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Wenn nicht nur die Pollen fliegen

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Mein erster Versuch, eine meiner Fanfiktions zu einem Original zu machen. Ich hoffe, die Geschichte von Michaela und Karin gefällt euch. Feedback wäre wie immer ein Träumchen, aber bis dahin, erst einmal viel Spaß beim Lesen. Komplett anzeigen

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Das Ende vom Anfang

Missmutig starrte ich aus dem Fenster, vor dem die Sonne aus einem babyblauen Himmel auf die Welt herabstrahlte und meine Augen zum Tränen brachte. Ich fühlte mich gerade so ungerecht behandelt, dass ich am liebsten geschrien hätte. Diese Idylle dort draußen war der blanke Hohn. Ein lautes Niesen hallte von den Wänden meines Wohnzimmers wider und noch bevor es verklungen war, hatte ich nach der Rolle Klopapier auf dem Fensterbrett gegriffen, um mir zum hundertsten Mal an diesem Vormittag die Nase zu putzen.

Heuschnupfen, wie ich ihn verabscheute.

Mittlerweile war ich mir sicher, dass die Welt mich hassen musste. Anders war es nicht zu erklären, dass Mutter Natur jedes Jahr aufs Neue ihr gesammeltes Arsenal an Pollen ausspuckte, sobald die Temperaturen einige Tage hintereinander zweistellige Werte erreichten. Ich war der festen Überzeugung, dass sie das mit vollster Absicht tat, weil sie mich auf dem Kieker hatte. Meine Verschwörungstheorien sorgten allerdings lediglich für regelmäßige Belustigung bei meinen Freunden und stießen ansonsten auf taube Ohren. Und das, wo es so offensichtlich war.

Es war gerade mal Februar. In München. Im eigentlich kalten Deutschland! Dennoch hatten wir seit Tagen mollig warme zwölf Grad. Das konnte nicht mehr mit rechten Dingen zugehen und die Standardausrede Klimaerwärmung ließ ich nicht mehr gelten. Das war etwas Persönliches.

 

„Wenn du mich damit weichkochen willst, hast du dich geschnitten“, grummelte ich nasal und wedelte mit dem Zeigefinger gen Außenwelt. „Nicht mit mir, hatschi!“ Leise Verwünschungen vor mich hinmurmelnd drehte ich mich wieder vom Fenster weg und warf mein zerknülltes Ersatztaschentuch in Richtung des Papierkorbs, der vor meiner kleinen Arbeitsnische in der Ecke des Raums stand. Natürlich verfehlte ich mein Ziel – wie sollte es auch anders sein? – und so gesellte sich ein weiteres weißes Knäuel zu denen, die bereits das gleiche Schicksal hatten erleiden müssen. Mit einem lauten Seufzen ging ich zum Sofa hinüber und ließ mich darauf fallen, die Rolle Klopapier wie ein Kuscheltier gegen meine Brust gedrückt. Ich fühlte mich jämmerlich und mein morgendliches Spiegelbild hatte mir unverblümt bestätigt, dass ich auch genauso aussah. Tränende Augen, triefende Nase, alles überaus ansehnlich gerötet und von Sprungkraft hatten meine schwarzen Locken heute auch noch nichts gehört.

 

Es war tatsächlich gut gewesen, dass Karin mich gestern nach Hause geschickt und mir klargemacht hatte, dass ich mich übers Wochenende gefälligst auszuruhen hatte. Eigentlich hätten wir dringend an unserer Hausarbeit für unser Seminar zu Kinder- und Jugendliteratur weiterarbeiten müssen, aber ganz offensichtlich hatte sie das Elend, welches ich darstellte, nicht länger ertragen können. Wäre ich ihr tief in meinem Herzen für diese Auszeit nicht noch immer dankbar, hätte ich ihr ihre Worte übel genommen, aber so konnte ich ihr nur beipflichten.

 

Karin. Bei dem Gedanken an meine zu groß geratene Kommilitonin kam mir ein leidender Laut über die Lippen. Seit Monaten war zwischen ihr und mir nun schon der Wurm drin und ich kam nicht dahinter, woran es lag. Ich war sonst immer die Ruhe in Person, egal, ob sie mal wieder mit zweideutigen Kommentaren um sich warf oder nicht wusste, wo ihre Grenzen lagen, wenn es um Anzüglichkeiten ging. Bisher hatte mich das immer kaltgelassen, aber in letzter Zeit brachte sie mich damit regelmäßig zur Weißglut. Wenn ich mich wenigstens mal so richtig mit ihr zoffen könnte, aber immer, wenn sie es erneut übertrieb und ich ihr daraufhin die Meinung geigte, konnte ich damit rechnen, dass sie sich ehrlich reuevoll bei mir entschuldigte, was mir dann wieder jeglichen Wind aus den Segeln nahm. Oder – und das Szenario war noch viel schlimmer – ich war es, die es mit ihrer notorisch schlechten Laune übertrieb und die sich dann mit diesen schokobraunen Kulleraugen konfrontiert sah, aus denen mich der Schmerz, den mein Verhalten ausgelöst hatte, regelrecht anzuschreien schien. Ich ließ mich zur Seite fallen und starrte trübsinnig vor mich hin.

Das war doch alles einfach nur zum Haareraufen.

Zu allem Überfluss waren mir gestern Abend die Taschentücher ausgegangen und mein Nasenspray pfiff nur noch aus dem letzten Loch. So gesehen sollte ich mich also endlich ausgehfein machen, um das Nötigste einzukaufen, aber ich konnte mich nicht aufraffen.

Mein Handy klingelte kurz – eine weitere Nachricht, wie ich vermutete – aber da das Teil am Ladegerät an der Steckdose neben meinem Schreibtisch hing, ignorierte ich es, wie auch die Male zuvor. Wäre es etwas Dringendes, wäre ich angerufen worden.

 

Über meine trübsinnigen Gedanken und mein Selbstmitleid musste ich wohl eingeschlafen sein, denn das melodische Läuten meiner Türglocke hatte mich dermaßen erschreckt, dass ich nun kerzengerade auf dem Sofa saß und mir die Hand auf das wild pochende Herz drückte.

 

„Schande“, entfuhr es mir und ich brauchte erst ein paar Sekunden, in denen ich tief durchatmete, bevor ich meinen wackligen Beinen so weit traute, dass sie mich zur Tür tragen würden. Meinem noch unbekannten Besucher schien dies allerdings zu lange gedauert zu haben, denn noch bevor ich öffnen konnte, klingelte es erneut. „Ja, ja, ich komm ja schon“, knurrte ich und riss die Eingangstür auf, ohne mir die Mühe gemacht zu haben, durch den Spion zu sehen. Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte, denn keine andere als Karin, meine Kommilitonin und die letzte Person, die ich in meinem derzeitigen Zustand sehen wollte, stand mir nun schmunzelnd gegenüber.

 

„Hallo, Michaela, darf ich reinkommen?“

 

Mein erster Impuls war es, die Tür einfach wieder zuzuschlagen und so zu tun, als wäre nichts gewesen. Meine mir leider angeborene Neugierde machte mir jedoch einen gehörigen Strich durch die Rechnung, als ich mein Gegenüber genauer musterte. Nicht nur, dass sie eine große Schüssel wie einen Schatz vor sich hertrug, über ihrer Schulter hing auch eine kompakte Reisetasche und vom rechten Handgelenk baumelte ein Stoffbeutel.

 

„Was machst du hier?“, erkundigte ich mich, was Karin als Einladung ansah, sich an mir vorbei in meine Wohnung zu drängen. „Ehm, hallo? Hab ich gesagt, dass du reinkommen kannst?“

 

„Nö, aber das hättest du bestimmt noch.“

 

Wieder dieses verschmitzte Grinsen, das ich ihr am liebsten aus dem Gesicht gewischt hätte. Stattdessen gab ich mich mit einem lauten Seufzen zufrieden, schloss die Tür und drehte mich zu dem Eindringling herum, der sich gerade die Schuhe von den Füßen trat und in meiner Küche verschwand. Fassungslos blickte ich ihr einige lange Momente hinterher, in denen ich zu ignorieren versuchte, wie gut sie schon wieder aussah, bevor ich mich doch noch aufraffen und ihr folgen konnte. Ich selbst hatte heute Morgen gerade so viel Energie aufbringen können, meinen Schlafanzug gegen ein langes und mir viel zu großes Karo Hemd zu tauschen, welches dennoch nicht verbergen konnte, dass meine Beine schon den dritten Tag in Folge keinen Rasierer gesehen hatten. Und der dumme Nagellack auf meinen Zehennägeln blätterte auch schon ab. Im Gegensatz dazu sah Karin aus wie frisch aus dem Ei gepellt – die blonden Haare in einer komplizierten Flechtfrisur zusammengefasst und ihre Sanduhrfigur durch ein 50er-Jahre inspiriertes Kleid in Szene gesetzt.

‚Schneewittchen, Schneewittchen, kein Arsch und kein Tittchen‘, sangen plötzlich die Kinderstimmen aus der Vergangenheit in meinem Kopf und ließen mich mit den Zähnen knirschen. So ein Mist aber auch. Allein Karins Anblick hielt mir meine eigenen Makel schon wieder zielsicher vor Augen und brachte mich auf hundertachtzig. Ich wollte doch nur meine Ruhe, war das denn zu viel verlangt?

 

„Also noch mal, für die Dreisten unter uns, was machst du hier?“, knurrte ich und hatte es aufgegeben, mir meine schlechte Laune nicht anmerken zu lassen.

 

„Ich war einkaufen“, erwiderte Karin, während sie in meinem Kühlschrank herumkramte, bis das Ungetüm von Salatschüssel endlich einen Platz darin gefunden hatte. Super Aussage, ehrlich. Sie hätte auch gar nicht auf meine Frage antworten können, denn ich fühlte mich keinen Deut schlauer.

 

„Und weiter?“ Ich untermalte meine Worte mit einer auffordernden Handbewegung, lehnte mich gegen den Türrahmen und fixierte meinen ungeladenen Gast aus halb zusammengekniffenen Augen.

 

„Ich hatte dir geschrieben, weil ich wissen wollte, wie es dir geht und gefragt, ob ich dir etwas mitbringen kann, aber so wie es aussieht, hast du meine Nachrichten nicht gelesen. Und da dachte ich schon, du würdest mich nur wieder ignorieren.“ Karin lachte und nein, ich sollte mich nicht so schuldig fühlen wie ich es gerade tat, nur weil sie geglaubt hatte, ich würde sie wie so oft nicht beachten.

 

„Mein Handy hängt an der Ladestation und ich …“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich hatte keinen Elan, es zu holen.“

 

„Ja, so etwas in der Art hab ich mir schon gedacht, aber macht nichts, ich bin ja jetzt hier.“ Karin spiegelte meine Geste und begann, diverse Dinge aus ihrem Stoffbeutel zu zaubern, während ich mir ein lustloses juhu verkneifen musste. „Ich hab dir einfach ein paar Kleinigkeiten mitgebracht, von denen ich dachte, du könntest sie brauchen.“ Wieder strahlte sie mich stolz an und stellte dann nicht allen Ernstes zwei Großpackungen Taschentücher, ein Nasenspray, Lippenbalsam und einen unbeschrifteten Glastiegel auf meinen Küchentisch.

 

„Du bist meine Rettung“, entfuhr es mir, noch bevor ich mich hätte zurückhalten können. Blitzschnell stand ich neben ihr, hatte eine Taschentuchpackung geöffnet und meine wunde und schon wieder triefende Nase in dem herrlich weichen Papier vergraben. Himmel, die Taschentücher waren sogar mit Balsam und dufteten ganz leicht nach Menthol. Ich schob es auf meine heuschnupfenbedingte Unzurechnungsfähigkeit, dass ich Karin vor lauter Dankbarkeit am liebsten um den Hals gefallen wäre. Aber statt diesem irrwitzigen Impuls nachzugehen, ging ich einige Schritte auf Abstand, drehte mich etwas von ihr weg und schnäuzte mich lautstark.

 

„Tschuldigung.“

 

„Kein Ding. Ich hab dir auch den Erkältungsbalsam mitgebracht, den meine Ma immer selbst zusammenrührt.“ Karin hielt den Glastiegel hoch. „Und ich soll dich ganz lieb von ihr grüßen.“

 

„Das … ist nett“, nuschelte ich nasal und wischte mir noch einmal über die Nase. „Aber ich hab Heuschnupfen und keine Erkältung.“ Wieder zuckte Karin nur mit den Achseln und ließ sich von meinen Worten nicht beirren.

 

„Sie meinte, die ätherischen Öle helfen generell dabei, dass die Schleimhäute etwas abschwellen und nicht mehr so gereizt sind. Einen Versuch ist es ihrer Meinung nach allemal wert.“

 

Auf diese Aussage hin brummte ich nur unbestimmt und ließ meinen Blick unschlüssig über meine unerwartete Besucherin und deren Mitbringsel gleiten.

 

„Und was soll die Reisetasche?“, sprach ich schließlich das an, was mich schon die ganze Zeit über mehr irritierte als Karin selbst. „Warst du beim Sport?“ Skeptisch zog ich eine Augenbraue nach oben, denn körperliche Ertüchtigung und meine modebewusste Kommilitonin passten so gut zusammen wie Schlussverkauf und leere Kaufhäuser.

 

„Ich? Sport? Wo denkst du hin“, bestätigte sie auch sogleich lachend meine Einschätzung. „Ich dachte mir, es ist besser, wenn ich mich schnell abdusche und mich umziehe, bevor ich dir Gesellschaft leiste.“ Ein teils fragender, teils auffordernder Blick streifte mich und meine erste Reaktion war es, Karin zu fragen, ob sie neuerdings mit ihrem Körpergeruch auf Kriegsfuß stand oder warum sie glaubte, sich erst duschen zu müssen. Sie schien mir meine Ratlosigkeit von der roten Nasenspitze ablesen zu können, denn sogleich erklärte sie weiter. „Der Pollen wegen? Ich hab gelesen, dass es hilft, wenn man sich duscht, sobald man von draußen in die Wohnung kommt.“

 

Ach so, das ergab tatsächlich Sinn. Ich musterte sie für einen Moment nur stumm und musste tatsächlich schlucken, als mein Mund seltsam trocken wurde. Dieses unerwartete Feingefühl ihrerseits brachte mich gerade gehörig aus dem Konzept.

 

„Ehm …“, machte ich schließlich lang gezogen und fuhr mir in einer nervösen Geste übers komplett zerzauste Haar. „Das … brauchst du nicht.“ Ich versuchte mich an einem etwas verunglückten Lächeln und suchte gleichzeitig nach den Überresten meiner Selbstsicherheit, die meine Freundin gerade, ohne es vermutlich auch nur im Ansatz zu ahnen, wie einen fragilen Spiegel zerbrochen hatte. Was war denn heute nur los mit mir? „Solange du nicht vorhast, mir auf die Pelle zu rücken – und ich rate dir, das zu unterlassen …“, mahnte ich mit ausgestrecktem Zeigefinger in ihre Richtung, „dürfte das mit den Pollen kein Problem sein. Die Luftreiniger laufen sowieso auf Hochtouren.“

 

Das anzügliche Grinsen, das Karins Lippen geziert hatte, als ich meinte, sie solle mir ja nicht zu nahe kommen, wich nun einem Ausdruck, den ich nicht wirklich zuordnen konnte. War das Mitleid in ihrem Blick? Besorgnis? Ich kniff die Augen halb zusammen und musterte sie angestrengt, aber so schnell diese Gefühlsregung aufgetaucht war, war sie auch wieder verschwunden und nichts in ihrem Gesicht ließ darauf schließen, was wirklich in ihr vorging.

 

„Jetzt mal ehrlich. Was machst du hier? Wir haben uns gestern erst gesehen und du hast an einem freien Tag bestimmt Besseres zu tun, als mich mit Taschentüchern und Hausmittelchen zu versorgen.“

 

„Nö.“ Karin lachte, vermutlich meines mürrischen Gesichtsausdrucks wegen, und strich sich für mein Empfinden viel zu elegant eine blonde Strähne hinters Ohr. „Ich hab mir eben Sorgen gemacht. Du hast gestern schon wie der Tod auf Latschen ausgesehen und da ich mittlerweile weiß, dass du zu nicht wirklich viel zu gebrauchen bist, wenn dich die Pollen so richtig plagen, dachte ich mir, ich muss mich ein bisschen um dich kümmern. Was ja offensichtlich auch der Fall ist. Hast du schon was gegessen?“

 

„Ich …“ Geplättet öffnete und schloss ich den Mund und wusste nicht, ob ich verärgert oder seltsam gerührt von ihrer Fürsorge sein sollte. Schlussendlich entschied ich mich für ein ausgewogenes Maß an Empörung und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin mit Sicherheit kein kleines Kind, für das du dich verantwortlich fühlen musst.“

 

„Nein, aber du bist meine Freundin, um die ich mir sehr wohl Gedanken machen darf, wenn es ihr nicht gut geht.“ Ihre viel zu ehrlichen Augen hielten mich gefangen, bis ich letzten Endes aufgeben und den Blick abwenden musste.

 

„Gar nicht“, murrte ich, natürlich überhaupt nicht kindisch, und wäre am liebsten aus der Küche verschwunden, um mich unter der nächstbesten Decke zu verkriechen. Warum nur schaffte Karin es heute so mühelos, mich aus der Fassung zu bringen?

 

„Also hast du schon was gegessen?“

 

„Nein“, brummte ich, zog einen Stuhl vom Küchentisch weg und ließ mich darauf nieder. „Glaub aber nicht, dass du jetzt meine Küche verunstalten kannst, im Versuch, irgendwas Essbares auf den Tisch zu zaubern. Ich hab keinen Hunger und außerdem würde ich sowieso nichts runterbringen, weil mein Hals so geschwollen ist.“ Vielleicht kamen meine Worte schnippischer rüber, als ich es beabsichtigt hatte, aber da sich Karin unberührt von meinem kleinen Ausbruch zeigte, war es wohl auch nicht nötig, mich jetzt dafür zu entschuldigen. Einem kleinen Teil in mir tat mein Verhalten zwar leid, aber der weitaus Größere genoss es zutiefst, meinen angestauten Frust endlich an jemandem auslassen zu können.

 

„Mh, das dachte ich mir schon. Darum hab ich dir auch was mitgebracht, was du mit Sicherheit essen kannst.“ Karin verschwand mit ihrer Reisetasche aus der Küche und kam wenig später ohne sie und ohne ihre Jacke wieder zurück. Ich hatte derweilen meine Arme auf der Tischplatte verschränkt und meinen dröhnenden Kopf auf sie gebettet. Als ich Finger spürte, die sanft über meinen Nacken streichelten, versuchte ich wirklich ein unwilliges Knurren von mir zu geben, aber das, was meine Lippen verließ, hörte sich vielmehr wie ein angetanes Brummen an. Verflixt, das war so unfair. Karins leises Lachen jagte meinen Puls schon wieder in die Höhe. Doch gerade, als ich den Kopf hob, um einen schnippischen Kommentar vom Stapel zu lassen, stellte sie die Salatschüssel vor mir auf den Tisch ab und schaute mich mit ihren patentierten Kulleraugen erwartungsvoll an.

 

Ich sollte gehen. Einfach aufstehen und dieses dreiste und viel zu selbstsichere Wesen, das sich meine Freundin schimpfte, in der Küche stehenlassen, bevor ich mich in ihrer Gegenwart noch öfter lächerlich machte. Stattdessen hatte meine Neugierde die Kontrolle über meinen Körper übernommen und meine Hand schon dazu gebracht, den Deckel der Schüssel zu öffnen, noch bevor ich mich bewusst dazu hätte entscheiden können. Verdutzt blinzelte ich auf die glänzend braune Masse herab, die hier und da mit weißen Häubchen dekoriert war.

 

„Schokoladenpudding“, stellte ich mit monotoner Stimme fest.

 

„Ganz genau. Selbstgemacht mit echter Schokolade.“

 

„Verziert mit Sahne und … weißen Schokoladenherzen?“ Mit hochgezogener Augenbraue erwiderte ich Karins Blick und bildete ich mir das nur ein, oder lag nun leichte Röte auf ihren Wangen?

 

„Ja.“ Sie rieb sich über den Nacken und räusperte sich leise. „Die hatte ich noch übrig und dachte mir, die sind für heute doch passend.“

 

Heute? Ich runzelte die Stirn und drehte meinen Kopf zur Seite, wo über dem Tisch ein Kalender an der Wand hing. Kurz musste ich überlegen, welcher Wochentag heute war, aber dann fiel mein Blick auf den einzigen Tag im Februar, den die Macher des Kalenders mit vielen kleinen Herzen verziert hatten.

 

„Valentinstag, natürlich“, nuschelte ich und rollte nach einem Moment der Verblüffung mit den Augen. „Du schenkst mir eine Schüssel Schokoladenpudding zum Valentinstag? Gehört das jetzt auch zu deinen studentischen Verpflichtungen?“ Wieder huschte ein Ausdruck über Karins Gesicht, den ich nicht zuordnen konnte, der aber im nächsten Moment von ihrem typischen Schmunzeln ersetzt wurde.

 

„Wie gesagt, die hatte ich noch zu Hause rumfliegen und außer dir mag sowieso niemand weiße Schokolade.“ Sie zuckte mit den Schultern, holte zwei Esslöffel aus der Schublade neben dem Herd und setzte sich mir gegenüber. „Du musst sie ja nicht essen, wenn du nicht willst.“

 

„Pfff, von wegen.“ Schneller, als Karin gucken konnte, hatte ich ihr einen der Löffel aus den Fingern gezogen und in die Schüssel getunkt. Ein genussvolles Seufzen kam mir über die Lippen, als sich die Süße in meinem Mund ausbreitete und der kühle Pudding meine gereizte Kehle zu besänftigen versuchte. Himmel, das tat so gut und wäre ich nun allein gewesen, hätte ich entzückt aufgestöhnt, so jedoch schloss ich nur die Augen und genoss das schokoladige Aroma.

 

„Ich entschuldige mich schon mal für etwaige Klümpchen, ich hab bestimmt nicht alle erwischt.“

 

„Ach Quatsch“, winkte ich ab und ließ dem ersten Löffel gleich noch einen Zweiten folgen. „Ich mag Klümpchen. Die sind immerhin ein Zeichen dafür, dass der Pudding nicht aus dem Supermarkt kommt.“ Wieder langte ich zu und suchte mir diesmal eines der Schokoladenherzen heraus, das ich mir genüsslich auf der Zunge zergehen ließ.

„Das schmeckt echt unheimlich gut“, lobte ich schließlich, als mir schon ein Viertel des Puddings zum Opfer gefallen war, ohne, dass Karin probiert hatte. „Willst du nichts?“ Mein Gegenüber blinzelte und wirkte für einen Moment so, als hätte ich sie aus tiefgründigen Gedanken gerissen. Diese Vorstellung zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen, das meine Freundin wie automatisch zu erwidern begann, obwohl sie nicht wissen konnte, was mich so erheiterte.

 

„Freut mich, wenn er dir schmeckt“, antwortete sie etwas verspätet und fast verlegen wirkend, bevor auch sie ihre Kreation endlich probierte. „Ja, kann man essen“, war ihr Urteil, was mich nur zu einem herzhaften Augenrollen verleitete.

 

„Die Untertreibung des Jahrhunderts, aber lassen wir das.“ Einen letzten Löffel gönnte ich mir noch, bevor ich mich erhob und zum Kühlschrank ging. „Kann ich dir etwas zu trinken anbieten? Ich gehe mal davon aus, dass ich dich so schnell nicht wieder loswerde.“ Meine Worte hätten harsch geklungen, aber ich grinste Karin über die Schulter hinweg an, bevor ich unaufgefordert zwei Glasflaschen mit Ingwerlimonade auf den Tisch stellte.

 

~*~

 

Irgendwann waren wir ins Wohnzimmer übergesiedelt, nachdem vom Pudding nur noch ein kläglicher Rest in der Schüssel verblieben war und sich mein Bauch dafür nun anfühlte, als hätte ich eine Wassermelone am Stück verschluckt.

 

„Ich werde mich nie wieder bewegen können“, jammerte ich und rieb mir über meine deutlich gewölbte Mitte. Karin lachte und machte Anstalten, meinen Kugelbauch als improvisiertes Schlagzeug missbrauchen zu wollen, was ich mit einem Klaps auf ihre frechen Finger jedoch zu verhindern wusste.

 

„Autsch!“, murrte sie, aber ihr anhaltendes Grinsen sorgte nicht gerade dafür, dass ich ihr ihre Empörung abkaufte. „Warum musstest du auch den ganzen Pudding auf einmal essen?“

 

„Du hast mitgegessen und außerdem ist noch was in der Schüssel.“

 

„Na klar, red dir das nur ein.“

 

In einer sehr erwachsenen Geste streckte ich ihr die Zunge heraus und angelte ungelenk nach der Fernbedienung.

 

„Ich hab Tokyo Drift dabei, willst du den sehen?“

 

„Uh, Vin Diesel, du weißt wirklich, wie man ein Mädchen glücklich macht.“ Ich nickte enthusiastisch zur Untermalung meiner Begeisterung und stellte den Fernseher so ein, dass Karin die DVD nur noch einlegen musste. „Ich finde ja, den Film kann man nicht oft genug sehen.“

 

„Siehst du, deswegen hab ich ihn mitgebracht.“

 

Karins Lächeln, das sie mir schenkte, bevor sie im Flur verschwand, war eigenartig zögerlich, aber ich versuchte, mir nichts dabei zu denken. Ich tendierte dazu, immer viel zu viel in Dinge hineinzuinterpretieren, besonders, wenn es um meine herzallerliebste Kommilitonin ging. Während besagte Kommilitonin also den Film holte, stand ich noch einmal auf, brachte unsere leeren Flaschen in die Küche und sorgte für Nachschub.

 

In der Zwischenzeit hatte Karin die DVD gestartet und so machte ich es mir neben ihr auf dem Sofa bequem. Ich freute mich richtig auf den Film und eine ganze Weile lang war ich auch von der Handlung – und von Vin, wenn wir ehrlich sind – vollkommen in den Bann geschlagen. Irgendwann jedoch drifteten meine Gedanken ab und meine Aufmerksamkeitsspanne begann gen null zu tendieren. Immer öfter schielte ich zu Karin hinüber, die jedoch stets den Anschein machte, den Geschehnissen auf der Mattscheibe mit vollstem Interesse zu folgen. Als meine Augen nun erneut zu ihr huschten, musste ich mir ein Grinsen verkneifen, als sie ihre Nase krauszog – ein eindeutiges Zeichen höchster Konzentration. Irgendwie … sah das richtig niedlich aus. Ruckartig richtete ich den Blick wieder auf den Fernseher und verbiss mir ein genervtes Stöhnen.

Unzurechnungsfähigkeit, genau das sollte mir heute attestiert werden.

 

Ob Karin wirklich nur vorbeigekommen war, weil sie sich Sorgen um mich gemacht hatte? Und da war sie wieder, die Frage, die mich nicht mehr loslassen wollte. Irritiert rutschte ich auf meinem Platz herum, fand aber keine Position, die bequem gewesen wäre, und gab es schlussendlich auf.

Das hatte hier doch alles keinen Sinn.

Wenn ich nicht gleich Antworten bekam, würde ich noch verrückt werden. Wieder wandte ich mich meiner Sitznachbarin zu und musterte sie durchdringend. Einige Momente schaffte sie es, so zu tun, als könnte sie mein Starren ignorieren und sich voll und ganz auf das Rennen konzentrieren, das Vin gerade gewonnen hatte, dann jedoch seufzte sie, pausierte den Film und drehte sich zu mir herum. Abwartend erwiderte Karin meinen Blick, aber die Tatsache, dass sie unruhig an der Haut ihres Daumennagels herumzuzupfen begann, verriet mir, dass ich sie nervös machte. Richtig so. Ich verkniff mir ein triumphierendes Grinsen und richtete stattdessen das Wort an sie.

 

„Ist dir eigentlich bewusst, dass das jetzt schon der dritte Valentinstag in Folge ist, den wir zusammen verbringen?“

 

„Ehm … ehrlich? Ist …“

 

„Sag jetzt bloß nicht, dass dir das noch gar nicht aufgefallen ist. Ganz ehrlich, Karin, auf den Arm nehmen kann ich mich selber.“ Karin schwieg und senkte lediglich den Blick auf ihre Finger. „Vor zwei Jahren lädst du mich spontan in die Star-Wars-Ausstellung ein, um mich angeblich auf andere Gedanken zu bringen …“, begann ich aufzuzählen, wurde aber sogleich unterbrochen.

 

„Na, hey. Du bist wochenlang mit einer Miene wie sieben Tage Regenwetter herumgelaufen, nachdem Kim dir den Laufpass gegeben hat, und es war überhaupt nichts mehr mit dir anzufangen. Irgendwas hab ich doch unternehmen müssen, oder etwa nicht? Das war ja nicht mehr auszuhalten. Außerdem war der Eintrittspreis damals extra wegen des Valentinstags für Singles ermäßigt, da wären wir doch schön blöd gewesen, wenn wir das nicht ausgenutzt hätten.“

 

„Okay, okay.“ Ich hob beide Hände, obwohl ich nicht wusste, ob ich damit Karin oder mich selbst beschwichtigen wollte. „Aber was war im Jahr darauf? Als du, statt dir nur Mehl von mir zu holen, das du angeblich zu kaufen vergessen hattest, auf die glorreiche Idee gekommen bist, den Kuchen für die Taufe deiner Nichte gleich bei mir backen zu wollen?“

 

„Also erstens war das nicht der Kuchen für die Taufe, sondern nur ein Probekuchen, um zu sehen, ob das Rezept auch so funktioniert, wie ich mir das vorgestellt hatte. Und zweitens …“ Jetzt schwieg Karin plötzlich und ich konnte förmlich sehen, wie sie um die richtigen Worte rang. „Und zweitens hatte ich mir gedacht, dass es lustig werden könnte, mit dir gemeinsam zu backen.“

 

„Lustig, was?“ Bei der Erinnerung schlich sich ein schiefes Lächeln auf meine Lippen. „Meine Nachbarn fanden es weniger lustig, als plötzlich der Feueralarm losging.“

 

„Ich wollte nur die Birnen flambieren.“

 

„Ja … genau unter meinem Rauchmelder.“

 

Unsere Blicke trafen sich und fast gleichzeitig begannen wir zu lachen, als wir uns an die teils verwunderten, teils verärgerten Gesichter der Hausbewohner zurückerinnerten, die aufgeregt an meiner Tür geklingelt hatten.

 

„So dramatisch war es doch gar nicht, immerhin haben sich die meisten mit einem Stück vom Kuchen besänftigen lassen.“

 

„Stimmt“, gab ich zu und schnippte Karin spielerisch gegen den Oberarm. „Trotzdem hättest du nicht bei mir backen müssen. Genauso wie du mir heute keinen Pudding hättest vorbeibringen müssen und dich den Nachmittag über auf meiner Couch einzuquartieren, wär auch nicht nötig gewesen. Ich wär schon nicht vom Fleisch gefallen.“

 

„Bist du dir da sicher?“

 

„Ganz sicher.“ Ich unterstrich meine Worte mit einem kleinen Augenrollen und rieb mir über den noch immer leicht gewölbten Bauch. „Also, warum bist du hier? Warum ist das jetzt schon der dritte Valentinstag, an dem ich dich an der Backe hab?“

 

„Du tust ja gerade so, als wär meine Gegenwart kaum zu ertragen.“ Ich schwieg vielsagend, was Karin dazu verleitete, beleidigt die Arme vor der Brust zu verschränken.

 

„Wenn ich dir so sehr auf die Nerven falle, gehe ich jetzt wohl besser.“

 

„Das kannst du mal schön vergessen. Bevor ich nicht endlich Antworten bekomme, wirst du diese Wohnung nicht verlassen.“ Für einen langen Augenblick kreuzten sich unsere Blicke und ich rechnete schon fest damit, dass meine Freundin nun entweder einen ausweichenden Spruch auf Lager hatte oder sich querstellen würde, aber mit dem beinahe resigniert klingenden Seufzen, das nun ihre Lippen verließ, hätte ich ehrlich nicht gerechnet.

 

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass deine Augen wie graue Gewitterwolken aussehen, wenn du unbedingt etwas wissen willst?“

 

„Lenk nicht ab, raus mit der Sprache.“

 

 Ich …“, begann Karin, unterbrach sich jedoch gleich wieder und strich sich mit einem leisen Schnauben eine widerspenstige Strähne hinters Ohr. „Vermutlich liegt es daran, dass ich an einem Tag wie heute einfach nicht allein sein will. Hanna und Thomas darf man ja am Valentinstag nicht zu nahe kommen, weil der eine Jahr für Jahr den Mund nicht aufbekommt und die andere noch immer zu stolz ist, mal die Initiative zu ergreifen. Eines sag ich dir, an dem Tag, an dem sich die beiden endlich ihre Gefühle gestehen, geht vermutlich die Welt unter.“

 

Unwillkürlich musste ich grinsen, als Karin die anderen fünfzig Prozent unseres Studentenquartetts erwähnte. Die zwei waren wirklich die liebsten Menschen, die ich neben Karin während meines Studiums kennengelernt hatte, aber sie waren auch die Verbohrtesten.

 

„Zugegeben, damit sagst du echt was Wahres.“ Ich hob die Hand, legte Daumen und Zeigefinger an meine Nasenwurzel und schüttelte den Kopf. „Irgendwann müssen wir sie doch verkuppeln, langsam befürchte ich, dass sie das alleine nie auf die Kette kriegen.“

 

„Du weißt, dass ich da sofort mit dabei wäre.“

 

„Oh ja.“ Ich schnaubte, strich mir meine kinnlangen Haare hinter die Ohren und schaute meine Freundin aus ernsten Augen an. „Also, nur um das jetzt noch mal zu wiederholen, du schlägst hier wirklich drei Jahre in Folge bei mir auf, weil du den Valentinstag nicht allein verbringen willst?“

 

„Ja.“

 

Täuschte ich mich oder war Karins Rechte gerade auffällig unauffällig hinter ihrem Rücken verschwunden, ganz so, als hätte sie die Finger überkreuzt? Meine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Ich konnte es nicht leiden, angeschwindelt zu werden, und verflixt noch eins, ich war mir fast sicher, dass sie mir nicht die ganze Wahrheit sagte.

 

„Sicher?“

 

„Ganz sicher.“

 

Lange Sekunden war nichts weiter zu hören als der Film und das Ticken meiner Uhr, während wir uns wie zwei Cowgirls kurz vor dem Showdown in die Augen starrten. Dann – und wie hätte es auch anders sein sollen? – entschied meine Nase, sich auch mal wieder zu Wort melden zu müssen. Während ich mir also die Seele aus dem Leib nieste, hielt mir Karin, beinahe wie eine wahre Lady, ein Taschentuch entgegen und schaffte es sogar, ihr Grinsen auf ein Minimum zu reduzieren.

 

„Danke“, schniefte ich, griff nach dem Papier und putzte mir die Nase. In diesem Augenblick fragte ich mich nicht zum ersten Mal, warum um alles in der Welt Karin heute ausgerechnet meine Gesellschaft suchte. Ich sah aus wie dreimal durchgekaut, war nicht gerade bester Laune und dieses ständige Niesen und Naseputzen war ziemlich eklig, wenn man ehrlich sein wollte. Also, warum nur war sie hier? Bevor ich sie jedoch erneut löchern konnte, überraschte sie mich damit, dass sie mir die Tube, die ich für einen Lippenbalsam gehalten hatte, vors Gesicht hielt.

 

„Hier, das sollte mit der gereizten Haut helfen. Ist auch so ein Geheimtipp meiner Ma und du weißt ja, dass man ihr nichts abschlagen sollte, selbst, wenn sie gerade nicht körperlich anwesend ist.“

 

„Ein Wesenszug, den du eindeutig von ihr geerbt hast“, grummelte ich, nahm die Tube aber entgegen und verteilte eine dünne Schicht der medizinisch riechenden Creme auf den wunden Stellen unter meiner Nase. Fast augenblicklich hörte das nervige Brennen auf und ein deutlich erleichterter Laut kam mir über die Lippen.

 

„Na, dann …“, verkündete Karin und rieb sich die Hände. Skeptisch schielte ich zu ihr herüber und noch bevor ich mich oder besser sie fragen konnte, was sie denn jetzt schon wieder vorhatte, sprach sie weiter. „Wo wir das jetzt geklärt hätten …“ Was genau meinte sie damit? Was hatten wir geklärt? Wir hatten überhaupt nichts geklärt, wenn man mich fragte. Aber mich fragte natürlich wieder niemand. „Zieh mal dein Hemd hoch, damit ich dich einreiben kann.“

 

„Bitte?“

 

„Na, der Balsam meiner Mutter zum Einreiben. Oder bist du so gelenkig, dass du das selbst schaffst?“

 

„Ich bin nicht erkältet“, protestierte ich.

 

„Aber man hört, wie dicht deine Bronchien sind. Also mach jetzt kein Theater, sondern lass dir helfen.“ Karin erhob sich, nur um sich genau hinter mir wieder hinzusetzen.

 

„Von wegen helfen. Du nutzt nur jede Gelegenheit, mir an die Wäsche zu gehen“, maulte ich und schielte über meine Schulter hinweg nach hinten, wo mir ihr typisches Grinsen entgegenstrahlte. Hatte ich schon mal erwähnt, wie ungerecht mein Leben war?

 

„Das auch; und jetzt Hemd hoch“, befahl Karin, griff nach dem Saum meines Oberteils und zog es mir erst unter dem Hintern weg und dann bis zu den Schultern nach oben. „Festhalten.“

 

Ich war noch nie so froh wie in diesem Augenblick, dass ich mich heute Morgen für die unspektakulärste, schwarze Panty entschieden hatte, die ich in meiner Unterwäscheschublade gefunden hatte. Mürrisch hielt ich das Hemd hoch und versuchte gleichzeitig, die Arme vor der Brust zu verschränken, während mir Karins amüsierter Kommentar, dass ich nichts hatte, was sie nicht auch besaß, Hitze in die Wangen trieb. Na, Hauptsache sie hatte ihren Spaß.

Aber ich war selbst schuld, schließlich hätte ich mich nur wehren müssen. Ich hätte aufstehen und gehen können oder besser noch, Karin in hohem Bogen aus meiner Wohnung werfen. Was ich allerdings tat, als ich ihre warmen Hände auf meinem Rücken spürte, war sicherlich nicht, leise zu seufzen und mich unbewusst der Berührung entgegenzulehnen. Nein, niemals! Wer das behauptete, log, schlicht und einfach. Warum mussten sich diese langen Finger aber auch so unerhört gut anfühlen, während sie den wohlriechenden Balsam sanft in meine Haut massierten? Und vermutlich hielt sich Karin damit absichtlich deutlich länger auf, als es zwingend nötig gewesen wäre. Allerdings fand ich auch nicht den Willen in mir, sie darauf anzusprechen. Mit einem langen Ausatmen lehnte ich mich nach vorn, bis ich die Stirn auf der Sofalehne betten konnte, und schloss die Augen. Wenn ich mich schon nicht gegen diese Behandlung wehren konnte – okay, okay, ich wollte mich nicht dagegen wehren – konnte ich sie auch genießen.

 

„Du, Michi?“ Karins Stimme schnitt durch den entspannten Nebel in meinem Kopf und ich gab ein unwilliges Brummen von mir.

 

„Was denn?“, nuschelte ich schläfrig und blinzelte gegen die Schwere an, die meine Lider mit aller Macht nach unten drückte.

 

„Gibt es etwas, was du vermisst, wenn du gerade nicht in einer Beziehung bist?“

 

Vermutlich wäre mir diese Frage seltsam vorgekommen, aber mein Kopf dümpelte so herrlich in vollkommener Zufriedenheit, dass ich schon geantwortet hatte, bevor ich weiter darüber nachdenken konnte.

 

„Schon möglich.“

 

„Und was?“

 

„Sag ich nicht.“ Ich schmunzelte, als ich Karins Frustration regelrecht fühlen konnte, aber solange sie mich weiter massierte, konnte es nicht so schlimm sein. „Vermisst du denn etwas?“

 

„Küsse.“

 

„Hu?“ Nun hob ich den Kopf von der Sofalehne und drehte mich nach hinten, um meine Freundin ansehen zu können.

 

„Ich vermisse es, jemanden zu küssen.“ Sie zuckte mit den Schultern, nahm erneut ein wenig der Creme auf und verteilte sie auf meinem Rücken. „Ich bin da eben eigen. Küsse sind etwas Intimes für mich, das ich nicht mit jemandem teilen will, den ich gerade erst kennengelernt hab.“

 

„Oder mit jemandem, den du danach nie wieder siehst?“, ergänzte ich spekulativ und erhielt ein zustimmendes Summen zur Antwort. „Das … kann ich verstehen.“ Unhörbar seufzend drehte ich mich um und machte es mir wieder bequem. „Bei mir sind es Zärtlichkeiten. Diese kleinen, unbewussten Berührungen, die man nur mit jemandem teilt, den man in- und auswendig kennt, dem man vertraut. Ich vermisse es, einfach mal jemanden in den Arm zu nehmen oder morgens nicht allein aufzuwachen.“

 

„Geht mir genauso“, sagte Karin so leise, dass ich nicht wusste, ob ich mir ihre Worte nicht nur eingebildet hatte. Mittlerweile war ich ohnehin schon derart von ihren sanften Streicheleinheiten eingelullt, dass sie mir alles hätte offenbaren können, ohne, dass ich morgen hätte sagen können, ob es wirklich passiert oder doch nur ein Traum gewesen war. Unaufhaltsam senkten sich meine Lider, aber gerade, als ich mich schon wie in Watte gepackt fühlte und kurz vorm Einschlafen war, hörte sie auf und zog sanft mein Hemd wieder nach unten. Beinahe wäre mir ein unwilliger Laut entkommen, aber ich schluckte ihn herunter, bevor ich mich wieder aufrichtete. Hoffentlich sah man mir meine Tiefenentspannung nicht an, das wäre peinlich geworden. Karin sagte jedoch nichts weiter, schraubte lediglich den kleinen Tiegel zu und stellte ihn auf den Wohnzimmertisch zurück.

 

„Du solltest dir später auch noch die Brust einreiben und dann hoffe ich, dass meine Ma recht behält und dir das Zeug wenigstens ein bisschen Linderung verschafft. Riechen tut es ja ganz gut.“ Sie lächelte mich an und vermutlich bildete ich mir den liebevollen Ausdruck in ihren Augen nur ein, aber das hinderte meinen Magen nicht daran, mit einem seltsamen Ziehen darauf zu reagieren. Ich sah ihr nach, als sie sich vom Sofa erhob, und wenig später war das Rauschen des Wassers aus der Küche zu hören.

 

Ein Blick auf die Wanduhr zeigte mir, dass es mittlerweile schon fünf durch war. Ich fragte mich ehrlich, wo der Tag bitte hin war. War es gerade nicht erst Mittag gewesen? Eines musste man Karin lassen, sie war – anders als ich – gute Gesellschaft und verstand sich darauf, mir die Zeit zu vertreiben. Gerade wollte ich fragen, ob sie sich vielleicht etwas vom Pizzadienst bestellen wollte, denn bis auf zwei Löffel vom Pudding hatte sie die ganze Zeit über nichts gegessen, da tauchte sie wieder in der Tür zum Wohnzimmer auf.

 

„Willst du … gehen?“ Im letzten Moment konnte ich mir ein schon verkneifen, als ich sah, dass sie bereits wieder in Jacke und Schuhen steckte.

 

„Ja. Ich will Baghira nicht zu lange allein lassen. Du weißt doch, was für ein Rabauke der Kleine ist.“

 

„Stimmt.“ Ich lachte leise. „Ein Wesen, das noch chaotischer ist als du, das soll schon was heißen.“

 

„Hey! So schlimm bin ich gar nicht.“

 

„Nein, du bist schlimmer.“ Karin streckte mir die Zunge heraus und verschwand im Flur, während ich nur über diese Demonstration ihrer Reife schmunzeln konnte. Ein Gähnen unterdrückend erhob ich mich und schlurfte ihr hinterher. „Hier.“ Ich reichte ihr die DVD, die ich eben noch aus dem Player geholt hatte. „Deine Schüssel bring ich dir die nächsten Tage vorbei, okay?“

 

„Klar.“ Karin nickte und legte die Hand auf die Türklinke. „Es reicht auch, wenn du sie mir zu unseren nächsten Recherchen mitbringst. Nur keinen Stress.“

 

„Stimmt ja, die Hausarbeit …“ Ich stockte und rieb mir verschmitzt lächelnd über den Nacken. „Wann wollten wir uns noch gleich treffen?“ Karins Augenrollen war genau die Reaktion, mit der ich schon gerechnet hatte.

 

„Am Dienstag, um neun. Ich schreib dir nachher noch eine WhatsApp, damit du es nicht wieder vergisst.“

 

„Perfekt.“ Wie so oft in den letzten Stunden trafen sich unsere Blicke, aber diesmal stieg ein eigenartiges Gefühl in mir hoch. Irgendwie wollte ich nicht, dass Karin jetzt ging und gleichzeitig fühlte ich mich seltsam befangen in ihrer Gegenwart. Himmel, ich gehörte wirklich ins Bett, diese blöde Allergie sorgte noch dafür, dass ich endgültig nicht mehr zurechnungsfähig war. „Ja … dann … danke noch mal für den Pudding und die kleine Hausapotheke deiner Mutter.“

 

„Nicht dafür.“ Karin winkte ab und drehte sich zum Gehen, hielt dann aber noch mal in der Bewegung inne. „Der Nachmittag mit dir war echt schön. Also danke, dass du mich nicht rausgeschmissen hast.“ Das Lächeln, das sie mir jetzt schenkte, wirkte ungewohnt unsicher, aber noch bevor ich dazu etwas hätte sagen können, hatte sie die Tür geöffnet und war im Begriff, meine Wohnung zu verlassen. „Kurier dich aus und meld dich, wenn du was brauchst oder wenn es dir am Dienstag noch nicht gut genug geht, ja?“

 

„Uhm … ja, mach ich“, murmelte ich unglaublich eloquent und blickte ihr nach. Kurz vorm ersten Treppenabsatz drehte sie sich noch mal zu mir herum.

 

„Ach, Michi, was ich dir noch sagen wollte …“

 

„Mh?“

 

„Man sagt mir nach, dass ich das mit den Umarmungen richtig gut drauf hab. Also solltest du mal Bedarf haben …“ Mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen breitete sie ihre langen Arme aus und wackelte auffordernd mit den Augenbrauen.

 

„Bye, du Nuss“, brummte ich, konnte mir ein Schmunzeln jedoch nicht verkneifen, das allerdings auch sogleich wieder verschwand, nachdem die Tür hinter mir ins Schloss gefallen war. „Oh, Mann.“ Die Stille, die nun in meinem Zuhause herrschte, dröhnte in meinen Ohren und leise seufzend lehnte ich meinen Rücken gegen das kühle Holz der Haustür. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, als wäre ich gerade die fünf Stockwerke zu meiner Wohnung hinaufgerannt, und meine Hände waren schweißfeucht. Angewidert wischte ich sie mir an meinem Hemd ab und rieb mir anschließend übers Gesicht. Meine Wangen fühlten sich ganz heiß an – ob ich vielleicht doch krank wurde? Ein dumpfes Geräusch ertönte, als ich meinen Hinterkopf mehrmals gegen das Türblatt fallen ließ, bis mir der leichte Schmerz auch diese Flucht vor meinen Gedanken vermieste. Ich wollte meine Reaktionen jetzt nicht analysieren, wirklich nicht.

Wieder war es meine Nase, die mich vor einer handfesten Krise bewahrte, mich eilends ins Wohnzimmer huschen und nach einem Taschentuch angeln ließ.

 

„Ich hasse mein Leben!“, rief ich nasal und schickte ein lautes Schnäuzen hinterher, einfach, weil ich konnte und weil es sich gerade gut anfühlte, meinem Frust Luft zu machen. Vermutlich wären mir noch deutlich wüstere Flüche, Beschimpfungen und Anschuldigungen eingefallen, die ich den unschuldigen Wänden meines Wohnzimmers hätte entgegenrufen können, hätte in dem Moment nicht mein Handy einen kurzen Klingelton von sich gegeben. Schnaubend, was sich dank meiner geschwollenen Schleimhäute ziemlich jämmerlich anhörte, ging ich zum Schreibtisch hinüber und erbarmte mich erst einmal der Taschentuchleichen. Diese im Abfalleimer beerdigt widmete ich mich meinem Telefon, das mir, kaum hatte ich es vom Ladegerät genommen, munter verkündete, dass vier ungelesene Nachrichten auf mich warteten.

 

Stimmte ja, Karin hatte früher am Tag versucht, mich zu erreichen, und tatsächlich war auch jede einzelne WhatsApp von ihr. Drei vom Vormittag und die, die sie eben erst geschickt hatte. Mein erster Impuls war es, den aktuellsten Text zuerst zu lesen, aber gerade so konnte ich mich noch beherrschen. Vermutlich war es ohnehin nur die versprochene Erinnerung an unser Treffen am Dienstag, also ging ich chronologisch vor.

 

08:29

Morgen,

na? Wie geht es dir? Brauchst du was? Ich geh nachher einkaufen und könnte dir was mitbringen.

 

Wieder kam so etwas wie ein schlechtes Gewissen in mir auf, weil ich Karins Nachrichten jetzt erst las, aber noch bevor dieses Gefühl Wurzeln schlagen konnte, schob ich es rigoros beiseite und scrollte weiter.

 

09:02

Alles gut bei dir? Ich mach mir ein bisschen Sorgen. Du hast gestern wirklich nicht gerade gut ausgesehen. Letzte Chance, deinen persönlichen Lieferdienst in Anspruch zu nehmen.

 

10:11

Ich komm später bei dir vorbei. Keine Widerrede.

 

Ja, das war Karin, wie sie leibt und lebt. Ich schüttelte den Kopf und musste mir ein Lächeln verkneifen. Irgendwie war es schon lieb von ihr, dass sie sich immer gleich Sorgen machte. Man unterstellte zwar ständig mir, ein ausgeprägtes Helfersyndrom zu haben, aber Karin stand mir da in nichts nach. Immerhin tat sie das nicht nur bei mir, sondern auch unsere Freunde kamen regelmäßig in den Genuss ihres Glucken-Gens, wenn es ihnen nicht gut ging. Während ich gelesen hatte, war ich langsam in die Küche gegangen, um mir einen Tee zu machen, aber Karins letzte Nachricht ließ mich in jeder Bewegung innehalten.

 

17:23

Hier ist Ihre persönliche Erinnerung daran, dass Sie am Dienstag um 09:00 Uhr zu einer intensiven Recherche-Runde in der Unibibliothek erwartet werden.

Und … auf dem Küchentisch liegt noch etwas für dich. Tut mir leid, dass ich nicht den Mut hatte, es dir persönlich zu geben.

 

„Was zum …?“, entfuhr es mir, als mein Blick auf einen weißen Briefumschlag fiel, der wie angekündigt auf dem Tisch lag. Mein Name war das Einzige, was darauf geschrieben stand, aber das allein genügte, um meinen Puls in neue Höhen zu jagen. „Verflixt, Karin, was soll das?“ Obwohl ich keine Ahnung hatte, was sie sich nun schon wieder hatte einfallen lassen, stieg ein ungutes Gefühl in mir hoch. Warum diese Geheimnistuerei? Warum überhaupt ein Brief? Waren wir nicht alt genug, um persönlich über alles reden zu können? Die absurdesten Horrorszenarien spielten sich innerhalb von Sekunden vor meinem inneren Auge ab.

 

Karin, die die Stadt verließ.

Karin, die die Uni wechselte.

Karin, die mir sagte, dass sie mit mir nichts mehr zu tun haben wollte, weil sie die Nase voll von meiner unzugänglichen Art hatte.

 

„Himmel, Michaela, krieg dich wieder ein!“, schalt ich mich und schüttelte über die absurden Bahnen, in denen meine Gedanken gerade verliefen, den Kopf. Mit einem Ruck nahm ich den Umschlag an mich, riss ihn unordentlich auf und sah mich mit einer violetten Karte konfrontiert, auf der in großen, weißen Lettern Liebe ist … geschrieben stand. Mit tauben Fingern klappte ich den Karton auf und starrte auf Karins ordentliche Handschrift herab.

 

Liebe ist …

… eine Ausstellung mit dir zu besuchen, um dich aus deinem Liebeskummer zu holen, und dein Motzen zu ignorieren, weil ich weiß, dass dir die Ablenkung guttut.

… meinen halben Hausrat quer durch München zu karren, um mit dir Kuchen zu backen, weil ich einfach Zeit mit dir verbringen will.

… dir Pudding zu kochen, weil ich weiß, dass du kaum etwas anderes essen kannst, wenn dich wieder der Heuschnupfen plagt.

… mich in deiner Gegenwart immer am wohlsten zu fühlen, auch wenn du schlecht gelaunt bist.

… dich wunderschön zu finden, obwohl deine Locken zerzaust sind, deine Nase vom vielen Putzen ganz wund ist und deine Augen tränen.

… mich so sehr nach dir zu sehnen, dass ich nachts nicht schlafen kann.

… mir nichts inständiger zu wünschen, als mehr als nur deine Freundin sein zu dürfen.

… und die verzweifelte Hoffnung, dass du weiterhin mit mir befreundet sein kannst, auch wenn du meine Gefühle nicht erwiderst.

 

Ich zitterte so stark, dass ich die letzten Worte kaum noch lesen konnte, und musste mich erst einmal setzen. Wieder und wieder huschten meine Augen über die kurzen Sätze, aber fassen konnte ich noch immer nicht, was dort geschrieben stand. War das ein Liebesgeständnis? Allen Ernstes? Das konnte nicht wahr sein. Nicht von Karin. Nicht von der Frau, die dauernd versuchte, mir im Scherz an die Wäsche zu gehen und die mit anzüglichen, aber sicherlich nicht ernst gemeinten Andeutungen um sich warf. Ich hatte gedacht, das wäre ihre verspielte Ader, deren unfreiwilliges Opfer eben ständig ich zu sein schien. Aber das war doch immer nur gespielt gewesen, oder? Oder? Übertrieben sexualisiertes Interesse, um mich wahlweise auf die Palme zu bringen oder für Aufmerksamkeit zu sorgen, und im Mittelpunkt zu stehen. Immerhin gelang ihr das öfter, als mir lieb gewesen wäre. Mit Schaudern erinnerte ich mich an das erste und einzige Mal zurück, als ich Thomas, Hanna und sie in einen Klub begleitet hatte. Ich war noch nie jemand gewesen, der gerne Party machte und Klubs im Allgemeinen waren mir ein Gräuel. Aber damals hatte ich mich breitschlagen lassen und hatte es spätestens in dem Moment bereut, als Karin mich zum Tanzen aufgefordert hatte. Nicht, dass sie eine schlechte Tänzerin gewesen wäre – nein, das exakte Gegenteil war der Fall. Binnen Sekunden war uns die Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher gewesen und das hatte allein an der gewagten Art und Weise gelegen, mit der Karin ihren Körper und damit zwangsläufig auch mich in Szene gesetzt hatte. Mir war das unendlich unangenehm gewesen und obwohl mich unter anderen Umständen ihre wandernden Hände alles andere als kaltgelassen hätten, hatte ich an dem Abend nur noch die Flucht ergreifen können. Karin hatte sich entschuldigt, natürlich hatte sie das. Ich hatte ihr auch längst verziehen und das alles als einen ihrer schlechten Scherze abgetan. Also, was sollte das jetzt? Was sollten diese herzzerreißend lieben und auf eine seltsam bezaubernde Art tollpatschigen Worte, die so typisch für sie waren?

 

Schwungvoll drehte ich mich vom Tisch weg und verließ die Küche, während die Karte leise auf den Fliesenboden segelte. Ich hielt mich nicht lange damit auf, passende Kleidung zu finden, schlüpfte nur schnell in Leggings und Socken vom Vortag, zog im Flur Jacke und Turnschuhe an und verstaute Wagen- und Haustürschlüssel in den Taschen. Das einzige Zugeständnis, das ich den miesen Pollen machte, war der Blister mit meinen Histaminblockern, den ich vorsorglich ebenfalls in eine Jackentasche steckte, bevor ich eilends das Haus verließ.

 

~*~

 

Im Nachhinein wollte ich nicht wissen, wie ich heil an Karins Wohnung angekommen war, denn als ich nun aus dem Auto stieg und die beiden Stockwerke nach oben hastete, konnte ich mich an nichts erinnern, was während meiner Fahrt hierher passiert war. Wenn ich rote Ampeln überfahren hatte, hatte ich es nicht mitbekommen und, dass ich mich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten hatte, wagte ich schwer zu bezweifeln.

 

Vollkommen außer Atem kam ich im zweiten Stockwerk an und parkte meinen Zeigefinger auf Karins Klingel. Die brauchte sich gar nicht erst der Illusion hingeben, dass sie mich würde ignorieren können. Nein, meine Liebe. Ich wollte Antworten und die würde ich auch bekommen.

 

„Ja, ja! Ich komme ja schon! Haben Sie sich ihren Finger in meiner Klingel eingeklemmt oder warum zum Geier …?“ Karins Schimpftirade stoppte in dem Moment, als sie erkannte, wem sie die Folter ihres Trommelfells zu verdanken hatte. „Michaela.“

 

„Die einzig, hatschi, Wahre“, schniefte ich, nahm endlich den Finger von der Klingel und schob Karin mit der flachen Hand gegen ihre rechte Schulter gepresst zurück in die Wohnung. „Was, hatschi, hat dich geritten, mir so etwas zu schreiben!? Soll das ein dummer, hatschi, Scherz sein oder wie soll ich das verstehen?“ Schwer atmend stand ich vor der Frau, die ich bis eben noch für meine Freundin gehalten hatte, und schaute aus tränenden Augen zu ihr auf. Dumme Pollen, dumme Allergie, dumme Karin und ihre dumme Karte, die mich so verwirrte. Noch immer sagte sie nichts, schaute mich nur aus ihren warmen Augen an, und ich fühlte mich unter der Last ihres Blicks so verletzlich, dass ich nur noch wütender wurde. „Eines sag ich dir, wenn das einer deiner schlechten Scherze ist, dann, hatschi, dann …“

 

Bevor ich reagieren konnte, ja, sogar noch bevor ich überhaupt registrierte, was passierte, hatten sich Karins dünne Arme um mich gelegt und mich gegen ihren Körper gezogen. Im ersten Augenblick war ich zu überrumpelt, um zu reagieren, und im Nächsten wollte ich es auch gar nicht mehr. Ich war erschöpft, körperlich und geistig, und verstand die Welt nicht mehr. Karins Haare rochen nach ihrem Lieblingsshampoo, ein so vertrauter Duft, dass mir unwillkürlich eine seichte Gänsehaut über den Rücken rann. Sie hatte die komplizierte Frisur gelöst, sodass die blonden Strähnen nun etwas unordentlich ihr Gesicht umspielten und ihr bis weit über den Rücken fielen. Ob sie Kopfschmerzen hatte? Ich kniff die Augen zusammen und zwang mich, mir nun keine Sorgen um sie zu machen. Ich war es, die verwirrt war, die sich fühlte, als müsste sie in tausend Teile zerspringen, wenn sie nicht endlich etwas finden würde, das ihr Halt gab. Halt, ja … So wie Karins Umarmung, die so unendlich guttat, und hätte ich nicht erneut niesen müssen, hätte ich mich einfach in sie fallen lassen, ohne auf die Beantwortung der tausend Fragen zu pochen, die sich in meinem Kopf tummelten.

 

„Komm erst mal rein, mh?“, bot mein Gegenüber mit sanfter Stimme an, schloss die Tür und schob mich nachdrücklich in ihr Wohnzimmer. Ich steckte noch in meiner Jacke, hatte selbst die Schuhe noch an, aber meiner unfreiwilligen Gastgeberin schien dieser Umstand egal zu sein. „Manchmal bist du wirklich ein hoffnungsloser Hitzkopf“, tadelte sie und reichte mir, wie schon so oft am heutigen Tag, ein Taschentuch. „Wir hätten auch am Dienstag ganz in Ruhe reden können oder ich wär auch noch mal zu dir gekommen, wenn du mir geschrieben hättest. Aber nein, lieber fährst du in deinem Zustand einmal quer durch München, sammelst so viele Pollen ein, dass du kaum noch aus den Augen gucken kannst, und sitzt jetzt hier wie ein Häuflein Elend.“ Wäre ich nicht damit beschäftigt gewesen, meine Nase davon zu überzeugen, dass sie auch mal wieder zu laufen aufhören konnte, hätte ich mich verteidigt, aber so ließ ich Karins Schimpftirade nur stumm über mich ergehen. „Hast du wenigstens deine Tabletten dabei?“

 

„Ja“, schniefte ich und tippte auf meine rechte Jackentasche.

 

„Dann nimm jetzt eine, bevor das hier noch viel schlimmer wird.“

 

„Die machen mich müde.“

 

„Na und?“

 

Ich funkelte sie verstimmt an, sah aber ein, dass ich in meinem jetzigen Zustand auch nicht das Gespräch würde führen können, das mir so sehr unter den Nägeln brannte.

 

„Ich hol dir ein Glas Wasser, bin gleich wieder da.“

 

„Hatschi!“, war das Einzige, was ich darauf zu sagen hatte, bevor ich mich tief seufzend gegen die Sofalehne sinken ließ. Was tat ich hier? Was versprach ich mir davon, jetzt mit Karin zu reden? Vermutlich hatte sie mich mit dieser Karte wirklich nur auf den Arm nehmen wollen und ich war ihr so richtig schön auf den Leim gegangen. Warum dann aber diese Umarmung? Wieso diese Wärme in ihrer Stimme, selbst, als sie gerade eben mit mir geschimpft hatte?

Ich rieb mir über die juckenden Augen, was es nicht wirklich besser machte und erst, als ich meinen Kopf etwas zur Seite drehte, fielen mir die stechend grünen Katzenaugen auf, die mich wohl schon die ganze Zeit über beobachteten.

 

„Hallo Baghira“, murmelte ich und das hohe Maunzen, mit dem mich der Babykater begrüßte, zauberte mir tatsächlich ein erfreutes, wenn auch müdes Lächeln aufs Gesicht. Baghira machte einen beeindruckenden Buckel, für so eine kleine Mieze, als er sich gähnend reckte und streckte und auf mich zugetapst kam. Ich hielt ihm meine Hand entgegen, an der er kurz schnupperte, nur um sein Köpfchen auffordernd gegen meine Finger zu drücken. Mein Lächeln weitete sich, als ich begann durch das schwarze Fell zu kraulen und mit einem tiefen Schnurren für meine Mühen belohnt wurde.

 

„Ah, ihr habt also schon Freundschaft geschlossen, mh?“ Karins Blick ruhte auf mir und dem Kätzchen, bevor sie mir das versprochene Glas Wasser reichte. „Hier.“

 

„Ja. Er scheint sich noch an mich zu erinnern.“

 

„Wie könnte er dich auch vergessen?“

 

Meine Augenbraue wanderte ein Stück gen Haaransatz, aber statt mich wie üblich schelmisch anzugrinsen, setzte sich Karin nur mit einem leisen Seufzen in den Sessel mir gegenüber und vergrub für einen Moment das Gesicht in beiden Händen. Erst jetzt bemerkte ich, wie blass sie um die Nase war und … zitterten ihre Finger etwa? Ich ließ sie nicht aus den Augen, während ich mir eine Tablette aus dem Blister drückte und sie mit reichlich Wasser hinunterschluckte.

 

„Es tut mir leid.“ Karins Stimme klang heiser und so, als würden ihr die Worte körperliche Schmerzen bereiten. „Ich dachte, es wäre eine gute Idee, dir endlich die Wahrheit zu sagen und, ja, bis gerade eben war ich noch der felsenfesten Überzeugung, das mit der Karte wäre der perfekte Weg. Aber so, wie du reagiert hast, hab ich es wohl mal wieder gründlich vermasselt, was?“ Meine Freundin seufzte erneut und rieb sich über die Augen, die plötzlich fast fiebrig schimmerten. „Ich trag das jetzt schon so lang mit mir herum … An jedem Valentinstag nehm ich mir vor, es dir endlich zu sagen, und dann verlässt mich doch immer wieder der Mut.“ Ein selbstironisches Lachen kam ihr über die Lippen und mein Herz schlug schmerzhaft stark in meiner Brust, während ich sie für den Moment nur fassungslos anstarren konnte. Genau, wie ich es früher am Abend gespürt hatte, dass sie nicht ganz ehrlich zu mir gewesen war, als ich wissen wollte, warum sie mich wirklich besucht hatte, war ich mir jetzt absolut sicher, dass sie mir die Wahrheit sagte. Ihre Gefühle waren echt, kein dummer Scherz, aber was hieß das nun? Was sollte ich mit dieser Erkenntnis jetzt anfangen?

 

Baghira maunzte protestierend, als ich mich vom Sofa erhob, weil er es sich eben erst auf meinen Beinen gemütlich gemacht hatte. Aber gerade konnte ich dem Kater keine Aufmerksamkeit schenken, lag diese doch voll und ganz auf seinem Frauchen und dem, was sie mir soeben offenbart hatte. Ich setzte mich auf die Armlehne des Sessels und legte meine Hand unter Karins Kinn, dirigierte sie so, dass sie mich ansehen musste.

 

„Du meinst das alles wirklich ernst?“ Diese Feststellung verließ als Frage meinen Mund, obwohl es nun aus der Nähe betrachtet offensichtlich war, dass sie mir nichts vormachte. Es stand in ihren Augen geschrieben, spiegelte sich in ihrer Haltung wider, die von Schmerz und der Furcht sprach, etwas unwiderruflich verloren zu haben. Himmel, ich fühlte mich schäbig, wenn ich mich daran zurückerinnerte, wie ich mich vor Minuten noch aufgeführt hatte. „Du meinst das alles wirklich ernst“, wiederholte ich und diesmal nickte sie, begann zögerlich meinen Blick zu erwidern.

 

„Mir war in meinem ganzen Leben noch nie etwas ernster.“

 

Ich konnte nicht anders, musste leise in mich hineinlachen, als mit einem Mal all die Anspannung von mir abfiel. Sanft streichelte ich über ihre Wange, spürte, wie warm ihre Haut dort war.

 

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es … es tut mir leid, dass ich so überreagiert hab, aber das … die Karte … ich dachte, du veräppelst mich …“ Hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Ich war mir immer sicher, dass du diese ganzen Anspielungen nicht ernst meinst. Dass du mich damit nur ärgern willst, und dann schreibst du so was.“ Ich boxte ihr leicht gegen die Schulter und zog die Nase hoch. „Dummkopf.“

 

„Ja, das bin ich wohl.“ Karins Lächeln war wacklig, als sie sich über die Schulter rieb, aber sie erwiderte meinen forschenden Blick derart offen, dass sich mein Magen nervös zusammenzog. „Du musst jetzt auch nichts dazu sagen, ehrlich nicht. Ich …“ Sie schluckte und einen Wimpernschlag später fühlte ich sanfte Finger, die über mein Haar streichelten. „Ich bin feige, ein riesengroßer Hasenfuß, der sich bislang immer hinter dummen Sprüchen und Andeutungen versteckt hat. Aber das heute … das war … ist mein vollkommener Ernst.“ Wieder schluckte sie, als würden ihr ihre Worte im Hals stecken bleiben. „Ich bin in dich verliebt und ich …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich musste dir das heute endlich sagen.“

 

Ihr Geständnis hing bleiern zwischen uns, machte mir das Atmen schwer. Aber gleichzeitig hatte sich mein Puls beschleunigt und irgendetwas in mir fühlte sich so an, als würde es jeden Moment ausbrechen und davonfliegen wollen.

 

„Ich glaube, ich würde dich gerade unheimlich gerne küssen wollen“, hörte ich mich sagen, ohne begreifen zu können, dass diese Worte soeben tatsächlich meinen Mund verlassen hatten.

 

„Dann … tu das doch“, murmelte Karin und ich konnte ihr verblüfftes Lächeln lediglich in ihrer Stimme hören, denn noch bevor sie ausgesprochen hatte, hatte ich die Augen geschlossen und blind ihre Lippen gefunden. Ein elektrisierender Schauer rann mir über den Rücken, als sich unsere Münder trafen. Ihre Lippen waren ein wenig spröde und ich konnte die Zigarette auf ihnen schmecken, die sie eben noch geraucht haben musste, aber für mich hätte es keinen perfekteren Kuss geben können. Alles in mir prickelte, mein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen und obwohl ich keine Ahnung hatte, ob es richtig war, was wir hier taten, hätte ich nie im Leben auf dieses Gefühl verzichten wollen. Ihre Finger schoben sich in meinen Nacken, drängten mich näher gegen sie und ich ließ es nur zu gerne zu, rutschte irgendwann auf ihren Schoß und vertraute darauf, dass sie mich festhielt.

 

Die Zeit schien ein Konzept zu sein, das mir fremd geworden war, während Karin mein ganzes Sein für sich vereinnahmte. Vielleicht hätte mich die Intensität, mit der ich mich in diese neue, noch gänzlich unbekannte Zweisamkeit fallen ließ, ängstigen sollen, aber immer, wenn sich erste Zweifel in meine Gedanken schleichen wollten, spürte ich wieder ihre Lippen, diese unendlich zärtlichen Berührungen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich auf ihrem Schoß saß oder wie oft mir ihre Hände schon eine herrliche Gänsehaut beschert hatten. Was ich allerdings wusste, war, dass ich auf keinen noch so kurzen Moment mit ihr verzichten wollte. Irgendwann war ich meine Jacke losgeworden und Karins Finger hatten sich unter mein Hemd gemogelt, wo sie nun verschlungene Muster auf meinen Rücken zeichneten, denen nur sie selbst folgen konnte. Ich hingegen war damit beschäftigt, die Nähe zu ihr in mich aufzunehmen, immer wieder nach ihren Lippen zu haschen und dem Kribbeln nachzuspüren, das meinen Körper gar nicht mehr verlassen wollte.

Und ja, auch die Müdigkeit zehrte immer stärker an mir, ließ meine Lider schwer werden. Erneut blinzelte ich, fuhr mit der Nase an Karins Hals entlang und vergrub mein Gesicht an ihrer Schulter.

 

„Wir könnten das mit dem Filmschauen noch mal versuchen?“, murmelte sie und begann, mich im Nacken zu kraulen.

 

„Ich bin mir fast sicher, dass das jetzt wieder nichts wird. Ich hab dir gesagt, die Tabletten machen mich müde.“

 

„Dann sollten wir es uns wenigstens bequemer machen.“

 

„Willst du etwa andeuten, dass ich dir zu schwer bin?“, empörte ich mich gespielt und biss ihr neckend in den Hals. Ihre Reaktion fiel weitaus heftiger aus, als ich gedacht hätte, und ich konnte nicht anders, als sie mit hochgezogener Augenbraue fragend anzusehen. Denn das, was da gerade ihren Mund verlassen hatte, war, wenn auch unterdrückt, eindeutig ein Stöhnen gewesen. „Sollte ich da irgendwas wissen?“

 

„Nein, nicht wirklich“, nuschelte sie mit einem schelmischen Funkeln im Blick. „Oder zumindest nicht mehr heute.“

 

„Aha.“ Leise lachend tupfte ich einen kleinen Kuss auf dieselbe Stelle und erhob mich von ihren Beinen.

 

„So, wie ich dich kenne, wird alles, was ich jetzt dazu noch sage, gegen mich verwendet, oder?“

 

„Du hast es erfasst.“ Mit einem kecken Schmunzeln auf den Lippen hob ich meine Jacke vom Boden auf und ging in den Flur, um mir endlich meine Schuhe auszuziehen. Ich hatte schon vor Minuten beschlossen, mich für diese Nacht bei Karin einzuquartieren, denn so müde, wie ich mittlerweile war, wäre es definitiv keine gute Idee, jetzt noch mit dem Auto nach Hause zu fahren. Außerdem widerstrebte es mir, sie allein zu lassen. Es gab noch so vieles, über das wir reden mussten – auch wenn daraus heute nichts mehr werden würde. Für solche Gespräche brauchte ich eindeutig mehr Klarheit, als mein pollengeplagter Schädel jetzt noch aufbringen konnte.

 

Kaum war ich wieder im Wohnzimmer angelangt, streckte Karin, die es sich mittlerweile halb liegend auf dem Sofa bequem gemacht hatte, wie früher am Abend beide Arme nach mir aus. Ich machte mir den Spaß und erwiderte ihren auffordernden Blick nur fragend, ohne mich weiter von der Stelle zu rühren.

 

„Ich sehe zwar nicht so aus, aber ich bin ein prima Kuschelkissen“, meinte sie schließlich, als ich auch Momente später nicht weiter auf sie eingegangen war, und lächelte mich lieb an.

 

„Und du meinst, ich soll mich jetzt davon überzeugen?“

 

„Ganz genau.“

 

Amüsiert näherte ich mich dem Sofa, schlug die Wolldecke, unter der Karin steckte, zurück und machte es mir zwischen ihren Beinen bequem.

 

„Ich zerknittere gerade total dein Kleid“, stellte ich trocken fest, als ich mich gegen sie lehnte.

 

„Glaub mir, das könnte mir nicht egaler sein.“

 

Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um ihr Lächeln sehen zu können. Leise seufzend schloss ich für einen Moment die Augen und atmete einfach nur. Mein Rücken lehnte gegen Karins Oberkörper, mein Kopf passte in dieser Position genau unter ihr Kinn und wenn ich ehrlich war, war das tatsächlich bequem. Etwas ungewohnt vielleicht, aber darüber konnte ich hinwegsehen. Besonders, als sie ihre Arme um meinen Bauch schlang und sich ihre Lippen auf die freie Haut meiner Halsbeuge legten. Eine Gänsehaut jagte mir über den Rücken und vielleicht hätte ich mich beschwert, hätte Karins Hand in dem Moment nicht meine Rechte gefunden und unsere Finger miteinander verschränkt. Verträumt blinzelte ich auf diese Verbindung herab, begann gedankenverloren über ihren Daumen zu streicheln.

 

„Meinst du wirklich, das hier kann funktionieren?“, stellte ich die Frage, die mir nun schon seit Minuten nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.

 

„Soll ich ehrlich sein?“

 

„Mhmh.“

 

„Ich hab keine Ahnung.“

 

„Das klingt jetzt nicht sehr aufbauend.“ Ich schielte zu ihr nach oben und erwiderte das schiefe Lächeln, welches ihre Lippen zierte.

 

„Ich weiß, aber etwas anderes kann ich dir nicht sagen. Außer, dass ich es wirklich, wirklich gerne versuchen will.“

 

„Ich auch“, murmelte ich, küsste ihren Kiefer und schmiegte mich erneut gegen ihren Oberkörper. Karin angelte nach der Fernbedienung und startete den Film, von dem ich heute Nachmittag schon kaum etwas mitbekommen hatte. Aber das war okay – der gute Vin würde auch noch etwas länger auf meine Aufmerksamkeit warten können. Ganz anders als Karins Kater, der sich auf leisen Pfoten genähert hatte und mich nun aus großen Augen fordernd anschaute.

 

„Na du, auch Lust auf Kuscheln?“, sprach ich das Tier an und erhielt ein langes Blinzeln zur Antwort.

 

„Er hat dich angelächelt“, hakte Karin ein, aber ihre Worte machten nicht wirklich Sinn.

 

„Wie?“

 

„Wenn dich eine Katze so richtig schön träge anblinzelt, dann bedeutet das so viel wie ein Lächeln.“

 

„Ehrlich jetzt?“

 

„Jepp.“

 

„Cool.“ Ich grinste Baghira an, was dieser als Einladung ansah, einmal quer über meine Brust zu tapsen, bis er es sich irgendwo zwischen meinen Haaren und meiner Schulter bequem machen konnte. „Ehm …“, kam es ein wenig überrumpelt von mir, was sein Frauchen wiederum nur zu einem leisen Lachen verleitete.

 

„Ich würde mal sagen, er hat dich adoptiert.“ Karin drückte einen sanften Kuss auf meine Schläfe und lehnte ihren Kopf gegen den meinen. „Was ich durchaus verstehen kann.“

 

Für den Moment wusste ich nicht, was ich darauf nun sagen sollte, und vielleicht musste ich das auch gar nicht. Ich hob unsere verschränkten Finger an, drückte einen Kuss auf Karins Hand und legte sie dann auf der Stelle meines Brustkorbs ab, unter der mein Herz deutlich schneller als sonst schlug. So ein bisschen fühlte ich mich, als hätte sie mich ins eiskalte Wasser geschubst, wo ich nun ziellos umhertrieb, aber vielleicht gehörte dieses Gefühl dazu, wenn sich ein Kapitel im Leben schloss, damit ein Neues geschrieben werden konnte.

Ein Schmunzeln zupfte an meinen Mundwinkeln, meiner poetischen Gedanken wegen, aber noch bevor es sich zur Gänze auf meine Lippen legen konnte, fielen mir endgültig die Augen zu. Baghiras gleichmäßiges Schnurren und der kräftige Herzschlag meiner Freundin lullten mich immer weiter ein, bis sie mich sicher ins Traumland hinübertrugen.

 

Liebe ist …

… dich nicht wecken zu wollen, obwohl mir mittlerweile beide Beine und der Arm



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Dark777
2021-07-04T18:45:43+00:00 04.07.2021 20:45
Eine bezaubernde, gefühlvoll ausgearbeitete Geschichte, die mich vom ersten Satz an in ihren Bann geschlagen hat. Du hast ein unglaubliches Schreibtalent. Ich hoffe sehr, bald mehr solcher schönen Geschichten von dir lesen zu dürfen.

V(~_^)
Antwort von:  yamimaru
07.07.2021 07:57
Vielen Dank für deine lieben Worte und das viele Lob.
Es freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat. <3
Und auch noch mal danke, dass du dir die Zeit genommen hast, mir deine Meinung hierzulassen!
Liebe Grüße
Yami
Von:  Shirakuya
2021-05-14T08:56:12+00:00 14.05.2021 10:56
Hey ho :)

Eine wirkliche schöne Geschichte musste zwischen durch herzhaft lachen ^^
Hoffe das Michi das Leben nicht mehr als persönliches Mobbing sieht *grins*

Liebe Grüße
Shira o//
Antwort von:  yamimaru
14.05.2021 11:13
Hallo,

vielen, lieben Dank für deinen Kommentar.
Freut mich riesig, dass dir die Geschichte gefallen und sie dich sogar zum Lachen gebracht hat.
Ich denke, mit Karins Hilfe wird auch Michi lernen, dass das Leben es nicht nur schlecht mit ihr meint. *lacht*
Wobei ich mir gut vorstellen kann, dass ihr ein gewisser Grundpessimismus immer erhalten bleibt, aber vermutlich liebt Karin auch diesen Wesenszug an ihr.
Nochmal herzlichen Dank für dein Feedback!

Alles Liebe
Yami


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