Zum Inhalt der Seite

Chroniken der Unterwelt

Das Geheimnis des feuerroten Drachen
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Auf dem Sprung

//Akiza//
 

Es ist schon einige Zeit vergangen, seit Yusei in dieser Lichtsäule verschwand. Keiner von uns konnte sich erklären, wo er stecken könnte. Mein Blick wanderte zu Luna. „Ist er vielleicht in der Geisterwelt?“

Doch sie schüttelte nur den Kopf. „Wenn jemand in die Geisterwelt eintaucht, sieht das anders aus. Ich glaube, das war die Fähigkeit von Sternenstaubdrache.“ Sie sah zu dem Fleck auf dem ihr Freund gerade noch stand. „Wir müssen wohl warten, bis er wieder da ist.“

„Wo er wohl hin ist?“ fragte Leo.

„Hmm, diese Kräfte, die wir einsetzen können, scheinen auf den Effekten unserer Drachen zu basieren, nicht?“ Ich sah Crow erstaunt an. Auch die übrigen Anwesenden sahen überrascht zu ihm. „Naja, mein Drache sammelt den Effektschaden des Gegners und wirft ihn wieder zurück.“

„Stimmt“ murmelte ich. „Diese Dornenraken beschwört mein Drache im Kampf, um die Angriffskraft der gegnerischen Monster zu reduzieren.“

„Ja, und Lebensstromdrache erhöht die Lebenspunkte wieder auf 4000“ wandte Leo ein. „Lunas Drache hat eine starke Verteidigung, deswegen vielleicht der Schild.“

Jack mischte sich ebenfalls in das Gespräch ein. „Und Rotdrachen Erzunterweltler vernichtet Monster mit seinem Höllenfeuer.“

„Aber was ist mit Sternenstaubdrache?“ wandte Luna ein.

Jack sah sie an. „Sternenstaubdraches Effekt ist das genaue Gegenteil meines Drachen. Seiner annulliert eine Zerstörung und nimmt sich dann bis zum Ende des Spielzugs selbst aus dem Spiel.“

„Ich weiß“ antwortete sie. „Aber welche Fähigkeit könnte dann Yusei jetzt haben? Immerhin ist das auch ein Reaktionseffekt!“

„Sie hat Recht“ sagte Carly. „Eben wurde nichts zerstört als er verschwunden ist. Das ergibt keinen Sinn!“ Jack zuckte mit den Schultern. Der Rest wusste auch nicht weiter.

„Naja“ sagte Crow, stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Wir können uns den Kopf weiter zerbrechen oder, bis er wieder da ist, mach ich uns erstmal was zu essen. Ich hab Kohldampf, wie steht es bei euch?“ Leos Magen beantwortete die Frage mit einem lauten Knurren. Crow grinste. „Dacht ich‘s mir doch!“

Luna ging an Crows Seite. „Ich helfe dir!“

„Ich auch!“ sagte Leo und lief zu seiner Schwester.

„Ich schließ mich auch an.“ fügte Carly hinzu und die vier verschwanden wieder die Treppe runter in die Wohnung.
 

Jack lehnte noch immer mit dem Rücken an der Betonbrüstung und wir sahen den vieren hinterher. Als sie nicht mehr zu sehen waren, wandte ich mich an ihn. „Was denkst du?“

Er schloss die Augen, verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf in den Nacken. Es dauerte etwas, ehe er antwortete. „Ich weiß es nicht. Dieser Antike Feendrache hätte ruhig ein paar mehr Worte darüber verlieren können!“

Ich setzte mich zu ihm, zog die Beine an und legte meine Arme auf den Knien ab. Mein Blick wanderte zu der Stelle, an der Yusei verschwand. Was könnte die Fähigkeit von Sternenstaubdrache sein? Er opfert sich selbst, um einen Zerstörungseffekt zu annullieren und am Ende des Zuges wird er wieder als Spezialbeschwörung gerufen. Aber was könnte dann Yuseis Fähigkeit sein? „Bis zum Ende des Zuges“ murmelte ich.

Jack warf mir einen Seitenblick zu. „Hm?“

„Naja, was könnte bis zum Ende des Zuges bedeuten? Dass er erst heute Abend wiederauftaucht?“ scherzte ich und sah ihn an.

Er zuckte mit den Schultern. „Wenn es überhaupt was zu bedeuten hat. Bei Luna ist das ja auch eher vage. Interessant wäre eher zu wissen WO er steckt.“
 

Wir saßen noch eine kleine Weile auf dem Dach nebeneinander und schwiegen. Sowohl ich als auch Jack waren noch erschöpft vom Austesten unserer Fähigkeiten. Es war ein seltsames Gefühl als ich diese Ranken erschuf. Es war, als hätte der schwarze Rosendrache zu mir gesprochen. Ich wusste in diesem Moment plötzlich, was ich zu tun hatte. Ich hatte das Gefühl, Jack erging es ähnlich. Unsere Fähigkeiten waren beide auf Zerstörung ausgelegt, aber ich wollte lieber eine wie Leo oder Luna haben. Ich wollte meine Freunde beschützen, und nicht jemandem Schaden. Auch, wenn es Dämonen waren, gegen die ich kämpfen würde.

Ich bin doch Ärztin geworden, weil ich den Menschen helfen wollte. Weil ich früher so viel Leid über die Menschen in meiner Umgebung gebracht hatte. Wäre Yusei damals nicht gewesen, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre. Vermutlich wäre ich noch immer die schwarze Rose und würde Chaos, Schmerz und Leid verbreiten. Wie ich mein altes Ich hasste. Die Angst, dass die schwarze Rose durch diese Fähigkeit wieder die Oberhand gewinnen könnte, saß tief. Ich schlang meine Arme fester um meine Beine. Nein, das durfte nicht passieren. Nie wieder.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Unsere wichtigste Aufgabe war es jetzt, alle, die uns wichtig waren, zu schützen. Und wenn ich dabei wieder Zerstörung bringen musste, dann war das der Preis, den ich zahlen musste. Für meine Freunde. Für Yusei. Für das kleine Leben, das in mir heranwuchs. Mein Blick schweifte wieder über das Dach und ich sah die kleine Handtasche von Carly. Die Ärmste. Sie wusste über das ganze Chaos bescheid und konnte nichts ausrichten. Warum nur, hatte Jack sie in alles eingeweiht? Was hatte er sich dabei nur gedacht? Ich sah wieder zu ihm und er hatte die Augen geschlossen. Sein Gesicht war dem Himmel zugewandt.

„Jack?“

Ein fragender Laut, aber er blieb weiterhin in seiner Position und hatte die Augen geschlossen.

„Warum ist Carly hier?“

Für einen kurzen Moment sah er mich aus dem Augenwinkel heraus an und musterte mich, dann schloss er seine Augen wieder. „Hab ich doch gesagt. Die Leute vom Sicherheitsdienst sind alles Pfeifen. Ich traue ihnen nicht.“

„Warum glaube ich dir nicht?“

„Was weiß ich. Es ist mir egal, ob du mir glaubst oder nicht. Eine andere Erklärung hab ich nicht.“

Von wegen. Ich glaubte ihm keine Sekunde. Ich setzte ein breites Lächeln auf. „Du liebst sie, nicht wahr?“ Jack zog die Augenbrauen zusammen und warf mir einen bösen Blick zu, aber er konnte mich nicht einschüchtern. Mein Lächeln wurde breiter. Ich hatte wohl einen wunden Punkt getroffen.

„Grins nicht so blöd. Nur weil du bald heiratest denkst du jetzt, jeder wäre so verliebt wie du, aber da irrst du dich gewaltig.“ Sein Blick wanderte über die Hochhäuser der Stadt. „Ich will einfach nur nicht, dass sie wieder so etwas durchmachen muss. Ich will sie nie wieder so sehen müssen.“

Der Ausdruck in seinem Gesicht hatte sich verändert. Er versuchte es zu verstecken, aber er sah verletzt aus. Sein Blick hatte etwas Leidendes. Machte die ganze Sache ihn nach all den Jahren immer noch so fertig? Gedankenverloren betrachtete ich den Ring an meiner Hand und drehte ihn an meinem Finger. Er konnte nicht abstreiten, dass er etwas für sie empfand, das über gewöhnliche Freundschaft hinausging, aber warum wehrte er sich so dagegen? Mit seinem Handeln machte er Carly doch nur Hoffnungen, die sich nie erfüllen werden, wenn er so weitermacht. Unwillkürlich schmunzelte ich etwas. Waren Yusei und ich am Anfang auch so?
 

„Fertig!“ holte mich die freudige Stimme von Leo aus meinen Gedanken. Er balancierte gerade einige Teller und eine Schüssel Richtung Tisch und ich hatte die Befürchtung, dass das nicht lange gut gehen würde.

„Warte, ich helfe dir“ sagte ich während ich aufstand um ihm die Schüssel mit dem dampfenden Inhalt abzunehmen. Es roch köstlich. Nach einiger Zeit waren alle wieder auf der Terrasse versammelt und deckten den Tisch.

„Was gibt es denn, Crow?“ fragte ich und schielte in den Topf.

„Spaghetti Bolognese nach Marthas Rezept!“ antwortete er stolz.

Wir nahmen Platz, doch der leere Stuhl neben mir versetzte mir erneut einen Stich. Wo Yusei wohl steckt? Ich hoffe, es geht ihm gut!

„Guten Appetit!“ rief Leo und hob sein Glas. Ein Grinsen lag in seinem Gesicht. „Darauf, dass wir es geschafft haben!“

„Mensch, Leo“ sagte Luna und deutete mit einem Nicken auf den leeren Platz neben mir. Crow saß neben Luna und legte ihr, zuversichtlich lächelnd, die Hand auf die Schulter. „Ach was, der wird jeden Moment auftauchen! Bis dahin sollten wir erstmal anfangen.“
 

Alle begannen damit zu essen, aber ich stocherte nur missmutig auf meinem Teller herum. Ich hatte keinen Appetit, machte mir viel zu viele Sorgen. Er war jetzt schon eine ganze Weile lang weg. Plötzlich erschien ein heller Lichtblitz in meinem Augenwinkel. Ruckartig drehte ich den Kopf, in der Hoffnung, Yusei wäre wieder da. Und tatsächlich: Da stand er. Erleichterung machte sich in mir breit und ich stand auf um zu ihm zu eilen, doch entsetzt hielt ich in meiner Bewegung inne. Mein Herz setzte einen Schlag aus, ehe es mit beachtlicher Geschwindigkeit gegen meine Rippen pochte. Was ist mit ihm passiert?

Er stützte sich schwer atmend auf seinen Knien ab und war leichenblass. Seine Hände waren blutverschmiert. In seiner zitternden Hand hielt er die Karte seines Drachen. Seine Kleidung war verstaubt und zerschlissen, an seiner linken Schulter waren einige Kratzer und an seinem Oberschenkel war Blut unter einem provisorischen Verband. Auch an seiner restlichen Kleidung konnte ich die frischen, roten Tropfen erkennen. „Yusei!“ rief ich schockiert, nachdem ich meine Starre überwunden hatte und eilte an seine Seite.

„Schon gut“ sagte er müde. Langsam richtete er sich wieder auf und ging, wie ferngesteuert, zu einem der Stühle, die noch am Tisch standen, um sich zu setzen. Ich musste ihn etwas stützen, denn ich hatte das Gefühl, er würde sonst sein Gleichgewicht verlieren. Er ließ sich unbeholfen auf den Stuhl sinken und seufzte schwer. Ich setzte mich ihm Gegenüber und legte meine Hand auf seine Bein. Was ist nur passiert? „Woher kommt das ganze Blut?“ murmelte ich.

Irritiert sah er mich an, ehe sein Blick zu seinen Händen wanderte. Sie zitterten noch immer. „Das ist nicht mein eigenes“ flüsterte er.

Für einen Augenblick hatte ich ganz meine Freunde vergessen, die Yusei sorgenvoll musterten. Jack und Crow waren ebenfalls an seine Seite geeilt. Carly und die Zwillinge saßen völlig entsetzt an ihren Plätzen.

„Wo hast du dich denn rumgetrieben?“ fragte Jack.

Yusei schüttelte den Kopf und versuchte anscheinend seine Gedanken zu ordnen. „Ist nicht leicht zu beantworten“ setzte er mit kraftloser Stimme an. „Beim ersten Mal war ich plötzlich in Peru.“ Er schluckte, die Erinnerung war scheinbar schrecklich. Für einen Moment lag sein Blick in der Ferne. Aber wie zum Teufel kam er denn ans andere Ende der Welt? „Bevor ich den dreh raushatte, war ich aber noch an anderen Orten.“

Alle Anwesenden betrachteten ihn mit einer Mischung aus Angst um ihn, Neugier und Erstaunen. Crow war der Erste, der die aufgekommene Stille durchbrach. „Aber wie das denn? Kannst du dich ernsthaft teleportieren?“

Yusei richtete seinen Blick auf Crow und nickte zaghaft. „Sieht so aus.“

„Aber ich verstehe nicht ganz wie“ murmelte ich. Mit dieser Fähigkeit hatte ich ehrlich nicht gerechnet. Viel mehr Sorgen machte ich mir jedoch um seine Verletzungen. Sein Bein sollte dringend richtig versorgt werden. „Und wieso siehst du so ramponiert aus?“

Yusei sah mich überrascht an und blickte dann an sich herunter. Bis eben war es ihm anscheinend selbst nicht aufgefallen, welchen Anblick er eigentlich bot. Seufzend lehnte er sich zurück und gab uns einen groben Überblick über sein Erlebnis…
 

~ Flashback aus Sicht von Yusei ~
 

Um mich herum breitete sich ein gleißendes Licht aus. Erschrocken schrie ich auf und kniff die Augen zusammen. Versuchte mit den Armen, mein Gesicht vor der Helligkeit zu schützen. Dieses Licht war einfach zu hell.

So schnell, wie das Licht auftauchte, war es auch wieder verschwunden. Langsam ließ ich meine Arme sinken und öffnete meine Augen. Ich stand inmitten einer Wüstengegend, aber irgendwoher kannte ich diese Landschaft. Wie bin ich hierhergekommen? Ich war doch eben noch mit meinen Freunden auf dem Dach eines Wohnhauses in Neo Domino City. Wieso also, stand ich plötzlich in diesem Ödland? Ich sah auf die Karte in meiner Hand. Sternenstaubdrache. Wie hatte mich mein Drache hierhergeschickt? Und warum? Ich verstaute ihn wieder in meiner Deckbox und sah mich um. Der Boden war staubtrocken und übersäht mit einigen Rissen. In der Ferne sah ich eine gewaltige Schlucht. Moment. Ich kannte diesen Ort aus dem Video. Ich war definitiv an der Stelle, an der vor einigen Tagen dieser Riss erschien.

Langsam bewegten mich meine Beine auf die große Schlucht zu, die sich vor kurzem aus dem Nichts gebildet hatte. Jeder Schritt nach vorn wurde schwerer. Ich hatte das Gefühl, diese Umgebung würde alle Kraft aus mir ziehen aber ich konnte nicht stehen bleiben. Ohne nachzudenken lief ich weiter. Am Rand der Schlucht angekommen, zerrte diese dunkle Energie um mich herum weiter an meinen Kräften. Lange konnte ich hier nicht mehr bleiben. Dieser Riss schien unendlich tief und dieser lila-schwarze Nebel, der langsam am Rande der Schlucht hinaufkletterte, schien alles Glück aus mir ziehen zu wollen. Ich muss hier weg.

„Oye! Quién eres tú?” hörte ich eine Stimme, gefolgt von dem Geräusch einer sich schließenden Autotür, und fuhr erschrocken herum. Ich hatte nicht bemerkt, dass jemand hinter mir war. Drei Gestalten kamen aus einem SUV auf mich zu. Zum Glück hatte ich in meinem Auslandssemester vor einigen Jahren Spanisch lernen müssen. Irgendjemand hatte mich gefragt, wer ich bin.

Die Leute kamen näher und ich erkannte ihre Uniformen. Verdammt, die sind vom peruanischen Geheimdienst! Mein Herz raste und jeder Muskel meines Körpers war angespannt. Der große Kerl in der Mitte hatte mich am Flughafen zusammen mit den Chinesen befragt. „Nicht die schon wieder!“ platzte es aus mir heraus. Ich musste hier weg, ehe sie mich auch erkennen konnten. Aber wohin? Hinter mir war eine wer weiß wie tiefe Schlucht und vor mir drei Männer, die immer näherkamen. Sie dürfen mich nicht erkennen! Eine der Bedingungen, warum sie mich freigelassen hatten war die, dass ich Japan für einige Zeit nicht verlassen durfte und unter Beobachtung gestellt werden sollte. Wie sollte ich erklären, dass ich plötzlich in Peru war? Ich konnte es ja nicht einmal selbst.

„Habla!“ riss mich der Typ auf der linken Seite aus meinen Gedanken.

Ich sollte also reden. Ich erkannte, wie sie ihre Hände an die Waffen legten. „Shit!“ fluchte ich leise und sah zu meiner linken. Freies Feld, nichts wo man sich hätte verstecken können. Ich drehe den Kopf auf die andere Seite und entdeckte einen Felsen, am Fuße eines Abhangs. Letzterer war schätzungsweise 50 Meter entfernt. Besser als nichts, vielleicht kann ich mich dahinter verstecken und versuchen auf die gleiche Weise wieder nach Hause zu kommen, wie ich auch hergekommen bin.

Ein letzter Blick auf die Typen, die nur noch etwa 30 Meter entfernt waren, dann rannte ich los. Hinter mir nahm ich die Stimme eines Mannes wahr. „Estarse quieto!“ Natürlich würde ich nicht stehen bleiben. Plötzlich hörte ich einen lauten Knall. Schüsse. Vermutlich Warnschüsse, denn die Kerle vom Geheimdienst haben ein ausgezeichnetes Waffentraining. Noch 15 Meter bis zum Abhang. „Disparale!“ schrie einer. Scheiße, die haben mich zum Abschuss freigegeben. Neben mir bohrte sich eine Kugel in den Boden. Der Abhang war nur noch 10 Meter entfernt, das konnte ich schaffen. Ich versuchte die Schüsse hinter mir auszublenden. Ein Schmerz durchfuhr meinen Körper, doch ich blendete ihn aus. Irgendwas war mit meinem rechten Bein los. Ich rannte den Abhang hinunter und geriet aus dem Gleichgewicht. Taumelnd und rollend erreichte ich den Grund und war fürs erste aus der Schussbahn. Mein Blick war stur geradeaus gerichtet.

Noch 20 Meter bis zum Felsen. Ich rappelte mich auf und rannte weiter. Mit jedem Schritt brannte mein Bein wie die Hölle. Wieder Schüsse. Noch ein paar Schritte. Vor mir fraß sich eine Kugel in die Felswand. Die Typen waren also am Hang angekommen. Endlich Geschafft. Ich suchte hinter dem Felsen Schutz und holte meine Karte wieder hervor. Schnell schloss ich die Augen und lehnte mich erschöpft mit dem Rücken an die Felswand. Bring mich hier weg! Ich atmete tief durch, versuchte meinen Herzschlag zu beruhigen. Ich musste mich etwas entspannen, ehe die Kerle bei mir waren aber ich hörte sie kommen. Blende sie aus! Mein Herz schlug noch immer wie wild gegen meine Rippen. Ich biss die Zähne zusammen. Mein Körper war so voll Adrenalin, dass ich es nicht schaffte.

Plötzlich hörte ich schreie hinter mir. Erschrocken riss ich meine Augen wieder auf. Was war das? Die Schüsse hatten aufgehört, stattdessen hörte ich ein viel abscheulicheres Geräusch. Ein Knacken und Plätschern, begleitet von den fürchterlichen Schreien dieser Männer. Langsam ging ich mit dem Rücken an der Felswand entlang und sah über meine Schulter um die Felskante herum. Die Schreie hörten auf. Ich riss meine Augen auf, als könnte ich den Anblick so besser verstehen. Mir gefror das Blut in den Adern.

Zwischen Abhang und Felsen saß ein riesiges Ungetüm. Sein Körper war vergleichbar mit dem einer Eidechse, aber bei weitem größer und muskulöser. Sein Hinterteil hing am Abhang hinunter, sodass er sich nur mit seinem Bauch und den Vorderbeinen am Boden abstützen konnte. Die Zacken, die über seinem Rücken und den Gelenken verliefen, waren messerscharf und so lang wie mein Unterarm. Der gewaltige Kopf ähnelte dem eines Dinosauriers. Unter den Krallen seiner Vorderklaue lag einer der Männer. Zuckend. Anscheinend war er gerade noch so am Leben. Zwischen den gelben Zähnen dieses Ungetüms sah ich einen zweiten Kerl, zumindest das, was von ihm übrig war. Mir wurde übel. Wenn man von der Blutlache vor diesem Vieh ausging, hatte es alle drei erwischt.

Diese Riesenechse legte ihren Kopf in den Nacken und schien den Inhalt ihres Mauls herunter zu schlingen. Es war ein schreckliches Bild. Einen Augenblick später drehte es sich behäbig um und verschwand wieder im Abgrund. Ich konnte mich nicht bewegen. Was war das? Ein Husten holte mich zurück in die Realität. Der verbliebene Mann, der unter der Vorderklaue steckte, schien noch zu leben. So schnell ich konnte, rannte ich auf ihn zu und fiel neben ihm auf die Knie. In seiner Brust klafften zwei riesige Löcher, aus denen eine Unmenge Blut austrat. Verzweifelt versuchte ich es zurückzuhalten. Zwecklos, es war einfach zu viel. Ich konnte nichts mehr für ihn tun.
 

Ich sah ihm ins Gesicht, und er musterte mich mit nahezu leeren Augen. Das war der Kerl, der mich verhört hatte. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Wollte er mir etwas sagen? „Hey, was ist!? Kannst du sprechen?“ Ach Mist, der Kerl sprach nur spanisch. Vor Schreck fiel mir nichts mehr ein. Was konnte ich in diesem Moment nur tun?

„…do“ röchelte er.

„Was?“ sagte ich und verbesserte mich sogleich. „Qué?“

„D… Fu…do…“ Anscheinend hatte er mich erkannt. Mit zitternder Hand versuchte er, etwas aus der Innentasche seiner Jacke zu ziehen. Ich starrte ihn nur an, unfähig mich zu bewegen. Er hielt mir einen Stick hin und langsam griff ich mit der Hand danach. Ein Tropfen landete auf ihr. Kam der von mir?

Sein Kopf kippte zur Seite und in seinen Augen erlosch alles Leben. Ich kniete noch immer neben ihm und versuchte zu begreifen, was gerade vor sich ging. Mein Blick wanderte zu meiner Hand, die noch immer seine umschloss. Der Stick. Er hatte mir einen Stick überreichen wollen. Ich nahm seinem leblosen Körper das kleine Gerät ab und drehte es in meiner blutbeschmierten Hand. Der Anschluss wurde speziell für die Reaktoren gefertigt. Er konnte nur an einem Reaktorrechner ausgelesen werden.

Ein markerschütterndes Gebrüll aus der Schlucht ließ mich zusammenzucken. Ich musste hier weg, ehe es wiederkommen würde! Schnell stand ich wieder auf und ließ den Stick dabei in meine Hosentasche gleiten. Abermals durchzuckte mich ein Schmerz, von meinem Bein ausgehend, aber ich konnte darauf jetzt nicht achten. Ich suchte Schutz hinter dem Felsen, während ich Sternenstaubdrache wieder aus meiner Tasche zog.
 

Ich glitt mit dem Rücken an der Felswand auf den Boden und versuchte runterzukommen. Wieder und wieder redete ich mir ein, dass ich mich beruhigen musste. Allmählich normalisierte sich mein Herzschlag und ich atmete wieder gleichmäßig. Wie hatte ich es beim ersten Mal eigentlich geschafft, hier zu landen? Ich hatte mich auf Sternenstaubdrache konzentriert und es passierte eine Zeit lang nichts, ehe meine Gedanken zu den Nazca Linien abschweiften.

Natürlich! Ich hatte an einen Ort gedacht, und Sternenstaubdrache schickte mich dorthin. Ob es noch einmal so funktionieren würde? Wieder schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf meinen Drachen. Augenblicklich durchflutete mich diese unglaubliche Energie und ich dachte an den Reaktor, der einige Kilometer von hier entfernt stand. Um mich herum wurde wieder alles in ein weißes Licht getaucht.

Als dieses Licht wieder verschwand, öffnete ich meine Augen. Wieder wurde mir von diesem Anblick übel. Überall um mich herum waren Trümmer und unglaublich viel Blut klebte an den Wänden und Trümmerteilen. Ich sah mich um. Zu meiner Erleichterung war ich allein. Jetzt musste ich nur noch den Stick auslesen und dann würde ich schleunigst von diesem Ort verschwinden.

Langsam richtete ich mich auf, knickte aber schnell wieder ein und hielt mich haltsuchend an der Wand fest. Ich zog ruckartig die Luft ein und sah mit zusammengebissenen Zähnen auf die Ursache meines Schmerzes. An der Seite meines Oberschenkels war eine Wunde, aus welcher unaufhörlich Blut quoll. Ich riss den Stoff meiner Hose um die Wunde herum auf und versuchte dabei angestrengt meine Schmerzenslaute zu unterdrücken. Nicht, dass vielleicht doch jemand, oder etwas, in meiner Nähe war.

Ich besah mir die Verletzung, doch es sah nur nach einem Streifschuss aus. Um die Blutung zu stillen, riss ich einen Streifen meiner Jacke ab und band ihn mir fest um mein Bein. Ich seufzte erleichtert. Der Schmerz war nicht mehr so schlimm. Einen Moment noch atmete ich tief durch und versuchte erneut aufzustehen. Erfolgreich. Mein Bein pochte, aber ich konnte mich bewegen, auch wenn ich mein verletztes Bein dabei entlastete, indem ich mich an der Wand abstützte.

Kurz sah ich mich um. Der Aufbau der Reaktoranlagen war weltweit fast identisch, also wusste ich trotz der Trümmer, wo ich war. Kurz vor dem Kontrollraum. Hier hatte Aram die letzten Daten ausgelesen. Hinter mir hörte ich ein Geräusch, und drehte mich ruckartig um. Mein Herz pochte in meinen Ohren. Aber anscheinend war es nur Geröll. Ich ging weiter und öffnete die Tür zum Kontrollraum. Aram hatte das System abgestellt und gesichert, aber ich habe es entwickelt, also wusste ich was zu tun ist um an die Daten zu kommen, ohne einen Beweis meiner Anwesenheit zu hinterlassen. Ein paar Schalter umgelegt, ein Passwort eingegeben und der Hauptrechner fuhr hoch.

Ich holte den Stick aus meiner Hosentasche und betrachtete ihn erneut. „Mal sehen, was wir hier haben“ murmle ich und stecke das kleine Gerät in den Anschluss. Einige Zeit war nur das klicken der Tastatur zu hören, ehe der Stick geöffnet und auf dem Großbildschirm angezeigt werden konnte.
 

Meine Augen weiteten sich. Vor mir öffneten sich sie Aufnahmen der Sicherheitskameras vom Tag des Unglücks. Der Zeitstempel in der Ecke ließ keine Zweifel. Wie hatten die Kerle sie nur wiederherstellen können? Die Videos starteten und wirkten zunächst unauffällig. Plötzlich fielen einige der Kameras nacheinander aus, bis nur noch eine lief. Sie zeigte den Bereich der Eingangshalle, in der mehrere Menschen panisch versuchten, die Anlage zu verlassen. Dann trat eine schreckliche Gestalt ins Bild. Ein Mann mit hüftlangem, braunem Haar und Flügeln. Der Mann aus meinem Alptraum. Lucifer. Er kam durch den Haupteingang und stellte sich den Flüchtenden in den Weg.

In einer geschickten Bewegung zog er das Schwert aus seiner Scheide und metzelte eine Person nach der anderen nieder. Ich hielt mir die Hand vor den Mund. Ich weiß nicht, wie oft sich mir heute schon der Magen umgedreht hatte. Der Dämon ging weiter und verschwand aus dem Blickwinkel der Kamera. Mit Entsetzen musste ich ansehen, wie ihm weitere Monster wie das am Abgrund folgten. Kleiner, und ihre Gestalt unterschied sie voneinander, aber keines von ihnen sah einem Menschen ähnlich. Da sie ebenso das Bild verließen, spulte ich vor, doch das Video endete ohne einen weiteren Zwischenfall. Also war es doch ein Anschlag. Ich musste diese Informationen so schnell wie möglich an meine Freunde geben.

Ich lehnte mich nach rechts, um den Stick abzuziehen, da rauschte etwas an mir vorbei, streift meine linke Schulter und schlug in den Bildschirm vor mir ein. Einige Funken und Scherben flogen durch die Luft. Erschrocken machte ich einen Satz nach rechts, hob schützend meine Arme vor meinen Kopf und drehte mich um, um zu sehen woher der Angriff kam. Eine Gänsehaut überkam mich und jeder Muskel meines Körpers war zum Zerreißen angespannt. Vor mir stand eine Frau. Auch sie könnte ich nicht verwechseln, mit ihrem Schneewittchengesicht und den Drachenschwingen. „Lillith!“ wisperte ich.

Wo kam sie so plötzlich her? Und was wollte sie hier? Ich konnte mich nicht bewegen. Sie lachte leise und unheilvoll. Schritt dabei anmutig auf mich zu. „Interessant, woher kennst du meinen Namen, kleiner Auserwählter?“ Sie wusste wer ich war? Langsam griff ich hinter mich und zog den Stick ab. Ich musste sie irgendwie auf Abstand halten. Ich konnte gegen sie nicht gewinnen. Nicht allein. Ich versuchte mich zu sammeln und ruhig zu bleiben. „Wir haben dich schon Überall gesucht. Es ist an der Zeit mit uns zu kommen!“ Ein mörderisches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Moment, das war die Chance mehr zu erfahren.

„Was willst du?“ fragte ich und versuchte dabei das Zittern zu unterdrücken, das mich überkam.

Sie blieb stehen. „Warum sollte ich dir das verraten?“ In ihrem Blick lag eine arrogante Abneigung, als wäre ich ein lästiges Insekt.

Ich schluckte. Ich musste sie irgendwie hinhalten, Informationen sammeln. „Ich sitze doch sowieso in der Falle, nicht wahr? Welchen Nachteil hätte es für dich, wenn ich erfahren würde wohin ich dich begleiten soll, und warum.“

Sie legte den Kopf schief und zog die Augenbrauen zusammen. Der Ausdruck in ihrem Gesicht veränderte sich. Anscheinend überlegte sie, was sie mir antworten sollte. „Erstaunlich“ sagte sie nur und musterte mich.

„Hm?“ Ich sah sie überrascht an. Was war so erstaunlich? Hatte sie mich durchschaut? Wieder schlich sich dieses fiese Lächeln auf ihre dunklen Lippen.

„Komm mit mir in die Unterwelt.“

Meine Hand, in der ich noch immer den Stick hielt, ballte sich zur Faust. Wie kam sie darauf, dass ich dieses Angebot annehmen würde? Aber ich wollte mehr Informationen haben. „Was ist mit meinen Freunden?“

Ihr Lächeln wird zu einem gefährlichen Grinsen. „Die werden uns selbstverständlich Begleiten. Wenn der Zeitpunkt kommt, werden sie ihre Aufgabe erfüllen und sterben, aber keine Angst. Du gefällst mir. Ich glaube, dich lasse ich am Leben.“

Ich schluckte. Meine Freunde sollten sterben? „Welchen Zeitpunkt meinst du? Und was für eine Aufgabe sollen sie erfüllen?“ Stille trat ein und wieder schien sie zu überlegen. Unwillkürlich dachte ich an Akiza und unser ungeborenes Kind, das keine Chance haben würde, das Licht dieser Welt zu sehen.

Lilliths Stimme riss mich aus meinen Gedanken. „Meinen Bruder kennst du sicher auch, nehme ich an?“

Ich nicke kaum merklich. Worauf wollte sie hinaus? Hatte sie meine Fragen überhaupt gehört?

„Er hat mich hier zurückgelassen um den Eingang zu bewachen, während er mit unserer kleinen Armee nach China geflogen ist. Aber das war eine Finte von dir, habe ich Recht? Dort angekommen hat er die Energie des heiligen Drachen nicht mehr ausfindig machen können und vor Wut den nächsten Reaktor in die Luft gejagt.“

Der Kloß in meinem Hals wurde unerträglich. Mir war, als würde ich keine Luft mehr bekommen. Die vielen Menschen… sind alle meinetwegen gestorben? Weil ich den feuerroten Drachen um Hilfe bat und dann nach Japan zurückkehrte?

„Er hat eine neue Energie ausgemacht, östlich von Peking. Er ist in diesem Moment auf der Suche nach deinen kleinen Freunden. Sicher wird er stolz sein, wenn er erfährt, dass ich bereits einen Auserwählten in meiner Gewalt habe.“

Sie setzte sich wieder in Bewegung und der Klang ihrer Absätze hallte in dem Raum wider. Wurde von den Wänden zurückgeworfen und klang in diesem Moment unnatürlich laut. Für einen Moment war ich wegen ihrer Worte komplett erstarrt, doch ich riss mich wieder zusammen und sah sie entschlossen an. Ich würde mich nicht gefangen nehmen lassen. Meine Freunde brauchten mich. An mehr Informationen würde ich im Augenblick wohl nicht kommen. Ich musste hier weg. Einmal noch atmete ich tief durch und schloss meine Augen, während Lillith fast schon bei mir war. Ich dachte an Akiza und spürte wieder, wie die Kraft des Drachen mich durchflutete und alles um mich herum wieder hell wurde. Ich konnte noch ein sich entfernendes „NEIN!“ hören, doch ich hatte es geschafft zu entkommen.
 

Langsam spürte ich, wie meine Kraft nachließ. Das Licht um mich herum erlosch. Ich öffnete die Augen, doch zu meiner Überraschung war ich nicht bei Akiza auf dem Dach der Zwillinge, sondern im Rosengarten abseits der Innenstad. Langsam dämmerte es mir. Ich hatte bei den ersten beiden Sprüngen eine klare Umgebung vor Augen gehabt, doch beim letzten dachte ich nur an sie. Vermutlich hatte mich mein Drache deshalb an einen Ort gebracht, den ich mit ihr verband. Hier hatte ich ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen.
 

Ich betrachtete die Karte in meiner Hand. Meine Hände zitterten vor Anstrengung. Einen letzten Sprung konnte ich noch schaffen. Vor meinem inneren Auge sah ich die Dachterrasse der Zwillinge. Mein Mal begann zu leuchten, aber allmählich verließ mich meine Kraft. Ich konzentrierte mich weiter auf das Dach und um mich herum wurde es wieder hell, doch nur für einen Augenblick. Ich stütze mich auf meinen Knien ab und atmete schwer. Meine Augen waren zusammengekniffen. Ich war so müde. Da erklang eine Stimme, die mir Kraft schenkte. Sie klang besorgt. Warum hatte sie Angst? „Schon gut“ versuchte ich sie zu beruhigen und blickte in ihre wunderschönen Augen. Allmählich verschwamm meine Sicht. Lange konnte ich mich nicht mehr auf den Beinen halten. Ich wollte mich nur noch ausruhen, doch erst muss ich ihnen sagen, was ich herausgefunden hatte. Was ich gesehen hatte. Langsam nahm ich auch die anderen wieder wahr, die an meine Seite traten und mich besorgt musterten.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück