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Letzte Wiederkehr

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II


 

II

Atem zog die Knie an seine Brust und versuchte, noch eine Weile an nichts zu denken. Trotz der warmen Bettdecke, die man ihm gegeben hatte, fror er entsetzlich. Eine schwache Herbstsonne kroch zum Fenster herein und sagte ihm, dass Ra mit seiner Sonnenbarke aus der Unterwelt zurück war. Ein neuer Tag war angebrochen.
 

Geschlafen hatte er nur wenig, zu ungewohnt war die fremde Umgebung gewesen. Er dachte an sein eigenes Bett, von dem er sich nicht einmal sicher war, ob es noch irgendwo da draußen existierte. An all die vertrauten Personen, von denen er nun keine erreichen konnte. Er dachte an Seth, der sicher gewusst hätte, was in einer solchen Lage zu tun war. Heimweh überkam ihn heftig und lähmte ihn für einige Minuten. Dann schweiften seine Gedanken zu Seto Kaiba, der Seth so verblüffend ähnlichsah. Bereits während des Essens gestern hatte er ihm immer wieder faszinierte und verstohlene Blicke zugeworfen. Doch auch wenn er genauso stark und unerschütterlich wirkte wie sein wichtigster Beamter, war er doch weniger beständig und noch vorlauter und impulsiver als dieser – falls das überhaupt möglich war. Dennoch: Er war das einzige, das ihm zumindest das Gefühl gab, noch eine Verbindung zu dem Leben zu haben, das er gestern noch geführt hatte. Und alleine wegen seiner Ähnlichkeit zu Hohepriester Seth fiel es Atem schwer, ihm nicht instinktiv zu trauen.
 

Schließlich schlug er widerstrebend die Decke zurück und stand auf. Er ging zum Kleiderschrank und öffnete ihn. Mokuba hatte fürsorglich dafür gesorgt, dass ihm eine Auswahl von Kleidung gebracht worden war, die dem Klima und der Mode dieser Zeit und dieses Reiches mehr entsprach als sein herrschaftliches Gewand. „Wir sollten lieber dafür sorgen, dass du nicht frierst – und nicht auffällst. Die Leute denken sonst, du gehörst zum Theater oder wärst ein fanatischer Cosplayer oder so“, hatte er gegrinst.
 

Atem besah sich die Kleidung und entschied sich für eine dunkle Jeans, ein ärmelloses schwarzes Shirt und einen pflaumefarbenen Blazer. Prüfend betrachtete er sich in dem mysteriösen Glas, in dem sein Ebenbild gefangen war. Dieses dämonische Gerät hatte ihn bereits am gestrigen Tag einen Riesenschrecken eingejagt, bevor Mokuba ihm erklärt hatte, dass lediglich das Licht und die Beschaffenheit des Glases dafür sorgten, dass er sich in der Scheibe sehen konnte.
 

Es war eine völlig neue Erfahrung für ihn gewesen, sich selbst zu betrachten. Seine Haut war dunkler als die von Mokuba und Seto, aber er hatte bereits wahrgenommen, dass sie etwas blasser geworden war, seit er hier angekommen war. Für jemanden, der ihn nicht kannte, musste es wirken, als sei lediglich eines seiner Elternteile in einem Reich jenseits dieses „Japan“ verwurzelt. Nun, da er seine Statussymbole nicht mehr tragen durfte, spürte er mehr denn je, dass er hier in dieser Welt keinerlei Gewalt hatte, dass er seines festen Platzes in der Gesellschaft beraubt worden war. Er wusste nicht, wer und was er hier überhaupt noch war. Um sich nicht so leer zu fühlen, fügte er seinem Ensemble zuletzt doch noch seine Ohrringe und einen goldenen Armreif am rechten Handgelenk hinzu.
 

***

Nachdem Atem mit Mokuba gefrühstückt hatte, der ihm auch gleich ein Kompliment für seinen geschmackvollen Kleidngsstil gemacht hatte, war der jüngere Kaiba zur Schule aufgebrochen. Auch Yugi und seine Freunde waren am Vormittag im Unterricht. Da sie in ihrem Abschlussjahr waren, brauchten sie jede Stunde, um sich auf die Prüfungen vorzubereiten. Gleich nach dem Frühstück hatte die kleinere Version des Pharaos angerufen und sich nach diesem erkundigt. Sobald die Schule zu Ende war, wollte Yugi mit den anderen herkommen und nach ihm sehen. Atem war es gleich, er kannte keinen von ihnen wirklich.
 

Nun saß er auf seinem Bett in dem Gästezimmer, wo man ihn untergebracht hatte, und vertrieb sich die Zeit damit, sich interessiert die zahlreichen Spielkarten zu betrachten, die Kaiba ihm bereitwillig überlassen hatte. Da der Konzernchef arbeiten musste, musste der geplante Unterricht in Duel Monsters bis zum Abend warten. Auch wenn er die Regeln des Spiels noch nicht beherrschte, so gefielen ihm die meisten Bilder auf den Karten doch gut. Einige davon erkannte er sogar aus den Schattenspielen wieder, andere amüsierten oder befremdeten ihn. Obwohl er unbegreiflicherweise die Sprache dieses Landes verstand und auch von anderen verstanden wurde, konnte er die kurzen Texte unter den Graphiken nicht lesen.
 

Gerade hatte er einen Stapel mit Monstern vom Typ „Maschine“ und „Psi“ weggelegt, mit denen er nichts anfangen konnte, als ihn ein seltsames Gefühl überkam – vertraut und doch alarmierend. Sein Blick richtete sich auf einen verdeckten Kartenstapel. Zielsicher nahm er ihn auf und besah sich die oberste Karte. Von ihr schien eine Art Glühen auszugehen und sie pulsierte förmlich. Anders als bei den anderen Spielkarten sprang ihm hier der kleingedruckte Text förmlich ins Gesicht, als stünde er nicht nur auf dem bedruckten Papier, sondern direkt vor seinem geistigen Auge. Und zu seiner Verblüffung konnte er die Worte auch lesen. Als er sich fragte, warum das so war, wurde ihm plötzlich klar, dass es sich hier nicht um die Zeichen der Landessprache, sondern um Hieroglyphen handelte. „Ritual der Schatten“ stand über einer düsteren Szenerie: Auf dem Wüstensand stand ein Tongefäß, in das eine Hand ein Pulver streute. Am Himmel darüber wurde die Sonne durch einen runden Schatten verdeckt. Was Atem noch nicht wusste: Bei der Karte, die er in Händen hielt, handelte es sich um eine Ritual-Zauberkarte.
 

***

Seto Kaiba saß in seinem Arbeitszimmer und versuchte derweil, sich auf ganz andere Zeichen zu konzentrieren, nämlich die in den E-Mails auf seinem Bildschirm. Es war ein seltsames Gefühl, dass der Pharao nun hier lebte – unter seinem Dach – und sich in einem der Zimmer auf demselben Stockwerk aufhielt und er selbst dennoch hier saß und arbeitete, so wie immer. So hatte er sich die Zeit nach seiner Wiederbelebung nicht vorgestellt – dann wiederum musste er sich eingestehen, dass seine Vorstellungskraft bisher nicht über die Aussicht auf einen Sieg hinausgegangen war. Er ertappte sich dabei, wie er sich fragte, was er sich eigentlich dabei gedacht hatte, so blauäugig diesen ägyptischen Geist wieder hierherzuholen, ohne zu wissen, wie er ihn nach ihrem Duell wieder loswurde. Aber es wäre ihm schon etwas eingefallen, schließlich war er genial … ein System, um Dimensionsreisen zu unternehmen zum Beispiel, wie dieser Diva es genutzt hatte.
 

Die Sache mit der Konzentration wollte ihm dennoch nicht so recht gelingen. Er war ein Gewohnheitstier und diese Situation war alles andere als gewöhnlich. Dennoch wunderte er sich darüber, dass die Gegenwart des Pharaos nicht befremdlicher für ihn war. Den gesamten gestrigen Tag über hatte er sich daran versucht, die jüngere Version seines Erzrivalen, die so vollkommen losgelöst von diesem Knilch Yugi Muto existierte, zu entschlüsseln. Er hatte sich zusammenreißen müssen, um ihn nicht unverblümt anzustarren, als sie einander am Tisch gegenübersaßen. Der Pharao wirkte so in sich gekehrt und ein wenig traurig, aber dennoch selbstbewusst und stark in seiner Persönlichkeit. Und da war noch etwas anderes: Er löste ein ungewohnt vertrautes Gefühl in Seto aus, und das konnte er sich nun wirklich nicht erklären.
 

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zu seinem Arbeitszimmer und riss ihn aus seinen Gedanken. Betroffen stellte er fest, dass seine Hände die ganze Zeit über auf der Tastatur gelegen und sich nicht gerührt hatten. Für wie lange war das so gegangen? Sein Blick schnellte zur Tür und da war es schon wieder: Yugis anderes Ich – oder derjenige, der es einmal sein würde – trat ein und es fühlte sich fremd und vertraut zugleich an, als er mit langsamen, aber sicheren Schritten auf seinen Schreibtisch zukam und ihn etwas zurückhaltend anlächelte. Seto bemerkte, dass er sich umgezogen hatte. Er wirkte nun schon eher wie der Pharao, den er bisher kennengelernt hatte, lediglich sein Teint war dunkler und seine Augen von einem tiefen Rotviolett.
 

„Kann ich dir mit irgendwas helfen?“, fragte Seto steif und ein wenig abweisend. „Vielleicht“, sagte Atem und fügte dann hinzu, „ich hoffe, ich störe nicht, aber ich bin nun schon drei Mal über das ganze Gelände gelaufen und in meinem Zimmer gibt es auch nichts mehr Neues zu entdecken.“ „Warum schaust du nicht etwas Netsphinx?“, schlug Seto ohne viel Verständnis vor. „Wie bitte?“, fragte Atem höflich. Seto schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Aber Mokuba kommt sicher bald nach Hause.“ Atem legte den Kopf schief und funkelte Seto ein wenig herausfordernd an. „Warst du es nicht, der mich von den Toten zurückholen wollte?“ „Das ist korrekt. Und weiter?“, fragte Seto, ohne zu verstehen. „Und jetzt schiebst du mich an deinen kleinen Bruder ab, statt dich mit mir zu befassen?“ Seto biss die Zähne zusammen und gab ein murrendes Geräusch von sich.
 

Atem hielt ihm die mysteriöse Karte, zusammen mit einer weiteren, unter die Nase. Die zweite Karte war dunkelblau und zeigte eine finstere Kreatur, die sich gerade aus den Schatten schälte. „Ich hab mich gefragt, was es hiermit auf sich hat“, sagte er neugierig. Seto nahm die Karten entgegen und betrachtete sie kurz, aber abgesehen von der Tatsache, dass er sie noch nie zuvor gesehen hatte (was ihn verwunderte, da er so ziemlich jede Karte im Spiel und vor allem in seinem Besitz kannte), konnte er nichts Ungewöhnliches feststellen. Er überflog die Texte und gab sie Atem zurück „Was soll damit sein?“, fragte er desinteressiert. Atem zog die Stirn kraus. „Na, warum ist der Text auf diesen beiden Karten in altägyptischen Hieroglyphen verfasst?“, hakte er ungeduldig nach. „Oh“, machte Seto. Wieder starrte er auf die Karten. „Das … weiß ich nicht“, gab er offen zu. Es war nicht nur das, die Wahrheit war: Es war ihm nicht einmal aufgefallen. Denn er hatte keine Probleme gehabt, den Text zu lesen. Es war wie damals, beim Geflügelten Drachen des Ra.
 

Er widerstand dem Impuls, sich die Schläfen zu reiben. Oh, wie er es hasste, wenn seine Gedanken zu diesen verworrenen Themen abschweiften. Dennoch hatte er sich ihnen zum Teil stellen müssen, um überhaupt die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, den Pharao zurückzuholen, und sie dann in die Tat umzusetzen. Er hatte sich damit abgefunden, dass es Dinge gab, die existierten, auch wenn sie einen Bruch in seinem logischen Denken darstellten. Wenn er jetzt an die Ereignisse in Battle City zurückdachte, dann waren sie allerdings entrückt, als habe er sie nur irgendwann einmal in einem alten Film gesehen. Das Gefühl, das er damit verband, war jedoch geblieben.
 

Er spürte, wie Atems Blick forschend auf ihm ruhte. „Ich will dich jetzt mal was fragen, Pharao“, sagte er barsch, „gestern hat man dir versucht, weiszumachen, dass du 3000 Jahre in die Zukunft katapultiert worden bist. So, als wäre das etwas ganz Alltägliches. Du bist doch sicher ein cleveres Kerlchen, wenn man dir zutraut, ein ganzes Land zu regieren. Wie kommt es dann, dass du all das einfach so hinnimmst, ohne es zu hinterfragen?“ Atem schmunzelte. „Vielleicht liegt es daran“, sagte er nachdenklich, „dass mir meine Rolle in dieser Welt von den Göttern zugewiesen wurde. Alles, was ich bin, war von Anfang an vorherbestimmt. Ich bin es einfach gewohnt, hinzunehmen, dass das Schicksal Dinge mit mir vorhat, die ich nicht begreifen kann und auch gar nicht muss. Außerdem ist man wo ich herkomme offen für die Magie, die allen Ereignissen unter diesem Himmel innewohnt. Ich kenne eure Kultur zu wenig, um voreilige Schlüsse zu ziehen, aber mir scheint es, als wäre euch diese Eigenschaft im Laufe der Jahrhunderte abgegangen – oder nie dagewesen.“
 

Seto überraschte es selbst, dass er für diese Erklärung keine abfällige Antwort parat hatte. Er nickte nur. Atem besah sich derweil den überladenen Schreibtisch. Dann seufzte er schwer. „Das hier sieht meinem eigenen Arbeitsalltag gar nicht mal unähnlich. Und jetzt muss ich vor Langeweile Löcher in die Luft starren. Kann ich dir nicht irgendwie zur Hand gehen?“
 

***

Nachdem Bakura einen Tag lang ziellos durch Domino geirrt war und die Nacht auf einer Parkbank verbracht hatte, begann ihn langsam, aber sicher der Hunger zu quälen. Die Sonne stand bereits wieder hoch am Himmel und bald hörte man eine Glocke läuten, woraufhin viele junge Menschen aus einem großen Haus schwärmten und sich überall in den Straßen verteilten.
 

Vor einem Gebäude, aus dem ein köstlicher Duft kroch, blieb er stehen und reckte die Nase in die Höhe. Ein Nahrungsmittel, das er noch nie zuvor gesehen hatte, prangte als Schild darüber. Es sah aus wie zwei Fladen mit einem Stück Fleisch und Gemüse in der Mitte. Wie hypnotisiert bewegte er sich auf den Eingang zu, als er plötzlich gegen jemanden prallte.
 

Der Junge mit dem weißen schulterlangen Haar, der ihm gegenüberstand, blinzelte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Er musterte Bakura von oben bis unten, dann wich er ängstlich zurück, der blanke Schrecken spiegelte sich in seinen großen, rehbraunen Augen. „Ich mag deinen Stil“, kommentierte Bakura trocken. Und dann: „Was glotzt du denn so blöd? Du schaust mich an, als hättest du ein Gespenst gesehen. Dabei siehst du selbst aus wie eines.“
 

Endlich kam wieder Leben in den jungen Mann und er zog Bakura energisch auf die Seite. „Was … zur Hölle …? Wieso bist du hier?“, fragte er ihn in scharfem, eindringlichem Ton. „Sollten wir uns kennen?“, fragte Bakura zurück, „Haben wir vielleicht mal bei nem Raub zusammengearbeitet oder so? Falls ja, muss ich dich enttäuschen. Ich bin ganz schlecht mit Namen und Gesichtern. Obwohl: Deins sollte mir in Erinnerung geblieben sein.“ Ryou wirkte nach wie vor entgeistert, doch nach den Ereignissen mit Atem gestern zählte er eins und eins zusammen. „Du erinnerst dich also nicht, oder? An mich? An die Ereignisse in Domino … an Zorc?“ „Zorc? Wer ist das nun wieder? Ist das der Typ vom Basar, dem ich immer die vorzüglichen Datteln klaue?“
 

Ryou seufzte. „Ach, vergiss es. Okay … am besten bringe ich dich erst einmal zu Yugi und den anderen. Du scheinst noch recht harmlos zu sein … Das hoffe ich zumindest.“ „Harmlos? Wen nennst du hier harmlos? Ich bin ein gefürchteter …“ Ryou ignorierte Bakuras empörtes Gezeter und war in Gedanken bereits ganz woanders. Wenn Atem und Bakura beide hier waren, dann konnte das hier nicht allein Kaibas Werk sein. Dann musste mehr hinter alldem stecken. „Hey! Hey, du! Kopie von mir“, machte Bakura ihn auf sich aufmerksam, „weißt du zufällig, wie man das da bekommt?“, er zeigte auf das große Schild über dem Burger-World-Gebäude und leckte sich sehnsüchtig die Lippen.


 


 


 


 


 


 


 


 



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