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Transformation

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Und weiter geht's!
Diesmal nicht mit Kid, sondern... ta-daa! Reiju mag ungewöhnlich als Hauptchara in ner yaoi-Geschichte sein, aber ich schwöre: Das hat alles seine Gründe!

So, jetzt spann ich euch nicht länger auf die Folter.
Habt viel Spaß beim Weiterlesen. ^^ Komplett anzeigen

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Kapitel 2

Reiju

 

Schon seit Jahrzehnten war Familie Vinsmoke Spitzenreiter auf dem Gebiet der Waffenproduktion. Unter dem Namen Germa 66 hatte sie sich ein Imperium erbaut, welches unverzichtbar war für Regierungen und Streitkräfte aus aller Welt. Immer auf der Suche nach den neusten Technologien und auf stetes Wachstum bedacht räumte sie Konkurrenz unbarmherzig aus dem Weg; sei es durch Bestechung, Erpressung oder bloßes Aufkaufen. Gegner und Kritiker gab es natürlich viele, doch was wog schon das Wort von Aktivisten gegen das Geld unzähliger Käufer? Solange nicht die gesamte Menschheit lernte, Konflikte auf friedliche Weise zu lösen, und solange die Herrschenden dieser Welt abhängig waren von Germa 66, solange würde das Unternehmen auch bestehen.

Auf einem sanft abfallenden Hügel, umgeben von lichten Buchenwäldern und beschaulichen Wiesen, erhob sich das Vinsmoke-Anwesen. Der Garten war großzügig angelegt und um diese Zeit im Juni erstrahlte er von der späten Abendsonne beleuchtet in flammender Pracht. Es war warm und vom Pool her drang Gelächter durch die Blumenrabatten und Formschnitte, gefolgt von lautem Platschen. Drei der vier Vinsmoke-Söhne lebten nach wie vor in Saus und Braus unter einem Dach mit ihrem Vater und ließen es sich nicht nehmen, nach einem anstrengenden Arbeitstag als angehende Geschäftsmänner der Dekadenz zu frönen.

Ein schäbiger, weinroter Chevrolet Malibu mit Neustädter Kennzeichen bahnte sich soeben den Weg die verschwenderisch erbaute Serpentinenstraße hinauf. Zwischendurch hustete und spuckte er zwar ein paar Male, doch treu wie er war, erreichte er schließlich das Tor des Anwesens. Sofort war Wachpersonal zur Stelle und gab nach einer kurzen Diskussion das Anliegen des Besuchs per Fernsprechanlage an den Hausherrn weiter. Nahezu lautlos schoben sich daraufhin die Torflügel zu beiden Seiten auf und das Auto setzte sich mit einem Hüpfer erneut in Bewegung.

Als der unerwartete Gast hereingebeten wurde, stand Reiju Vinsmoke gerade in der Lounge an der Hausbar. Eigentlich wollte sie nur eine Runde Drinks für sich und ihre Brüder mixen und anschließend ihren Platz auf einem Liegestuhl am Pool wieder beziehen, um Das Arroganz-Prinzip weiterzulesen. Die sich nähernden Stimmen ihres Vaters und des Fremden jedoch ließen sie hellhörig werden.

„...sag ich doch nicht nein zu einem kleinen Gläschen!“

„Wenn Sie sich sicher sind? Hier entlang bitte.“

Die Tür wurde geöffnet und herein kam – gefolgt von der breitschultrigen Figur Jajji Vinsmokes – ein schlecht rasierter Mann Anfang 40 mit rotem, strähnigem Haar. Er trug ein schlampig zugeknöpftes, weißes Hemd und eine geblümte Caprihose, die wie geradewegs aus den Siebzigern entlaufen wirkte. Den starken Kontrast dazu bildeten einerseits die Waffe an seinem Gürtel und andererseits drei Narben, die sich fast senkrecht über sein linkes Auge zogen.

„Wirklich schick haben Sie sich hier eingerichtet, Herr Vinsmoke!“, frohlockte er auch sogleich, während er sich beeindruckt umsah. „Da braucht man gar nicht mehr in den Urlaub zu fliegen, was?“

Es war eindeutig, dass er niedrigere Standards gewöhnt war, und sympathisch war er Reiju auch nicht. Was also wollte er hier? Und noch viel wichtiger: Weshalb hatte ihr Vater ihn in die Lounge eingeladen?

„Aber wo bleiben denn meine Manieren?“ Jetzt hatte er Reiju entdeckt und ging geradewegs auf sie zu, um ihre Hand für einen Kuss an sich zu ziehen. „Mein Name ist Shanks. Und Sie müssen die bezaubernde Ehefrau Vinsmoke sein.“

Nicht hektisch, aber bestimmt entzog Reiju ihm die Hand, bevor sie sie ihm erneut hinhielt. Für einen Handschlag diesmal.

„Tochter“, sagte sie nüchtern. „Willkommen in unserem bescheidenen Heim. Ich heiße Reiju und wenn Sie nichts Wichtiges mit mir zu besprechen haben, dann möchte ich Sie bitten, sich wieder an meinen Vater zu wenden.“

Shanks wurde nicht einmal rot, als er begriff, in welches Fettnäpfchen er gerade getreten war. Er lachte nur und begann wild Reijus Hand zu schütteln.

„Oho! Aber selbstverständlich! Natürlich!“ Er wandte sich nach Jajji um, der sich bereits auf einem mit grauem Samt bezogenen Sofa niedergelassen hatte. „Eine wirklich erstklassige Tochter haben Sie da! Und so bildschön!“

Reiju wusste, dass sie eine gewisse Wirkung auf Männer hatte. Das blieb ganz einfach nicht aus, wenn man wie sie stets auf ein gepflegtes Äußeres bedacht und zudem mit ebenso üppigen Lippen wie auch Brüsten gesegnet war. Nicht besser machte es wahrscheinlich der Umstand, dass ihre einzige Kleidung im Moment ein verspielter Bikini mit einem Hausmantel aus schwarzem Chiffon darüber war. Dazu kam ihr von einem Reif zurückgehaltenes, pinkes Haar, das mysteriös ihr rechtes Auge verdeckte und die Angewohnheit hatte, sich wie eine exotische Blume in Gedächtnisse einzubrennen.

All jene lechzenden Dummköpfe, die sich von ihrem Aussehen blenden ließen, spielten allerdings ein verlorenes Spiel mit ihr. Aus Prinzip ging sie nicht auf Avancen ein und beherrschte das knallharte Pokerface einer Geschäftsfrau. Immerhin war auch sie eine Vinsmoke mit einem Ruf, den es zu bewahren galt.

„Danke für die Komplimente“, sagte sie kalt. Wenigstens hatte der Trottel aufgehört, ihr die Hand zu zerquetschen.

„Ich weiß, dass ich eine erstklassige Tochter habe“, kam es da prahlerisch von Jajji. „Ich bin auch sehr stolz auf sie. Erst vor einem Monat hat sie die Geschäftsleitung von Werk 3 übernommen. Sie macht ihre Sache gut und steht mir in kaum etwas nach. Wahre Perfektion.“

„Also, wenn Sie das daran messen wollen...“

Shanks schien nicht ganz einverstanden damit, wie Wertschätzung im Hause Vinsmoke gehandhabt wurde. Reiju hingegen reagierte mit einem kleinen Lächeln und einem „Danke, Papa“, dann griff sie nach einer Limette, um diese aufzuschneiden.

„Aber sind Sie nicht aus einem ganz anderen Grund hier, Shanks?“ Jajji wies einladend auf das Sofa schräg rechts von sich. „Nehmen Sie Platz und dann erzählen Sie bitte, was genau einen Kriminalbeamten wie Sie hierher führt.“

Es war nach außen hin nicht sichtbar, doch das Wort „Kriminalbeamter“ ließ in Reijus Kopf die Alarmglocken schrillen. Sie befestigte einzelne Limettenscheiben an Glasrändern und hatte dennoch aus dem Augenwinkel im Blick, wie Shanks sich nun zu ihrem Vater gesellte. Die Methoden von Germa 66 waren nicht immer das, was man als rechtskonform bezeichnete, und genau aus diesem Grund vertraute sie dem Eindringling von Sekunde zu Sekunde weniger. Ihre einzige Hoffnung war, dass ihr Vater, der völlig gelassen blieb, die Situation unter Kontrolle hatte.

„Reiju, wenn du so freundlich wärst und uns zwei Gläser und eine Flasche Gin bringen könntest?“

Die Formulierung war präzise gewählt und nicht das, was Reiju zu hören gehofft hatte. Nur ein oder zwei andere Satzteile und es wäre für sie die versteckte Aufforderung gewesen, das Glas für den Gast mit Gift zu präparieren.

„Sofort, Papa.“

Sie platzierte das Gewünschte auf einem Tablett und umrundete die Bar, um es vor Jajji auf dem Kaffeetisch abzustellen. Danach zog sie sich wieder zurück. Nicht jedoch ohne Shanks einen warnenden Blick zukommen zu lassen. Sollte er sich auch nur den kleinsten Fehltritt erlauben, so hatte sie das Küchenmesser in Griffweite.

Gönnerhaft lächelnd schenkte Jajji Shanks und sich ein und bot dabei mit seiner massigen Gestalt einen durchaus imposanten Anblick, den man in der Geschäftswelt zu respektieren gelernt hatte. Markenzeichen war dabei nicht nur seine ausladende, blonde Haarmähne und der Schnauzbart, auf den ein jeder Musketier stolz gewesen wäre, sondern auch die an einem Ende merkwürdig gekringelten Augenbrauen, welche er an jedes seiner Kinder vererbt hatte.

„Bitteschön. Ein edler Tropfen aus eigenem Wacholderanbau.“

Er reichte Shanks das Glas, der anerkennend nickte, einen Schluck davon nahm und noch viel anerkennender nickte.

„Das nenn ich mir einen Schnaps! Den würde ich sofort flaschenweise kaufen!“

„Nachher sehr gerne. Wenn Sie nun...“

„Richtig! Meine Arbeit!“

Schlagartig verschwand das vergnügte Lachen aus Shanks’ Gesicht und wich einer zutiefst ernsten Miene, die weder Jajji noch Reiju an dem Polizisten erwartet hatten. Er stellte das Glas nieder, verschränkte die Finger beider Hände ineinander und sagte schließlich mit belegter Stimme: „Es tut mir sehr Leid, Herr Vinsmoke, Ihnen mitteilen zu müssen, dass seit heute Nacht um zwei Uhr ihr Sohn Sanji als vermisst gilt.“

Bis hierhin hatte Reiju unter Anspannung das Geschehen verfolgt, jederzeit bereit zu handeln, sollte es zur Auseinandersetzung kommen. Die so unerwartete Nachricht aber traf sie an einer in diesem Moment völlig ungeschützten Stelle, die sie dem Erfolg zuliebe stets wegzusperren pflegte, und beinahe hätte sie mit der Sodaflasche in ihren Händen ein Glas umgestoßen. Beinahe.

„Noch vermisster als für gewöhnlich? Ist das alles?“

Jajjis Stimme schallte unbarmherzig durch den Raum, gab Reiju klar zu erkennen, dass sie Haltung bewahren musste, und löste bei Shanks Verwirrung aus.

„Als für gewöhnlich?“, wiederholte er. „Wie darf ich das verstehen? Ist der Junge… dauerverloren gegangen, oder wie?“

„Vor Jahren meinte der Nichtsnutz, er müsse nach Frankreich auswandern, um Koch zu werden.“ In Jajjis Blick lag reine Verachtung. „Seitdem habe ich nie wieder etwas von ihm gehört. Und es ist mir auch egal.“

Jetzt glich Shanks einem Mensch gewordenen Fragezeichen.

„Er… wohnt aber doch nicht weit weg von hier in Neustadt?“

„Tut er das, ja? Wie schon gesagt: Ist mir egal.“

Jajji nahm einen Schluck vom Gin und sah Shanks mit Nachdruck an. Dieser starrte noch einen Augenblick entgeistert ins Leere, sammelte sich aber dann und hakte nach: „Also hat niemand hier in letzter Zeit Kontakt zu ihm gehabt, ist das richtig?“

„Niemand, nein.“

Eigentlich hätte diese schnelle und bestimmte Antwort genügen müssen. Zumindest wäre es Reiju lieb gewesen. Kriminalbeamte jedoch waren gewiss nicht von gestern und somit Shanks’ Blick, der zu ihr herüberwanderte, ein Übel, mit dem sie gerechnet hatte.

„Was ist mit Ihnen, Reiju? Haben Sie Kontakt zu Ihrem Bruder?“

Fakt war, dass sie sehr wohl Kontakt zu Sanji hatte. Genauer gesagt hatte sie ihn nie abgebrochen. Sie hatte alles miterlebt: Die fortwährenden Demütigungen zu Hause und sein Verzweifeln am väterlichen Drill, sein Verschwinden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, den Kampf um Ausbildungsplatz, Miete und die gesamte Existenz in einem fremden Land und letztendlich auch, wie er wieder zurückgekehrt war. Sie hatte ihm sogar geholfen, indem sie ihm einen ordentlichen Job in einer Bar vermittelt hatte. Alles hinter dem Rücken ihrer restlichen Familie.

„Nein“, antwortete sie kopfschüttelnd und stellte der Reihe nach die angerichteten Mojitos auf ein zweites Tablett. Dann blickte sie direkt in Shanks’ wachsame Augen. „Niemand hier hat Kontakt zu Sanji.“

„Tja, das ist dann wohl… sehr schade.“

Shanks zog eine bedauernde Grimasse und kratzte sich am Kopf. Wahrscheinlich hatte Reiju soeben den ganz richtigen Eindruck noch verstärkt, dass Sanji in diesem Haushalt ein Tabuthema war. Sollte ihr Recht sein. Solange sie nur nicht zugeben musste, wie viel er ihr bedeutete, und damit bei ihrem Vater in Ungnade fiel.

Sie nahm das Tablett, balancierte es auf einer Hand und meinte dann: „Ich bin wieder draußen beim Pool, wenn es genehm ist. Außer, es gibt noch etwas, das Sie mich fragen möchten, Shanks.“

„Das gibt es in der Tat.“ Fast wäre Reiju das Herz in die Hose gerutscht, doch Shanks, der sich erhoben und schnell den Gin geleert hatte, nahm nun einzig die Drinks in Augenschein. „Das ist ganz schön viel Alkohol für eine junge Frau alleine. Also gehe ich entweder der Annahme, dass ich eingeladen bin, oder hinterm Haus steigt eine Poolparty.“

„Oh, Sie meinen die Mojitos. Die sind für meine Brüder.“

„Noch mehr Brüder?“ Schwer beeindruckt hob Shanks die Brauen und wandte sich Jajji zu. „Da waren Sie aber ganz schön fleißig, mein Guter! Wäre es in Ordnung, wenn ich Ihre Söhne auch noch befrage? Nur der Vollständigkeit halber.“

„Nur zu“, nickte Jajji. „Reiju, wenn du unserem Gast bitte den Weg zeigen würdest?“

„Kommen Sie mit.“

Ein aufgesetztes Lächeln verbarg ihre wahren Gedanken und Gefühle, während sie Shanks durch die Hintertür auf die mediterran gestaltete Terrasse hinausführte. Abgesehen von einer Sitzgruppe, wo sie ihr Tablett abstellte, einem Grill und einem von Palmen gesäumten Säulengang befand sich hier ebenfalls der sanft abfallende Einstieg des mit Natursteinplatten gefliesten Pools, der weiter hinten an Tiefe gewann und zum ausladenden Schwimmteich wurde.

„Hey, Reiju!“

„Bist du endlich fertig? Hat voll lange gedauert!“

„Wer ist denn der Spacko da?“

Drei Gestalten kamen nähergeschwommen, eine anmaßender als die vorherige. Geschwister suchte man sich eben nicht aus.

„Entschuldigen Sie bitte das Verhalten meiner Brüder.“

Eine abgenutzte Floskel, die Reijus Mund nur der Höflichkeit wegen verließ. Wenn es nach ihr ging, hatten sich die vier unverschämten Männer allesamt untereinander verdient. Bestätigt wurde sie in dieser Annahme zusätzlich, da Shanks lachend abwinkte.

„Ach was! Das sind doch drei ordentliche Burschen. Denen werde ich die Ohren schon noch langziehen, sollte Bedarf bestehen.“

Einen nach dem anderen spuckte das Wasser die „ordentlichen Burschen“ nun aus und offenbarte somit, dass jeder von ihnen nicht nur knalliges Haar in jeweils einer anderen Farbe hatte, sondern auch exakt dazu passende Badehosen. Entfernt erinnerten sie an ein gewisses Enten-Trio aus diesen allseits bekannten Comics.

Reiju gab ihr Bestes, beide Parteien untereinander bekannt zu machen.

„Ichiji.“

Rote Haare, rote Hose und ein überhebliches Lächeln.

„Niji.“

Blaue Haare, blaue Hose und ein breites Feixen.

„Yonji.“

Grüne Haare, grüne Hose und ein verschlagenes Grinsen.

„Und das hier ist Shanks von der Kriminalpolizei. Er möchte euch ein paar Fragen bezüglich Sanji stellen.“

Sofortiges Gelächter ertönte und obwohl sie es erahnt hatte, fühlte Reiju einen Stich in ihrer Brust. Umso schlimmer, dass sie, um den Schein zu wahren, ein ähnlich bedauerndes Kichern von sich geben musste.

„Die können Sie gerne stellen!“, krakeelte Niji an Shanks gewandt.

„Wird nur nicht so viel zu beantworten geben!“, fügte Yonji an, der sich an der Schulter seines Bruders festhalten musste, um vor Lachen nicht umzufallen.

„Amüsiert euch“, schaltete sich Reiju dazwischen. Sie hatte ihr Buch aufgehoben und zog den Mantel enger um sich. „Ich gehe auf mein Zimmer. Allmählich wird mir hier draußen doch etwas kalt. Shanks, wenn Sie möchten, können Sie meinen Drink haben.“

Nach einem Cocktail war ihr nun wirklich nicht mehr zu Mute.

„Wow! Dankeschön! Sehr zuvorkommend!“

Sogleich grabschte er sich ein Glas vom Tablett und prostete Reiju zu. Diese setzte noch ein letztes, freundliches Lächeln auf, dann drehte sie sich um und verließ die Terrasse, bevor ihre aufsteigende Wut am Ende doch noch überhand nahm.

 

Oben in ihrem Zimmer angelangt schloss Reiju leise die Tür, legte das Buch auf den Schreibtisch und sank langsam auf der Bettkante nieder. Ihre Hände zitterten und sie versuchte dies zu kaschieren, indem sie ihre Finger immer wieder in ihre von halbtransparentem Stoff verdeckten Oberschenkel grub. Selbst jetzt noch, da sie alleine war, gestand sie sich keine Gefühlsregung zu. Eine solche wäre nur hinderlich bei jeglichem Unternehmen. Und unternehmen musste sie etwas. Sie konnte sich nicht auf einen heruntergekommenen Polizisten verlassen, der sich lieber gemeinsam mit ihren Brüdern betrank als wirklich an seinem Fall zu arbeiten.

Mit mehr Schwung als beabsichtigt stand sie auf und fischte ihr iPhone vom Nachtkästchen. Schnell hatte sie Sanjis Nummer gewählt und wartete mit bange pochendem Herzen auf eine Reaktion.

Es tutete einmal.

Zweimal.

Dreimal.

Reiju hörte auf zu zählen und begann stattdessen unruhig in ihrem Zimmer auf und ab zu gehen. Sanji musste einfach an sein Handy gehen. Er musste! Sie hatten sich doch vor zwei Tagen noch für dieses Wochenende zu einem gemeinsamen Abend mit Kino und selbstgemachtem Essen verabredet!

Endlich erklang das Geräusch eines angenommenen Anrufs.

„Sanji! Verdammt, was bin ich froh, dass ich dich erreiche! Die Polizei war gerade hier und...“

„...sprechen Sie bitte nach dem Signalton.“

Es war die verdammte Mailbox.

„Sanji, bitte!“

Sie wollte nicht glauben, dass dieser Shanks wirklich Recht behalten sollte, und drückte rabiat auf Wahlwiederholung. Ihre Augen brannten und sie hatte das Gefühl, als müsse sie sich jeden Moment übergeben. Schon oft hatte sie sich um ihren kleinen Bruder Sorgen gemacht, nicht jedoch in diesem Ausmaß.

„Leider ist der angerufene Teilnehmer gerade nicht erreichbar. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen wollen...“

Reiju legte auf und rief wieder an. Es konnte einfach nicht wahr sein. Bestimmt hatte Sanji sein Handy nur verlegt oder irgendwo vergessen.

Warum aber dann liefen ihr heiße Tränen die Wangen hinab? Und warum konnte sie sich nicht länger auf den Beinen halten, sondern sackte kraftlos an ihrem Schreibtisch zusammen?

„Leider ist der angerufene Teilnehmer...“

Erneut abgewürgt, erneut angerufen. Immer und immer wieder, während eine ihr unbekannte Panik schleichend von ihr Besitz ergriff und sich eiskalt an ihren Nacken klammerte. Unzählige absurde und grausame Szenarien schossen ihr durch den Kopf. Wieso Sanji? Wo war er? War es ein Unfall gewesen oder gab es Schuldige? Hatte man ihn niedergeschlagen? Ertränkt? Gevierteilt? An Fleischerhaken zum Ausbluten aufgehängt, um eine nicht existierende, finstere Gottheit zu besänftigen?

„Leider ist der...“

Mit einem undefinierbaren Zischen warf Reiju das Telefon vor sich auf den Tisch und begrub ihr Gesicht in den Händen. Sie wusste nicht, wie lange sie hier schon so saß und langsam versiegten auch ihre letzten Tränen. Sie hatte einfach keine Kraft mehr, um weiterzuweinen. Sanji war das einzige an Herzenswärme, das es in ihrem Leben noch gab, seit ihre Mutter kurz nach der Geburt der Vierlinge erkrankt und wenige Jahre später schließlich gestorben war. Er hatte ihr immer wieder Kraft gegeben und sie aufgemuntert, wenn die Karriere unnötige Skrupellosigkeit von ihr abverlangt hatte oder sie einfach erschöpft gewesen war vom Umgang mit dem Rest der Familie. Nun aber war er unerreichbar. Fort. Vermisst, wenn sie der Polizei tatsächlich Glauben schenken konnte.

Wobei da aber grundlegend etwas keinen Sinn ergab. Selbst wenn sie sich aberhunderte von schrecklichen Tathergängen ausmalte – wer hätte diese denn ausführen sollen?

Sanji war flink und hatte einen schwarzen Gurt im Kickboxen. Gegen einen dahergelaufenen Kleinkriminellen hätte er sich auf jeden Fall zu behaupten gewusst. Außerdem war er beliebt und hatte dort, wo er arbeitete, viele Freunde gefunden. Niemals hatte er auch nur irgendjemanden erwähnt, der ihn hasste oder mit dem es ernstzunehmende Probleme gab. Kurzum: Feinde hatte er keine.

Oder vielleicht doch?

War die Familie Vinsmoke nicht sein größter und auch offensichtlichster Feind?

Plötzlich saß Reiju kerzengerade in ihrem Stuhl und ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinab. So sehr sie es auch wollte, sie konnte beim besten Willen nicht ausschließen, dass ihr eigener Vater oder noch viel wahrscheinlicher ihre dummen Brüder mit Sanjis Verschwinden zu tun hatten. Zu oft fiel das Wort „Nichtsnutz“ mit ihm im Zusammenhang. Sollte sich nun in einer der vielen Waffenfabriken ein Weg gefunden haben, wie er sehr wohl von Nutzen sein konnte…

Nein, der Satz war zu scheußlich, um ihn weiterzudenken.

Abrupt stand Reiju auf. Sie brauchte Beweise. Ihr Problem dabei war nur, dass sie zwar sehr wohl wusste, wo und wie diese zu finden waren, doch ein Eindringen in das Privatbüro ihres Vaters wäre erstens ein riesiger Vertrauensbruch und zweitens etwas, das ausgeklügelter Planung bedurfte.

Heute nicht. Nein, das geht unmöglich. Nicht, solange er im Haus ist. Was aber ist mit morgen? Ist er da nicht eingeladen bei diesem… wie hieß er noch gleich? Irgendetwas mit „Don“…?

Die zarte Melodie von Edvard Griegs Morgenstimmung, die aus den Lautsprechern ihres iPhones tönte, riss sie aus ihren Gedanken. Es war der Klingelton, den sie für Sanji eingestellt hatte.

Niemals zuvor in ihrem Leben hatte sie sich um Punkt 22 Uhr verzweifelter auf ein Telefon gestürzt.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  TK-Rabe
2020-11-21T18:35:26+00:00 21.11.2020 19:35
Ein toller Shanks.
Reiju ist auch überragend geschrieben. Top top top
Antwort von:  SimonStardust
27.08.2022 10:50
Dankeee~
Bei Shanks ist der Spagat zwischen ernst und dämlich schon etwas schwierig. Ich muss direkt mal den Hut ziehen vor dir, dass du den immer so toll hinbekommst. ^^
Von:  Maire
2020-07-15T19:33:11+00:00 15.07.2020 21:33
O.O
Jetzt bekomme ich noch sehr viel mehr Angst um Sanji... Reijus Gedankengänge sind echt beängstigend...

Aber erstmal zu Anfang.
Ich kann mir das alles so gut vorstellen. Wie sie alle abwertend über unseren blonden Liebling herziehen und ihn am liebsten Staub fressend unter ihren Füßen liegen sehen wollen....
Aber das darf nicht passieren!! Nein nein!! Da muss etwas getan werden!
Shanks würde ich nebenbei gerne mal ins Hirn schauen. Alkohol saufender Kerl... Dabei mag ich ihn eigentlich so sehr XD Aber gerade nicht. Er tut so wenig für den Fall, jedenfalls sieht es auf den ersten Blick aus.

Ach ja, das du Reiju das Kapitel oder sogar vielleicht mehr gibts, verstehe ich schon jetzt sehr gut. Sie ist ein wichtiger Teil in Sanjis Leben....
Jetzt würde ich so gerne weiter lesen, aber ich kann nicht >.< Aber morgen bestimmt.

Egal wann, auf jeden Fall
bis bald
Maire
Antwort von:  SimonStardust
16.07.2020 09:40
Naja, sie macht sich eben Sorgen. >.<

Ja, so Szenen sind hart zu schreiben, aber damit die Geschichte gut wird, muss ich da durch. :,D
Shanks. xDDD Das stimmt, ich lass ihn hier in einem nicht ganz so guten Licht dastehen. Aber das legt sich noch. Ein wenig zumindest. Hoffe ich. :,D Immerhin mag ich ihn ja eigentlich auch... in nem alternativen Universum fällt das mit dem Alkohol halt i-wie nochmal ne Spur mehr auf, hab ich das Gefühl. x,D

Jap. So viel kann ich verraten: Es wird zwar eine Weile Dauern, aber Reiju bekommt noch ein paar Kapitel. ^_^
Hui, dann viel Spaß noch beim Weiterlesen, sobald du Zeit dazu findest. :3

LG Simon


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