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Gruselige Kurzgeschichten-Eine Sammlung

von

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Geschichte 5

Ich lag in meinem Bett und seufzte. Meinen Sohn konnte ich mal wieder bis in den Schlaf hinein hören. Ich schlug die Decke zurück, setzte mich im Bett auf und zog meine Pantoffel über die Füße. Rasch, aber leise, denn ich wollte nicht, dass auch mein Mann wach werden würde, schlüpfte ich in den Flur und ging zum Zimmer unseres Sohnes. Es lag auf der gleichen Ebene, direkt gegenüber von unserem Zimmer, aber am anderen Ende des Flurs. Ich drückte die Tür auf und machte das Licht an. Wie die Tage zuvor hatte er sich komplett unter die Decke gekugelt, so klein wie nur möglich. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, so hätte es vielleicht lustig ausgesehen, wie seine Decke einen Hügel bildete. Aber es war ernst, denn Felix hatte Angst. In letzter Zeit hatte er immer und vor allem und jedem Angst. Ich setzte mich vorsichtig auf die Bettkante und streichelte über die Decke. „Felix, was ist denn los mein Kleiner?“ Er schluchzte auf, kroch aber dann doch ein Stück weit unter der Decke hervor. „Er war wieder da!“ Tränen liefen ihm über das Gesicht. Ich streichelte seinen Kopf um ihn zu beruhigen. „Wir haben das doch schon besprochen, hier ist nichts, vor dem du Angst haben musst! Alles ist in Ordnung.“ Sein Blick verriet mir, dass nichts in Ordnung war. Und ich muss zugeben, dass ich so langsam nicht mehr weiter wusste. Felix war nun schon neun Jahre alt, fast zehn. Er sollte nicht mehr so schlimme Alpträume haben. Vor allem nicht immer mit einem „Schatten“, den er immer wieder sah und der ihm anscheinend eine heiden Angst einjagte. Ja, natürlich hat jeder Alpträume und natürlich hat man manchmal auch wiederkehrende Alpträume. Aber Felix war mittlerweile nicht mehr er selbst. Sonst war er immer sehr selbstbewusst gewesen und hatte vor fast nichts Angst. Jetzt durfte man teilweise nicht einmal mehr zu laut atmen. Ich drückte ihn fest an mich und blieb einige Minuten in der Pose. Als ich merkte, wie sein Atem wieder ruhiger wurde, deckte ich ihn richtig zu und schlich zurück ins Schlafzimmer.
 

Ich zog gerade die Hausschuhe aus und wollte mich wieder zudecken, als mein Mann sich zu mir rumdrehte. „Was war denn schon wieder?“ Ich zog die zunächst die Decke bis zum Hals. Es war kühl und ich hatte eine Gänsehaut auf den Armen, weil mir so kühl war. „Du weißt schon, es war wieder wegen dem Schatten…“. Am liebsten wäre ich gar nicht darauf eingegangen, denn ich wusste jetzt schon, wie mein Mann reagieren würde. „Das kann doch gar nicht sein! Was ist mit ihm den nur falsch? Er soll sich nicht so anstellen!“ Ich musste ein Seufzen unterdrücken. Ich wollte seine Wut nicht auch noch auf mich lenken, aber es konnte so nicht weitergehen. „Weißt du, Bernd, vielleicht sollten wir doch mal zu einem Arzt gehen…“. Ich wusste, ich hatte damit eigentlich schon zu viel gesagt. „Zu einem Arzt? Denkst du etwa unser Junge hat sie nicht mehr alle? Der ist doch nicht Plemplem, der ist nur eine Memme! Wir sollten das wirklich nicht noch unterstützen, Erica!“ Da war sie wieder: Die Tour, die mein Mann bei diesem Thema immer an den Tag legte. Ich liebte ihn wirklich, und ja, bestimmt war er auch in einigen Dingen ein ziemlicher Macho, aber bei diesem Thema übertrieb er es wirklich. So kannte ich ihn überhaupt nicht und ich weiß nicht, was das bedeuten sollte. Ich schaute zu ihm herüber, aber er hatte sich schon wieder auf die andere Seite gedreht. Für ihn war die Sache damit erledigt. Sein Sohn brauchte keinen „Seelenklempner“, wie Bernd sich immer ausdrückte. Wenn ich an Felix dachte, war ich mir da aber nicht so sicher. Es ging nun schon einige Wochen so. Felix hat seitdem fast nie durchgeschlafen und die Nächte wurden immer schlimmer. Er wachte nicht nur auf, er hatte richtige Panik, er weinte, er versteckte sich. Jeden Tag sah er erschöpfter aus. Alles, was ich von meiner Seite aus tun konnte, hatte ich schon getan. Wie oft hatte ich mit Felix schon darüber gesprochen? Ich konnte es schon nicht mehr zählen. Er sagt er hatte keine Probleme in der Schule. Mit den Freunden auch nicht. Er hat mir genau erklärt, was er nachts „sah“. Es war wohl ein kleiner, sehr dunkler Schatten. Erst war er nicht so oft da, ging mal an der offenen Tür vorbei. Felix schloss sie jede Nacht, doch das half nicht. Plötzlich würde er wieder im Zimmer stehen. Zuerst stand er auch immer nur ruhig da, an einer Wand, in einer Ecke. Doch Felix meint, dass er sich immer mehr bewegen würde. Ich weiß nicht, warum er immer wieder diesen Schatten sah. Bei uns war nichts geschehen, niemand war gestorben, wir waren nicht umgezogen. Ich konnte mir nicht erklären, warum diese Alpträume so plötzlich kamen. Lange noch lag ich im Bett wach, den Blick zur Decke gerichtet. Die Gedanken schwammen in meinem Kopf, bis der Morgen schon anfing zu dämmern.
 

Am Morgen sah ich nicht viel besser aus als Felix. Bernd war schon zur Arbeit, Felix hatte ich in der Schule krank gemeldet. So fertig würde ihm die Schule sowieso nichts bringen. Nun saß er am Frühstückstisch, stocherte lieblos in seinen Cornflakes herum, die langsam eher wie ein Brei aussahen und gab nichts von sich. Ich nippte an meinem Kaffee, stellte die Tasse dann auf den Tisch und sah ihn auffordernd an. „Felix. Was war denn letzte Nacht?“ Er schaute nicht auf, rührte nur weiter in der Schüssel und zuckte mit den Schultern. „Ich sehe doch, dass du total müde bist. Und du hattest die Nacht doch auch wieder Angst. Ich habe dich bis ins Schlafzimmer gehört! Mir kannst du es doch erzählen.“ Ich legte ihm meine Hand auf den Arm und nun blickte er doch auf. „Das würdest du mir ja doch nicht glauben…“. Er schob seine Unterlippe ein Stück vor und sah nun fast ein wenig trotzig aus. „Du kannst es ja mal versuchen.“ Mehr sagte ich nicht, ich wollte ihn auch nicht drängen. Nachdenklich verzog er das Gesicht. „Na gut. Aber du darfst nicht lachen und du musst mir glauben, dass es wirklich passiert ist!“ Ich nickte ernst, und er rang sich doch noch dazu durch sich mir anzuvertrauen. „Ok. Also… der Schatten… der war letzte Nacht wieder da. Zuerst stand er einfach nur da, in der Ecke neben meinem Schrank. Aber dann…“ Er rührte nun eifriger in seiner Schüssel, es war ihm sichtlich unangenehm darüber zu reden. „Weißt du, es klingt verrückt, aber seit einigen Tagen spricht er mit mir. Er sagt ganz schlimme Dinge. Auch letzte Nacht, da war er ganz nah an mir dran. Und er hat wieder ganz schlimme Dinge gesagt. Als ich dann angefangen habe zu weinen, haben seine Augen angefangen rot aufzuleuchten und er hat gelacht. Richtig boshaft… Ich habe mich unter der Decke versteckt, aber ich konnte das Lachen immer noch hören. Und dann… bist du rein gekommen, erst dann war er still.“ Sanft strich ich über seinen Kopf. „Ist es so schlimm was er gesagt hat?“ Felix nickte still. Dann kam ihm wohl ein Gedanke. „Hast du den Schatten nicht gesehen, als du rein gekommen bist?“ Er wirkte regelrecht etwas aufgeregt, ich konnte die Hoffnung spüren. Langsam schüttelte ich den Kopf. „Nein, im Zimmer habe ich nur dich gesehen. Also, viel mehr den Berg unter der Decke, aber ansonsten war da nichts, tut mir leid.“ Sichtlich sackte Felix zusammen. Anscheinend hatte auch er Angst, dass er verrückt wurde. „Meinst du… Also was ich sagen möchte ist, vielleicht sollten wir mal zu einem Arzt gehen. Vielleicht kann der dir mit deinen Alpträumen helfen!“ Ich lächelte ihm aufmunternd zu, aber er wurde augenblicklich wütend. „Also glaubst du mir doch nicht! Das sind keine Alpträume, der Schatten ist wirklich da!“ Dann stand er auf, kippte außer sich vor Wut den Stuhl um und rannte die Treppe hinauf in sein Zimmer. Die Kaffeetasse zwischen den Händen saß ich noch da, allein in der leeren, stillen Küche. Wusste, ich war es falsch angegangen. Wusste aber nicht, was ich anders, was ich besser hätte machen können. Und wieder starrte ich einfach nur ins leere und ließ den Gedanken freien Lauf, nicht zum ersten Mal.
 

Auch ich war nervlich am Ende, das merkte ich. Mein Mann war mir keine Unterstützung, aber er war sowieso die meiste Zeit am Arbeiten, daher war ich viel allein zu Hause. Unser Sohn war auch nicht oft da, war er doch meistens in der Schule und wenn er nicht dort war bei einem seiner Freunde. Es hat mir nie so sonderlich viel ausgemacht, ich habe genug im Haushalt zu tun, genoss es spontan auch einfach mal eine Runde Laufen gehen zu können und freute mich so auch immer riesig auf meine beiden Männer. Es gab immer irgendetwas zu erzählen. Aber jetzt fühlte ich mich einsam, ja richtig allein gelassen. ‚Sollte ich doch einmal bei einem Arzt anrufen? Ich könnte mich ja zumindest beraten lassen. Vielleicht könnte die Praxis auch einschätzen, ob ein Besuch überhaupt nötig war, oder ich doch nur überreagiere.‘ Eigentlich war der Gedanke aufmunternd. Ich konnte mir Hilfe holen, vielleicht war ich doch nicht so alleine, wie ich dachte. Aber schnell kamen andere Gedanken dazu. ‚Das würde Bernd niemals mitmachen. Und wie es aussieht Felix auch nicht. Wie sollte das also funktionieren?‘ Frustriert schob ich meinen Stuhl zurück und spülte meine Tasse im Spülbecken aus. Danach räumte ich auf, putzte, saugte Staub, alles, nur ich wollte nicht weiter nachdenken müssen. Denn es brachte mir kein Ergebnis.
 

Am Abend stand ein üppigeres Essen auf dem Tisch als sonst. Das Kochen hatte mich abgelenkt. Berns lobte es aus vollen Tönen, aber mehr als ein Lächeln brachte ich nicht zustande. Er wollte immer noch nicht über die Situation reden. Felix saß still an seinem Platz, lächelte aber einige Male seinem Vater zu, damit dieser ihn ansonsten in Ruhe ließ. Immer wieder stocherte ich lustlos in den Möhren und den Kartoffeln herum. Ich aß zwar den Teller leer, aber die letzten Bissen waren schon längst kalt. Eine zweite Portion kam gar nicht in Frage, das Essen wollte so schon kaum die Speiseröhre runterrutschen. Als alle fertig waren räumte ich das Geschirr weg, dann setzte ich mich zu Bernd auf das Sofa. Er schaute irgendeine Show, aber viel bekam ich nicht mit. Die Show interessierte mich nicht und ich hatte auch keinen Kopf für sowas. Nicht lange, da nahm ich mir lieber ein Buch mit nach oben, zog meine Schlafsachen an und las noch etwas im Bett. Das Buch war unverfänglich und leicht. Ich konnte mich zwar auch hier nicht so richtig konzentrieren, aber bei dem Buch war das verzeihlich. Gerade war ich in der Geschichte gefesselt, da hörte ich einen dumpfen Schlag aus dem Flur. Felix war ja schon seitdem Abendessen hier oben, ich ging also davon aus, dass er es war. Einige Seiten weiter erklang das Geräusch jedoch erneut. Mit in Falten gelegter Stirn legte ich das Buch auf das Nachttischchen und ging in den Flur. Das Licht war aus, daher konnte ich zunächst nichts sehen. Aber als ich das Licht anmachte konnte ich sehen… dass ebenfalls nichts da war. Felix Zimmertür stand offen, daher beschloss ich kurz zu ihm rein zusehen, ob alles in Ordnung war. Er lag auf seinem Bett und spielte mit Actionfiguren. Glücklicherweise hatte er das Geräusch anscheinend nicht mitbekommen, sonst hätte er sicherlich wieder fürchterliche Angst bekommen. Zufriedengestellt ging ich zu meinem Bett zurück, hier war alles soweit in Ordnung. Vielleicht hatte ich es mir ja doch nur eingebildet. ‚Du bist eindeutig zu gestresst!‘ Milde lächelnd rutschte ich mit den Füßen wieder unter die Decke, nahm das Buch erneut in die Hände und kuschelte mich ein. Etwas Entspannung konnte nicht schaden!
 

Ich musste wohl so eingeschlafen sein, denn ich wachte erst mitten in der Nacht wieder auf. Bernd lag schon längst neben mir, tief und fest am Schlafen. Ich rieb mir kurz über die Augen, legte das Buch dann beiseite und wollte mich gerade wieder unter die Decke kuscheln, als ich wieder einen dumpfen Schlag hörte. Ich bekam eine Gänsehaut. Es war eine Sache ein merkwürdiges Geräusch mitten am Tag zu hören, in der Nacht war es aber auf jeden Fall noch einmal etwas ganz Anderes. Und einmal mehr verfluchte ich, dass Bernd wie ein Stein schlief und mal wieder nichts mitbekam. Deshalb bekam er auch kaum mit, wenn Felix Alpträume hatte. Ich mein, das war ja auf einer Art und Weise auch gut, so konnte er Felix nicht noch mehr verunsichern, aber jetzt gerade hätte ich ihn gerne dabeigehabt. Wecken wollte ich ihn aber nicht. Er musste morgen früh wieder arbeiten, er brauchte seinen Schlaf. Ich war also auf mich alleine gestellt. Wäre es nur Felix, dann wäre ich auch im Dunkeln gegangen, da wusste ich ja worauf ich mich gefasst machen konnte. So nahm ich aber lieber die Taschenlampe aus meinem Nachttisch, so fühlte ich mich sicherer. Erst im Flur schaltete ich sie auch ein. Wieder nichts, der Flur war leer, ich konnte nichts entdecken, was für das Geräusch hätte verantwortlich sein können. Ich wollte gerade zurück ins Schlafzimmer als mein Blick auf Felix Zimmertür fiel. Sie war nicht wie sonst geschlossen, sondern stand weit auf. Mein Herz rutschte mir in die Hose, das war absolut nicht typisch für Felix. Ich ging vorsichtig näher, ich hatte Sorge, dass er wach wäre und sich erschrecken würde. Aber er lag in seinem Bett, war am Schlafen. Das beruhigte mich, hoffentlich hatte er heute nicht wieder einen Alptraum. Ich wollte gerade das Zimmer verlassen, da hörte ich ein Murmeln aus Felix Bett. Ich schaute noch einmal zu ihm hin und ja, sein Mund bewegte sich auch. Das hatte ich mir zumindest nicht eingebildet. Was genau er murmelte, das verstand ich nicht. Viel zu undeutlich sprach er. Vielleicht machte es auch gar keinen Sinn, schließlich sprach er im Schlaf. Ich zog die Decke vorsichtig ein Stück höher, verließ das Zimmer und zog die Tür hinter mir zu. ‚Hatte sich das gerade wie ein Lachen angehört?‘ Schnell drückte ich die Tür doch noch einmal auf, aber es war genauso wie vorher. Felix lag im Bett, murmelte vor sich hin und auch wenn ich das Gefühl hatte so langsam paranoid zu werden, leuchtete ich schnell das restliche Zimmer aus. Nein, alles leer, alles in Ordnung. ‚Nun die Tür zu und dann zurück ins Bett! Das ist mir doch zu gruselig!‘ Gedacht getan, wenig später lag ich wieder neben Bernd. Der natürlich nichts mitbekommen hat. Und auch wenn meine Gedanken wieder auf Wanderschaft gehen wollten, ich war so müde, dass meine Augen kurz danach wie von selbst zufielen.
 

Am nächsten Tag stand ich früh auf. Felix konnte ich nicht schon wieder krank melden, da würde er zu viel verpassen. Müde schmierte ich ihm also Schnitten, Bernd war schon fertig und verabschiedete sich zur Arbeit. Ich weckte Felix, bereitete die restlichen Sachen vor, die er in der Schule brauchen würde und zog mich ebenfalls an. Ich würde ihn schnell zur Schule fahren, dann hatte er sicherlich nicht so einen Stress. Gesagt, getan. Kurze Zeit später saß ich schon wieder auf dem Sofa, schnaufte durch und überlegte, was ich heute unbedingt machen musste und was vielleicht noch warten konnte. Motiviert war ich heute gar nicht, da konnte ich von Glück reden, dass ich so fleißig vorgearbeitet hatte und nicht viel zu tun übrig blieb. Aber das konnte jetzt auch noch kurz warten. Ich legte die Füße hoch, schaltete den Fernseher ein und ließ mich berieseln. Das tat gut, ich hatte mich schon lange nicht mehr richtig auf etwas konzentrieren können, doch heute ging es. Nach der Sendung dann die Arbeiten erledigt, dann musste ich Felix auch schon fast wieder einsammeln. Ich sah auf die Uhr. ‚Ja, ich sollte so langsam los, sonst wird es nur wieder stressig.‘ Ich parkte in der Nähe der Schule, direkt davor war der Andrang immer extrem hoch und dem wollte ich mich nicht unnötig anschließen. Und da kam Felix ja auch schon um die Ecke, sein Freund Sven dabei. Aber freundschaftlich sah das nicht aus, anscheinend waren die beiden am Streiten. So gerne ich wollte, ich mischte mich lieber nicht ein. Oft stritt Felix sich nicht, aber er stand ja nun einmal neben sich und er würde sich wie sonst auch schon schnell wieder mit Sven vertragen. Dieser lief gerade wütend über die Straße, als Felix sich wie ein nasser Sack auf die Rückbank fallen ließ. Ich sah zu ihm hin, aber er ignorierte mich, daher machten wir uns still auf den Weg nach Hause. Dort angekommen verlangte ich von Felix, dass er erst einmal seine Hausaufgaben machte, während ich das Essen vorbereiten würde. „Sag mal, warum hast du dich mit Sven denn gestritten?“ Ich schaute kurz vom Gemüse schneiden auf, aber Felix seufzte genervt auf. „Wegen gar nichts. Geht dich auch nichts an.“ So eine pampige Antwort war ich nicht gewohnt, aber nun gut, das würde ich nicht an mich ranlassen. Das Essen war gleich fertig, notfalls würde ich diese Informationen auch von Svens Mutter erhalten. Und das auch noch früher, als ich erwartet habe. Gerade hatte ich das Essen auf den Tisch gestellt, Felix war zum Glück schon mit den Hausaufgeben fertig, da klingelte das Telefon. Als ich mich meldete hörte ich nur Svens Mutter, sie klang gar nicht begeistert. „Hör mal Erica, ich weiß ja das Felix es im Moment nicht so einfach hat, aber das geht nun wirklich zu weit!“ Sie klang wirklich wütend. „Was ist den passiert? Felix wollte mir nichts dazu sagen, aber das er sich mit Sven gestritten hat war offensichtlich gewesen.“ Ein lautes Schnaufen drang durch den Hörer. „Streit? Ja, so kann man das natürlich auch nennen! Felix hat Sven heute Morgen schon ziemlich schroff angefahren, obwohl der nur wissen wollte, ob er nun wieder gesund sei. Dann hat Felix ihm ein Trinkpäckchen über die ganzen Sachen gegossen und am Ende hat er ihn auch noch geboxt! Hör mal, ich weiß Felix geht es nicht gut, aber du musst das bitte mit ihm klären. Sven hat einen großen blauen Fleck auf dem Arm und will mit Felix nicht mehr reden.“ Das saß. Zuerst war ich sprachlos, ich musste diese Informationen erst mal verarbeiten. „Das soll Felix getan haben? Ach du je, nein, da hast du recht, das geht gar nicht. So kenne ich ihn aber auch gar nicht…“. „Ich ja auch nicht, aber ich habe Sven auch noch nie so wütend auf jemanden gesehen.“ Ich nickte, bemerkte dann aber, dass Svens Mutter diese Geste gar nicht sehen konnte. „Ja, das glaube ich dir. Ich kümmere mich darum. Richte Sven schon mal eine Entschuldigung aus, ich leg auf und kläre das jetzt erst mal mit Felix. Ich melde mich dann noch einmal bei dir.“ Die Verabschiedung fiel auch eher kühl aus, verstehen konnte ich das auf jeden Fall. Felix verstehen konnte ich nicht. Als ich in die Küche zurück kam hatte er sich bereits Nudeln auf den Teller geschaufelt. „Iss bitte auch etwas Gemüse, ich habe es vorhin frisch geschnitten für dich.“ Ich schob ihm die Schüssel über den Tisch hinüber. „Übrigens… Ich habe gerade mit Svens Mutter gesprochen. Was hast du dir denn dabei gedacht? Sven hat ein großes Hämatom am Arm!“ Ich blickte Felix direkt an, er versuchte jedoch meinem Blick auszuweichen. „Jetzt mal Klartext. Er ist doch dein Freund, was ist denn nur los mit dir?“ Felix zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht.“ Es war kaum mehr als ein flüstern, ich musste mich schon konzentrieren um ihn überhaupt zu verstehen. „Ich war auf einmal total wütend. Und irgendwie war Seven heute doof.“ Er schob sich eine volle Gabel Nudeln in den Mund, damit er nichts mehr sagen musste. Ich war sprachlos. „Also hast du ihn geschlagen, nur weil er heute doof war und du wütend?“ Felix sah genervt aus. „Ist doch auch egal.“ Ich schüttelte bestimmt den Kopf. „Nein, das ist nicht egal. Ich will, dass du dich morgen bei Sven entschuldigst!“ Felix funkelte mich an „Das werde ich nicht. Warum sollte ich auch? Der kann mich mal!“ Felix sah nun richtig wütend aus. Könnte man Wut sehen, so wäre ich sicher, dass diese immer dunkler und größer brodeln um ihn herum zu sehen gewesen wäre. Er starrte mich extrem trotzig an, ich entschied zurück zu starren. Ich würde nicht so schnell klein beigeben, er konnte doch nicht einfach andere verletzen und nicht einmal einen Grund dafür haben! Felix biss nun sichtbar die Zähne aufeinander. Und dann geschah es ganz plötzlich: Die Schale mit Gemüse auf dem Tisch zersprang. Einmal glatt in der Mitte geteilt, mit einem lauten Pling. Ich zuckte richtig erschrocken zusammen. „Was…“. Felix zuckte nicht, das wunderte mich sehr, er starrte mich noch kurz an, dann nahm er seinen Rucksack. „Ich geh nach oben.“ Er war schon am Treppenabsatz, ehe ich wieder bei mir war. „Denk aber noch einmal über heute nach!“ Ich hörte noch ein brummeln, dann war er schon nicht mehr zu sehen. Ruhig nahm ich die Schüssel hoch, eine Hälfte in jeder Hand. ‚Wie kann das sein?‘ Ich starrte noch einige Sekunden mit offenem Mund darauf, aber ich fand keine Erklärung. Bestimmt hatte sie einfach vorher schon einen Riss und das war jetzt der Tropfen der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Nachdem die Schale in den Müll gewandert war, räumte ich die Küche auf. Irgendwie hatte ich ein ungutes Gefühl, konnte aber nicht genau sagen warum. Am Abend schien alles normal, Bernd erzählte gerade eine lustige Geschichte von seiner Arbeit, Felix schien sogar interessiert zuzuhören. Es war sogar sehr schön, ich entspannte mich und auch Felix sah irgendwie etwas besser aus. Nicht mehr ganz so kraftlos. An diesem Abend ging ich ins Bett, zum ersten Mal seit langem mit dem Gefühl, dass es vielleicht doch einfach so wieder in Ordnung kommen wird.
 

Aber da sollte ich falsch liegen. Felix sah zwar gesünder aus, aber die ganze nächste Zeit hat er immer wieder Streit mit seinen Freunden und auch Mitschülern angefangen, die er gar nicht kannte. Das hat er vorher nie gemacht, nun war ich ständig mit Eltern und Schuldirektor im Gespräch, warum er die anderen Verletzte. Zum Glück passierte nicht mehr als blaue Flecken, aber so konnte das nicht weiter gehen. Ich verstand es nicht, die Alpträume schienen weg zu sein. Ich wachte zwar häufig in der Nacht auf. In der Regel wegen dumpfer Schläge, ich bildete mir Schritte ein oder das jemand hinter mir war, ab und zu sah ich auch mal eine Bewegung. Aber immer lag Felix in seinem Bett. Häufig am Murmeln, aber ansonsten fest am Schlafen. Eigentlich hätte er besser drauf sein müssen, das war er aber nicht. Ich dagegen war immer schlechter zurecht. Ich schlief kaum noch, wurde wie gesagt ständig nachts geweckt, machte mir Sorgen wie es mit Felix weiter gehen sollte und hatte dazu Angst, dass ich bald mit Bernd darüber sprechen musste. Aber das musste jetzt erst mal bis zum Wochenende warten, dann musste er immerhin nicht auch noch auf die Arbeit. Besorgt war er schon. Mir war viel Geschirr herunter gefallen, wir mussten schon neues anschaffen, um die Lücken zu füllen. Anderes zerbrach so wie die Schale. Es zerbrachen Vasen, die fest auf Schränken standen. Es fielen Dinge von Schränken oder aus Regalen. Bilder fielen von der Wand. Ich war mit den Nerven am Ende. ‚Nur noch bis zum Wochenende, dann bist du nicht mehr alleine! Dann muss Bernd dir helfen!‘ Diese Worte wurden mein Mantra, die ganze Woche lang. Als es endlich Freitag war wusste ich, dass ich es fast geschafft hatte. Ich räumte am Nachmittag gerade einen zerbrochenen Teller weg, als Bernd hereinkam. Ich schüttete die Scherben schnell in den Mülleimer, dann ging ich ihm entgegen und lächelte ihn an. Sanft hauchte ich einen Kuss auf seine Wange, doch er verzog keine Miene. „Ich habe nicht so gute Neuigkeiten.“ Er schaute mich müde an. „Was ist denn passiert?“ Er versuchte zu lächeln. „Nichts wirklich Schlimmes, mach dir keine Sorgen. Aber ich weiß ja, wie müde du in letzter Zeit bist. Und ausgerechnet jetzt hat mein Chef mich ganz kurzfristig übers Wochenende auf eine Geschäftsreise beordert.“ Es fühlte sich so an, als würde der Boden unter mir schwanken. „Ein Kollege hat sich krank gemeldet, es ist wirklich sehr wichtig für die Firma, ich konnte nicht ablehnen…“. Er sah mich entschuldigend mit einem Hundeblick an. Aber ich konnte nicht anders, als ihn fassungslos anstarren. Das konnte nicht wahr sein, ich hatte es fast geschafft. Und jetzt? ‚Noch eine Woche halte ich nicht durch!‘ Bernd nahm mich in den Arm und mir kamen die Tränen. „Ich weiß, dass es ein sehr schlechter Zeitpunkt ist. Montag und Dienstag habe ich frei als Ausgleich. Ich verspreche dir, dann nehmen wir uns Zeit für uns!“ Ich wischte die Tränen von meiner Wange und nickte. Ich versuchte zu lächeln, aber es sah sicherlich eher aus wie eine Grimasse. Es war zwar nicht mehr eine ganze Woche, aber es waren noch mal zwei ganze Tage mehr, die ich durchhalten musste. Und so langsam hatte ich keine Kraft mehr. Aber ich versicherte Bernd, dass es gut gehen würde. Natürlich tat ich das. Keine Ahnung, ob es die Wahrheit war, das musste ich noch herausfinden. Der übrige Abend verlief ereignislos, Felix schien es gleichgültig zu sein, ob sein Vater nun da war oder nicht. Das konnte man nicht ändern. Ich wälzte mich nachts ständig im Bett umher.
 

Am Morgen war ich mal wieder wie gerädert, doch ich stand früh auf um Bernd wenigstens verabschieden zu können. Als er ins Auto stieg fühlte ich mich richtig leer. ‚Nur zwei Tage!‘, versuchte ich mir Mut zu machen. Dann können wir reden, dann finden wir eine Lösung. Das wird funktionieren. Den ganzen Tag war ich nicht ganz bei mir. Felix war ausnahmsweise nicht in seinem Zimmer, er saß unten und spielte auf seiner Konsole. Vielleicht war es ihm doch nicht so egal, dass sein Vater weg war, wie er tat. Es beruhigte mich ein wenig, aber nicht wirklich viel. Den ganzen Tag schaute ich immer wieder nervös über meine Schulter. Mehr als einmal dachte ich Felix würde hinter mir stehen, aber es war niemand da. Natürlich nicht. Felix war von seinem Spiel gefesselt, ich war nur über nervös. Als ich mich zum Abendessen nach einer Schüssel unten im Schrank bückte, hatte ich sogar das Gefühl etwas wäre an mir lang gestrichen. Ich konnte es eindeutig fühlen. Aber natürlich war da nichts. Ich lenkte mich mit Kochen ab, versuchte beim Abendessen ein Gespräch mit Felix zu führen, doch beides gelang mir nicht wirklich. Nach dem Abendessen ging er direkt in sein Zimmer, wahrscheinlich etwas genervt von seiner Mutter. Ich saß mal wieder alleine in der Küche. ‚Vielleicht sollte ich mein Buch weiter lesen? Aber so wirklich Lust habe ich da nicht drauf…‘ Ich wusste nichts mit mir anzufangen, beschloss dann aber immerhin doch schon mal nach oben zu gehen. Felix war zwar in seinem Zimmer, die Tür geschlossen, aber dennoch fühlte ich mich hier oben weniger allein, als es unten der Fall gewesen ist. Statt zu lesen spielte ich etwas am Handy herum, surfte im Internet, aber so wirklich befriedigend war nichts davon. Bevor ich ins Bett ging suchte ich noch einmal das Bad auf. Ich putzte die Zähne, wusch mir mein Gesicht. Wenigstens ein bisschen besser ging es mir dadurch. Auf dem Rückweg sah ich, dass Felix Zimmertür immer noch geschlossen war, ich hoffte diese Nacht würde auch ohne Alpträume bleiben, denn ich wüsste nicht, ob ich dafür die Kraft hätte. Bevor ich mich hinlegte öffnete ich noch ein Fenster auf Kippe, dann legte ich mich hin.
 

Mitten in der Nacht wachte ich auf. Warum auch immer war ich direkt mit Panik erfüllt, obwohl ich noch nicht einmal richtig wach war. Ich brauchte einen Moment, bevor ich meinen Körper bewegen konnte, dann machte ich erst einmal Licht an. Aber mein Zimmer war leer. Lediglich der Vorhang vor dem Fenster bauschte sich auf Grund des Winds draußen etwas auf. ‚Hatte ich das unbewusst wahrgenommen? Vielleicht habe ich mich ja wirklich davor erschreckt…‘ Ich saß nun aufrecht im Bett, ich war hundemüde und konnte die Augen kaum aufhalten. Das sollte sich im nächsten Moment ändern. Da war ein Geräusch, direkt hinter der Wand auf der anderen Seite des Zimmers. Erst konnte ich es nicht einordnen, aber dann wusste ich was es war: Ein Kratzen. Wie von einem Tier, dass eingesperrt war und versuchte sich zu befreien. Ich zog mir die Decke bis zum Kinn hoch, ich atmete schnell und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. ‚Wir haben keine Haustiere. Was soll das sein? Konnte ein Tier in die Wände gelangen?‘ Ich hatte so etwas schon mal gehört. Eichhörnchen oder Waschbären, manchmal Ratten, die durch undichte Stellen ins Haus kamen. Auf dem Dachboden, in den Wänden… Konnte das sein? War das die Erklärung? Ich konnte nicht aufstehen, das Kratzen wurde immer lauter, immer drängender. Das musste es doch sein, nicht wahr? Am liebsten wäre mir gewesen, dass die Nacht vorbei gewesen wäre, dass alles nur ein Traum war. Aber das war es nicht. Und dann kam mir ein Gedanke: ‚Was war mit Felix?‘ Das rüttelte mich wach. Das Kratzen war so laut, er hörte es bestimmt. Vielleicht waren es mehrere Tiere und bei ihm in der Wand gab es das gleiche Kratzen! Ich musste sofort rüber. In aller Hast schlüpfte ich in meine Pantoffel und lief durch den Flur zu seinem Zimmer hinüber. Die Tür war geschlossen, ich öffnete sie, machte Licht an und erstarrte. Das Bett war leer! ‚Wo ist Felix?‘ Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Hatte er so viel Angst gehabt, dass er es nicht ausgehalten hat? Aber warum ist er dann nicht zu mir gekommen? Ich fasste mir mit der Hand vor den Mund. ‚Ich muss mich beruhigen. Ganz ruhig! Du gehst jetzt ganz ruhig und suchst ihn.‘ So ruhig, wie ich mir das gewünscht habe konnte es natürlich nicht ablaufen. Ich schaute noch einmal gründlich im Zimmer nach. Unter dem Bett, neben dem Schrank, in dem Schrank und in der Kommode. Hier war er schon einmal nicht. Auf dem Flur hörte ich das Kratzen wieder lauter. „Felix?“ ich rief so laut ich konnte und ich betete er würde mir antworten. „Felix, wo bist du?“ Ich horchte, ich versuchte mich zu konzentrieren, aber das Kratzen bohrte sich in jeden meiner Gedanken. Ich merkte wie mein Atem schneller ging, ich bekam kaum noch Luft. So schnell ich konnte lief ich nach unten, ich schaute in jedes Zimmer. Aber Felix tauchte nirgendwo auf. Also musste er oben sein. Alles in mir sträubte sich dagegen noch einmal nach oben zu gehen. Doch ich musste mich zusammen reißen. Der einzige Raum, der oben noch übrig blieb, war das Bad. Der Raum, aus dem das Kratzen drang. Als ich näher kam konnte ich ein knurren hören, leiser als das Kratzen, aber es war eindeutig da. Mit klopfendem Herzen öffnete ich die Tür, machte das Licht an und hatte das Gefühl mir bleibt das Herz stehen. Der Raum war leer und noch schlimmer, als ich das Licht angemacht habe, verstummte jegliches Geräusch. Es war Totenstill, was ich fast noch unheimlicher fand, als die Geräusche zuvor. Ich konnte nicht mehr, was zur Hölle war hier nur los? Wo ist Felix? Langsam ging ich aus dem Bad heraus, rückwärts, als könnte ich sonst etwas verpassen, etwas das mir alles erklären würde. Fast hätte ich zu spät gestoppt, ich spürte mit der Ferse des rechten Fußes schon die oberste Stufe der Treppe. Schnell zog ich den Fuß zurück. Ich zuckte zusammen. Erst flackerte das Licht langsam auf, dann schneller, dann erlosch es ganz. Einzig das Licht aus dem Bad spendete einen sanften Schimmer. Und dann sah ich ihn. Sah den Schatten, der in einer Ecke stand. Sah den Schatten, der langsam, fast wie mechanisch, immer näher kam. Ich wollte zurück weichen, aber erinnerte mich noch rechtzeitig, dass ich ja bereits an der Treppe stand. Das war keine Option, rückwärts würde ich die Treppe eher herabfallen als herunterlaufen, das wusste ich, vor allen bei den Lichtverhältnissen. Stumm mit weit aufgerissenem Mund und Augen starrte ich den Schatten an. Schritt für Schritt kam er näher. Erst als er noch knapp zwei Schritte entfernt war, blieb er stehen. Mir blieb die Luft weg. Und dann ging schlagartig das Licht wieder an.
 

Vor Schreck zog ich die Luft heftig ein, Sterne tanzten mir vor den Augen wegen dem plötzlichen Lichtwechsel. Zuerst konnte ich gar nichts erkennen, doch die Gestalt vor mir wurde immer klarer. Ein beruhigter Seufzer entfuhr mir, Felix stand da vor mir im Flur. „Felix, wo warst du?“ Ich wollte gerade einen Schritt auf ihn zu machen, als mein Blick auf etwas fiel, dass mich zurückhielt. Seine Arme hingen schlaff an der Seite herab, die Hände… Sie waren vollkommen zerkratzt, ich konnte Blut entdecken, die Nägel schienen abgebrochen zu sein. Meine Brust fühlte sich an als wäre sie aus Zement gegossen. Nur mit Mühe konnte ich den Blick von den Händen abwenden. ‚Wenn seine Hände so aussehen… Heißt das Felix war das mit dem Kratzen?‘ Es war als würde gar nicht mein Gehirn diese Gedanken denken, so wirklich kamen sie nicht bei mir an. Doch als mein Blick bei seinem Gesicht ankam… Die Augen tiefschwarz. Und damit meinte ich tiefschwarz, es war als würde die Pupille das ganze Auge ausfüllen, man konnte nichts Weißes vom Auge mehr sehen. Doch fast noch beunruhigender war das dicke, satte Grinsen, das seinen Mund umspielte. Mir kamen die Tränen, ich konnte nicht verstehen was ich da sah. Sollte das tatsächlich mein Sohn sein? Das konnte doch nicht sein, oder? Und doch spürte ich, dass es so war. „Felix… Was… Was ist los mit dir?“ Meine Stimme war heiser und brach zwischendrin, ich konnte diese wenigen Worte nur mühsam hervorbringen. Statt einer Antwort hörte ich nur ein Lachen. Felix machte nun einen weiteren Schritt auf mich zu. „Hör auf damit, du machst mir Angst!“ Meine Angst verwandelte sich in Hysterie. Doch er schaute mich weiterhin aus seinen dunklen Augen an, belustigt. Eine dunkle, raue Stimme entwich seinem Mund. „Ich bekomme immer was ich haben möchte!“ Er machte einen Satz auf mich zu und das letzte woran ich mich erinnern kann, ist wie ich einen Schritt zurück machte. Der Fuß glitt ins leere, stimmt ja, ich stand ja schon am Rand der Stufe. Meine Hände, die nach dem Geländer suchen, es finden, aber nicht festhalten können, es nur streifen. Felix, wie er oben auf dem Treppenabsatz steht und immer kleiner wird. Dann nichts mehr.
 


 

Das war es. Das war das letzte in meinem Leben, dass ich gesehen habe. Doch woher kommt dann dieser Schmerz? Er nagt an mir, ich kann ihn überall fühlen und doch nirgendwo so richtig. ‚War das richtig so? Fühlte es sich so nach dem Tod an? Würde es so bleiben?‘ Meine Gedanken waren unendlich träge. Noch bevor ich sie zu Ende gedacht hatte, tauchte ein Licht auf. Klein und unscharf und viel zu hell. Wie durch einen Schleier drang es zu mir, wurde größer. Gerade als ich dachte, dass es bestimmt das Licht sei, durch das man als letztes geht, durch das man auf die andere Seite gelangt, merkte ich, dass ich meine Augen öffnete. Ich war nicht Tod, ich war noch am Leben. Ich blinzelte, ganz langsam, und ich glaube ich spürte wie mir die Tränen vor Helligkeit meine Wangen herabliefen. Aber sicher war ich mir nicht. ‚Vielleicht ist auch alles nur Einbildung?‘ Ich sah den Kopf meines Mannes, wollte seinen Namen sagen, doch ich war zu schwach. Und noch ehe ich mehr fassen konnte, glitt ich auch schon wieder davon.

Es musste schon viel später sein, die Schmerzen waren immer noch da, aber ich spürte sie dumpfer. Langsam, ganz langsam öffnete ich erneut die Augen. Ich konnte spüren, dass jemand meine Hand drückte und drehte meinen Kopf ganz langsam, unendlich langsam. Es war als gebe es eine Wand gegen die ich drücken musste, nur um meinen Kopf bewegen zu können. Aber ich schob, Stück für Stück. Bis ich meinen Kopf gedreht hatte konnte ich wieder klarer sehen. Ich schaute in Bernds besorgtes Gesicht. „Erica!“ Mehr brachte er nicht hervor, ich merkte wie erleichtert er war. Ich versuchte zu sprechen, aber meine Lippen waren zu trocken. Plötzlich merkte ich etwas kühles an den Lippen. Ich erkannte, dass es ein Glas war, und trank vorsichtig das kühle Wasser daraus. Langsam, um mich nicht zu verschlucken. Kurz darauf war das Glas schon wieder weg. Meine Lippen und auch mein Hals fühlten sich schon viel besser an. „Wo…“ Ich musste mich räuspern, ich brachte keinen Ton raus. Es war als hätte ich noch nie ein Wort gesprochen. Es kostete viel Kraft, aber ich schaffte es. „Wo ist… Felix?“ Bernd schüttelte den Kopf und ich glaubte mein Herz bleibt stehen. “Es tut mir leid Erica, ich hätte euch nicht alleine lassen dürfen!“ Er schniefte und fuhr sich mit den Händen über sein Gesicht. „Felix ist bei meinem Vater, ich hole ihn später ab wenn ich nach Hause gehe. Mach dir keine Sorgen, es geht ihm gut!“ Sanft strich er über meine Wange. „W… Was ist geschehen?“ Bernd nahm meine Hand und drückte sie an sein Gesicht. „Ich weiß nicht woran du dich alles erinnerst, deshalb kann es sein, dass es unglaublich für dich klingt. Ich hätte es eher sehen müssen, hätte es dir auch eher sagen müssen. Es ist alles meine Schuld! Schon als Felix nicht aufgehört hat immer und immer wieder von diesem Schatten zu sprechen, da hätte es mir klar sein müssen. Felix war besessen, von etwas bösem…“ Er konnte nicht weiterreden, seine Stimme klang heiser und ohne Energie. „Nicht… deine… Schuld!“ Presste ich hervor, aber er schüttelte nur den Kopf. „Nein, du verstehst das nicht, wie solltest du auch! Ich habe das schon einmal durch gemacht. Mein Bruder war damals auch besessen, vieles war genauso wie bei Felix jetzt. Ich hätte es eher sehen müssen, hätte mich drum kümmern müssen. Aber bei meinem Bruder war es nie so schlimm gewesen! Er hat nie jemanden verletzt.“ Er schluckte und ich wartete bis er bereit war, weiter zu sprechen. „Wir habend die Zeichen damals nicht erkannt. Wir hatten von Besessenheit keine Ahnung, wir haben es ignoriert. Aber irgendwann hatte er auch diese schwarzen Augen, wir konnten es nicht länger ignorieren. Und wir hatten damals Glück. Ein Verwandter konnte helfen, er hatte von so etwas schon einmal gehört und kannte einen Priester. Er hat das Böse ausgetrieben, aber schön war es nicht. Danach war er wieder normal, er konnte sich an nichts erinnern. Wir hätten uns eher darum kümmern sollen, aber es ging nicht. Aber bei Felix wäre es gegangen, ich wusste doch was geschah und wollte es nicht wahr haben!“ Tränen rannen über sein Gesicht. „Ich bin früher von der Geschäftsreise nach Hause gekommen, ich hatte ein ungutes Gefühl und bin direkt abgereist, eigentlich hätten wir bis zum nächsten Tag noch bezahlten Aufenthalt gehabt. Aber das war mir egal. Als ich dann reingekommen bin lagst du vor der Treppe, hast dich nicht bewegt… Ich dachte… Ich dachte erst du wärst Tod!“ Er wurde immer leiser je weiter er die Geschichte erzählte. Ich war so schwach, ich hätte ihn gerne ermutigt weiter zu sprechen, ich wollte wissen was passiert ist aber meine Kraft reichte nur dafür, zuzuhören. Bernd räusperte sich. „Ich bin sofort zu dir, du hattest Puls, da war ich etwas beruhigt, aber ich habe sofort einen Krankenwagen gerufen. Dann fiel mir ein, dass Felix ja auch da sein musste. Unten konnte ich ihn nicht finden, also bin ich nach oben… Dort kauerte er in einer Ecke, die Hände blutig, nicht ansprechbar. Als ich ihn zu mir drehte sah ich die schwarzen Augen, da wusste ich was ich für einen Fehler gemacht habe. Ich wartete bis der Krankenwagen mit dir abgefahren war, versicherte den Rettungskräften, dass ich nachkäme. Doch ich ging hoch. Ich holte Felix und wir fuhren zu dem Priester der auch damals geholfen hat. Diesmal war die Austreibung schwieriger, der Dämon hatte zu viel Zeit gehabt sich in Felix auszubreiten. Aber der Priester hat es geschafft.“ Ich sah ihn fragend an. „Felix ok?“ Bernd nickte. „Ja, Felix ist nun wieder in Ordnung. Er muss sich nur Ausruhen. Aber das ganze darf niemals mehr passieren. Ich hoffe du kannst mir noch einmal verzeihen!“ Mir ging so viel im Kopf herum. Was Bernd da sagte klang so ausgedacht, aber ich konnte mich ja an so vieles erinnern. Ich wusste er hatte recht. Ich wusste Felix war nicht mehr er selbst gewesen.
 

Ich wusste auch, dass so etwas nicht mehr geschehen konnte. Nun würden wir immer zusammenhalten. Mein Gefühl sagte mir, dass alles wieder so werden würde wie früher. Wenn wir vielleicht auch etwas daran arbeiten mussten.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, hier einmal eine Geschichte, die Besessenheit behandelt. Es gibt viele Berichte dazu, die Besessenheit kann sich demnach unterschiedlich zeigen. Aber in vielen gibt es das Merkmal, dass sich die Augen komplett schwarz färben, das habe ich in dieser Geschichte mit aufgenommen. Komplett anzeigen

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