2002-04-18
Die Gasse mit ihrem Wohnblock, in dem sie gemeinsam lebten, war des Nachts spärlich ausgeleuchtet, aber bescheidenes Mondlicht genügte Boris bereits, um sich zurechtzufinden und in gewissen Teilen wohlzufühlen. Die nächtlichen Straßen Moskaus waren ihm schon zu lange vertraut.
Sein Blick wanderte die Hauswand hinauf zu ihrer Wohngemeinschaft. Fenster wurden mit Vorhängen verdunkelt und alle Lichter in dem Zimmern waren gelöscht. Das entsprach den Regeln ihrer Betreuer. Sperrstunde war vor vier Stunden und seit zwei Stunden galt Bettruhe. Aber so wie er sich noch draußen befand, konnte Boris darüber sicher sein, dass Yuriy noch nicht schlief.
Mit geübten Griffen zog er sich am Regenfallrohr die Hauswand hinauf. Leise knirschend protestierte das Blech unter seinem Gewicht, doch hielt stand, bis er am Fenstersims ankam und rhythmisch mit bestimmten Abständen gegen das Glas klopfte.
Ein Schatten huschte an den Vorhängen vorbei und kurz darauf griff eine blasse Hand zum Fenstergriff. Die Vorhänge schoben sich beiseite und Boris stieg schwungvoll durch das offen stehende Fenster in das Zimmer ein.
Sein breites Grinsen erstarb, als er den missbilligenden Blick auf sich erhaschte. »Was?«, zischte er leise und hob eine buschige Augenbraue.
Yuriy verschränkte die Arme und seine Mimik blieb hart. »Zieh die Schuhe aus.«
Es wäre besser gewesen, Boris hätte den Impuls unterdrückt, seine Augen zu verdrehen, aber der Drang war zu stark. Helle Augen blitzen auf und die zu einer schmalen Linie zusammengepressten Lippen glichen einer Warnung.
Um ein größeres Unheil zu vermeiden, zog Boris ohne weitere Kommentare die Schuhe aus. An den Schnürsenkeln zusammengebunden, warf er sich die Treter über die Schulter und schloss sogar ohne Aufforderung das Fenster hinter sich.
Yuriys Schultern entspannten sich. »Das nächste Mal überlege ich es mir, ob ich dich reinlasse.«
Boris kannte ihn zu gut, um zu wissen, dass er diese Worte nicht ernst zunehmen brauchte. So sehr Yuriy, es missbilligen mochte, dass er vorsätzlich Regeln brach und sich mehr als einmal die Woche nachts auf die Straße schlich, konnte er nicht aus seiner Haut und würde weder ihn noch Sergeij oder Ivan im Stich lassen. Die anderen beiden reizten diese Loyalität allerdings nicht auf die Weise aus, wie er es tat.
Das Zimmer war dunkel, aber unter der dünnen Bettdecke konnte Boris das Licht einer Taschenlampe ausmachen. Mit einem breiten Grinsen sah er seinen Freund vielsagend an. »Liest du etwa heimlich? Muss ja was Heißes sein.«
Den Kommentar quittierte Yuriy mit einem ausdruckslosen Augenaufschlag. »Ja, es geht um richtig scharfe Kurven«, erwiderte er trocken und griff ein Buch über Geometrie vom Nachttisch.
Boris schüttelte im Affekt den Kopf. So bewusst ihm war, dass sie beide in diversen Dingen grundlegend verschieden waren, geschah es immer noch, dass sein Freund ihn in Unglaube versetzte. In seiner Freizeit, zu später Stunde heimlich Bücher über Mathematik zu lesen, war so ein Ding. Ivan traute er zu, dass im Einband eine andere Lektüre versteckt war, doch so ein Mensch war Yuriy nicht.
Die hochgezogene Augenbraue deutete Boris so, dass er sich einen weiteren Kommentar aufsparen würde. Sehr ernst und bemüht anerkennend nickte er, konnte das amüsierte Zucken im Mundwinkel jedoch nicht unterdrücken.
Fast schon resigniert schüttelte Yuriy den Kopf. Er wandte seinem Besuch den Rücken zu und schlug die Decke vom Bett zurück. »Mach heute keinen Lärm mehr.«
Boris verstand, nickte knapp und schlich zur Zimmertür.
Dass gerade das Fenster von Yuriys Zimmer direkt ans Regenfallrohr grenzte, war für ihn ein Segen. Seine klaren Prinzipien verlangten keine Erklärungen von Boris. Sergeij hingegen wollte immer gerne wissen, wofür er sich zum Komplizen machte, und Ivan war einfach unverschämt neugierig. Schlussendlich blieb es gegenüber seinen drei Freunden kein Geheimnis, wo er sich rumtrieb, wenn er nachts unterwegs war, doch wenn er davon berichtete, dann aus freien Stücken von sich aus. Die Vorstellung, jemandem Rechenschaft abzuliefern, war ihm zuwider.
»Bis morgen«, murmelte er ins nachtdunkle Zimmer hinein.
Nur ein blasser Lichtschimmer ging von einer Deckenhöhle aus.
»Schlaf wohl«, hörte er noch ganz leise, bevor die Zimmertür hinter ihm ins Schloss einrastete.