Zum Inhalt der Seite

Slices of Life

Eine Sammlung an Kurzgeschichten und Mini-Episoden
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Modefragen IV (Dir en grey)

Modefragen IV
 

Oder auch eine Frage der Länge
 

„Glaubst du, das geht so?“
 

Bedächtig leckte ich über meinen Daumen und blätterte die nächste Seite um. Ich hatte schon lange keine Zeit mehr gehabt, ein Buch komplett zu lesen. Immer war irgendetwas dazwischen gekommen und hatte mich lang genug abgelenkt, damit ich die Hälfte des Inhalts wieder vergaß und von vorne anfangen durfte.

Doch dieses Mal nicht.

Inzwischen neigte sich das Buch dem Ende zu, nur noch ein paar dutzend Seiten waren übrig und auch wenn heute unser erster Arbeitstag nach etwas mehr als zwei Wochen Pause war, war ich guter Dinge, das Buch zeitnah zu beenden.

Die anderen Bandmitglieder waren sowieso beschäftigt, beziehungsweise teilweise noch nicht einmal eingetroffen, da störte es keinen, wenn ich hier im Proberaum auf der Couch saß und in den Tiefen der Seiten versank.
 

„Shinya…“

Ein dunkler Schatten fiel auf mich und ließ mich erschrocken zusammenfahren.

„Die.“

Der große Gitarrist stand dicht vor mir und blickte milde interessiert auf die Buchseiten in meinem Schoß.

„Was liest du da, dass du mich einfach ignorierst?“

Ehe ich reagieren konnte, wurde mir das Buch aus der Hand genommen.
 

„50? Was denn für eine 50?“

Mit fest zusammengekniffenen Lippen beobachtete ich, wie Die das Buch etwas umständlich herumdrehte, um den Klappentext näher in Augenschein nehmen zu können. Glück für ihn, dass er wenigstens die Geistesgegenwart besaß, vorher seine Finger zwischen die Seiten zu stecken, damit die Stelle nicht verloren ging, an der er mich unterbrochen hatte. Sonst wäre ich womöglich ungehalten geworden.

„Das ist der Name des neusten Buchs von Hideo Yokoyama. Ein Krimi. Nichts für dich.“

Dass die Betonung des letzten Satzes etwas härter ausfiel als eigentlich beabsichtigt, war der Art geschuldet, wie Die gerade wenig sorgsam durch die Seiten blätterte. Wehe, eine von ihnen bekam einen Knick. Er sollte lieber bei seinen Schundromanen bleiben, die konnte er so oft durchwälzen, wie er wollte, da machte ein Knick mehr oder weniger auch nichts aus.
 

Schließlich schaffte ich es, mir das Buch ohne weiteren Schaden zurückzuholen. Erleichtert sank ich gegen die Lehne zurück und atmete unmerklich tief durch. So wie es aussah, konnte ich das Buch für heute abschreiben. Die schien das herzlich wenig zu interessieren, er blieb, wo er war und grinste mich auf eine Weise an, bei der ich mich fragte, ob ich nicht irgendetwas verpasst hatte.

„Also, was sagst du?“

Zu was?

Anscheinend war mir das Unverständnis klar ins Gesicht geschrieben, denn wenige Sekunden später warf Die übertrieben seufzend den Kopf in den Nacken.

„Du warst wirklich arg vertieft in deinem Buch, oder? Ich meine mein Outfit.“

Mit einer weitausholenden Geste deutete er an sich hinab und erst jetzt registrierte ich, dass er sich umgezogen hatte. Der lange Mantel und der schwarze Pullover, mit denen er vorhin zur Tür hineingeschneit war, waren einem seiner weit ausgeschnittenen, ärmellosen Shirts gewichen. Statt der Jeans trug er nun eine dieser kurzen Hosen, kombiniert mit einer Netzstrumpfhose. Eigentlich entsprachen die Klamotten genau dem Outfit-Stil, mit dem er seit geraumer Zeit am liebsten über die Bühne stolzierte.
 

Überlegend schürzte ich die Lippen. Was erwartete er jetzt von mir? War etwas anders? Es sah doch aus wie immer.

Anscheinend zögerte ich mit meiner Antwort etwas zu lange, denn Die kam mir mehr oder weniger zu Hilfe. Beinahe schon beleidigt verschränkte er seine Arme vor dem Oberkörper und streckte das rechte Bein etwas von sich.

„Die Strumpfhose ist neu“, machte er klar. „Und die Hose auch.“

Okay. Ich musste gestehen, erst beim zweiten Mal Hinschauen fielen mir die marginalen Unterschiede auf. Bei Dies ständig ansteigender Auswahl an Strumpfhosen war es für mich inzwischen ziemlich schwer geworden, den Überblick zu behalten.
 

„Hm ja, ist hübsch“, gab ich recht neutral von mir, während er vor mir herumwackelte, um sich, wie es mir schien, in allen Einzelheiten zu präsentieren.

„Glaubst du, die ist zu kurz für die Tour?“, hakte er nach und trat unruhig von einem Bein auf das andere, während er mich ansah, als wäre meine Meinung das finale Urteil. Seit wann kümmerte es ihn so sehr, was ich dachte? Meistens machten die anderen sowieso, was sie wollten, egal ob es mir gefiel oder nicht.

Und auch wenn wir uns heute hier zur Outfit-Probe für die bevorstehende Europa-Tour trafen, war das Ganze weniger ein Austausch von Meinungen, sondern vielmehr ein Check, ob alles passte und bequem saß. Da meine Bühnenoutfits meist einem strikten Muster folgten – sie waren stets luftig, hell und mit einer leichten Spitze oder Rüschen versehen – war ich sehr schnell fertig gewesen und hatte mich meinem Krimi widmen können.
 

„Und was denkst du nun?“

Er beugte sich weiter zur Seite, um mir die Kürze seines Outfits genau vor Augen zu führen. Ich unterdrückte ein Seufzen.

In letzter Zeit bevorzugte er es, recht freizügig auf der Bühne zu erscheinen und sich dafür von den Fans feiern zu lassen. Und diese liebten ihn für sein neues Körperbewusstsein. Auch wenn ich es ihm nie offen gesagt hatte, war ich doch ein wenig stolz auf seinen Wandel, auch wenn ich natürlich nicht immer über seine Kleiderwahl glücklich war. Aber solange er sich wohlfühlte.
 

Nur Toshiya machte ihm in Sachen Freizügigkeit auf der Bühne ständig Konkurrenz, denn der ließ am liebsten sein halbes Outfit in der Garderobe zurück. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass die beiden darum konkurrierten, wer am meisten Haut präsentierte. Aktuell gewann eindeutig Toshiya, zur großen Freude seiner Fans.
 

„So viel kürzer als sonst ist es doch nicht“, schallte es von der Tür herein.

Kyo schlurfte, dick in seinen Wintermantel gepackt und mit einer Wollmütze auf dem kahlrasierten Kopf, in den Raum, und beäugte kritisch Dies Erscheinung. Anscheinend war er gerade erst angekommen, aus dem mitgebrachten Kaffeebecher stiegen kleine Dampfwölkchen auf.
 

„Doch, ganze drei Zentimeter ist die hier kürzer.“

Kyo ließ sich schnaubend neben mich auf das Sofa fallen und musterte Die mit einem Blick, den dieser etwas unruhiger werden ließ.

„Das fällt nun wirklich nicht auf. Meistens stört es dich doch auch nicht, wenn die Hose kurz unterm Arsch endet. Aber wenn du dir unsicher bist, frag Toshiya. Der scheint sich diesmal auch an den Hotpants-Look anzupassen.“

„Oh, wirklich?“

Die Neugier stand Die groß ins Gesicht geschrieben. Auch ich war überrascht. In letzter Zeit wurden die Kostüme unseres Bassisten immer aufwendiger und ausgefallener, teils waren es lange Roben und Kleider. Dass er nun auf etwas derart Kurzes umschwenkte, kam etwas unerwartet. Und bisher hatte er auch noch keinem von uns irgendetwas über seine neusten Ideen erzählt. In meiner Vorstellung wirkte das… naja. Solange er nicht wieder auf den Gedanken kam, Kaorus Spitzendeckchen auf dem Kopf zu tragen…
 

„Ist Toshiya schon da?“

„Ja, im Nachbarraum.“

Desinteressiert wandte sich Kyo seinem Kaffee und seinem Handy zu. Damit war das Thema für ihn erstmal beendet.

Für Die anscheinend nicht, denn Sekunden später stürmte er aus dem Raum hinaus. Die harten Absätze seiner Stiefel hallten von den Flurwänden wieder und wurden schnell leiser.

Aus den Augenwinkeln warf mir unser Sänger einen vielsagenden Blick zu, ich verkniff mir ein Lächeln.
 

„Fehlt noch, dass Kaoru in einem dieser Minihöschen rumrennt, um zu den beiden zu passen“, murmelte er in seinen Kaffeebecher hinein.

Himmel, bewahre.

Das Bild, das kurzzeitig in meinem kopf aufblitzte, war verstörend genug. Dabei war ich wirklich froh, dass unser Leader nun endlich seinen Stil gefunden zu haben schien. Die alten löchrigen Pullis, die er früher so gern auf Konzerten getragen hatte, waren wesentlich eleganteren Outfits gewichen. Die Typ- und Modeberatung, die er vor einiger Zeit von seiner Familie geschenkt bekommen hatte, hatte sich inzwischen bezahlt gemacht und glücklicherweise war er nicht wieder in alte Muster verfallen.
 

*
 

Gedämpfter Jubel drang aus der Halle zu uns in den Backstagebereich.

Tief durchatmend setzte ich mich auf einen Stuhl, einer der Staffs reichte mir ein Papiertuch, das ich dankend annahm, um mir den dünnen Schweißfilm, der sich in meinen Nacken gebildet hatte, wegzutupfen.
 

Zufrieden lächelnd ließen sich Kaoru und Die auf die Stühle gegenüber fallen, während Toshiya gemächlich in den Raum stolziert kam. Kyo hatte sich kurz auf die Toilette verzogen, um sich frisch zu machen.

„Hach, großartig“, grinste der Leader mich an, nachdem er seine Wasserflasche in einem Zug geleert hatte. Ich stimmte ihm schweigend zu. Bisher verlief die Tour besser als gedacht. Ich hatte keine großen Erwartungen an die Konzerte gehabt, aber es war zu spüren, wie lange die Fans auf unsere Rückkehr gewartet hatten. Umso enthusiastischer unterstützten sie jeden einzelnen unserer Songs.
 

„Toshiya, willst du dich nicht mal setzen?“

Etwas umständlich drehte sich Die auf seinem Stuhl zu unserem Bassisten herum, der anscheinend immer noch energiegeladen genug war, um mit weit ausladenden Schritten durch den Raum zu staksen und seinem Abbild in einem der großen Spiegel immer wieder einen eindeutigen Blick zu zuwerfen. Flirtete er gerade allen Ernstes mit seinem Spiegelbild? Ich bemerkte, wie Kaorus Augenbraue nach oben zuckte, während er skeptisch verfolgte, was Toshiya gerade trieb.

„Nein, nein. Die paar Minuten geht das schon. Nicht, dass mein Kleid knittert.“
 

Dass sein sogenanntes Kleid aus einem knitterfreien Stoff bestand, ließen wir unkommentiert. Wahrscheinlich gefiel er sich gerade einfach zu sehr in seiner Aufmachung, so wie er vor dem Spiegel poste. Immer wieder schob er den langen weißen Rock zur Seite, so dass man einen noch besseren Blick auf das bekam, was er drunter trug: Overknees und eine Hotpants, die der von Die in nichts nachstand.

Das Gefühl, dass die beiden wirklich miteinander wetteiferten, wer den Fans die tiefsten Einblicke gewährte, war in den letzten Tagen immer stärker geworden. Während Die allerdings auch mal ein etwas längeres Oberteil drüber trug, gab es bei Toshiya genau zwei Optionen: das Kleid in schwarz oder weiß. Beide boten ungewohnt freie Sicht auf seine Beine, ebenso wusste er, wie gut sein trainierter Körper durch den recht freizügigen Schnitt zur Geltung kam. Dass die Hotpants, die er darunter trug, nicht noch knapper ausgefallen war, lag nur daran, dass es keine kleinere Größe gab, worüber er sich vor Wochen lautstark beschwert hatte.

Seufzend stand ich auf und ging zu einem der Spiegel, um mir vorsichtshalber die Haare zu richten, bevor es zum Encore wieder raus auf die Bühne ging.
 

„Hm, vielleicht sollte ich beim nächsten Mal auch so eine Kombi probieren wie du“, hörte ich Die schräg hinter mir murmeln. Er hatte sich ebenfalls zu uns gesellt, doch statt noch einmal sein Äußeres zu prüfen, versank er in der nachdenklichen Betrachtung von Toshiyas Outfit. Der schenkte ihm ein breites Grinsen und warf – zum wievielten Mal auch immer – den Stoff des Kleides beiseite und streckte Die sein Bein entgegen.

„Klar, warum nicht. Kannst es auch gern mal anprobieren, die passende Figur dazu hast du auf jeden Fall. Aber wenn nur mit den Stiefeln zusammen, alles andere wirkt nicht.“

Ein stolzes Lächeln erschien auf Dies Gesicht.

„Meinst du? Vielleicht könnte ich ja –„

Ich wandte mich ab und versuchte die aufkeimende Diskussion auszublenden. Wenn das so weiterging, würden sie demnächst regelmäßig Modenschauen vor uns veranstalten, um sich indirekt zu vergleichen.

Konnte mich bitte jemand davor retten?
 

Hilfesuchend drehte ich mich zu unserem Leader um, in der Hoffnung, er würde den beiden Einhalt gebieten. Doch Pustekuchen.

In der Zwischenzeit hatte er meinen Platz vor dem Spiegel eingenommen und begann gerade sein sonst hochgeschlossenes Hemd langsam aufzuknöpfen.

Was war denn hier los?

„Geht das so?“

Toshiya und Die betrachteten Kaoru kritisch, dann nickten sie einstimmig.

„Klar, zeig her, was du hast. Eigentlich kannst du es sogar etwas aufmachen.“

Wenn er sein Hemd noch weiter öffnete, würde man nicht nur die Ansätze seiner Tattoos sehen, sondern gleich seinen Bauchnabel.
 

Fast schon fluchtartig verließ ich den Raum, als Fujieda das Zeichen gab, dass wir allmählich rausmussten. Im Flur wartete bereits Kyo auf uns. Der lange Rock und das Korsett waren einer Jogginghose und einem lockeren Shirt gewichen, nur das Make-Up hatte er beibehalten.

Anscheinend hatte ich meine Mimik nicht ganz so gut im Griff, wie ich wollte, denn Kyo genügte ein prüfender Blick in mein Gesicht, um zu wissen, was gerade im Raum hinter mir vor sich ging.

„Versuchen sie sich wieder gegenseitig zu übertrumpfen?“

„Ja und Kaoru macht auch noch mit.“

„Ah, das ist natürlich mal was Neues.“

Ein Grinsen breitete sich auf Kyos Zügen aus und ließ ihn mit dem Make Up noch eine Spur gruseliger wirken. Wobei nicht so gruselig, wie die drei in geballter Form, die gerade in den Flur traten. Kyos prüfender Blick wanderte über sie.

„Na ja, dann können die Fans ja neben dem Social Media Account für Toshiyas linkes Bein, gleich noch einen für Dies Strumpfhosen und Kaorus Ausschnitt machen.“

Toshiya wurde hellhörig.

„Wer will was machen?“

Kyos Grinsen wurde eine Spur weiter, als er seine Worte noch einmal wiederholte.

„Soweit ich mitbekommen habe, gibt es einige Fans, die dafür schon Pläne haben.“

„Oh wenn du was mitbekommst, sag Bescheid. Dem muss ich folgen.“

Toshiya schien hellauf davon begeistert zu sein, auch Die wirkte nicht abgeneigt.

Seufzend wandte ich mich ab und steuerte auf die Treppen zu.

Wahrscheinlich würde ich solche und ähnliche Gespräche für den Rest der Tour über mich ergehen lassen müssen. Wurde Zeit, dass wir wieder nach Japan kamen und ich mir vorerst keine Gedanken mehr über anderer Leute Kleiderschränke zu machen brauchte.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück