Zum Inhalt der Seite

Mein ist die Rache

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Es war bereits spät am Nachmittag, als Aramis den Innenhof betrat und das metallische Scheppern kollidierender Klingen sie begrüßte. Durch ein geöffnetes Fenster in der Halle zu ihrer rechten drangen laute Rufe der Begeisterung, vermengt mit dumpfem Poltern und Stöhnen. Gerade wollte sie die Stufen zum Haupthaus empor steigen, als jemand ihren Namen rief. Es war D'Artagnan, der ihr aus dem Halbdunkel hinter der Fensteröffnung zuwinkte und mit überschwänglichen Gesten signalisierte, dass sie zu ihm kommen solle. Widerwillig machte sie kehrt. Beim Betreten der Halle schlug Aramis der dumpfe Geruch von schwitzenden Leibern und frisch gefettetem Leder entgegen. "Grundgütiger!", fluchte sie mehr zu sich selbst als zu jemand anderem. D'Artagnan quittierte es mit einem breiten Grinsen, bevor er sich wieder dem Schauspiel zuwendete, dass alle Anwesenden so sehr in Aufruhr versetzte. In der Mitte des großen Raumes drückte Porthos gerade unter lautstarkem Jubel einen anderen Musketier mit all seiner Körperfülle auf den Boden. Beide waren nur mit dem nötigsten bekleidet. Wer der Kontrahent des Kolosses war, konnte Aramis auf den ersten Blick nicht erkennen, wohl aber, dass der Kampf denkbar ungleich war. Während Porthos kaum schwitze, glänzte der unter ihm liegende Körper wie frisch gebadet. Schweres Schnaufen entwich ihm. "Keine große Überraschung", kommentierte D'Artagnan das Ergebnis des Kampfes. Er selbst hatte sich bereits der meisten Kleider entledigt und tänzelte aufgeregt von einem Bein auf das andere. "Wie steht es mit dir, Aramis? Lust auf einen kleinen Ringkampf?"

"Du hättest ja doch keine Chance", antwortete sie lachend. Dann sah sie sich genauer um und ihr Gesicht wurde ernster. Es hatten sich ungewöhnlich viele Musketiere in der Halle versammelt. "Was macht ihr alle hier?"

"Wir schmusen ein wenig, wenn's recht ist!" Porthos reichte seinem völlig erschöpften Gegner die Hand. Der konnte seine Beine nur mit Mühe dazu bringen, ihn zu tragen. Um sie herum herrschte Gelächter. Doch Aramis kannte ihn zu gut, um nicht einen Anflug von Wut in seiner Stimme zu entdecken.

" Wo steckt Athos?" Ein missmutiges Raunen erhob sich und Aramis verstand sofort, dass es einer dieser Tage war, an denen ihr Freund seinen Rang innerhalb der Kompanie zum Ausdruck gebracht und sie anscheinend großzügig zurechtgewiesen hatte.

"Nicht hier. Tut uns Leid. Hätte dir aber bestimmt gefallen, hm?" Der Hüne boxte ihr freundschaftlich in die Schulter. Er war frustriert und hoffte wenigstens auf einen verbalen Schlagabtausch, um sich Luft zu machen. Aber er wurde enttäuscht.

"Als ob ich euch nicht schon ein Dutzend Mal ringen gesehen hätte," erwiderte Aramis nüchtern. Sie machte eine kurze, mit Bedacht gesetzte Pause und fuhr schließlich fort: "Wo steckt er denn nun?"

"Im Vorzimmer. Hat uns alle rausgeworfen, weil er über irgendetwas nachdenken wollte. Ich war kurz davor, mein Würfelspiel zu gewinnen. Nicht wahr, Joel?" Er grinste den Musketier an, der sich immer noch schwer atmend von seiner Niederlage erholte.

"Verstehe. Aber du kennst ihn. Ich bin mir sicher, dass es dafür einen guten Grund gibt. Nimm es ihm nicht übel, ja?" Aramis klopfte dem Koloss aufmunternd auf die Schulter und hastete zurück auf den Hof.

"Wie könnte ich?" hörte sie ihn noch durch das Fenster rufen.
 

Ihr Klopfen wurde nicht sofort beantwortet. Mit jedem Atemzug, den sie vor der Tür stehend nahm, wuchs die Anspannung in ihrer Magengegend. Seit Stunden hatte sie darauf gewartet, ihn wieder zu sehen. Hatte sie diesem Moment entgegengefiebert. Und jetzt war es plötzlich so anders, als sie es erwartet hatte. Hinter dieser Tür würde sie mit ihm allein sein. Das war mehr als sie erhofft hatte. Sie würden zum ersten Mal seit letzter Nacht offen mit einander reden können. Aber diese Ungestörtheit war riskant. Sie durften sich nicht zu sicher fühlen. Sich nicht zu nahe kommen. Nicht auszudenken, wenn jemand sie überraschen würde. Bevor sie sich jedoch an diesem Gedanken festbeißen konnte, erlöste sie seine Stimme. Zögerlich öffnete sie die Tür. Sie fand Athos vor einem Haufen loser Blätter sitzend, mit der linken Hand eine oder mehrere Textstellen markierend und mit der rechten Hand Notizen verfassend. Für einen Moment beobachtete Aramis ihn schweigend. Seine Miene war finster, die federführende Hand wirkte angespannt. Jemand hatte ihm ein Glas, eine Flasche Wein und etwas zu essen bereitgestellt, aber nichts davon hatte er angerührt. Und er hatte noch immer nicht aufgeblick, um zu sehen, wer eingetreten war.

"Ich habe gehört, du hättest schlechte Laune?" sagte sie in die Stille und endlich sah er von seinen Papieren auf. Ein verhaltenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

"Jetzt nicht mehr."

Aramis' Anspannung fiel mit einem Schlag von ihr ab. Sie setzte sich neben ihn auf einen Stuhl, etwas näher nur, als sie es am Vortag getan hätte. Sie streckte die Beine aus, überkreuzte sie locker und stützte sich mit den Händen auf den Rand der Sitzfläche. Ihre Augen funkelten schelmisch. Alles an ihr wirkte plötzlich ungewohnt unbeschwert, ja fast schon mädchenhaft, und der Anblick machte ihn schier verrückt. Wie schaffte diese Frau es auf so selbstverständliche Weise, Disziplin, Verstand, Unschuld und Verführung in einer Person zu vereinen? Seine trüben Gedanken waren für den Moment vergessen. Stattdessen wollte er sie augenblicklich küssen. Nur ganz sachte. Ganz kurz. So, dass niemand etwas davon mitbekommen würde. Um sich selbst zu bremsen bemerkte er: "Du hast deinen Mantel heute morgen bei mir vergessen."

"Na sowas" lachte Aramis leise. Wie erwartet war sie nicht überrascht. "Du hast doch nichts dagegen, wenn ich ihn heute Abend abhole?"

"Nicht im Geringsten." Seine Stimme klang ungewöhnlich sanft, selbst in ihren Ohren, und verursachte ihr ein angenehmes Kribbeln in der Brust. Für einen Moment saßen sie schweigend da und lächelten einander wissend an. Aramis konnte sich kaum satt sehen an den unzähligen Lachfältchen um seine Augen. Dennoch fand sie als Erste ihre Sprache wieder. "Was wolltest du heute morgen beim bayerischen Gesandten?"

"Wie...?" Athos zuckte zusammen. "Woher weißt du davon?"

"Lass es mich so sagen: du hast bei der Gräfin von Rosenbaum einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich weiß nicht, was du getan hast, aber sie hat in den höchsten Tönen von dir geschwärmt und wäre auch nicht abgeneigt, das Bett mit dir zu teilen. Sie war da recht eindeutig."

"Gott bewahre..."

"Ich kann es ihr nicht verübeln. Aber warte ab. Es wird noch besser. Sie hat um meine Erlaubnis gebeten, da jemand sie über gewisse Gerüchte informiert hat und sie meinen Zorn fürchtete."

"Himmel, sind die denn alle verrückt geworden? Was hast du ihr geantwortet?"

"Dass es nicht an mir ist, das zu entscheiden und ich mich auf keinen Fall in dein Liebesleben einmischen werde, natürlich."

"Zu spät!" antwortete er mit einem Grinsen. Der Wunsch, sie zu küssen, wurde immer größer.

"Aber, und das hat mich stutzig gemacht, sie bezeichnet dich als eine willkommene Abwechslung. Anscheinend hält sie sich zur Zeit überwiegend an das Haus- und Hofgesinde."

"Nicht unüblich, wenngleich ich so etwas eher von Männern höre. Bedienstete können sich schlecht entziehen und halten für gewöhnlich den Mund. Das deckt sich ungefähr mit dem, was der Gesandte selbst mir ungefragt aufgetischt hat. Anscheinend hat mindestens einer der Männer in seinem Haushalt schon einmal die volle Aufmerksamkeit der Gräfin genossen."

"Und das hat er einfach ausgeplaudert?"

"Ohne mit der Wimper zu zucken."

"Den Eheleuten fehlt es also augenscheinlich an Schamgefühl."

"Zu meinem Bedauern, ja!" Die respektlosen Worte des Grafen hallten noch in Athos' Ohren. Schon vor Stunden hatte er beschlossen, nicht mit ihr darüber zu sprechen. Doch jetzt, da sie vor ihm saß und sich über den respekt-, aber harmlosen Vorstoß der Gräfin amüsierte, traf ihn die unterschwellige Drohung des Grafen umso mehr.

"Du hast mir aber immer noch nicht erzählt, warum du überhaupt dort warst." Aramis rückte ihren Stuhl noch ein Stück näher an ihn heran und lehnte ihr Knie wie zufällig an seines.

"Monsieur Martel war heute morgen hier und hat mir erzählt, was seine Tochter ihm ihrerseits vor einiger Zeit erzählt hat. Wie es scheint, war einer von Monsieurs Kunden ihr unangenehm aufgefallen. Oder, um es mit den Worten des alten Mannes zu sagen: er hat ihr Angst gemacht. Und jetzt rate, wie der Name dieses Kunden lautet!" Aramis nickte stumm.

"An diesem Punkt noch von Zufällen zu sprechen erscheint mir naiv."

"So sehe ich das auch. Wie zu erwarten leugnet von Rosenbaum jedoch, das Mädchen je gesehen zu haben. Was er jedoch nicht leugnet ist, dass er eine Frau notfalls auch zu ihrem Glück zwingen würde, wenn ihm der Sinn danach steht." Augenblicklich verdunkelte sich Aramis' Blick.

"Du hast ihn aber nicht direkt mit Deinem Verdacht konfrontiert?"

"Natürlich nicht. Ich habe ihm ein Märchen von einem Mädchen erzählt, dass scheinbar mit den Juwelen ihres Herrn und einem Geliebten entflohen ist."

"Wie romantisch."

"Spotte nicht, Weib!" Er gab ihrem Knie einen kurzen, ermahnenden Schubs. "Zu meinem Bedauern hat er keinerlei Reaktion gezeigt."

"Und der dicke Tuchhändler? "

"D'Artagnan und Porthos haben Zweifel, dass der Tuchhändler irgendetwas damit zu tun hat. Er wird anscheinend langsam aber sicher von irgendetwas dahingerafft. Sie halten ihn sogar für zu schwach, um irgendjemanden umzubringen, der größer ist als ein Schoßhund. Wie ich es auch drehe und wende, ich lande immer wieder bei dem verfluchten Bayern." Athos' strich seine Papiere in zwei Stapeln zusammen und legte sie vor Aramis zurecht.

"Ich hätte nicht erwartet, dass dich das stört. Immerhin scheinst du ihn nicht sonderlich leiden zu können."

"Oh doch, unbedingt. Wie der Teufel das Weihwasser." Er schnaubte wütend. "Was mich daran stört ist, dass er zur Zeit des ersten Mordes vermutlich in einer Kutsche irgendwo zwischen Straßburg und Nancy durch die Gegend geschaukelt wurde. Offiziell ist er erst Wochen später in Paris eingetroffen." Er blätterte in dem rechten Stapel und deutete schließlich auf eine Notiz am unteren Rand eines Papiers. Aramis entging nicht, dass seine Handschrift kantiger war als gewöhnlich. Kleine Tintenspritzer zeugten von dem Druck, den er auf die Feder ausgeübt hatte, an manchen Stellen war das Papier dünner, nachdem er einzelne Wörter ausgekratzt hatte. "Er macht auf mich auch nicht den Eindruck, als würde er sich freiwillig die Hände schmutzig machen. Warum sollte er diese Mädchen umbringen, wo er sich doch im Recht wähnt. Er könnte sie genauso gut einfach laufen lassen, wenn er mit ihnen fertig ist." Müde schloss Athos die Augen und ließ sich tiefer in den Stuhl sinken. "Und selbst wenn wir seine Schuld beweisen könnten, was würde es bringen? Ein Graf von Sowieso bringt ein paar einfache Mädchen um. Wenn er es geschickt anstellt, passiert ihm in der Folge gar nichts." Er hörte das leise Rascheln ihrer Kleidung, bevor sie eine Hand in seinen Nacken legte und seine Schläfe küsste.

"Du solltest eine Pause machen", flüsterte sie. "Wann hast du zuletzt etwas gegessen?"

"Heute morgen, denke ich. Aber ich habe keinen Hunger. Betrinken könnte ich mich allerdings."

"Ich fürchte, dass kann ich nicht zulassen. Was hältst du davon: Dort unten wartet eine ganze Kompanie darauf, dich ihre Meinung zu ihrem Rausschmiss wissen zu lassen. Warum gesellst du dich nicht zu ihnen und lässt deine Wut über den Gesandten an ihnen aus. Unter fairen Bedingungen. Ich glaube, Porthos würde sich ganz besonders freuen. Er schien mir vorhin mit der vorhandenen Konkurrenz ein wenig unterfordert zu sein." Athos quittierte den Vorschlag mit einem Grinsen. Mit gesenkter Stimme erwiderte er:

"Ich bin mir nicht sicher, ob ich irgendjemandem heute meinen Rücken zeigen kann." Mit Belustigung beobachtete Athos, wie das Blut in die Wangen der jungen Frau schoss. Ihre Augen waren schreckgeweitet, die Hand in seinem Nacken zuckte plötzlich zurück.

"Entschuldige. Ich wollte dich nicht... " begann sie zu flüstern, aber er fiel ihr sanft ins Wort.

"Ich kann mir kein schöneres Kompliment vorstellen." Beiden war bewusst, dass sie sich in diesem Moment endgültig zu nah waren und jeder, der sie jetzt überrascht hätte, unweigerlich eins und eins zusammenzählen musste. Trotzdem machte keiner von ihnen Anstalten, den Abstand zu vergrößern.

"Ich muss dem Kapitän Bericht erstatten", durchbrach Aramis schließlich die Stille. "Wenn du möchtest, gehen wir danach zusammen etwas essen. Vielleicht hilft meine Gesellschaft deinem Appetit ja doch noch etwas auf die Sprünge." Sie ließ jede Vorsicht fahren und küsste ihn.

"Oh, da bin ich mir sicher", antwortete er mit einem Zwinkern.

Als sie das Zimmer eine gute halbe Stunde später erneut betrat, war es verlassen. Die Papiere waren vom Tisch verschwunden, nur die Verpflegung stand nach wie vor unangerührt da. Aramis blickte prüfen aus dem Fenster, spähte anschließend in den Gang zu ihrer rechten und erblickte dann de Trevilles livrierten Diener am Fuß der Treppe.

"Monsieur Julien, einen Moment!" Sie übersprang jede zweite Stufe und stand neben ihm, bevor er recht verstand, dass tatsächlich er gemeint war.

"Mademoiselle Aramis, was kann ich für euch tun?"

"Habt Ihr Athos gesehen?"

"Natürlich. Er hat das Gebäude vor kurzem verlassen."

"War er in Eile?"

"Ich denke nicht. Auf mich machte er eher einen ungewöhnlich heiteren Eindruck. Aber darüber würde ich mir niemals ein Urteil erlauben."

"Selbstverständlich nicht!" Aramis klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter.
 

Der Hof war inzwischen menschenleer. Aramis kam es jedoch so vor, als wäre die Aufregung bei den Ringenden noch größer geworden. Ein Verdacht formte sich in ihrem Verstand und sie beschleunigte ihre Schritte. Die Luft in der Halle war noch dicker als zuvor. Wieder fuchtelte D'Artagnan überschwänglich mit den Armen, doch dieses Mal hatte sie keine Augen für ihn. Intensiv musterte sie den feucht schimmernden Körper, der in der Mitte der Halle stand und den massigen Leib seines Gegners nicht zu verdecken vermochte. Stück für Stück suchte sie seinen Rücken nach verdächtigen Streifen ab, fand aber nur eine leuchtend rote Abschürfung, die er sich vermutlich auf dem Hallenboden zugezogen hatte. Erleichtert atmete sie auf.

"He, Aramis! Du kommst gerade rechtzeitig. Die beiden haben noch nicht angefangen. Setz dich!" Der junge Mann deutete neben sich auf die Bank. Auf seinem Schoß lag ein Stapel Papiere, sorgfältig mit einer Schnur zusammengebunden.

"Genießt du die Aussicht?" D'Artagnan senkte die Stimme. Er zog sie gerne auf, wollte aber vermeiden, dass andere Kameraden sich dadurch animiert fühlten, es ihm gleich zu tun.

"Wie ich schon sagte: nichts, was ich nicht schon gesehen habe", gab sie nüchtern zurück. Tatsächlich genoss sie es sehr. Nicht nur das Schauspiel, wie sich die Muskulatur dieses Mannes unter seiner Haut straffte und bewegte, sondern auch die Tatsache, dass er ihrem Rat gefolgt war. "Ist es sein erster Kampf?"

"Aber nein. Er hat bereits Basile und Adrien zu Boden gestreckt. Die armen Kerle wurden völlig überrumpelt. Aber an Porthos beißt er sich die Zähne aus, da bin ich mir sicher. Und anschließend bin ich dran. Das wird ein Fest!" Aramis musste angesichts der kindlichen Freude des jungen Mannes lachen. "Schau, es geht los."

Die beiden ungleichen Männer umkreisten einander zunächst respektvoll, um ihre Optionen abzuwägen. Sie kannten die Stärken des anderen so gut wie die Schwächen und beide hofften darauf, dass der andere zuerst einen Fehler beging. Überraschend wagte Porthos einen flinken Satz nach vorne. Athos kombinierte sekundenschnell, wich unter die massigen Arme hindurch aus und stellte ihm ein Bein. Mit einem lauten Fluch schlug Porthos auf dem Boden auf, noch ehe der Wettkampf richtig begonnen hatte. Erstauntes Schweigen lag in der Luft. Niemand hatte dieses Ergebnis erwartet, am wenigsten die beiden Kontrahenten selbst.

"Das ging mir ein bisschen zu schnell", lachte Athos, als er seinem Freund die Hand entgegen streckte, um ihm auf zu helfen. "Noch einmal von vorne, bitte."

Die zweite Begegnung dauerte um einiges länger. Porthos hatte aus seinem Fehler gelernt und bewegte sich dieses Mal vorsichtiger. Immer wieder entwischten und entwanden sie einander. Als beide Männer jedoch bereits schwerer zu atmen begannen und sich keine Entscheidung abzeichnen wollte, wiederholte Porthos sein zuletzt fehlgeschlagenes Manöver. Statt aber noch einmal über das Bein seines Freundes zu stolpern, packte er diesen am Hosenbund, warf ihn schwungvoll auf die Bretter und ließ sich kraftlos neben ihn fallen.

"Ich denke, wir sollten uns auf ein Unentschieden einigen" keuchte der Koloss lachend. Er hatte seinen Unmut über den nachmittäglichen Rauswurf längst vergessen.

"Einverstanden" antwortete der andere zwischen zwei tiefen Atemzügen. Leicht und federnd, als hätte er sich kaum verausgabt, kam Athos wieder auf die Beine und lief auf die Bank zu, um seinen nächsten Herausforderer abzuholen. Erst jetzt bemerkte er die blonde Erscheinung neben dem jungen Mann und sein Herz machte einen Sprung.

"Aramis, schon zurück vom Kapitän?" fragte er betont neutral. Er neigte sich zu ihr herunter, um nach einem Tuch zu greifen. Schweißperlen rannen seinen Körper herab, auf Händen und Unterarmen traten deutlich sichtbar die Venen hervor. Sein Körper strahlte vor Hitze. All das nahm Aramis wohlwollend zur Kenntnis, prägte sich jedes Detail genau ein, allerdings ganz ohne dabei das kleinste Anzeichen von Nervosität zu offenbaren. Beide spürten die lauernden Blicke ihrer Kameraden, allen voran ihrer zwei Freunde. Offenbar erwarteten sie irgendeine Reaktion von ihr und Aramis war gerne bereit, ihnen eine zu liefern.

Ihr Blick haftete auf dem breiten Brustkorb, der sich im schnellen Rhythmus hob und senkte. "Schon ausser Puste?" flüsterte sie gerade laut genug, dass D'Artagnan und einige der Männer in unmittelbarer Nähe sie hören konnten. Mit einem breiten Grinsen zwinkerte er ihr zu, bevor er sich wieder zu voller Größe aufrichtete.

"D'Artagnan mein Freund, bist du bereit?" Der Angesprochene sah ihn mit großen Augen an. Im ersten Moment hatte er Aramis' Frage als einfache Spöttelei hingenommen, doch nach Athos' vollkommen untypischer Reaktion hörte er den Satz in Gedanken noch einmal und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Stimme einen kaum wahrnehmbaren sinnlichen Unterton gehabt hatte. Oder spielte ihm sein Verstand nach den Ereignissen der vergangenen Tage einen Streich? Mechanisch drückte er Aramis das Päckchen in die Hand und folgte dem älteren Musketier. Er war keineswegs bereit für das, was eine Minute später auf ihn zukam. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und einer pulsierenden Schulter schlich er zurück auf die Bank, die er gerade erst verlassen hatte.

"He, Aramis, wie steht es mit dir? Lust auf einen kleinen Ringkampf?" Porthos' Organ dröhnte durch die gesamte Halle.

"Gegen dich? Du weißt doch, dass ich da chancenlos bin!"

"Nicht gegen mich. Gegen Athos natürlich. D'Artagnan und ich haben uns unsere Lektion schon abgeholt. Aber du fehlst noch." Mit Pfeifen, Gröhlen und Klatschen unterstützten die übrigen Musketiere Porthos' Vorstoß. Nur Athos stand schweigend an dem Fleck, an dem er D'Artagnan von den Füßen gerissen hatte, und hob entschuldigend die Schultern. Aramis schwieg ebenfalls. Sie musste nachdenken. Ihre Chancen gegen ihn standen denkbar schlecht. Außerdem würden dutzende Augenpaare sie dabei anstarren, wie sie einander unanständig nahe kamen. Eine falsche Berührung und sie hätten nie wieder einen Moment der Ruhe.

"Ich denke ich muss ablehnen" antwortete sie schließlich.

"Tut uns leid, das geht nicht." Porthos war fest entschlossen, sie nicht so einfach davon kommen zu lassen. Er und Charles hatten die halbe Nacht die Köpfe zusammengesteckt, ohne einen Erfolg versprechenden Plan zu Stande zu bringen. Vielleicht war genau jetzt der Zeitpunkt gekommen, um den beiden den entscheidenden Stoß zu geben. Stoß. Porthos kicherte. "Es wäre wirklich äußerst ungerecht, wenn du als einzige ohne Schmerzen hier raus gehst."

"Als ob ich für eure Schmerzen verantwortlich wäre. Aber nun gut, wenn du darauf bestehst..." Bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte, zog Aramis ihre Stiefel aus, legte Wams und Strümpfe sorgfältig gefaltet auf die Bank und griff nach dem Tuch neben sich. "Abtrocknen!" befahl sie Athos grinsend, als sie vor ihm stand. "Ich habe keine Lust, abzurutschen." Wie angeordnet rieb Athos seinen Körper ab und versuchte notdürftig, ein wenig Feuchtigkeit aus den Haaren zu drücken. In der Zwischenzeit krempelte sich seine Herausforderin betont entspannt die Ärmel hoch. Das Tuscheln hinter ihrem Rücken wurde stetig leiser, bis nur noch ungläubiges Schweigen blieb.

"Habe ich dir schon einmal gesagt, dass du verrückt bist?" Im Gegensatz zu den anderen Anwesenden war Athos ihre innere Anspannung keineswegs entgangen. Warum musste sie sich auf Porthos' unreife Provokation einlassen? Sie hätte ihn ohne weiteres zurechtweisen können, ohne ihr Gesicht zu verlieren.

"Heute noch nicht, nein." Angespannt oder nicht, ihr Lächeln war entwaffnend. Mit einem Fingerzeig bedeutete sie ihm, noch einen Moment Geduld zu haben. "He, Porthos! Du spielst doch so gerne. Ich mache dir einen Vorschlag: wenn Athos mich zu Boden wirft, lade ich ihn und dich zum Essen ein. Wenn ich gewinne, lädst du mich ein. Abgemacht?"

Porthos lachte ein lautes, donnerndes Lachen. "Ich freue mich schon auf mein kostenloses Abendessen!"

"Wir werden sehen!" Mit flinken Fingern flocht sie ihre Haare zu einem Zopf, hüpfte ein paar mal auf und ab und begab sich in die Ausgangsposition. Für gewöhnlich hatte Athos ihr bei diesen Übungen zumindest einen Holzdolch zugestanden, heute blieb ihr nur das Überraschungsmoment. Wie zu erwarten hielten beide sich nicht lange mit der Beobachtung des Gegenübers auf, die Rollen waren klar verteilt. Drei Mal entwischte Aramis seinem Griff, beim vierten Angriff spürte sie schlagartig seine Schulter in der Magengrube. Er hob sie an und ließ sie, nur für einen Atemzug, wie einen Sack über seine Schulter hängen, um sie anschließend zu Boden zu werfen. Doch dazu kam es nicht. Ein Atemzug war Zeit genug für Aramis. Sie umklammerte seinen Brustkorb, riss mit einem gewaltigen Schwung die Beine senkrecht nach oben und brachte ihn so aus dem Gleichgewicht. Athos taumelte nach hinten, löste seinen Griff um ihre Hüfte und ermöglichte ihr so den blitzschnellen Absprung. Noch bevor er wieder festen Stand erlangen konnte, verpasste sie ihm einen Stoß vor die Brust. Athos lag am Boden. Scheinbar in weiter Ferne verlor eine Traube von Männern angesichts des Schauspiels lautstark jede Selbstbeherrschung. Ihre Sympathie galt eindeutig dem dunkelhaarigen Musketier und sein unerwarteter Sturz provozierte eine Vielzahl von Flüchen. Am lautesten fluchte der Hüne, der sich in Gedanken von seinem Festmahl verabschieden musste. Doch es war noch nicht vorbei. Plötzlich saß sie auf seinem Brustkorb und drückte die Knie in seine Armbeugen. Von einem Moment auf den anderen war er nahezu bewegungsunfähig. Fassungslos starrte Athos die Frau über sich an.

"Was in drei Teufels Namen war das?"

"Ganz ehrlich? Keine Ahnung. Aber es hat funktioniert." Aramis entfuhr ein kurzes, helles Lachen, dann sah sie ihn prüfend an. "Du hast dich doch nicht absichtlich fallen lassen?"

"Nein, glaube mir. Diesen Aufprall hätte ich mir gerne erspart." Athos zögerte einen Augenblick, bevor er mit hörbarem Bedauern hinzufügte: "Ich denke, du solltest jetzt aufstehen. Bevor ich mich zu wohl fühle." Sie hatte ihre Hände auf seine Brust gelegt und sobald sie sich etwas vorbeugte, konnte er durch den Ausschnitt ihres Hemds einen Blick auf die Stoffstreifen erhaschen, die über Jahre hinweg eine Illusion von Männlichkeit erzeugt hatten. Ohne besondere Eile, und immer noch von sich selbst überrascht, erhob sich die schmale Blondine. Sofort rieb sich Athos den angeschlagenen Hinterkopf. "Das wird eine Beule" stellte er nüchtern fest.

"Ich mache es wieder gut" versprach Aramis schmunzelnd. Mit einer nach aussen hin freundschaftlich wirkenden Geste legte sie eine Hand auf seine Schulter und gemeinsam schlenderten sie zum Hallenrand.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  citosol
2018-08-01T09:34:48+00:00 01.08.2018 11:34
Go Aramis, GO!
;-D


Zurück