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Von Schwänzen und Tentakeln

von

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wir sind vieles

Majan

Der Grund aus dem ich meine beste Freundin auf dieser Reise begleite, obwohl ich jetzt schon weiß dass ich mich damit dazu verdammt habe ein Wochenende lang das fünfte Rad am Wagen zu sein ist natürlich: nicht reine Selbstlosigkeit.

Ich bin nicht selbstlos.

Ich weiß einfach nur nichts wirklich besseres mit meiner freien Zeit anzufangen (was in Anbetracht der von mir gewählten Alternative echt ein Armutszeugnis ist), und allein der Gedanke daran meine Ferien ruhelos, und ohne Beren, und wahrscheinlich größtenteils vor meinem Laptop in meinem Zimmer zu verbringen hat mich ehrlich gesagt in mittelschwere Panik versetzt.

Ich bin kein Stubenhocker.

Aber ich bin auch nicht der Typ der gern allein los zieht.

Also ziehe ich eine Woche lang mit meiner besten Freundin zweihundertfünfzig Kilometer in Richtung Süden, mit dem Zug, zu ihrer Fernbeziehung.

Ich sage ja, ein echtes Armutszeugnis.
 

Beren ist hübsch.

Hübsch auf diese leicht sportliche, sommersprossige, stupsnasige, hellbraunhaarige und grünäugige Art und Weise die ausreicht um das Interesse der Jungs auf sich zu ziehen, aber gleichzeitig ist sie taff, und das wiederum schreckt die Kerle ab, und deswegen führt meine beste Freundin eine Fernbeziehung.

Wer nicht da ist, der kann auch nicht verschreckt werden. Zumindest nicht direkt und unmittelbar. Zweihundertfünfzig Kilometer Sicherheitsabstand sorgen in Berens und Elinos Fall dafür dass das, was eigentlich nur durch Nähe funktionieren kann, auch…unter diesen Umständen funktioniert.

Ich sollte aufhören Beziehungen zu analysieren.

Ich bin ein Kopfmensch.

Ich denke zu viel.

Und außerdem ist es nicht gerade so als ob ich aus Erfahrung sprechen könnte.
 

Elino ist ebenfalls hübsch.

Auf diese verdammt heiße, coole UND gleichzeitig gelassene Art und Weise die Mädchen schüchtern und unsicher und mich leicht angenervt werden lässt. Ich mag Menschen gerne authentisch, und niemand ist in Wirklichkeit gleichzeitig heiß und cool und gelassen. Das ist alles nur Show. Eine Show auf die Beren nur zu gerne hereinfällt aber das gönne ich ihr. Genauso wie ich ihrem Elino die Illusion gönne dass Beren ein schüchternes unsicheres kleines Mädchen aus einer völlig überfüllten Großstadt ist.
 

Kaum dass wir mit unserem Gepäck den Bahnhof verlassen haben, trifft uns die hochsommerliche Hitze einer überhaupt nicht überfüllten Kleinstadt; ich spüre frischen Schweiß im Nacken und an den Stellen an denen mein Rücken Kontakt mit meinem Rucksack hat, und ich sehne mich nach einer Dusche.

„Wir können nachher zum See gehen wenn ihr wollt. Der ist hier echt beliebt, und gut besucht, aber das verläuft sich. Es gibt ein paar Stellen die man meiden sollte, aber ansonsten ist es da echt super.“ Elino lässt sich zu mir zurückfallen, nur einen halben Schritt, ganz unauffällig, ganz beiläufig, und dann zwinkert er mir zu.

„Und das Wasser ist richtig tief und trüb, man kann an keiner Stelle bis zum Grund sehen, wenn du verstehst was ich meine.“

Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich bekomme ein flaues Gefühl im Magen. Adrenalin. Ich spüre Adrenalin in meinen Adern und eine Art kribbelige Vorfreude sprudelt durch meine Nerven. Ich kann das Wasser und den Schlamm und die vielen satten grünen Seepflanzen schon beinahe riechen.

Erkenntnis trifft mich erst den Bruchteil einer Sekunde später. In dem Augenblick in dem ich in Elinos ozeanblaue Augen sehe.

Er ist einer von uns.
 

Das Meer kann viele Farben haben.

Und jeder See, jeder Tümpel, jede andere natürliche Ansammlung von Wasser spiegelt sich in unseren Augen wieder.

Während ich in Elinos Augen also das dunkle Blau eines stillen Ozeans sehe kann er in meinen das stürmische Grau eines wilden windgepeitschten Meeres sehen.

Wir sind von der gleichen Art.

Und aus diesem Grund lieben wir tiefe trübe undurchsichtige Badeseen.
 

Elino zeigt uns eine Stelle nah am Ufer, aber zwischen zwei Bäumen und direkt am Schilfgürtel, was bedeutet dass wir windgeschützt und gleichzeitig angenehm schattig lagern und ein bisschen abseits von den lauten, knackig gebrutzelten, ballsporttreibenden Sonnenanbetern mit denen ich mich so überhaupt nicht identifizieren kann.

Und Elino auch nicht.

Er ist zwar ebenfalls knackig braun und ich wette es steckt auch ein kleiner Ballsportler in ihm, aber heute sind wir zum Schwimmen hier. Oder besser gesagt: zum Tauchen. Seit er sein Geheimnis, welches auch meines ist, mit mir geteilt hat verstehen wir uns auf einer Ebene für die es keine Worte benötigt. Wir sehen den See, das Wasser, und fühlen exakt das gleiche. Vielleicht würden wir es nicht mit den selben Worten beschreiben, aber das Gefühl ist universell.
 

Als wir uns der eigentlichen Badestelle nähern steigt mir etwas in die Nase das mich eben jene unverzüglich angewidert rümpfen lässt.

Es riecht nach Gras.

Und zwar nicht nach dem braunen verdorrtem Gewächs unter unseren nackten Füßen.

Mein Blick huscht über die uns umringenden Badegäste; es gibt nicht gerade wenige die einen Glimmstängel zwischen den Lippen haben, aber das sind alles nur ganz normale Zigaretten, alles völlig legal. Aber dieser Geruch...kommt von einem Kerl der so überhaupt nicht nach Hippie aussieht dass es schon fast lächerlich ist. Ich meine, er erfüllt trotz allem ein Klischee, nämlich das des Kleinstadt-Dealers der das was er da tut gar nicht nötig hat weil seine Eltern mindestens einen Mercedes-SUV, und als Zweitwagen einen Mini-Cooper, und ein Haus im amerikanischen Landhausstil und ich wette auch ein Hausmädchen haben. Und einen Gärtner. Und offenbar einen Sohn der aus reiner reiche Leute-Langeweile Haschkekse verkauft.

"Der Kerl da verkauft Haschkekse." informiere ich Beren und damit auch Elino der meinem Nicken in Richtung des braungebrannten, waschbrettbäuchigen, rotblondgelockten und okay, ja, ich gebe es zu, unverschämt gut aussehenden Dealers, folgt.

Auf Elinos Gesicht erscheint ein verärgertes Stirnrunzeln, dann schürzt er die Lippen und gibt ein Geräusch von sich das irgendwo zwischen Ekel und Resignation schwebt. So wie wenn man eine Obstfliegenplage entdeckt die man gerade losgeworden zu sein glaubte.

"Das ist Louri. Der dealt nicht nur hier, der dealt auch an der Schule. Die nehmen ihn nur nicht hoch weil seine Eltern so reiche Scheißer sind."

Aha, Volltreffer also.

Offenbar starre ich ein bisschen zu lange und ein bisschen zu auffällig in Louris Richtung denn Elino tippt mir auf den Unterarm und zieht meine Aufmerksamkeit so auf sich.

Seine dunklen blauen Augen bohren sich in meine.

"Oh, und er HASST uns."

So wie er das betont weiß ich dass er damit nicht uns persönlich meint. Noch einmal huscht mein Blick zu dem hübschen Kerl mit der unauffälligen braunen Papiertüte in der Hand und dem gewinnenden Lächeln im Gesicht.

Das was wir sind ist kein Geheimnis. Es ist mehr...naja, etwas das man weiß aber nicht hinterfragt. Ein stillschweigendes Dulden. Zumindest, meistens. Aber dann gibt es eben auch die Ausnahmen, die Menschen, die nicht mögen was sie nicht verstehen und die nicht damit klar kommen dass etwas neben ihnen existiert über das sie keine Kontrolle haben.

"Ich hab nicht vor ihn nach ein paar Keksen zu fragen." sage ich und wende mich von Louri ab. Ich will keinen Ärger. Aber in meinem Magen brodelt es.
 

Louri

"Was gibt´s da zu glotzen hä?"

Okay, der Kerl ist voll mein Typ. Dass er mit Elino herumhängt ist aber in etwa so als hätte er mich, direkt nachdem er mich mit diesen unfassbar krassen, geheimnisvollen, dunkelgrauen Augen angesehen hat, in die Eier getreten. Was der Grund dafür sein könnte dass ich mich so verhalte wie ich mich...verhalte. Nämlich wie ein komplettes Arschloch.

Und Elinos neuer Freund ist nicht gerade auf den Mund gefallen. Auf seinen ausnehmend schönen, jetzt nicht vor stummer Wut verkniffenen, Mund.

"Ich kann hinsehen wo ich will. Und um deine Frage zu beantworten: es gibt nichts zu glotzen. Da wo du gerade stehst gibt es nichts was ich mir länger als nötig ansehen möchte."

Wow.

Einfach...wow. Der Typ ist nicht nur unverschämt heiß, sondern auch noch schlagfertig. Und ich würde ihm hier und jetzt sofort einen Antrag machen wenn da nicht genau diese eine Sache wäre die ich absolut und niemals tun würde:

Einen Fisch ficken.

Ich werde den Kerl, dem das Mädchen welches ich bis jetzt nicht einmal bemerkt habe ein leises warnendes "Majan!" (sein Name? Oh verdammt, ich kenne seinen Namen!!) zu zischt nicht einmal mehr ANSEHEN weil ich genau weiß wie er MICH das nächste Mal ansehen wird. Nämlich so als wäre ich es nicht wert. Aber das bin ich. Verdammt, das bin ich!

Mit einem wütenden Grummeln das hoffentlich nur ich selbst hören kann mache ich mich vom Acker. Meine Tüte ist eh fast so gut wie leer. Die Einnahmen von zwei und einem halben Cookie kann ich verschmerzen. Es ist ja nicht so als ob ich die Kohle nötig hätte.

Kein Blick mehr zurück. Kein Blick mehr auf diesen von der Sonne noch ungeküssten Adoniskörper mit der Andeutung eines Sixpacks und den schlanken aber kräftigen Beinen und den langen blonden Haaren von denen sich einige aus dem Zopf an seinem Hinterkopf gelöst haben und die ihm jetzt auf seine leicht geröteten Schultern fallen und...zum Glück hab ich Majan den Rücken zugedreht, sonst würde er mich sabbern sehen.

Was ist denn nur in mich gefahren? Ich benehme mich nicht nur wie ein Arschloch, sondern auch noch wie ein absoluter Volltrottel!
 

Mit meinen Leuten gehe ich nie hier zum See. Die teilen meine (oberflächlichen) Ansichten, und deswegen gehen wir lieber ins Schwimmbad. Denn dort gehen die anderen nie hin. Keine Ahnung warum, vielleicht wegen dem Chlor oder so. Auf jeden Fall, verkaufen tu ich meine Ware nur am Badesee. Allein.

Mein Lager habe ich bei dem alten Anglerhäuschen aufgeschlagen; weit ab vom Schuss, weit weg von zu neugierig Kunden und zu aufdringlichen Weibern, und als das marode Gebäude und der Steg in Sicht kommen ist von den anderen Badegästen längst nichts mehr zu hören.
 

Majan

Das Wasser schafft es fast augenblicklich die frisch in mir entfachte Wut zu löschen. Ich liebe es. Ich liebe es so sehr dass ich mir ein lautes Jauchzen verkneifen muss kaum dass meine Arme die an der Oberfläche warmen und in den Tiefen immer kälter werdenden Wassermassen teilen. Und dieser See hier ist perfekt. Es gibt kein flaches Ufer und es ist so trüb dass ich nicht einmal meine Unterschenkel sehen kann als ich kurz auf der Stelle schwimme.

Es ist...wundervoll.

Ganz im Gegensatz zu der Szene die sich da gerade am Ufer abgespielt hat. Und bei der ich unfreiwillig eine der Hauptrollen abbekommen habe. Normalerweise bin ich nicht so. Ich mag keinen Stress. Ich bin freundlich. Ich versuche nicht aufzufallen. Und schon gar nicht bin ich frech oder vorlaut in Gegenwart eines so heißen männlichen Wesens.

Im Gegenteil.

Verklemmtheit ist mein dritter Vorname (mein zweiter ist Hudson, und ja, wie der Fluss, aber das tut hier nichts zur Sache).

Aber irgendetwas an diesem Louri hat mich dazu gebracht das Maul aufzureißen und jetzt spüre ich noch immer dieses unruhige Kribbeln unter meiner Haut das so überhaupt nichts mit dem zu tun hat was ich normalerweise fühle wenn ich mich in dem von uns bevorzugten Element aufhalte. Ich bin nicht mehr wütend. Ich bin plötzlich so vieles.
 

Die meisten Menschen halten sich in der Nähe des Ufers auf, sie planschen und lachen und reden und spielen mit Wasserbällen und Luftmatratze und diesen putzigen knallbunten Tieren die man aufpusten muss aber mich, mich zieht es weiter. Natürlich habe ich Elinos Warnung noch im Ohr, es gibt Stellen die ich meiden sollte, die ich meiden MUSS, aber das ist kein Problem. Wie bereits erwähnt, der See ist groß.

Als ich mir sicher bin dass mich noch nicht einmal mehr ein zufälliger Blick streifen könnte hole ich einmal tief Luft, und dann bin ich unter Wasser. Die ersten Schwimmzüge in die Tiefe mache ich noch mit Armen UND Beinen, in meiner Lunge drückt der eingepferchte Sauerstoff, in meinen Ohren rauscht es, es wird kühler, kälter, und dann...

Das Wandeln fühlt sich an wie ein besonders bewusstes Ausatmen, es ist ruhig, beruhigend, und als ich wieder einatme füllt Wasser meine Lungen. Aber ich ertrinken nicht.

Ich bin ein Meermann.
 

In dem trüben von Dreck und kleinen toten Insekten und Algen durchsetzten Wasser ist meine Schwanzflosse kaum zu erkennen; es ist üblich dass sie sich ihre Farbe mit der Augenfarbe ihres Meermenschen teilt. Also ist der untere Teil meines Körpers, knapp unterhalb meines Bauchnabels, jetzt von feinen aber harten sturmgrauen Schuppen bedeckt die zwar nicht besonders beeindruckend sind aber: was nicht beeindruckt fällt auch nicht auf. Meermenschen mit auffälliger gefärbten Schuppen müssen deutlich tiefer tauchen und vorsichtiger sein als ich.

Irgendwann, einen ausgiebigen Tauchgang später, entschließe ich mich dazu vielleicht doch langsam einmal zu meiner Freundin und unserem Gastgeber zurück zu kehren; ich wandle mich bereits einige Meter bevor ich an die Oberfläche komme und weiß einen Moment nicht wo ich bin. Mein Orientierungssinn ist genau wie mein Zeitgefühl absolut unterirdisch. Aber dann höre ich ein Lachen, und Rufen, und nachdem ich eine kleine, hoch mit irgendwelchen mir unbekannten Hecken bewachsene Insel umrundet habe, ist alles wieder da. Ich habe mich nicht verschwommen. Und ich plötzlich will doch noch nicht zurück.
 

Da ich an der Oberfläche schwimme kann ich die Stimmen der anderen Badegäste immer noch über das Plätschern meiner Schwimmzüge hören, aber sie werden leiser, und als ich eine schilfbedeckte abgeflachte Landzunge umrunde bleiben sie vollständig hinter mir zurück. Hier ist es still, das Wasser warm und schwer und ich spüre die feinen Partikel von abgestorbenen Pflanzen zwischen meinen Fingern und nackten Zehen.

Ein paar Meter entfernt ragt ein altersschwacher modrig aussehender Steg in den See, die Leiter die zu ihm herauf führt wirkt alles andere als vertrauenserweckend, und ihr fehlen Sprossen. Wahrscheinlich haben hier früher einmal Fischerboote angelegt, es gibt sogar noch die Reste eines verlassenen Bootshauses mit halbem Dach und aus den Rahmen geschlagenen Fensterscheiben. Alles in allem kein besonders einladender Anblick.

„Na Fischlein, hast du dich verschwommen?“

Ich fahre erschrocken herum und starre direkt in das abfällig grinsende aber immer noch unverschämt hübsche Gesicht das ich schon vor nicht einmal einer halben Stunde ein kleines bisschen heimlich angesabbert habe. Ich meine, bevor ich erfahren habe dass es zu einem riesengroßen Arschloch gehört, natürlich.

„Hast du ein Problem mit mir oder was? Verzieh dich.“ Natürlich könnte ich dem Blödmann einfach davon schwimmen, aber ich tu es nicht. Der Geruch von Gras und offener Aggression weht zu mir herüber und ich knirsche unwillkürlich mit den Zähnen. Er hat mich FISCHLEIN genannt!

Und was auch immer Louri mich noch hatte nennen wollte erstickt in seiner Kehle als er plötzlich unter Wasser gezogen wird. Ich sehe nur Abertausende kleine Wasserblasen aufsteigen und unter meinen Füßen gerät der eben noch so stille See in Bewegung. Und dann spüre ich es auch.

Tentakeln.

DAS ist also der Grund warum wir uns von hier fernhalten sollten.

Louris Gesicht durchbricht die aufgewühlte Oberfläche, er schnappt hektisch nach Luft, aber er scheint wieder frei zu sein. Natürlich, der Kraken hat seinen Fehler bemerkt. Er will nicht den Menschen. Er will den Meermann.

„Schnell! Schwimm zum Ufer! Verdammt, hau ab!“ Meine Stimme ist hoch und panisch, ich trete kräftig nach unten und treffe auf glattes festes Fleisch. Louri zögert.

„Nun mach schon!“

Endlich endlich setzt er sich in Bewegung, und wird prompt ein weiteres Mal unter Wasser gezogen. Fluchend tauche ich ihm hinterher, tausend kleine Dreck- und Pflanzenpartikelchen trüben meine Sicht, aber Louris fehlender Überlebenswillen kommt mir jetzt gelegen, denn er ist noch nah, und damit auch sein Bein welches von einer schlammig rotbraunen Tentakel umklammert wird.

Als ich meine Finger in den festen und gleichzeitig nachgiebigen Muskel bohre brennt es wie tausend feine Nadelstiche, meine Fingerspitzen werden taub, aber das Monstrum lässt sofort von der falschen Beute ab; denn jetzt hat es die richtige gespürt.

Gemeinsam schwimmen Louri und ich in Richtung Ufer, und die Gefahr folgt uns.

Wir haben keine Chance.

Zumindest nicht wenn wir weiter zusammen bleiben.

Als ich zurückfalle dreht sich der Kerl der mich vor wenigen Minuten noch am Grund des Sees hatte sehen wollte um, und ich verschenke wertvolle Sekunden weil ich ihn ein weiteres Mal in Erinnerung rufen muss dass er sich verdammt nochmal in Sicherheit bringen soll.

Keine Ahnung ob er endlich zur Vernunft kommt, denn noch bevor ich das überprüfen kann schlingt sich eine der brennenden Tentakeln um meine Wade und zieht mich unter die Wasseroberfläche. Ich hätte mich längst wandeln müssen.

Die Stelle an der mich das Monster in seinem Würgegriff hält wird taub, es fühlt sich an als würden eisige Flammen durch meine Muskeln jagen und verdammt nochmal mir geht die Luft aus! Ist Louri schon an Land? Mit meinem freien Bein versuche ich nach den tödlichen Tentakeln zu treten, aber ich treffe nur mit Wasser gefüllte Leere, und meine Lungen schreien nach Sauerstoff. Ich muss atmen! Ich muss…!
 

Louri

Oh verdammt! Verdammt verdammt verdammt!

Ich stolpere über meine eigenen Füße kaum dass ich festen Boden unter diesen habe, meine Knie treffen auf spitze kleine Steine und feuchten Sand aber ich rappele mich sofort wieder hoch und fahre herum.

Von dem Ungeheuer ist nichts zu sehen.

Das ist gut.

Aber von Majan auch nicht, und das ist weniger gut.

Vernünftig wäre es den Fisch Fisch sein zu lassen und mich vom Acker zu machen aber das kann ich nicht. Nicht nachdem er mich gerettet hat. Also tu ich das Gegenteil von dem was ich tun sollte und renne zu meiner Decke während mir das Herz statt in die Hose hinauf in den Hals rutscht und dort so heftig klopft dass ich glaube daran ersticken zu müssen. Meine Lungen schreien nach Sauerstoff. Keuchend falle ich zum zweiten Mal in wenigen Augenblicken auf die Knie, aber diesmal mit Absicht. Zwischen zerknüllten Tüten und Zeug dass ich nicht brauche finde ich in meinem Rucksack genau das was ich gehofft habe niemals zu brauchen:

Ein Fischmesser.

Ich ziehe die scharfe leicht gebogene Klinge aus der ledernen mit Fischgräten geprägten Scheide und dann stürze ich mich zurück in die Fluten. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich will gleiches mit gleichem vergelten.
 

Majan

Kalte kräftige Finger bohren sich in mein taubes Fleisch, tasten sich daran herunter, und dann…dann bin ich frei! Mit hektischen Schwimmzügen eile ich dem trüben Licht entgegen welches durch das vollkommene Chaos sickert und sauge keine Sekunde zu früh frischen Sauerstoff in meine schmerzende Brust. Ich hole keuchend Luft. So knapp ist es noch nie gewesen.

Neben mir bricht ein weiterer Kopf durch das aufgewühlte Wasser und ich blicke direkt in Louris irritierend dunkle Augen.

„Was…?“ Die Worte perlen mir atemlos von den Lippen, aber anstatt einer verbalen Antwort lässt mein unverhoffter Retter ein großes gebogenes Messer über dem Wasserspiegel auftauchen, und ich verstehe. Er hat das Monster verletzt.

Und damit erst so richtig sauer gemacht.
 

"Zum Steg!"

Der ist jetzt deutlich näher als das Ufer, und auch wenn ich der angefressenen halb vermoderten Leiter die da rauf führt nicht traue, eine andere Wahl haben wir nicht.

Ich erreiche sie vor Louri; selbst ohne Flosse bin ich ein überdurchschnittlich guter Schwimmer, und tatsächlich hält mich das schwammige glitschige mit Algen besetzte Holz, ich breche nicht eine Sprosse ab, und auch Louri schafft es.

Fast.

Als der Kraken ihn packt erreicht die altersschwache Leiter ihre Belastungsgrenze. Ich höre Holz splittern und ein erstickten Keuchen das vielleicht ein Schrei hätte werden sollen, aber dafür bleibt keine Zeit. Louri verschwindet mit einem lauten Platschen im Wasser, und unter der strudelnden Oberfläche sehe ich so viele Tentakeln dass mir ganz anders wird. Eiskalte Angst erfasst mich, einen winzigen Augenblick lang bin ich vor Entsetzen erstarrt, aber eine Wahl habe ich nicht.

Und dann tu ich das einzig...vielleicht nicht unbedingt das einzig richtige, aber es ist das einzige was uns eine Chance gibt.
 

Mein Fischschwanz peitscht hektisch durchs Wasser als ich versuche mich zwischen den lachhaft träge herumgleitenden Tentakeln und tausenden wirbelnden Luftblasen in der trüben Brühe zu orientieren; der Körper des Kraken ist nicht zu erkennen, aber: ich sehe Louri.

Und er kämpft.

So schnell ich kann tauche ich zu ihm herunter, versuche den Tentakeln auszuweichen die meinen Schuppen zwar nichts anhaben können, meiner nackten Haut aber schon. Ihr Gift ist noch nicht einmal das schlimmste. Es ist nicht tödlich, nur schmerzhaft. Viel gefährlicher ist die Kraft die die Dinger entwickeln wenn sie sich erst einmal um einen geschlungen haben.

Louri erkennt mich.

Ganz kurz nur streifen mich seine in Todesangst weit aufgerissen Augen, dann krümmt er sich wieder zusammen, seine Hände tasten sich seine Beine hinab und dann sehe ich wo der Kraken ihn gepackt hält. Um Louris Knöchel liegen dicke, schlammig rote Muskelstränge und wickeln sich stetig weiter hinauf.

Nicht mehr lange und Louri wird der Sauerstoff ausgehen.

Ich packe sein Handgelenk und halte es fest, auch wenn die Sicht echt trübe ist kann ich das Messer erkennen mit dem er ziellos auf seine Fesseln einhackt, und als ich meine Finger zwischen seine schiebe versteht er den Wink.

Im Gegensatz zu ihm laufe ich nicht Gefahr zu ertrinken.

Im Bruchteil von Sekunden habe ich Louris Fußknöchel freigeschnitten.

Zuckende Tentakelstücke treiben um uns herum während schwarzes Blut dem Wasser einen metallischen Geschmack verleiht. Ich schmecke ihn auf meiner Zunge, er füllt meine Lungen und jetzt halte ich doch die Luft an. Das Zeug bringt mich zum Würgen.

Fast gleichzeitig tauchen Louri und ich an der Oberfläche auf; er schnappt nach Luft, ich spucke einen Schwall verfärbtes Wasser aus.

"Schnell!" Meine Stimme klingt kratzig, ich muss husten. Diesen Geschmack werde ich wohl nie wieder los.

Unter uns gerät der See erneut in Aufruhr, und ich springe noch einmal über meinen Schatten. Niemals zuvor habe ich in dieser Gestalt Kontakt zu einem Menschen gehabt, und noch nie...habe ich mich von einem berühren lassen.

"Halt dich an mir fest! Wir müssen aus dem Wasser raus!"

Und Louri gehorcht. Überraschender weiße sofort.

Vom kalten Seewasser ausgekühlte, mit Gänsehaut bedeckte Arme schlingen sich um meinen Hals, ich warte noch einen Moment bis ich sicher bin dass der Kerl sich richtig festhält, und dann schwimme ich los. An Land hätte ich keine Chance gehabt ihn von der Stelle zu bewegen, Louri dürfte Dank seiner Körpergröße und Muskelmasse fast das doppelte von mir wiegen, aber hier im Wasser? Hier bin ich in meinem Element.

Es dauert nur wenige Augenblicke, ich spüre Louris jagenden Herzschlag an meinem Rücken und seinen heißen Atem an meinem Ohr, und dann greifen meine Hände nach dem rettenden Ufer. Kleine Steine und Sandkörner lösen sich unter meinen Fingern und brechen ins Wasser, Louri lässt mich los, und dann ist er an mir vorbei und so gut wie in Sicherheit. Aber anstatt die letzten nötigen Meter zwischen sich und das Monstrum im See zu bringen greift er nach mir, seine Finger umschließen meinen Oberarme, und dann zieht er mich zu sich heran, raus aus dem Wasser, und ich spüre wie meine Knie den harten Uferkies berühren bevor ich auf die Füße komme und zusammen mit ihm bis hinauf zu den ersten Ausläufern sonnenverbrannten Grases stolpere.

Die Hitze der Nachmittagssonne trifft mich wie ein Schlag. Mein Herz rast, und ich wage es erst stehen zu bleiben als wir eine violett-blau-karierte Decke erreichen auf der ein zusammen geknautschter schwarzer Rucksack und eine halb leere Flasche Cola liegen.

Und drei knittrige Papiertüten.

Ich gehe in die Knie und versuche meine Atmung zu normalisieren, die Finger in den weichen Stoff der Picknickdecke gekrallt. Verdammt fühlt sich das gut an.
 

Louri

Wir haben es geschafft.

Wir sind gerettet gerettet gerettet. Und ich bin froh dass mir die Luft gerade so zum notwendigen Atemholen reicht und noch nicht zum Sprechen weil ich dann garantiert genauso überfordert herum stammeln würde wie ich es gerade in Gedanken mache.

Neben mir fällt Majan auf die Decke; ich kann ihn ebenfalls nach Sauerstoff und seine Fassung ringen sehen, und ich wende schnell den Blick ab. Er ist fast gestorben. WIR sind fast gestorben! Und ich habe zum ersten Mal in meinem Leben einen Meermenschen gesehen und es ist nicht...abstoßend gewesen. Im Gegenteil. Es war...es ist...beeindruckend. Faszinierend. Ich will das noch Mal!

Aber bevor ich mich weiter in den mit Sicherheit durch den Sauerstoffmangel in meinem Gehirn verursachten wirren Gedanken verirren kann zieht eine Bewegung auf dem See meine Aufmerksamkeit auf sich, und ich wende mich widerwillig dem Ort meiner zukünftigen Alpträume zu.

Das, ja das, das ist abstoßend.
 

Majan

"Sieh nur."

Louri packt mich am Arm, und ich folge seinem Blick hinunter zum See. Es ist still, aber das Wasser brodelt als würde es kochen und schlägt sanfte Wellen die sich am Ufer brechen.

Der Kraken wird es nicht wagen sich zu zeigen. Genauso wenig wie wir Meermenschen es normalerweise tun.

Während ich darüber nachdenke was und ob ich etwas sagen soll hat Louri sich bereits abgewandt und beginnt sehr hektisch Papiertüten in seinen Rucksack zu stopfen, und der Geruch nach Gras und Schokolade dringt in meine Nase. Viel besser als der Geschmack nach Blut und dreckigem Seewasser.

"Kann ich einen von deinen Keksen haben?" frage ich, und Louri sieht mich überrascht an, die Hand immer noch in seinem Rucksack. Dann verzieht er das Gesicht, und sein Blick huscht hinaus auf den See.

"Besser nicht. Ich glaube, der letzte den ich gegessen habe ist schlecht gewesen."
 

"Ähm, das da ist gerade wirklich passiert. Das lag nicht an deinen Drogen." stelle ich klar und starre Louri aus halb zusammen gekniffenen Augen an. Ist er high?

Nein.

Er seufzt.

"Ich weiß. Das war Ironie."

Oh.

Wie peinlich.

Da Louri damit aufhört seine nicht ganz legalen Backwaren in seinen Rucksack zu stopfen und mir stattdessen ins Gesicht und auf meine schamesroten Wangen starrt gebe ich vor erneut den jetzt wieder ruhig vor uns liegenden See zu beobachten; nichts deutet mehr darauf hin dass wir in eben jenem gerade noch um unser verdammtes Leben gekämpft haben.

"Ich gehe hier ziemlich oft schwimmen. Warum hat mich das...was auch immer das da gewesen ist noch nie vorher angegriffen? Oder irgendjemanden sonst?"

Egal welche spontan entstandenen Sympathien Louri aufgrund meiner Rettungsaktion gerade angefangen hat für mich zu hegen, ich werde sie zunichte machen. Anlügen ist eine Option, aber keine die ich gegenüber MEINEM Retter wählen werde. Auch wenn mir eine Ausrede schon auf der Zunge tanzt.

Ich schlucke sie herunter und reibe mir mit dem Handrücken über die Stirn.

"Das liegt daran dass ein Kraken nur in seinem Revier jagt. Und er jagt keine Menschen, er jagt nur...welche wie mich."

Da, jetzt ist es raus. Und es benötigt keinen Einstein um daraus den einzig logischen Schluss zu ziehen.

Gänsehaut kriecht über meinen Körper und ich wage es Louri ganz kurz ins Gesicht zu sehen bevor ich den Blick auf meine Hände und die alte Decke richte. Erkenntnis. In seinen Augen liegt Erkenntnis und gleich, gleich ist es so weit. Gleich wird Louri mich anschreien, mich mit Abscheu und Wut im Blick ansehen und mich zum Teufel (oder zurück in den See) jagen. Aber...mir wird bewusst dass wir immer noch echt nah beieinander auf der Decke sitzen, und ich kann Louri riechen; nicht nur der Geruch nach Seewasser und nasser Haut sondern auch...Sonnenmilch und etwas anderes, männliches, seltsam frisches, etwas das nicht sein Deo ist.

Verdammt, ich möchte an ihm schnuppern. Und das ist wirklich mehr als peinlich.

Louri berührt mich noch einmal am Arm.
 

Louri

Der Kerl sieht mich jetzt plötzlich so an als wäre ICH das Monster dass ihn fressen möchte; und zwar nicht auf die gute Art und Weise. Also, ihr wisst schon, ich will ihn...

Unter meinen Fingerspitzen bildet sich Gänsehaut, ich kann sehen wie sich die feinen blonden Härchen auf Majans Arm aufstellen und ich hoffe einfach Mal dass das nicht daran liegt weil er von mir nicht angefasst werden möchte.

Ich möchte ihn nämlich anfassen.

Ich möchte ihn ganz dringend anfassen.

Nicht eine Sekunde kommt mir in den Sinn dass das was da im See passiert ist seine Schuld gewesen sein könnte. Aber er denkt das offensichtlich. Ich gehe auf Nummer sicher.

"Bist du deswegen geblieben und hast mich weggeschickt? Weil es dich dann angreift und nicht mich?" frage ich und Majan sieht mich verblüfft an. Meine Hand liegt immer noch auf seinem Arm, die Muskeln unter der vom Seewasser noch kühlen Haut sind warm.

"Es wollte von Anfang an nur mich! Du warst einfach nur zufällig da!"

Jetzt klingt er verärgert. Er will seinen Arm wegziehen, aber ich halte ihn fest. Auf seinen Wangen bilden sich feine rote Flecken.

"Ich bin dir hinterher geschwommen." stelle ich klar. Majan runzelt die Stirn.

"Warum?"

"Um dich zu beleidigen?"

Aha; jetzt. Es vergeht nur ein winziger Augenblick, aber dann zucken Majans Mundwinkel. Ich hab ihn. Er grinst. Er grinst wegen mir. Und das bringt mein Herz um so vieles mehr aus dem Takt als es jeder Kampf mit einem Seeungeheuer jemals könnte.
 

Ende



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  LammL
2021-12-25T06:29:08+00:00 25.12.2021 07:29
Der Titel ist etwas Zweideutig ;-)
Das mit den Keksen was witzig und das Seeungeheuer hat mich echt überrascht.
Gute Idee.
Frohe Weihnachten ^.^
Von:  _Delacroix_
2021-12-22T18:07:13+00:00 22.12.2021 19:07
Hi.^^
Ich gebe zu, bevor ich hier reingeschneit bin, hab ich den Titel der Fic angestarrt und mir doch ein paar Sorgen gemacht. Letztlich haben mich die Tentakel dann aber doch davon überzeugt, dass ich hier reinlesen muss. Und ich muss sagen, ich wurde nicht enttäuscht. Die Geschichte ist wirklich niedlich (und ziemlich fischig^^) und hat irgendwie deutlich mehr Action, als ich ursprünglich angenommen hatte.
Gefällt mir gut.
Ich mochte auch die Idee mit den Haschkeksen. Auf die wäre ich bei dem Stichwort ja im Leben nicht gekommen.
Wirklich prima Idee.^^


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