Zum Inhalt der Seite

Fremde gehen

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Seit dem Trennungsfreitag sind ganze vier Wochen vergangen. Mein Dasein hat sich seitdem stark verändert. Ich betreibe einen ausdauernden Balanceakt zwischen dem Job, der Familie, dem täglichen Pendeln und der neuen Assistentin und es macht mich richtig fertig. Ich versage auf allen vier Fronten. Es liegt größtenteils daran, dass ich aktuell sowohl geistig als auch körperlich in einer sehr üblen Verfassung bin. Letzter Zeit belastet mich der Alltag auf einmal ungewöhnlich stark. Einfache Dinge sind ganz plötzlich fast untragbar. Der berufliche Pendelverkehr — Überlebenskampf. Geschäftliche Kommunikation — Daueraufreger. Ich kann nicht mal vernünftig die Dokumentation lesen. Jeder Satz ist eine Schlacht. Jeder Paragraph kostet enorm viel Überwindung. Jede Seite überfordert. Mein Blick schweift eine halbe Stunde lang über die schwarzen Buchstaben auf dem weißen Hintergrund und im Nachhinein bleibt davon Null hängen. Dann lese ich den Text nochmal. Mit dem Schreiben ist es genauso. Meine Gedanken sind ein Glibber aus Selbsthass, juristischen Texten, Spezifikationsdokumenten, Ärgernissen über meine Angestellten und Naruto. Nur sehr wenig davon kann ernsthaft auf Papier gebracht werden. Meine produktive Leistung hat ihr historisches Tief erreicht. Obwohl ich weniger Aufgaben habe, muss ich mehr arbeiten als sonst, weil ich so verdammt unproduktiv bin. So hat sich die Stundenreduktion auf die Anzahl meiner Arbeitsstunden überhaupt nicht ausgewirkt. Nebenbei muss ich mich um meine blutende kranke Verwaltung kümmern. Hinata, die Vertretung von Naruto, schafft es einfach nicht, also muss man zwischendurch jemanden anlernen. Das kann mein Nervensystem gerade noch so verkraften. Tagsüber mache ich Hinata richtig fertig und abends plagen mich deswegen schmerzhafte Gewissensbisse. Das ist nicht okay. Hinata kann nichts dafür, dass mein Leben gerade unaufhaltsam entgleist. Allgemein ist das alles überhaupt nicht okay. Den Arbeitsstress schleppe ich in seinem schlimmsten Ausmaße mit nach Hause und lasse es manchmal an meinen Lieben aus. Jeder solche Ausrutscher spornt meinen Selbsthass an. In diesem nicht funktionierenden Zustand möchte ich mich meiner Familie am liebsten nicht stellen. Da ich letzter Zeit eh sehr unproduktiv bin, lädt mich diese ganze Situation ein, die Arbeit mit nach Hause zu nehmen und damit ins Arbeitszimmer zu verkriechen. Die einzige Sache, die zuverlässig klappt. Keine Ahnung, wie lange all das noch gut geht. Aktuell läuft es irgendwie und in diesen chaotischen Umständen ist es das einzige, was zählt. Dabei müsste ich eigentlich rausfinden, was jetzt konkret zu tun ist, um diese wackelige Situation zu verbessern. Leider bin ich überhaupt nicht in Verfassung, mich mit sowas Grundlegendem zu beschäftigen. Zurzeit bin ich froh, wenn ich einen weiteren Tag heil überstanden habe. Nicht gerade eine Glanzleistung.
 

Dadurch, dass ich seit vier Wochen Hinata anlernen muss, habe ich mich oft an Narutos Anfang erinnert. Ich kann allgemein nicht aufhören, Hinata mit Naruto zu vergleichen. Oberflächlich sind sie sich sehr ähnlich: beide 23, beide auf ihre Art unerfahren, beide nicht weit von der Uni entfernt. Hinata hat erst dieses Jahr ihr Abschluss gemacht und bei Naruto steht es noch aus. Aber eigentlich sind sie sehr verschieden. Sie ticken ganz anders. Hinata ist ruhig und besonnen, Naruto ist turbulent und energisch. Hinata hat etwas Erfahrung, dadurch ist es nicht so schmerzhaft, ihr beim Arbeiten zuzugucken. Bei Naruto war es richtig schmerzhaft. Als er hier angefangen hat, hatte er überhaupt keine Ahnung. Nichts. Null. Er hat nichts auf die Reihe gekriegt. Dabei war er unverschämt von sich überzeugt. Ich weiß nicht genau, was mich davon abgehalten hat, ihn gleich am Anfang loszuwerden. Vielleicht lag es daran, dass Naruto mich nie ernsthaft genervt hat. Im Gegensatz zu meinen anderen Angestellten fand ich den Typen und seine dämliche Ahnungslosigkeit eher belustigend. Nichtmal dann konnte er mich ernsthaft zur Weißglut bringen, als er mir in seiner ersten Arbeitswoche beweisen wollte, dass er tatsächlich besser wüsste, wie man bestimmte Unterlagen vorbereitet. Ich habe ihn da ziemlich hart zurechtgewiesen. Manche würden es sogar „fertig gemacht“ nennen. Seitdem passierten solche Zurechtweisungen ziemlich oft. Da kam seine Einzigartigkeit ins Spiel. Er ist ganz anders damit umgegangen, als alle Assistenten zuvor. Obwohl er schmerzhaft auf die Nase fiel, hat er währenddessen nie vergessen, für sich zu denken. Er lernte dabei sogar rasch dazu und nahm es nie persönlich. Deswegen wurden seine Antworten immer schlagfertiger. In den letzten Jahren ist mir sowas sehr selten begegnet, erst recht nicht unter meinen unzähligen Assistenten. Sie gingen streng nach dem Lehrbuch vor. Bloß keine Fehler machen. Naruto handelte vom Tag eins eher umgekehrt. Nichts mit Lehrbuch. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, war es etwas unverantwortlich von mir, ihn einfach machen zu lassen. Aber es war genau das richtige. Ich weiß nicht, warum ich da keine Bedenken hatte. Dafür gab es eigentlich keinen Grund. Das habe ich einfach so aus dem Bauch heraus entschieden. Außerdem war es eine echte Freude, einen jungen Kollegen anzulernen, der so einen lebhaften Intellekt und so eine unverfälschte Leidenschaft so authentisch in sich vereinte. Darüber hinaus ist er unglaublich frech. Er traut sich Sachen, aber er macht es sehr elegant. Dafür besitzt er ein unglaublich starkes inneres Gespür. Auch ganz am Anfang war er provokant, aber er wusste exakt, wann es zu viel wurde. Deswegen kann er zum Beispiel meine Geschäftspartner spielerisch in meinem Terminkalender herumschieben. Die Beherrschung dieser Kunst steht seinem Charakter unglaublich gut. Vielleicht ein bisschen zu gut. Diese Frechheit hat mich von Anfang an extrem gereizt. Es war unglaublich spannend seinem unaufhaltsamen Fortschritt zuzugucken. Ich wollte immer wissen, was er sich als Nächstes traut, und ob es Probleme macht. Kein einziges Mal wurde er dabei aufgehalten. Er kann eben sehr geschickt ums extrem trübe Geschäftliche herumtänzeln. Und so verwandelte es sich in ein Spiel: ich stellte ihm eine unmögliche Aufgabe und er lieferte eine brillante Lösung. Es war erfrischend, fluffig und intellektuell sehr stimulierend. Mit so einer Assistenz brachte die Arbeit auf einmal deutlich mehr Freude. Es führte schlussendlich dazu, dass er sich eines Abends getraut hat, seinen verheirateten Chef zu küssen. Wie gesagt, er wurde kein einziges Mal aufgrund seiner Frechheit aufgehalten. Dann wurde es zwischen uns etwas verzwickter. Tja… was anfangs als ein belangloses fluffiges Spiel anfing, endete so bitter, dass er seit vier Wochen wegen einer akuten Belastungsstörung krankgeschrieben ist. Jedes Mal, wenn ich daran denke, verspüre ich diesen stechenden Schmerz in der Brust. Jetzt auch.
 

Naruto, ich hoffe, dir geht es entsprechend den Umständen gut. Hoffentlich sieht dein Kühlschrank nicht so trist aus, wie ich ihn vor vier Wochen vorgefunden habe, und hoffentlich ist deine Wohnung nicht mehr so unangenehm chillig. Bitte erhole dich gut. Es ist wichtig, dass du gesund wirst.
 

„Uchiha-san, entschuldigen Sie… ich habe ein paar Fragen…“ Hinata steht in meiner Tür. Und schon wieder versteht sie irgendwas nicht. Sasuke, nicht verzweifeln! Sie lernt ja dazu, nur eben sehr langsam. Dass Naruto nach vier Wochen fast alle Aufgaben allein erledigen konnte, ist kein Maßstab für alle.

„Na dann zeig mal her“, lasse ich begeisterungslos ab. Sie reicht mir die Papiere. Oh ne, nicht schon wieder das! Dieses Prozedere erkläre ich ihr schon zum dritten Mal und zum dritten Mal wirkt sie so, als wäre diese Info ganz neu. Ja, sie ist eindeutig verwirrt. Mal wieder. Ich seufze.

„Hinata, wenn du es dir nicht merken kannst, schreib es bitte auf“, lasse ich besiegt aus. „Du hast mir schon drei Mal fast dieselben Fragen zum einen Vorgang gestellt und so langsam müsstest du es rauskriegen. Komm, setz dich hin. Hier, nimm den Bleistift und schreib die Erklärungen direkt hier am Rand, okay?“ Ich zeige im Text auf eine entsprechende Stelle aber sie zögert. Man, Hinata! Beschmiere endlich das blöde Blatt! Ich halte einmal inne. Bloß nicht genervt klingen. Es ist nicht ihre Schuld. Ich lasse nach einer kurzen Pause hoffnungslos aus: „Warum schreibst du denn nichts auf?“

„Dies ist die einzige Kopie…“, wendet sie zögerlich ein.

„Na dann machst du dir halt ne neue!“ Mein Gott, warum stellt sie sich so dumm an, ha?! Sasuke, entspannt bleiben! Ich atme durch. „Diese kannst du gerne als Muster behalten.“ Okay, ich habe den Satz nicht allzu abwertend ausgesprochen. Gut.

„Stimmt… Sie haben natürlich völlig recht…“, lässt sie beschämt ab.

„Gut, dann lass uns das Dokument noch ein letztes Mal durchgehen. Du fragst bitte gleich alles nach, was du nicht verstehst. Ich hätte gerne, dass du nach diesem Gespräch so eine Art von Verträgen selbstständig vorbeireiten kannst, okay?“
 

Sie hat nur kurz genickt und jetzt gehen wir die 32-seitige Form zusammen Stück für Stück durch. Ich fühle mich wie ein Babysitter und es ist extrem belastend. Ich habe nichts gegen Unerfahrene, aber sie müssen schon mitdenken können. Und Hinata ist… naja… sie ist eben kein Überflieger. Eher das Gegenteil. Ich werde furchtbar ungeduldig, wenn jemand etwas nicht versteht. Wenn die Person dieselben Fehler nach dreifachem Erklären macht, bildet sich in meinem Inneren ein riesiges Geschwür, das in jeder Sekunde platzen kann. Naruto hatte diesbezüglich schon irgendwo recht. Ich komme hauptsächlich mit Leuten klar, die genauso schnell denken, wie ich selbst.
 

Nun sind wir fertig und sie ist weg. Sie hat behauptet, alles verstanden zu haben. Sie hat gemeint, sie könne sich ab jetzt um diese Art Verträge alleine kümmern. Ich muss nachher trotzdem unbedingt drüber gucken. Keine Ahnung, was sie da wirklich anstellt. Aber es ist schon okay, dass sie dreimal nachfragt. Sie hat es ja nötig. Es ist eigentlich sehr vernünftig sogar hundertmal dieselbe Frage zu stellen, falls sie etwas nicht versteht. In diesen Dokumenten werden millionenschwere Geldsummen freigegeben. Da können wir uns keinen Fehler leisten. Mich nervt es trotzdem tierisch. Noch schlimmer nervt mich, dass Hinata überhaupt nicht Naruto ist. Ich wünsche es so gern…
 

Naru, ohne dich geht es meiner Verwaltung überhaupt nicht gut. Sie ist verkrüppelt und sie verblutet innerlich. Sie wird von dieser Neuen auf eine grausame Art zerpflückt, verunstaltet und kaputtgemacht. Niemand kann mit ihr so gut umgehen, wie du. Du fehlst ihr jeden Tag. Ohne dich kann sie nicht vernünftig funktionieren. Aber ich muss mich gefälligst damit abfinden. Du wirst sicherlich schon sehr bald gehen. Nur dummerweise bin ich darauf überhaupt nicht vorbereitet.
 

***
 

„Komm ins Bett“
 

Eine Kurznachricht erscheint auf meinem Handy. Es ist schon 12:18. Es ist schon wieder morgen. Ich muss in knapp vier Stunden im Zug sitzen. Sakura hat recht, ich muss ins Bett.
 

Ich sammle meine Unterlagen zusammen und packte sie in die Tasche. Bloß nicht diesen unfertigen Müll vergessen. Es ist wichtig oder so. Morgen muss ich daran basteln — vorzugsweise im Zug — und dann gebe ich den fertigen Müll ab. Letzter Zeit ist alles, was ich produziere, zutiefst abschreckend. Egal. Wenn Kakashi es mir so abnimmt, dann ist er damit wohl einverstanden. Wenn nicht, dass mach ich es nochmal. Was soll’s…
 

„Sorry, dass ich mich schon wieder im Arbeitszimmer einschließe“, werfe ich begeisterungslos meiner Frau zu und lege mich zu ihr.

„Hör auf damit. Du arbeitest dich kaputt und ich weiß, dass es dir bewusst ist.“ Ich sage nichts dazu und sie fährt fort: „Du warst schonmal an diesem Punkt. Willst du wieder ein halbes Jahr im Krankenhaus verbringen?“

„Nicht wirklich…“

„Dann hör auf damit.“
 

Wir schweigen einander an und diese Stille ist zutiefst peinlich. Ich ergreife die Initiative und mache das Licht aus. So lässt sich die erdrückende Atmosphäre in diesem Raum fast verkraften. Ihre Arme legen sich um mich herum und sie lässt einen schweren Seufzer ab. Somit hat sie alles gesagt, was ich wissen muss.
 

Sie ist sich nicht sicher, ob ich sie überhaupt liebe. Wenn ich so viel arbeite, zweifelt sie daran, dass ich unsere Lage ernsthaft ändern möchte, und es treibt sie in Verzweiflung. Ich verletze sie und sie weiß nicht, wie lange sie es noch aushalten kann. Sie schmiegt sich schutzbedürftig an mich heran und ich verspüre dabei nichts. Es macht mir Angst. Es soll nicht so! Ich erwidere ihre Umarmung und drücke sie fester an mich heran in der Hoffnung, dass mein Empfinden zurückkommt, aber nein. Ich bin für ihren Schmerz absolut taub. Scheiße, was ist das?! Warum spüre ich nichts?! Sie ist doch meine Frau und es geht ihr nicht gut! Warum kann ich es nicht nachempfinden?! Warum kümmere ich mich nicht endlich darum, was wirklich wichtig sein sollte?! Was ist los mit mir?! Warum kann ich wieder nicht normal sein?!
 

„Sakura, ich kann nicht mehr“, entweicht mir schwach. Sie sieht zu mir auf. In ihren großen smaragdgrünen Augen sehe ich ein schreckliches Leid. „Bitte mache, dass es weggeht. Bitte hilf mir… bitte fix mich irgendwie… ich bin völlig kaputt.“
 

Sie lächelt mich schwach an. In ihren großen Augen geht ein kleiner Hoffnungsschimmer auf. Und dann gibt sie mir einen „Gute Nacht“ Kuss und ich vergesse mich völlig in einem hohlen narkotisierenden Schlaf.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Onlyknow3
2021-02-21T11:03:55+00:00 21.02.2021 12:03
Keiner der drei kan ohne den anderen, Sakura klammert sich an Sasuke, dieser an seine Arbeit und somit an Naruto.
Zumindest in Gedanken, während jener zuhause still vor sich hin vegetiert, in der leisen Hoffnung das Sasuke dem ein ende macht und zurück kommt mit fliegenden Fahnen in seine Arme. Sasuke wird es erst besser gehen, wenn er sich aus dem Strudel löst und sich seiner Gefühle für Naruto stellt, auch wenn er nicht mit ihm zusammen kommt.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  suugakusan
21.02.2021 16:27
Danke fürs Feedback :) vielleicht wird Herr Uchiha ja noch erleuchtet. Oder Herr Uzumaki
Von:  Scorbion1984
2021-02-20T19:56:20+00:00 20.02.2021 20:56
Das geht auf die Dauer nicht gut ,einer wird auf der Strecke bleiben ,bis jetzt ist es Naruto doch bleibt es dabei ?
Auch Sakura ist schon erledigt ,sie versteht ihn nicht mehr .
Antwort von:  suugakusan
21.02.2021 16:25
Alle diese Beziehungen funktionieren nicht mehr so richtig. Die meisten hat Sasuke irgendwie selbst kaputt gemacht


Zurück