aber energisch sagte Albus: „Wenn wir losziehen, um die Revolution zu beginnen, wirst du mich weit öfter von dieser Seite sehen. Tu nicht so – ich weiß, dir gefällt das!“

Er packte Gellert im Nacken und küsste ihn stürmisch. Gleichzeitig setzte er seine andere Hand an den schwarzen Hemdkragen seines Freundes und beeilte sich, die obersten Knöpfe zu öffnen. Gellert keuchte überrascht, als Albus begann, Küsse an seinem freigelegten Hals hinab zu verteilen.

„Albus … Al – Was zum – ?“ Sein Blick ging hinüber zum Wandteppich, aus dem sie verwirrte Blicke beobachteten, und er versuchte, Albus wegzudrücken. Neckische Küsse hinter seinem Ohr ließen seinen Widerstand allerdings im Keim ersticken. „Hast du nicht gesagt, hier gibt’s irgendwo ein’ Raum?“

In diesem Moment war neben ihnen ein Knirschen zu vernehmen. Es hörte sich an, als bröckelte Beton auseinander. Ein lautes einrastendes Geräusch folgte und hallte von den Wänden wider.

Albus ließ abrupt von Gellert ab und drehte sich zu der Wand neben ihnen. Im eben noch blanken Stein war eine Tür erschienen, eine große massive Holztür.

„Gut gemacht!“, rief er begeistert und klopfte Gellert auf die Schulter. Dann berührte er das massive Holz der Tür und dachte einen Moment belustigt an das erste Mal, als er sie gefunden hatte – tatsächlich auf der dringenden Suche nach einer Toilette. Später hatte er immer wieder turtelnde Pärchen in Richtung dieses abgelegenen Ganges verschwinden sehen und sie nicht mehr gefunden, wenn er ihnen wegen Zurechtweisungen im Hinblick auf die Hausordnung folgte. Er wollte diese ungewöhnliche Geschichte seinem Begleiter mitteilen, doch als er sich zu Gellert drehte, musste er bei dessen Anblick stattdessen laut loslachen. „Du müsstest dein Gesicht sehen!“

Gellert lehnte schnaubend an der Wand und blickte ihn fassungslos an.

„Du kannst doch nicht einfach – du – was war das für ein – ?“

„Ein Trick“, sagte Albus. „Das hier ist die Tür zum Raum der Wünsche. Sie war nicht zu sehen, als wir ankamen … der Raum zeigt sich nämlich nur, wenn ihn jemand wirklich braucht, verstehst du? Zum Beispiel als Versteck für … alles Mögliche … also hab’ ich diesen Bedarf erzeugt.“

Gellert richtete sich auf, bemüht, wieder seine Fassung zu gewinnen. Mit einem säuerlichen Lächeln sagte er: „Wie wär’s noch mit ein wen’g Veritaserum? Dann schlägst’ Travers auf sei’m eig’nen Spezialgebiet.“

Albus behagte der Gedanke nicht. War ihm das Wohlwollen der Portraits auf der Großen Treppe so zu Kopf gestiegen, dass er sich zu diesem Manöver berechtigt gefühlt hatte?

Gellert schien es ihm jedoch nicht allzu krumm zu nehmen. Er seufzte und rückte sich mit ein paar flinken Handgriffen den Kragen zurecht. „Schad’, zu schad’. Das wär’ ein nettes Schäferstündchen g’worden.“

„Was hinter dieser Tür wartet, ist wichtiger“, versicherte Albus. „Das heißt … wenn wir den richtigen Raum gerufen haben. Einen Ort, wo man etwas verstecken könnte, das einem sehr wichtig ist. Wenn ich nur wüsste, ob es geklappt hat!“

Gellert lächelte. Er schob Albus beiseite und stellte sich dann vor die Tür, wobei er seine rechte Hand auf das Holz legte. Im nächsten Moment begann sein rechtes Auge gleißend hell zu leuchten, und gleichzeitig erhob sich ein Sirren in der Luft. Gellert stieß einen rasselnden Atemzug aus, und einen Moment schien er in Trance zu verharren, dann löste er abrupt seine Hand und drehte sich zu Albus um. „Na da hamma doch den Raum, den du suchst.“

„Kannst du etwa durch die Tür sehen?“

„Wundert’s dich?“

„Eigentlich nicht. Du bist ein Genie, wenn du willst, Gellert Grindelwald“, sagte Albus und musste sich in diesem Moment eingestehen, wie attraktiv diese brillante Seite an Gellert war.

Der lächelte geschmeichelt und zeigte mit einer angedeuteten Verbeugung auf die Tür: „Nun, die Ehre gebührt Ihnen, mein werter Herr Dumbledore. Ein’ Art Geburtstags-Vorrecht – oder wie ma’ bei mir daheim sagt: Alter vor Schönheit.“

Albus trat vor und umfasste den Türknauf. Er atmete tief durch, dann drehte er den Riegel und drückte fest gegen das Holz. Die Tür schwang wie von magischen Seilen gezogen nach innen auf und gab den Blick auf einen Raum von unschätzbarer Größe frei. Albus trat ein und konnte ein erstauntes Keuchen nicht unterdrücken. Vor ihm erstreckte sich eine wahre Schatzkammer: magische Artefakte, antike Möbel, golden eingerahmte Bücher und prächtiger Schmuck verschiedenster Epochen türmten sich bis in schwindelerregende Höhen auf. Er erkannte die Wappen der Gründerväter von Hogwarts und die Zeichen namhafter Zaubererfamilien, er hörte das leise Wispern verfluchter Kleinode und blickte in die unergründlichen Augen altehrwürdiger Magier-Portraits. Gellert trat nun hinter ihm ein und mit einem lauten hallenden Klang fiel die Tür wieder ins Schloss.

„Einmalig“, sagte Gellert. Sein Blick flackerte zwischen den abertausenden Gegenständen hin und her, wobei sein rechtes Auge aufleuchtete. „Hier gibt’s ein paar gewaltig düst’re Zauber …“ Wie auf ein geheimes Kommando hin eilte er im nächsten Moment los zu einem antiken Tisch, auf dem eine silberne Schmuckvitrine stand.

Albus setzte sich ebenfalls in Bewegung, allerdings hielt er weiter auf das Zentrum des Raumes zu, einem sehnsüchtigen Impuls folgend. Er hoffte inständig, dass es der Spiegel war, von dem Elphias geschrieben hatte … aber wer konnte schon wissen, was in diesem Raum so dringlich nach seiner Aufmerksamkeit verlangte?

„Ich glaub’, ich werd’ narrisch!“, hörte er Gellert hinter sich. „Hier gibt’s eine ganze Schale voll mit Zeitumkehrern! Nicht so ein langweiliges Klump wie mein Sextant, mit denen hier kamma wirklich in der Zeit zurückreisen!“

„Na, dann nimm dir einen“, sagte Albus knapp. Seine Nervosität war merklich angestiegen, denn er hatte hinter einer Sammlung antiker Wanduhren ein großes, spitz zulaufendes Objekt erspäht.

„Schön wär’s“, tönte Gellerts Stimme von weiter hinten. „Wenn ich die anrühr’, verseng’ ich mir im besten Fall die Hand. Wahrscheinlicher zerreißt’s mich in tausend Stücke.“

Albus hörte ihn einige unverständliche Flüche ausstoßen, doch er selbst hatte im Moment nichts für Gellerts Problem übrig. Ein dunkler Stoff verhüllte das gut zweieinhalb Meter hohe Objekt, vor dem er nur stand. Hinter dieser Abdeckung konnte sich alles möglich verbergen, ein großes Gemälde etwa oder eine ausgehängte Tür, aber er fühlte an seinem Herzklopfen, dass dem nicht so war. Er hatte gefunden, worum er draußen im Gang vor dem Raum der Wünsche gebeten hatte.

Vorsichtig ergriff er mit der einen Hand den Stoff, machte dann einen Schritt zurück und zog ihn herunter. Staub von vielen Jahrzehnten rieselte herab und wirbelte erneut empor, als der Stoff auf dem Boden landete. Albus zog sich den Umhangkragen über die Nase und schielte mit zusammengekniffenen Augen auf das freigelegte Objekt. Es war ein großer, sehr alter Spiegel mit goldenen Verzierungen und einer Inschrift, die spiegelverkehrt verkündete:

Nicht dein Antlitz aber dein Herz begehren.

„Gellert!“, rief Albus mit zittriger Stimme, während er gebannt auf die Inschrift starrte und das letzte Wort des gespiegelten Satzes – Nerhegeb – fixierte. Er hörte die Schritte seines Freundes näherkommen und wollte auf ihn warten – doch er konnte es nicht. Zu groß waren die Neugier und die Anziehung, die von diesem Glas ausging. Mit rasendem Herzklopfen trat er direkt vor den Spiegel und sah hinein.

Gellert beeilte sich, dem Ruf zu folgen, denn etwas in Albus’ Stimme hatte ihm nicht gefallen. Doch der Weg zwischen großen Truhen und übereinander gestapelten Büchertürmen war schwer im Laufschritt zu bewältigen. Als er endlich zu der Stelle mit den Wanduhren gelangte und sich an ihnen vorbeizwängte, bot sich ihm ein überraschender Anblick: Albus stand vor dem großen Spiegel und starrte sein eigenes Bild darin so sehnsüchtig an, als wolle er am liebsten damit verschmelzen.

„Hast du nicht g’sagt, du bist nicht selbstgefällig?“, fragte Gellert verwirrt, als er neben ihn trat.

Albus wollte ihm nur zu gerne antworten, doch er konnte es nicht. Seine Lippen zitterten und stumme Tränen liefen ihm über die Wangen. Dort hinter seinem Spiegel-Ich standen sein Vater Percival und seine Mutter Kendra. Beide waren unversehrt und lächelten ihm voller Liebe zu. Percival, der Albus’ fassungslosen Blick bemerkte, streckte eine Hand aus, und zerzauste ihm neckisch das Haar. Albus lachte unter Tränen auf, denn er konnte die Berührung beinahe spüren. Neben seinem Spiegel-Ich stand Aberforth, der sich grinsend an seinem Arm eingehakt hatte und auf ihren beiden Schultern saß Ariana. Sie lachte und hielt einen Zauberstab in den Händen, aus dem sie goldene Funken sprühen ließ.

Aber das war noch nicht alles.

„Albus …?“, fragte Gellert ehrlich besorgt. Als er ihn vorsichtig am Arm berührte, zuckte Albus heftig zusammen. Wie aus einem Traum erwachend flüsterte er: „Das hier … ist der Spiegel Nerhegeb. Er zeigt das, was sich unser Herz am meisten wünscht.“

„Und … was siehst du drin? Socken?“

„Meine Eltern“, sagte Albus mit zitternder Stimme. „Aberforth, der mich nicht hasst, und Riri, die zaubert und … dich.“

„Mich? Was tu’ ich denn da?“

„N-nichts. Du hältst meine Hand … und meine Mum klopft dir auf die Schulter.“

Albus konnte es nicht länger ertragen. Er riss sich von seinem Spiegelbild los, und starrte zu Boden. Benommen vor innerem Schmerz ballte er die Hände zu Fäusten und versuchte vergeblich, seine Emotionen zu bändigen, doch die Tränen strömten unkontrolliert weiter.

Meine Schuld … es ist alles meine Schuld!

Plötzlich spürte er, wie sich Hände um seine Schultern legten und ihn in eine behutsame, aber doch feste Umarmung zogen. Albus krallte sich in den Stoff des schwarzen Umhangs. „Gellert …“, stammelte er und vergrub das Gesicht an dessen Schulter. Im nächsten Moment hörte er die schwingende Stimme in seinem Kopf.

„‘s ist nicht deine Schuld, hörst’ mich? Du bist der beste Sohn, den sie haben könnten. Ich wett’, sie wären stolz auf dich.“

Albus nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. „Meine Eltern sind tot.“

„Ich weiß … ich weiß“, sagte Gellert nun wieder laut und strich ihm über die Schultern. „Aber deine G’schwister hast du noch! Und mich ... und ich geh’ so schnell nicht weg, das sag’ ich dir. Warum stellst mich den beiden nicht einfach vor – na passen wir zusammen auf sie auf!“

Albus löste die Umarmung und sah ihn mit großen Augen an. „Ich dachte nicht, dass dich solche Familiendinge interessieren.“

Gellert ergriff seine Hand: „Weißt, das … lässt sich schon einrichten.“

Albus fühlte unendliche Dankbarkeit in sich aufsteigen, und langsam, ganz langsam versiegte der Schmerz, der ihn gepackt hatte. Er drückte Gellerts Hand und blickte in den Spiegel, um das Lächeln seiner Geschwister noch einmal zu sehen, doch das Bild hatte sich verändert. „Das ist doch nicht möglich!“, rief er.

Gellert folgte seinem Blick und sog überrascht den Atem ein. Ihre beiden Spiegelungen standen Hand in Hand vor ihnen, doch beide waren kaum wiederzuerkennen, denn sie mochten gut 50 Jahre älter sein, als sie es zum gegenwärtigen Zeitpunkt waren.

Eine Schar von Menschen, darunter viele Kinder, folgte ihnen mit strahlenden Gesichtern, während sie mit erleuchteten Zauberstäben voranschritten.

„Wir haben sie befreit“, flüsterte Gellert. „Alle. Faust im Himmel, das da hinten ist mein Vater!“

Hinter dem Tross aus Menschen ragten zwei hohe Bauten in den Himmel. Das rechte war unverkennbar Hogwarts, aber das linke … weiß und schlank ragte es zwischen hohen schneebedeckten Bergkuppen auf. Prächtig, einsam und stolz.

„Vielleicht auch eine Schule?“, fragte Albus.

„Stell dir das mal vor!“, sagte Gellert tief bewegt. „Wenn’s eine Schule wie Hogwarts in Österreich gäb’, wo alle Kinder Zauberei lernen könnten, ohne vor ein’m Tyrannen buckeln zu müssen …“

„Unglaublich, dass wir das hier sehen – ich meine, wir beide!“, sagte Albus und begann, in wilder Aufregung auf und ab zu gehen. „Das heißt, dass wir beide genau das Gleiche wollen, Gellert! Ich wollte wissen, ob wir bei unserer Sache die gleichen Ziele verfolgen, aber das hier, das hätte ich mir nie erträumen lassen. Das hier – “

Er brach ab, als ihm klar wurde, dass er Gellerts Hand losgelassen hatte. Stattdessen stand der nun allein vor dem Spiegel, und als Albus sich zu ihm wandte, erschrak er. Gellerts Gesicht, das er in der Spiegelung sehen konnte, hatte einen hungrigen fremden Ausdruck angenommen. Nicht sehnsüchtig, sondern fordernd, als habe er im Inneren des Spiegels etwas erkannt, was dazu bestimmt war, ihm zu gehören. Er streckte impulsiv eine Hand aus und berührte das Glas, wobei sein weißes Auge aufglühte.

„Gel, was siehst du?“, fragte Albus vorsichtig.

„Perfektion“, sagte Gellert. „Ich mein, genauso hab’ ich’s mir vorg’stellt. Albus … das … das muss ich dir zeigen!“

Er riss sich vom Spiegelbild los und begann, eilig in seinem ledernen Umhängeschlauch zu suchen. Albus beobachtete ihn überrascht, und erkannte sogleich die Totenschädel-Wasserpfeife, als Gellert sie hervorholte.

„Die hast du mitgenommen?“

„Ma weiß ja nie, wamma s’ mal braucht“, sagte Gellert. Mit einem weiteren Handgriff in seine Taschen förderte er eine kleine Phiole mit einem grauen pulvrigen Inhalt zu Tage. „Weißt’ noch, wie ich das Dämonenfeuer g’löscht hab’, das du entfacht hattest? Ich hab’ die Asche aufg’hoben.“

Er ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder und machte sich mit flinken Fingerbewegungen daran, einen metallenen Sockel im Inneren die Wasserpfeife mit dem Inhalt der Phiole zu präparieren. Albus sah ihm unschlüssig zu, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass diese Asche einen besonders gesunden Tabak abgeben würde. Es dauerte eine ganze Weile, bis Gellert mit der Vorbereitung zufrieden war. Dann stand er vorsichtig wieder auf und tippte die Schädelplatte mit seinem Zauberstab an. Das Innere der Wasserpfeife begann zu brodeln, und dämonische Flammen erhellten die Jahreszahl auf der Stirn und die Schriftzeile „Für das Größere Wohl“, die Gellert dort mittlerweile in geschwungener Frakturschrift ergänzt hatte.

„Perfekt“, sagte er und reichte Albus die Wasserpfeife. „Bist so gut und hältst sie für mich?“

Albus starrte auf die Buchstaben und die darunterliegenden bedrohlich lodernden Augenhöhlen. „Ich denke nicht, dass wir das tun sollten.“

„Oh, definitiv nicht“, sagte Gellert. „Aber’s wird dir g’fallen.“

Albus nahm die Wasserpfeife vorsichtig in beide Hände und versuchte, den Gedanken auszublenden, wem dieser Schädel wohl gehört haben mochte. Gellert setzte das Mundstück des Schlauchs an und sog kräftig daran. Einen Moment hielt er den Rauch hinter verschlossenen Lippen und wiegte seinen Kopf wie in Trance, dann atmete aus. Pechschwarze, sich kräuselnde Schwaden strömten aus seinem Mund und zogen sich über den Spiegel Nerhegeb wie eine zweite zuckende Haut. Gellert wiederholte den Vorgang und seine Augen verdrehten sich ins Weiße, als er weiteren schwarzen Rauch ausstieß.

Er übernimmt sich, dachte Albus besorgt.

Der neue Rauch nahm nun in der Mitte des wogenden Schleiers die Form eines Fensters an, das dem Spiegelglas täuschend ähnelte. Nun erkannte Albus allerdings darin eine große Versammlung, die sich um ein Zentrum auf einer Bergkuppe geschart hatte. Gellert packte ihn fest am Arm und sagte mit entrückter Stimme: „Zusammen.“

Auf seinen Impuls hin, machten sie beide einen entschlossenen Schritt nach vorn und stiegen durch die Spiegelung im Rauch.



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