„Stringendo, stringendo, meine Liebe!“ Herr Ando steht mit dem Rücken am Fenster. Mit seinen Händen wedelt er aufgeregt in der Luft herum. „Sehr gut, sehr gut. Und das ganze noch einmal und diesmal fortissimo!“ Connys Hände flitzen über die Tasten des Klaviers. Es ist Montag, 4 Uhr. Die Nachmittagssonne fällt sanft in den kleinen Raum der Schule, in dem wie jeden Tag ihr Musikunterricht stattfindet. Conny hört die aufgeregten Zurufe des untersetzten Mannes mit der Nickelbrille kaum noch. Seine italienischen Ausrufe gehören zum Hintergrundrauschen ihres Stücks. Genauso wie das Metronom, das ihr in gnadenloser Gleichmütigkeit den Takt vorgibt. Rechts Tonleiter hoch bis drittes C. Links E- und D-Accord im Wechsel. Ihre Augen fliegen über das Notenpapier vor ihr. „Nicht schludern bei den Sechzehnteln!“ hört sie Herrn Ando. Conny blinzelt. >D, E, F… nein Fis, … nein doch F! Und links zurück auf C! Oder doch nicht?< Die Sechzehntel geraten aus dem Takt, die Finger an der linken Hand werden feucht.
„Non, non, non!“ ruft der kleine Mann empört und hämmert mit seinem Taktstöckchen hektisch auf das Klavier ein. „Was haben wir denn heute? Konzentrieren wir uns vielleicht? Seit einer Woche üben wir an dieser Stelle und immer wieder stolperst du an den schnellen Wechseln im Vibrato.“ er seufzt theatralisch.
Conny atmet tief durch und schüttelt die Hände aus.
„Mit dieser Stelle werden wir die Jury beim Wettbewerb von den Sitzen reißen. Sie werden nicht anders können, als uns die Bestnote zu erteilen.“ schwärmt ihr Lehrer mit glänzenden Augen, „Und darum will ich, dass du dieses Vibrato im Schlaf beherrschst. Also üben, üben, üben.“ wieder klackert sein Taktstock auf dem Instrument herum.
Conny holt erneut tief Luft und fokussiert kämpferisch die Noten vor sich.
„Da capo!“
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„Nun Junge, wie war euer Spiel heute?“ fragt ihr Vater beim Abendessen. Viktors Augen leuchten vor Stolz, als hätte er den ganzen Abend darauf gewartet, dass sein Vater diese Frage stellen würde. Er legt seine Stäbchen ab bevor er antwortet: „10:2 gewonnen, Dad!“
Herr Uesugi zieht eine Augenbraue in die Höhe. „Zwei Gegentore?“
Viktors stolzer Gesichtsausdruck bricht in sich zusammen. „Hmmm,“ knurrt er und angelt nach einer neuen Scheibe Schweinefleisch. „das eine war eine Ecke und beim zweiten war mein letzter Verteidiger dazwischen. Der hat den Ball noch kurz vorm Tor abgelenkt.“ versucht er betont beiläufig zu erklären.
Doch sein Gegenüber zeigt sich unbeeindruckt. „Nana, such die Schuld nicht bei deinen Kameraden. Du bist der Torwart. Das heißt, wenn ein Ball an dir vorbeifliegt, dann hast du ihn nicht gehalten, oder?“
„Der zweite war unhaltbar.“ protestiert Viktor.
„Für dich.“ widerspricht sein Vater, „Wäre er auch für andere Torwarte unhaltbar gewesen?“
Sein Sohn öffnet den Mund um etwas zu entgegnen, überlegt es sich aber anders und schließt ihn wieder. „Vielleicht, vielleicht auch nicht“ murmelt er in sich hinein.
„Und bei dir Schatz? Läuft es gut mit dem Üben für den Wettbewerb?“ lenkt ihre Mutter das Thema auf ihre Tochter. „Ist Herr Ando zufrieden?“
Conny kneift kurz die Lippen zusammen, doch dann lächelt sie wieder. „Herr Ando ist nie zufrieden, Mama. Es sind noch drei Wochen bis zum Wettbewerb. Bis dahin werde ich das Stück im Schlaf können.“
„Schön, schön.“ murmelt ihr Vater, „Du weißt, wir sind sehr stolz, dass du dieses Jahr die Nanyo-Schule beim distriktsübergreifenden Musikwettbewerb der Nachwuchstalente repräsentieren darfst. Lass deine Übungsstunden bitte nicht schleifen.“
Conny umgreift ihre Stäbchen fester. „Natürlich nicht.“ sagt sie, den Blick fest auf ihren Reis geheftet.
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„Brüderchen?“ Conny klopft leise an die Zimmertür ihres Bruders. „Kann ich kurz reinkommen?“
Viktor sieht von seinem Schreibtisch auf. „Natürlich, komm rein. Du hast nicht zufällig die Lösung für meine Physik-Hausaufgaben dabei?“ feixt er und wirft genervt seinen Stift auf das aufgeschlagene Heft.
„Aber Bruderherz, ich weiß bestimmt nicht, was ihr in der sechsten Klasse in Physik macht!“
„Schon gut, das war ein Scherz. Aber um ehrlich zu sein, ich weiß es selbst langsam auch nicht mehr.“ Er kratzt sich am Kopf.
„Tu nicht so.“ seufzt Conny, faltet ordentlich ihren Rock zurück und lässt sich auf sein Bett sinken. „Ich weiß, dass du erst letzte Woche in Physik eine 1 geschrieben hast.“
„Was wolltest du denn?“ Viktor ignoriert ihren letzten Einwand und lehnt sich lässig über die Rückenlehne seines Stuhls.
„Ich ähmm…“ etwas nervös nestelt sie an ihren Fingern herum. „Ich wollte dich fragen…“
Viktor hebt skeptisch eine Augenbraue. Es ging ihr anscheinend nicht darum, ihn zu bitten, morgen das Ausgehen mit Pelé zu übernehmen. Irgendetwas größeres lag ihr wohl auf dem Herzen.
„Hattest du schon einmal Angst, ein Spiel zu verlieren?“
„Nein!“ kommt die Antwort prompt.
„Ich meine, hast du beim Training schon einmal bemerkt, dass du vielleicht nicht gut genug sein könntest für…“
„Nein Conny,“ Viktor schüttelt entschieden den Kopf, „denk nicht einmal dran. Ich bin immer der beste. Niemand wird gegen mich gewinnen.“
Er kommt nah vor ihr Gesicht. „Und gegen dich übrigens auch nicht.“ Er lacht und tippt ihr gegen die Stirn. „Red‘ dir so etwas gar nicht erst ein.“