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Sternenmeer

Weihnachten woanders
von

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Feierabend

In einem anderen Zimmer huschte der Stift eines anderen Mannes über ein anderes Blatt Papier. Die Zeilen waren ordentlich, alle in demselben Abstand, alle beinahe wie gedruckt. Durch ein Fenster strahlten die letzten niedrigen Strahlen der Sonne und erleuchteten das Weiß des Schriftstücks. Nur die Hand des Schreibenden warf einen Schatten über die Zeilen, der sich immer weiter vom Blatt verzog, bevor er die neue Zeile beendet hatte und zur nächsten ansetzte. Die Stille hatte beinahe ein eigenes Leben, sie lag ruhig und wartend im Raum, ein Hund, der darauf vertraute, dass alles in bester Ordnung war, solange sein Herrchen ruhig schrieb.

Der untere Rand der Seite war erreicht und der Mann setzte den letzten Punkt unter sein Fazit. Er nahm das Papier in beide Hände und las sich noch einmal durch, was er geschrieben hatte. Der Adressat des Schreibens konnte mit den Ausführungen hoffentlich sein Werk weiter fortsetzen, neue Ideen bekommen und auf eigenen Wegen weiter gehen. Der Mann lächelte und legte seine Überlegungen an ein Ende des Schreibtischs, um sie beim Hinausgehen nicht zu vergessen. Anschließend stand er auf und nahm den mannshohen blauen Stab von der Wand, wo er gelehnt hatte. Die Stille schien den Kopf zu heben, als erwarte sie, dass gleich etwas geschehen würde. Als hätte er die Veränderung im Raum gespürt, hob der Mann sanft die Hand und bedeutete, dass alles gut sei. Danach trat er zum Fenster, um der Sonne beim Verschwinden hinter den Kronen der Bäume zuzusehen.

Von hier aus war das Haus am Dorfrand durch den Wald vor Blicken verborgen. Trotzdem konnte er sich vorstellen, was dort vor sich ging, wie verschiedene Dekoration gebastelt wurde, vielleicht schon aufgehängt. Wie sich jemand ganz Gewisses vor der Arbeit drücken wollte, wahrscheinlich, weil ihm einfach nicht einfiel, was er tun könnte, um alles noch schöner zu gestalten. Die eigenen Aufgaben des Mannes am Fenster ließen ihm wenig Zeit, selbst etwas vorzubereiten, trotzdem wollte er sein Bestes geben. Er hielt dem letzten Sonnenstrahl die Hand auf und schenkte ihm ein neues Zuhause.

Mit Einzug der Nacht wandte er sich vom Fenster ab und ging über den schlichten Teppich zur Tür. Am Schreibtisch nahm er das Schreiben auf, faltete es in der Hälfte und behielt es in der Hand. Die Tür seines Arbeitszimmers öffnete sich, ohne dass er Stab oder Schriftstück aus der Hand legen musste. Die Magie erkannte, was er brauchte und war nur zu begierig darauf, ihm zu helfen. Sie war an diesem Ort viel stärker als anderswo.

Die Gänge, durch die er ging, waren alle schon leer. An den Wänden hingen mal schlecht, mal recht gebastelte Schneeflocken, Weihnachtsmänner und Tannenbäume. Der eine oder andere schwebte über seinem Kopf, doch war der Mann klein genug, um sich darüber keine Gedanken machen zu müssen. Ohne Sonne war es etwas dunkel in den langen Fluren, doch fand er sich zurecht und stand bald vor der Tür eines anderen Zimmers. Er klopfte, erwartete aber keine Antwort. Nach zwei Minuten hatte noch immer niemand eine Einladung heraus gerufen, also beugte er sich herunter und schob das Papier unter dem Spalt durch. Bevor es ganz seinem Zugriff entglitt, legte er zwei Finger darauf und schloss die Augen. Für ihn gestaltete sich die Wahrnehmung der Magie anders, sie war ein kühler See, der ihn umgab, der an dem blauen Stab entsprang und sich überall um ihn ausbreitete. Als er die Augen wieder öffnete und sich von der Tür abwandte, wusste er, dass die Magie das Schriftstück auf den Schreibtisch dahinter tragen würde.

In dem Ankunftszimmer neben dem riesigen Eingangsportal hing abgesehen von seinem eigenen nur noch ein Mantel. Der Mann betrachtete ihn nachdenklich, eine weitere Seele hielt sich anscheinend noch auf dem Gelände auf und verrichtete ihre Aufgaben. Er ging hinüber und strich einmal über den fremden Mantel. Ganz eindeutig, er war nicht vergessen worden, ganz leise verband ein Magieband die Kleidung mit jemandem. Der Mann zog seine Hand zurück und schaute in seinen Taschen nach, ob er etwas Passendes fand. Schließlich kam er zu einem Beutelchen Nüsse und Schokolade, zumindest ein kleiner Gruß. Gut sichtbar, schließlich sollte die Person wissen, was auf sie zukam, steckte er das Beutelchen in die Manteltasche. Hoffentlich freute sich diejenige oder derjenige über ein vorweihnachtliches Geschenk.
 

Mit seinem eigenen Mantel über den Schultern verließ er das riesige Tor. Es schloss sich langsam hinter ihm und schien sich schlafen zu legen. Mit einem amüsierten Lächeln lehnte der Mann den Stab an den Rahmen und richtete den Mantel. Kalt war es schon geworden, er meinte die ersten Anzeichen von Schnee in den kaum sichtbaren Wolken am Himmel erkennen zu können. Noch nicht heute, wahrscheinlich auch nicht morgen würde es schneien, aber lange würde das Weiß nicht mehr auf sich warten lassen. Als er den Blick wieder senkte, breitete er die Arme aus und fing das Mädchen in einer Umarmung, bevor es ihn wirklich umrennen konnte.

"Bringst du den Sturm, Lys?", fragte er lachend. Den Kuss, den er ihr auf die Haare setzen wollte, ersetzte er durch das Pflücken des Papiersterns. "Oder Sterne vom Himmel, wie mir scheint." Er ließ das Kind los, zum Hochheben war es mittlerweile schon zu schwer. Stattdessen reichte er ihm den schimmernden Stern.

"Oh, der hat sich raus geschlichen", mischte sich Tadel mit Entschuldigung in die Stimme der Kleinen. Sie griff nach dem Stern und schüttelte ihn kurz, bevor sie ihn weg steckte. "Nein, Papa, eigentlich komme ich, weil ich dir sagen will, dass wir dieses Jahr Weihnachten woanders feiern!" Sie hüpfte, griff nach seiner Hand und wollte ihn einmal um die eigene Achse drehen.

Lachend ging er eine Drehung mit, bevor er mit der anderen Hand nach seinem Hut griff und dem Spiel Einhalt gebot. "Ach, tun wir das?", fragte er verschmitzt. "Und wo feiern wir denn dieses Jahr, kleiner Sternensturm?" Lys hielt weiterhin seine Hand, während sie ihn zurück zum blauen Stab begleitete. Er nahm ihn in die anderen Hand und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Haus am Dorfrand.

"Bei Oma!", berichtete die Kleine stolz. Das sanfte Licht, das der Stab ihres Papas aussandte, stellte sie sich als gute Vorbereitung auf die Lichter bei der Frau vor. "Mama hat gesagt, er hat sie schon gefragt. Und dass es da leckeres Essen gibt. Und hast du nicht erzählt, dass sie, ähm, einen ganz großen Garten hat? Und dann kann ich ihre Tiere auch mal sehen!" Sie zählte begeistert auf, was sie noch alles behalten hatte, das es bei ihrer Oma gab.

Der Blick des Mannes ruhte beinahe melancholisch auf dem kleinen Mädchen. "Ja, ihr Garten ist wirklich groß. Viel größer als unserer", stimmte er ihr schließlich zu. "Da wirst du viel zu entdecken haben. Wahrscheinlich so viel, dass du dir das gar nicht alles merken können wirst." Er hob Lys' Hand mit seiner und suchte die Kühle des Teichs. Über ihren Fingern tanzte der letzte Sonnenstrahl, den er eigentlich hatte bitten wollen, Teil der Dekoration zu werden. Der Tanz des Sonnenstrahls bildete einen Stern. "Hast du noch mehr von den Papiersternen? Dann kannst du auf jedem etwas festhalten, was du dort finden wirst."

Das Mädchen verfolgte vergüngt den Bewegungen des Lichts. Als sein Papa den Vorschlag beendet hatte, nickte es glücklich. "Hah, ja, habe ich", antwortete es ein bisschen schuldbewusst, aber auch verwegen. "Viiiiiiel mehr Sterne. Bestimmt viel mehr als es zu entdecken gibt. Auch, wenn ihr Garten so groß ist wie die ganze Welt!" Das Kind breitete die Arme aus, ohne die Hand los zu lassen.

"So viele Sterne?", fragte ihr Papa belustigt nach. "Du weißt schon, dass die Welt sehr groß ist und es sehr viel zu entdecken gibt, ja?" Er breitete ebenfalls die Arme aus und durch den mannslangen Stab schien es einen Augenblick, als könnten sie den ganzen Wald umarmen.

"Ja, weiß ich", lachte Lys. "Es gibt Meere und Strände und Berge und Flüsse und Städte und Wälder und Wiesen und Täler und Schlösser und noch viel mehr. Und Oma hat ja nur einen Garten." Sie kicherte, als sie versuchte, sich das alles in einem einzigen Garten vorzustellen. Vergnügt und in der Hoffnung, dass ihr Papa nicht böse werden würde, wenn er mitkriegte, wie viele Sterne sie wirklich hatte, schwenkte Lys auf dem restlichen Weg nach Hause seine Hand hin und her.



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