Die Verlobungsfeier
Die Musik des Orchesters drang durch die geöffnete Flügeltür in den Flur des Hotels. Eng an eng drängten sich die Gäste durch diese in das Innere des hellerleuchteten Ballsaales. Ein paar von ihnen blieben wie erstarrt stehen und wollten die magische Atmosphäre, die dieser Ort ausstrahlte, in sich aufnehmen, wurden aber von den nachkommenden Gästen unsanft weiter gedrängt.
Ein junges Mädchen stolperte in diesem Chaos und wäre wohl auch hingefallen, wenn die Menschenmenge um sie herum nicht so dicht gewesen wäre.
Am heutigen Abend fand das Ereignis des Jahres statt.
Nein, des Jahrzehnts, wenn nicht sogar des Jahrhunderts.
Izumi Uchiha stand, die Finger entspannt miteinander verschränkt, am Rand des Raumes und beobachtete das rege Treiben. Sie verstand zwar nicht, warum beim Aufgehen der Tür anscheinend alle geladenen Gäste ihr Gehirn abgeschaltet hatten und sich schon fast darum prügelten, als erstes an ihren Platz zu gelangen, aber wenn es sie glücklich machte, würde sie sich nicht einmischen.
Zumal die letzten Stunden sie enorm viele Nerven gekostet hatten und noch immer konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass sie irgendetwas vergessen hatte.
Oder dieses Gefühl kam daher, weil sie darauf wartete, dass jeden Moment etwas schief gehen würde.
Es war eine heikle Situation, in der sie sich hier befand. Diese ganze Veranstaltung wäre vor einem Jahr wahrscheinlich nicht einmal möglich gewesen.
So vieles war in den letzten Monaten und Wochen geschehen, dass sie, wenn sie es in einem Buch gelesen hätte, wahrscheinlich als absolut übertrieben und unglaubwürdig abgetan hätte.
Doch hier zu stehen, zu wissen, was in weniger als einer Stunde geschehen würde, war der Beweis, dass das Leben tatsächlich die seltsamsten Geschichten schrieb.
Langsam löste sich die Menschentraube auf, nach und nach fanden die Gäste sich auf ihren Plätzen ein und begannen die Deko der runden Tische, an denen sie nun saßen, zu begutachten.
Es war passend zur Jahreszeit winterlich, mit weißen Kugeln und silber glitzernden Schneeflocken, dekoriert worden. Der gesamte Saal wurde von einem riesigen Kronleuchter erhellt, unterstützt von kleinen Wandlampen, die an den hohen Säulen befestigt waren.
Es handelte sich um den Traum einer Feier. Einer Feier, die man sich nur in den höchsten Kreisen leisten konnte.
„Schicke Deko“, ertönte plötzlich neben ihr eine Stimme und Izumi antwortete, ohne ihren Blick vom Treiben abzuwenden: „Guten Abend, Shisui.“
„So distanziert? Das tut weh.“
Izumi verdrehte die Augen, verschränkte ihre Arme und drehte sich ihm zu. Sie setzte ein freundliches Lächeln auf, von dem sie wusste, dass es ihre Augen nicht erreichte und blickte ihn geradewegs an.
„Wie darf ich dir behilflich sein?“
„Normalerweise würde ich fragen, wo die Bar ist. Allerdings musste ich Itachi, diesem Langweiler, versprechen, dass ich mich heute dezent verhalte. Du weißt ja, heikle Situation und so.“
Und ob sie das wusste.
Ihre Nerven waren die letzten Wochen ununterbrochen zum Reißen gespannt gewesen und bei jedem Klingeln ihres Handys hatte sie das schlimmste erwartet. Bisher war allerdings alles gutgegangen und Izumi betete täglich dafür, dass es keine bösen Überraschungen geben würde.
Es war das größte Ereignis dieses Jahres und das unglaublichste dazu. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine Veranstaltung geplant, die von so vielen Sicherheitsmaßnahmen begleitet wurde wie diese. Und noch nie in ihrem Leben hatte sie sich dennoch so unsicher gefühlt.
Es war beinahe so als wartete sie nur darauf, dass jeden Augenblick eine Bombe hochgehen würde.
„Oh ja.“ Sie rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel und ließ Shisui so unbedacht hinter ihre Fassade blicken.
„Nervenprobleme? Vielleicht solltest du mir doch verraten wo die Bar ist, damit ich dir was zu trinken holen kann.“ Er zwinkerte ihr grinsend zu.
„Sehr lieb, aber ich verzichte. Nicht, dass ich dir nicht vertrauen würde, aber ich gehe doch lieber auf Nummer sicher.“
„Machst du dir Sorgen, dass wir eine Red Wedding durchziehen?“, wollte Shisui mit einem Zwinkern wissen.
„Mach dich nicht lächerlich. Aber ich habe so meine Erfahrungen mit euch.“
Einen Augenblick wurde sein Blick dunkel, beinahe traurig, bevor er wieder seine Gute-Laune-Maske aufsetzte.
Es war beruhigend zu wissen, dass es auch Shisui heute nicht anders ging.
„Euch. Das klingt so … kalt. Findest du nicht? Immerhin sind wir eine Familie.“
Beinahe wäre Izumi bei diesen Worten umgefallen.
„Großartige Familie“, antwortete sie deshalb triefend vor Sarkasmus.
Unbedarft wie Shisui meistens war hatte er eine neckende Unterhaltung im Handumdrehen in ein mehr als ernstes Gespräch verwandelt, auf das Izumi keine Lust hatte.
Sie wollte nicht erneut die Geschehnisse der letzten Jahre durchkauen. Zu oft hatte sie darüber sprechen müssen. Zu oft musste sie heute noch darüber nachdenken.
Von einer der einflussreichsten Familien des Landes verstoßen zu werden, weil man nicht den Vorgaben folgen wollte und konnte, hatte sie fast ihre Existenz gekostet.
Es war unfassbares Glück – und noch heute konnte sie es manchmal nicht glauben – dass sich jemand für sie eingesetzt und ihr die ersten kleinen Aufträge vermittelt hatte.
Die Tatsache, dass sie nun hier als Eventplanerin stehen konnte, verdankte sie allerdings nicht nur ihrer ausgezeichneten Arbeit.
Beide Seiten hatten sich nicht auf eine Person einigen können, also war der Vorschlag gekommen, jemanden zu nehmen, der weder zur einen noch zur anderen Familie gehörte.
Und hier stand sie nun. Eine ausgestoßene Uchiha, die bisher noch keinen Kontakt mit der Gegenseite gehabt hatte.
Es musste Madara Uchiha mehr als nur ärgern, dass er dieses Mal nicht seine Zerstörungskraft hatte vollständig ausleben können. Aber auch er war machtlos, wenn die anderen Meinungsführer sich gemeinschaftlich zu etwas entschieden.
Und genau dieser Madara Uchiha war es, weshalb sie mit einer Bombe auf dieser Feier rechnete.
Izumi – und wahrscheinlich auch die restliche Welt – hätte niemals daran gedacht, dass die beiden mächtigsten und vielleicht sogar gefährlichsten Familien Japans, tief verfeindet seit Jahrzehnten, eines Abends gemeinsam feiern würden.
Und das für die Liebe.
„Einen Penny für deine Gedanken, Izumi.“ Shisui hatte die Zeit, während sie in ihre Gedanken abgedriftet war, wohl genutzt, zu überlegen wie er das Gespräch retten konnte.
„Die würden dich mehr kosten. Viel mehr.“
„Und da ich notorisch pleite bin, kann ich mir das definitiv nicht leisten.“
Izumis Lippen verzogen sich verräterisch zu einem kleinen Lächeln.
„Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.“
„Wohl wahr. Dafür kennen wir uns leider schon zu lange und zu gut.“
Sie wollte nicht, dass sich diese Wunde wieder öffnete. Sie wusste zu gut, wieso es damals überhaupt zu dieser gekommen war und Shisui dafür die Schuld zu geben, wäre falsch, aber dieser Satz tat dennoch weh.
Denn selbst das Wissen für das wieso änderte nichts an der Tatsache, dass er damals nichts unternommen hatte, als ihr Konto plötzlich eingefroren und ihr Mietvertrag fristlos gekündigt worden war.
„Außerdem wäre ich dafür, dieses Kennen zu erneuern und zu vertiefen.“ Erneut war Shisui aufgefallen, dass er das falsche gesagt hatte und wollte es nun durch seine lockere Art wieder geraderücken.
„In tausend Jahren nicht. Außerdem wissen wir beide, dass ich so gar nicht dein Typ bin.“ Sie war dankbar für diese Vorlage.
„Typen können sich ändern.“
Izumi musste nun doch lachen und lenkte so unbeabsichtigt eine Blicke auf sich. Sie verstummte sofort, erinnerte sich eindringlich daran, wo sie sich gerade befand und antwortete schließlich: „Dieser nicht.“
„Wobei wir auch beide wissen, dass ich auch nicht dein Typ bin. Apropos. Wo ist der überhaupt?“
„Erstens weiß ich nicht, wovon du sprichst und zweitens, wenn du dein Gehirn suchst: er befindet sich hinter der Bühne. Derselbe Kontrollfreak wie immer.“
Nun war es an Shisui zu lachen.
„So kennen und lieben wir ihn.“
Ja. Da sagte er etwas Wahres.
„Und? Wie waren die letzten Wochen so für dich?“, wechselte Shisui plötzlich das Thema, sah Izumi aber nicht mehr direkt in die Augen.
Das hieß, er verfolgte mit dieser Frage ein Ziel. Und dieses Ziel war wohl nicht so weit weg vom vorherigen Gesprächsthema wie die Frage es vermuten ließ.
„Stressig. Nervenaufreibend. Ich habe kaum geschlafen. So wie das eben ist, wenn man die größte Feier des Jahres plant. Wieso fragst du?“ Izumi zwang sich, ihre Stimme so nonchalant klingen zu lassen wie möglich.
„Ach … du weißt schon. Smalltalk.“
Sie nickte.
„Also konntest du an nichts anderes denken als an die Feier heute?“
„An nichts.“
Wie sie es hasste, wenn Menschen um den heißen Brei herumredeten. Offensichtlicher konnte man nicht sein. Sie wussten beide, dass Shisui wissen wollte, ob sie die Zeit in Itachi Uchihas Nähe genossen hatte. Nicht, dass sie ihm antworten würde. Und nicht, dass es ihn auch nur irgendetwas anging. Sie waren keine Freunde mehr. Obwohl es sehr süß war, dass er sich trotzdem noch um sie Gedanken machte. Und vielleicht, wenn dieser Abend ein Erfolg wurde und ihre Gefühle irgendwann akzeptieren konnten, was ihr Gehirn längst wusste, würden sie es auch wieder dorthin schaffen – oder zumindest in die Nähe.
Aber das würde noch ein langer Weg werden.
Gerade als Shisui zu seiner nächsten Frage ansetzen wollte, ging ein Raunen durch die Menge. Alle Anwesenden drehten ihre Köpfe in Richtung der geöffneten Flügeltür. Izumi und Shisui taten es ihnen gleich.
Endlich waren die beiden wichtigsten Menschen (oder zumindest offiziell als wichtigste Menschen bezeichnet) des Abends erschienen.
Hinata Hyuuga, die Tochter des Vorsitzenden der Hyuuga Corp. Sie war in einem wunderschönen, mit lila und roten Blumen bestickten, Kimono gekleidet. In ihren hochgesteckten Haaren war eine weiße Lilie eingeflochten worden, die aufgrund ihrer dunklen Haare beinahe leuchtete.
Und neben ihr, hochgewachsen und mit seinem typisch steinernen Blick, stand Sasuke Uchiha, jüngerer Sohn des zweitwichtigsten Uchihas innerhalb der Familienhierarchie.
Auch für ihn hatten sie sich für das traditionelle japanische Outfit des Kimonos entschieden. Allerdings, wie für Männer typisch, einfarbig in dunkelblau.
Hinata, die eher schüchtern und zurückhaltend war, merkte man an, dass ihr die plötzliche Aufmerksamkeit unangenehm war. Ihre Wangen waren rot und Izumi sah, dass sie ihre Lippen fest zusammengepresst hatte.
Dank der langen Ärmel konnte man die Hände der beiden nicht erkennen, aber Izumi nahm eine Bewegung wahr und war sich sicher, dass Sasuke möglichst unauffällig Hinatas Hand gestreift hatte, um ihr ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln.
Allen Gerüchten zum Trotz, wussten beide Familien genau, dass es sich hierbei um eine Liebesheirat handelte. Niemandem, außer dem engsten Kreisen beider Clans, war bewusst, wie lange und hart die beiden für diesen Augenblick gekämpft hatten.
Bei diesem Gedanken kamen Izumi beinahe die Tränen, aber sie räusperte sich und konzentrierte sich darauf, eine ernste Miene beizubehalten. Hier ging es nicht um sie, sondern um zwei junge Menschen, die in all dem Chaos und Rivalität ihrer Familien glücklich werden wollten.
„Sehr geehrte Anwesende, es ist mir eine Freude, Ihnen das frisch verlobte Paar zu präsentieren.“ Die Stimme des Moderators hallte durch die Lautsprecher. Damit war die Feier offiziell eröffnet. Außerdem war es der Startschuss für die beiden Neuankömmlinge, sich in Bewegung zu setzen.
Alle Gäste folgten den beiden mit ihren Augen, wie sie den breiten Gang in der Mitte des Raums zur Bühne entlanggingen.
Izumi war sich sicher, dass einige der Anwesenden darauf hofften, eine peinliche Szene erleben zu dürfen. Sie war sich sogar so sicher, dass sie kurz vor Einlass noch einmal den gesamten Saal nach möglichen Stolperfallen und gespannten Seilen überprüft hatte.
Es waren in der Vergangenheit zwischen den beiden Familien schon schlimmere Dinge geschehen.
Zum Glück aller Anwesenden – Izumi war sich sicher, dass irgendein Familienmitglied, egal aus welcher, wahrscheinlich ein Massaker angerichtet hätte – gab es keine Zwischenfälle und Hinata und Sasuke kamen unbeschadet am langen Tisch am anderen Ende des Raumes an. Ihre Plätze waren in der Mitte, links und rechts saßen ihren Eltern und daneben die Geschwister.
Itachi, der Sasukes älterer Bruder war, hatte mittlerweile Platz genommen und Izumi gönnte sich den Moment, während die beiden Verlobten sich setzten, um ihn zu mustern.
Man merkte ihm nie an, was er dachte oder wie es in seinem Inneren aussah, aber sie wusste einfach, dass er heute Freude empfand.
Es gab niemand wichtigeres in Itachis Leben als seinen kleineren Bruder und diesen aufrichtig glücklich zu erleben (wobei das bei Sasuke weniger erleben als wissen bedeutete, da man ihm seine Gefühle genauso wenig ansah), konnte einen nur zu dieser Schlussfolgerung kommen lassen.
„Sicher, dass du die letzten Wochen nur an die Veranstaltung gedacht hast?“
„Sicher.“
Izumi wünschte sich so sehr, sie könnte wieder öfter so ungezwungen und neckisch mit Shisui reden. Vielleicht irgendwann.
Der offizielle Teil der Feier mit all ihren Reden war nicht sonderlich spannend. Es wurde von beiden Familien viel über die zurückliegenden Differenzen gesprochen und wie glücklich man sei, diese nun begraben zu können. Man freue sich auf eine kooperative Zukunft und so weiter und sofort.
Izumi hatte alles bereits x-Mal gehört, teilweise sogar mitgeschrieben oder überarbeitet. Sie hörte nur mit einem halben Ohr zu, während sie an der Wand entlang durch den Raum lief und mit Argusaugen die Anwesenden beobachtete und jede Bewegung einer genauen Prüfung unterzog.
Heute durfte nichts schiefgehen. Gar nichts.
Wenn es schon für sie mit dieser Familie kein Happy End geben konnte, sollte es nicht auch noch anderen verwehrt werden. Außerdem hatten weder Hinata noch Sasuke eine Katastrophe verdient. Sie waren wie eine moderne Interpretation von Romeo und Julia – nur hoffentlich ohne den Selbstmord am Ende und somit eine bessere Version.
Izumi hatte sogar so etwas wie Stolz auf die beiden entwickelt. Sie konnte nur erahnen, durch welches Mienenfeld sie hatten laufen müssen, um heute gemeinsam dort vorne sitzen zu können. Wie viel Mut und Offenheit es benötigt hatte – beides Eigenschaften, die nicht unbedingt zu den Stärken der beiden gehörten.
Die Lautsprecher knacksten plötzlich und der Moderator verkündete: „Vielen Dank an die Familien für diese wundervollen Reden. Ich denke, wir alle freuen uns jetzt dennoch auf das, was als nächstes kommt. Wir beginnen mit dem Essen.“
Es waren drei Gänge geplant. Nicht zu viele, aber dennoch genug, um die High Society der Welt glücklich zu machen. Außerdem würden in den späteren Stunden noch Häppchen serviert werden, sollte es Menschen geben, die noch einen kleinen Hunger verspürten. Izumi musste spontan an Sasukes nervigen besten Freund denken.
Auch hier fand Izumi keine ruhige Minute. Sie hatte keinen Hunger, würde heute auch nichts mehr hinunterbekommen, also konzentrierte sie sich weiterhin darauf, alles und jeden genau zu beobachten. Sie dirigierte eine der Kellnerinnen zu einem der hinteren Tische, auf dem Wein verschüttet worden war, half einer älteren Dame den Weg auf die Toilette zu finden und schlichtete eine kleine Auseinandersetzung zwischen einem Uchiha und einem der anderen Gäste, den sie nicht kannte.
Alles in allem keine großen Schwierigkeiten, aber durchaus viel zu tun. Es hielt sie beschäftigt, weshalb sie die Schweißperlen auf ihrer Stirn zunächst nicht wahrnahm. Nachdem sich an einem Tisch allerdings ein Gast über die Hitze ausließ, merkte sie, dass es nicht nur ihr so ging.
Trotz der Minusgrade im Freien hatte sich die Wärme im Inneren mittlerweile angestaut. Izumi ließ augenblicklich die Heizungen abschalten und die Fenster kippen.
Bei der Höhe des Ballsaales war sie davon ausgegangen, dass es sich nicht so schnell aufheizen würde. Sie war etwas wütend auf sich, nicht genauer darauf geachtet zu haben. Aber es war auch eine gute Information für zukünftige Veranstaltungen.
„Ein bisschen langweilig ist es ja schon.“ Erneut tauchte Shisui neben ihr auf. Er hatte mittlerweile sein Sakko ausgezogen und die Krawatte gelockert. Außer dem Paar und ihren Eltern trugen alle Gäste westliche Klamotten. Eine Vorgabe von wem auch immer. Es interessierte Izumi auch nicht, sie hatte es nur auf die Karten schreiben lassen müssen.
„Das nennt sich gesittet.“
„Du kannst es nennen wie du willst, aber es ist langweilig. Ich wünschte mir fast, dass Madara um die Ecke kommt und eine Predigt über den Stolz der Uchiha hält oder so.“
Izumi würde sogar einen Überraschungsbesuch von Stripperinnen diesem Szenario vorziehen, aber das würde sie Shisui sicher nicht unter die Nase reiben.
„Nur mal so unter uns: war er eingeladen?“
„Natürlich war er eingeladen. Er ist immerhin das Familienoberhaupt.“
„Wer weiß wie lange noch.“
Izumis Augen weiteten sich und sie blickte sich schnell nach links und rechts um. So etwas laut auszusprechen glich einem Hochverrat.
Nicht, dass die Information neu für sie war. Schon vor ihrem Ausschluss hatte es immer wieder Putschgerüchte gegeben, aber so plump hatte noch nie jemand in der Öffentlichkeit darüber gesprochen.
„Sei leise.“
„Vielleicht werde ich dann ja auch verstoßen. Dann könnten wir eine WG aufmachen. Du weißt schon, eine WG der Ausgestoßenen.“
„Das ist nicht witzig.“
Shisui schloss für einen Moment die Augen.
„Da hast du recht. Nichts daran ist witzig.“ Seine Stimme wurde plötzlich leise, aber intensiver. „Izumi, ich versuch schon den ganzen Abend … also …“ Shisui kam ins Stocken.
Shisui Uchiha kam nie ins Stocken.
„Du musst dich nicht entschuldigen.“
„Ich … was?“ Überrascht öffnete und schloss er ein paar Mal lautlos seinen Mund. Es war schön, ihn sprachlos zu erleben.
Er räusperte sich und fuhr schließlich fort: „Doch, muss ich. Und wichtiger: ich möchte es. Wir haben unser halbes Leben miteinander verbracht. Du weißt Dinge über mich, die nicht einmal Itachi weiß.“ Und ob Itachi die weiß, du bist nicht halb so geheimnisvoll wie du gerne wärst, dachte Izumi, wollte ihm aber nicht seine Illusionen rauben.
„Und dennoch habe ich damals nichts, aber auch gar nichts unternommen, um dir zu helfen. Ich kann dir nicht sagen, warum und ich weiß auch nicht, ob es das entschuldigen würde. Aber ich möchte, dass du weißt, wie leid es mir tut.“
Jetzt musste sie wirklich aufpassen, dass sie nicht anfing zu weinen.
„Danke. Und du musst mir nichts erklären. Ich kenne diese Familie und zumindest ein paar ihrer Geheimnisse. Ich kenne den Druck und weiß aus erster Hand was passiert, wenn man sich nicht an die Regeln hält. Und jetzt halt die Klappe und spiel wieder den hohlköpfigen Charmeur. Bevor dich jemand falsches hört.“
„Du bist zu gut für die Welt, Izumi.“
Wenn das nur wahr wäre. Sie nahm seine Entschuldigung gerne an, sie verstand ihn, kannte die Gründe, auch wenn er es nicht wusste. Und trotzdem war ein großer Teil von ihr noch immer wütend auf ihn und würde es ihm noch lange vorwerfen.
„Vor allem bin ich zu gut für dich.“ Perfekte Vorlage, die Shisui dankend annahm.
Je später es wurde desto lustiger wurde der langweilige Abend. Uchihas und Hyuugas saßen gemeinsam an Tischen, fachsimpelten über die aktuellen Fußballergebnisse oder über das Wirtschaftsgeschehen. Hie und da sah Izumi Itachi in Begleitung anderer, wie sie gemeinsam den Raum verließen. Er schenkte ihr keine Aufmerksamkeit, aber das war in Ordnung. Es musste in Ordnung sein.
Izumi erlaubte es sich kurz nach Reintragen der Häppchen zum ersten Mal sich hinzusetzen. Ihre Füße taten mittlerweile höllisch weh und sie verfluchte die Absätze, auf denen sie den ganzen Tag stehen musste. Ein Kellner reichte ihr ein Glas Wasser, das sie in einem Schluck leerte, während sie in Gedanken alles noch einmal durchging.
Es gab keine Uhrzeit, zu der der Abend spätestens enden musste, aber sie wusste, dass Hinata und Sasuke nicht bis in den frühen Morgenstunden hierbleiben würden. Dasselbe galt für ihre Familien. Wie es mit den anderen Gästen aussah, konnte sie allerdings schwer voraussehen.
Sie wusste, dass sie bleiben musste, bis der letzte Gast den Raum verlassen hatte und hoffte sehnlichst, dass es nicht erst morgen früh um sechs Uhr soweit sein würde.
Tatsächlich hatte sich der Raum bereits ein wenig geleert, während Izumi sich eine kleine Auszeit gegönnt hatte. Viele der älteren Gäste waren bereits verschwunden, ebenso Mütter mit ihren Kindern.
Einige der jüngeren hatten sich wohl in den Club um die Ecke verzogen, da es hier – aus gutem Grund – keine Möglichkeit gab auf einer Tanzfläche zu den neusten Diskohits zu tanzen. Das Orchester war mittlerweile auch verschwunden.
Vielleicht würde der Abend doch schneller zu Ende gehen als sie dachte.
Also biss sie ihre Zähne zusammen und erhob sich wieder.
Izumi lief erneut ihre Runden, beobachtete, lauschte und hoffte, dass so kurz vor Schluss nicht noch irgendetwas passierte.
Zumindest nichts Schlimmeres.
Einer der älteren Herren hatte zu tief in sein Glas geschaut und musste nun von einem Angestellten des Hotels in sein Zimmer gebracht werden. Sie hörte außerdem, dass sich ein anderer Gast mehrfach übergeben hatte und die Schlüsselkarte einer Familie war funktionsunfähig, weshalb es am Empfang zu einem kleineren Disput gekommen war (man konnte es aber auch übertreiben).
Aber alles in allem fand Izumi, dass sie es sehr gut im Griff hatte. Den Hitzetod der Gesellschaft hatte sie verhindert, verschütteten Wein augenblicklich aufwischen lassen und hilflosen Gästen aus der Patsche geholfen.
Noch ein bisschen. Nur noch ein bisschen und alles wäre gut. Wenn der heutige Abend ohne irgendwelche Intrigen oder Dramen vorüberging, konnte ihr nichts mehr passieren – dass sie noch eine Hochzeit zu planen hatte, blendete Izumi bereits den gesamten Abend erfolgreich aus.
„Oh mein Gott. Ich fasse es nicht!“, ertönte just in diesem Moment eine schrille Stimme neben ihr.
Izumis Magen zog sich sofort zusammen und sie drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
Eine junge Frau mit braunen Haaren starrte fassungslos auf ihr Handy. Eine Freundin von ihr lehnte sich über ihre Schulter, um das Display besser sehen zu können und ihre Augen wurden groß.
„Das müssen wir unbedingt Sakura und Naruto zeigen“, sagte sie schließlich und musste lachen.
„Unfassbar.“
Da die genannten Sakura und Naruto zu den engsten Freunden des Paares gehörten, schellten alle Alarmglocke und Izumi erlaubte es sich, zu den beiden jungen Frauen zu gehen.
„Darf ich fragen, was so lustig ist?“, fragte sie höflich, aber direkt.
Die beiden Frauen schauten zu ihr auf, wechselten einen unsicheren Blick, nickten aber anschließend.
Die Braunhaarige drehte das Handy so, dass Izumi das Display sehen konnte und sie erkannte, dass es sich um Foto-Nachrichten via Line handelte.
„Auf Facebook geht gerade eine kleine Fotostrecke eines Schulfreundes rum. Er hat wohl vor einer Weile ein Shooting gemacht und die Fotos sind, gelinde gesagt, einzigartig.“
„Ich glaube außerdem, dass es nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war.“
Das glaubte Izumi auch. Ein junger Mann, nur mit Boxershorts bekleidet und einem Schwert in der Hand saß auf einem riesigen Kuscheltierhund. Wenn alle Fotos so aussahen, konnte sie die Reaktion nachvollziehen.
Er tat ihr zwar leid, aber lieber wurde sich über ihn lustig gemacht als dass etwas Peinliches über Hinata, Sasuke oder irgendjemand aus ihren Familien aufgrund dieses Abends durch die Medien ging.
„Das ist tatsächlich einzigartig. Entschuldigt bitte die Störung.“
„Kein Thema. Aber wir müssen das jetzt wirklich den anderen zeigen.“ Und schon waren die beiden verschwunden.
Izumi gab es nicht gerne zu, aber sie war heute ein wenig paranoid. Es wurde Zeit, dass der Abend vorbei ging.
Als Izumi um halb vier endlich auf dem Gehsteig vor dem Hotel stand und darauf wartete, dass ein Taxi kam, merkte sie wie müde sie tatsächlich war. Die Kälte war erbarmungslos und sie sehnte sich nach ihrem warmen Bett. Es fiel ihr schwer, ihre Augen offen zu halten, aber sie musste noch ein bisschen aushalten.
Zum Glück dauerte es nicht lange bis der Wagen vorfuhr. Sie stieg ein, nannte dem Fahrer ihre Adresse und lehnte sich im Sitz zurück. Sie traute sich nicht, ihre Augen zu schließen, aus Angst, sonst einzuschlafen.
Es war anstrengend und sie erwischte sich nicht nur einmal dabei, wie sie dem Drang, zumindest kurz etwas Ruhe zu finden, fast nachgab. Doch schließlich kamen sie vor dem Hochhaus an und sie stieg aus, ging zur Tür und lief an dieser vorbei als sie sah, dass der Taxifahrer bereits verschwunden war.
Sie ging einen schmalen Fußweg entlang am Gebäude vorbei, zwischen zwei weiteren hindurch und trat schließlich auf den Gehsteig eine Straße weiter.
Erneut wartete sie auf ein Taxi. Auch in diesem machte sie das nicht einschlafen Spiel durch und war mehr als glücklich, gut zwanzig Minuten später an ihrem eigentlichen Ziel angekommen zu sein.
Erneut wartete sie, bis der Fahrer verschwunden war, ging auf Nummer sicher und beobachtete die Autos, die an ihr vorbeifuhren, bevor sie zur nächsten Ecke ging, abbog und zwei Häuser weiter schließlich ins warme Innere ging.
Dieses Versteckspiel war bei den Außentemperaturen nicht schön, aber ihr blieb kaum eine andere Wahl, wenn sie ihre Privatsphäre schützen wollte.
Es stimmte sie traurig, dass es überhaupt nötigt war, aber auch wenn Hinata und Sasuke einen Weg gefunden hatten, ihre Familien irgendwie zu vereinen, sie zweifelte stark daran, dass sie dasselbe Glück haben würde.
Anders als die beiden, war sie vor Jahren in Ungnade gefallen. Aus ihrer Geschichte konnte man nicht öffentlichkeitswirksam ein großes Event machen. Es war für den strengen Flügel der Uchiha sicher schon schlimm genug, dass sie mit der Planung der Verlobungsfeier und der Hochzeit beauftragt worden war – so passend die Wahl für beide Seiten auch sein mochte.
An dem Punkt, an dem sie nun angekommen war, bereute sie es schon lange nicht mehr, damals gegen die Regeln gespielt und ihre eigenen Entscheidungen getroffen zu haben. Aber es machte ihren Alltag nicht einfacher. Es machte ihr Privatleben nicht unkomplizierter. Dabei wäre es sicher auch ohne diesen ganzen Blödsinn schon kompliziert genug. Sie seufzte bei diesem Gedanken.
Izumi hatte gar nicht bemerkt, dass sie mittlerweile vor ihrer Wohnungstür angekommen war. Sie atmete tief ein und aus, bevor sie ihren Schlüssel aus ihrer Tasche holte und aufschloss.
Mit einem erleichterten Seufzen zog sie sich ihre Pumps aus und stellte sie ins Schuhregal. Ihre Füße taten höllisch weh und sie überlegte einen Moment, ob sie nicht lieber noch ein Fußbad nehmen sollte, bevor sie ins Bett ging. Aber im nächsten Augenblick war ihr klar, dass sie zu müde dafür war.
Außerdem gab es da etwas viel Wichtigeres, das sie heute noch dringend brauchte.
Also ging sie mit schweren Beinen ins Badezimmer, machte sich innerhalb kürzester Zeit bettfertig und begab sich endlich ins Schlafzimmer.
Als sie im Türrahmen stand, schlich sich ein zufriedenes Lächeln auf ihre Lippen.
„Wenn die Hochzeit genauso verläuft, glaube ich auch endlich, dass es noch Hoffnung für diese Welt gibt.“
Bei diesen Worten blickte sie in die dunklen Augen ihres Gegenübers.
Itachi saß bereits im Bett, ein Buch in der Hand und musterte sie.
„Während du mit Shisui geflirtet hast, habe ich fünf Unruhestifter aus dem Raum begleitet.“
„Du Armer. Ich hätte beinahe dafür gesorgt, dass die halbe Gesellschaft den Hitzetod stirbt und damit Madara in die Hände gespielt.“
Ein leises Lachen entwich Itachis Lippen.
Izumi ging zum Bett und setzte sich auf seiner Seite auf die Bettkante.
Itachi legte das Buch zur Seite und strich ihr eine Strähne hinter ihr Ohr.
„Gewonnen?“, wollte sie mit einem neckischen Unterton wissen.
„Gewonnen.“
Sie schwiegen einen Moment und genossen einfach die Gegenwart des jeweils anderen.
„Ich glaube, sie werden sehr glücklich.“
„Ja. Das werden sie“, bestätigte Itachi und Izumi war sich sicher, dass er im Notfall persönlich dafür sorgen würde.
„Aber ich denke, du solltest dich jetzt hinlegen. Es war ein langer Tag und am Montag geht die Hochzeitsplanung weiter.“
Izumi verdrehte die Augen, schüttelte den Kopf, hörte aber dennoch auf ihn. Sie erhob sich und ging um das Bett herum auf ihre Seite.
„Die letzten Wochen waren der Horror.“ Sie machte es sich im Bett bequem und drehte sich anschließend zu Itachi.
„Sehen, aber nicht anfassen“, flüsterte sie und drückte Itachi einen Kuss auf die Lippen.
„Mhh“, stimmte er ihr zu und zog nun sie in einen Kuss.
Ein bisschen schön war es schon, dass niemand wusste, was zwischen ihnen wirklich war. Aber dennoch wünschte Izumi sich, irgendwann auch eine Feier wie die von heute Abend haben zu können. Definitiv nicht so groß und mit viel weniger Gästen, aber nicht weniger schön und aufrichtig.
Sie liebte ihn und wusste, dass sie den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen wollte. Nur, ob es möglich war, diesen Rest in aller Öffentlichkeit zu verbringen, wusste sie nicht.
„Irgendwann. Versprochen“, flüsterte Itachi ihr ins Ohr als wüsste er ganz genau, worüber sie die letzten Sekunden nachgedacht hatte.
„Irgendwann klingt gut.“ Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken, also stimmte sie einfach zu. Zumal irgendwann nicht niemals hieß und darauf konnte man aufbauen. Und vielleicht, naiv und romantisch gedacht, wären auch sie irgendwann besser als Romeo und Julia.