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Die letzten zehn Tage

von

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Tag 2 - Samstag

Als meine Mutter am nächsten Morgen in mein Zimmer kam, um mich zu wecken, saß ich schon wieder auf dem Boden und war gerade dabei, die ganzen alten Sachen, die ich noch nicht wegschmeißen wollte, in Kisten zu verpacken. Es war herzlich wenig; wo vorher mein ganzes Zimmer vollgestellt war mit Kisten, die alle sowieso nur Dinge enthielten, die ich nicht mehr brauchte, waren jetzt nur leere Regale. Die einzigen Gegenstände, die ich behalten wollte, waren ein Zeichenset, die Photos in meinem Ordner und meine Drachensammlung. Es waren sieben schwarze Drachen, alle in anderen Positionen, die nichts mit den hässlichen Drachen aus den Märchen und Legenden gemein hatten.

Ich hörte meine Mutter tief einatmen und gönnte ihr einen Moment, um die Fassung wiederzugewinnen, bis ich mich umdrehte. "Hi Mum", sagte ich so ruhig wie ich nur konnte. "Du hast ... ausgemistet." Es war nicht schwer zu erraten, was sie am liebsten gesagt hätte, aber angesichts der Tatsachen schluckte sie ihr übliches "deine Müllkippe von Unrat befreit" tapfer runter. Ich musste lächeln. "Ich habe den Saustall gestern einfach nicht mehr ertragen." Den Überraschungseffeckt ausnutzend drückte ich ihr eine Kiste in die Hand. "Hilfst du mir mal? Die müssen auf den Spitzboden."
 

Mit dem Krusch war auch ungefähr die Hälfte meiner Klamotten verschwunden, die jetzt in Säcken für das Rote Kreuz vor der Tür lagen. Ratlos stand ich vor meinem Kleiderschrank. Zehn Tage. Jetzt noch neun, ohne diesen acht. Meine vorher schon begrenzten Klamottenbestände gaben höchstens noch für drei Tage was her, und Sonntag hatten die Geschäfte zu, Montag war Feiertag, Dienstag würde ich zu viele Hausaufgaben aufhaben.

Nach kurzem Überlegen griff ich zum Telefon und wählte die Nummer meiner Cousine. Die war sowieso immer für eine Shoppingtour zu haben, und da sie bereits vierundzwanzig war, hatte sie bereits viele Versuche hinter sich, mich auch dafür zu begeistern. Bis jetzt umsonst.

Nach dem dritten Klingeln nahm sie ab. "Dana Schaff?" "Hallo, ich bin´s", sagte ich und konnte ihre Überraschung am anderen Ende der Leitung fast hören. "Oh", sagte sie schließlich überrumpelt. "Hallo! Du hast ja schon ewig nicht mehr angerufen! Wie geht es dir? Und worum geht es denn? Einfach so hast du noch nie angerufen." Ich grinste. Es stimmte, ich hatte sie eher gemieden – ich hatte etwas gegen Disco und dagegen, gewaltsam dazu zu überredet zu werden. "Ich brauche Klamotten", erklärte ich ihr, "und da dachte ich mir, wir könnten zusammen shoppen gehen. Dann habe ich keine Chance, es mir zwischendurch anders zu überlegen. Und außerdem brauche ich einen Stylingberater, ich hab keine Ahnung, was mir außer blau und weiß steht."

Sie schien mit allem gerechnet zu haben, aber nicht damit. Nach einem längeren Schweigen antwortete sie. "Na ja, ich will ja nichts sagen, aber bis jetzt warst du immer mit deiner Mutter einkaufen, und da hat sie immer rausgesucht, was du anziehen sollst. Wenn du mit mir shoppen gehst, müsstest du die Sachen schon selbst raussuchen. Ich kann dir dann nur sagen, ob sie gut passen und dir Hilfestellung geben." Bei der Unsicherheit, die in ihrer Stimme mitschwang, musste ich lachen. "Ich habe schon lange keine Lust mehr, mit meiner Mutter einkaufen zu gehen", sagte ich ihr mit beruhigender Stimme. "Und der Rest versteht sich von selbst. Mal sehen, was ich dann so anschleppe. Wann hättest du denn Zeit?"

Zwei Stunden später waren wir unterwegs.
 

Es war anstrengend, aber auch höchst befriedigend. Ich hatte bereits vier volle Tüten und wir hatten erst den dritten von sechs geplanten Läden durch. Meine Cousine stand an der Kasse und bezahlte, während ich über ihre Schulter hinweg die Sachen betrachtete, die sie mir zur Anprobe gegeben hatte. Es waren viele Teile dabei, die ich vor vier Tagen noch nicht einmal eines Blickes gewürdigt hätte, aber auch Teile, die ich mir schon immer gewünscht hatte und nie mutig genug gewesen war, um sie wirklich zu kaufen. Aber schließlich hatte ich sowieso nur noch acht Tage zu leben und dementsprechend war es eigentlich ja egal, wie ich herumlief. Dass ich meiner Ansicht nach eine Größe zu viel hatte, würde bald auch keinen mehr interessieren.

Kritisch betrachtete ich mich im Spiegel. Ich hatte ein Bäuchlein, ja, und mein Hintern war für meine Göße geradezu überdimensional, aber ich kannte Leute, die noch breitere Hintern hatten. Und die hatten auch noch jemanden abbekommen. Dass diese Frauen meistens über fünfzig waren und ihren Mann erst mit dreißig und mehr Jahren geheiratet hatten, ignorierte ich einfach mal geflissentlich. Aber meine Cousine riss mich bald aus den Gedanken. "Komm schon", drängte sie mich und zog mich weiter, "wir haben noch ein paar Läden vor uns!"

Wind war aufgekommen während wir im Laden gestanden hatten und im Nu war auch der Rest meiner angeschlagenen Shoppinglaune verflogen. "Warte mal", bremste ich ab, "ich bin ziemlich müde und hab die Dinger ja auch noch zu Hause in den Schrank zu räumen und die alten Sachen muss ich ja auch noch anprobieren. Was hältst du davon, wenn wir langsam gehen? Wir haben ja schon viel gefunden." Mein Cousine sah überlegend von den Tüten in ihren und meinen Händen zu mir. Dann zuckte sie mit den Schultern. "Na gut", sagte sie, "wir haben für den Anfang ja auch schon ein wenig Erfolg gehabt. Das müsste eine Weile reichen." Ich lächelte bereits erleichtert, als die negative Nachricht an mein Hirn drang: "Aber zuerst gehst du in irgendeinen Laden, fragst, ob du auf Klo darfst und ziehst dir was anderes an. Hurtig!" Großzügig wie ich in dem Moment war, widersprach ich auch nicht lange, und so kam es, dass ich bald schon wieder in anderen Kleidern auf der Straße stand. Meine Cousine betrachtete mich kritisch von allen Seiten und nickte dann gönnerhaft. "Rotes Oberteil und schwarzer, faltig fallender Rock – okay. Passt zusammen. Aber deine Haare vertragen auch mal was Neues." Mühsam schüttelte ich ihre Hand ab, die sie auf meinen Oberarm gelegt hatte, um mich zum Frisör zu ziehen. "Lieb gemeint", lächelte ich schnell, "aber ich glaube, für heute war es erst mal genug. Was hältst du von ... in zwei oder drei Tagen?" Sie runzelte die Stirn. Dann seufzte sie resigniert und nickte. "Okay, aber in spätestens drei Tagen warst du beim Frisör, oder ich schleife dich."

Ich musste lächeln. Es war nicht leicht, sie auf etwas zu vertrösten, aber heute hatte sie wohl noch vom Shoppen gute Laune. Als mein Blick weiterschweifte über den großen Platz, erstarrte mein Lächeln allerdings sehr schnell. Am Brunnen, genau bei der mittleren Fontäne, stand der Typ aus der Parallelklasse, dem ich schon seit ungefähr einem Jahr hinterhersabberte, bei dem ich mich aber nicht traute, ihn anzusprechen. Ich wusste, er war supernett, das war noch eine Erkenntnis von vor diesem Jahr, er sah gut aus – aber er war schüchtern und ich hatte mich eh noch nicht getraut, ihn anzusprechen. Ich weiß, es klingt, als ob er mich angesprochen hätte wenn er nicht so schüchtern gewesen wäre, aber sagen wir es mal so: ER und ICH? Das konnte man höchstens in der verneinten Form anbringen. Er war der Schwarm der gesamten Klassenstufe unter seiner, noch dazu der eines Großteils unserer und er sah gut aus. Ja, ich weiß, das habe ich schon gesagt, aber er ... sah nun mal gut aus! Ich weiß nicht, wie ich das sagen sol, es wird bei dem Punkt etwas schwierig. Er hatte an dem Tag die blondesten Haare der Welt, das meine ich positiv, die grünsten Augen von ganz Deutschland und das süßeste Lächeln ... also, zumindest mal von der ganzen Region. Wenn nicht sogar von ganz Europa. Aber da will ich mir nichts anmaßen.

Gut, ich kannte ihn jetzt auch nicht so gut, dass ich viel über ihn hätte sagen können, aber immerhin so viel wusste ich: Er machte Sport. Er konnte tanzen, spielte Gitarre, hörte die gleiche Musik wie ich und wehrte sich genauso wenig wie ich, wenn jemand auf ihm rumhackte. Mit dem kleinen Unterschied, dass es bei ihm eher um das typische Gockelverhalten unter Jungs und bei mir um das ging, was man allgemein "Mobbing" nennt. Trotzdem: Aus meiner Sicht der perfekte Typ für laue Abende. An die Nächte dachte ich lieber noch gar nicht erst. Das käme später.

Ich jedenfalls schmiss meiner Cousine in diesem Moment geistiger Umnachtung die Einkaufstüten entgegen, ignorierte ihr verdutztes Gesicht und lief zügig zum Brunnen. Erst jetzt fiel mir auf, dass er seine halbe Clicque dabei hatte, aber obwohl mir das in dem Moment durchaus bewusst war, machte ich es trotzdem. Es war, im Nachhinein gesehen, wohl der peinlichste Augenblick meines gesamten Lebens.

Die letzten Meter joggte ich fast, stellte mich dann genau vor ihn und meinte nur erstaunlich locker: "Hey!" Er sah mich schüchtern an. "Hi", sagte er. "Hättest du vielleicht Lust, mit mir demnächst ins Kino zu gehen?", fragte ich, immer noch verdammt ruhig. Er lief erst rot an, wurde dann kalkweiß und wurde noch röter. "Öhm ... ja, klar!", sagte er dann überrumpelt. "Cool!", antwortete ich und strahlte ihn an. "Was hältst du von morgen Abend? Tut mir Leid, dass ich dich so überfahre, aber meine Cousine wartet da drüben auf mich und ich glaube, die ist im Moment etwas ungeduldig." Er holte tief Luft und nickte dann, noch röter werdend. "Klar", sagte er, "warum nicht?" Er lächelte scheu. "Soll ich dich anrufen, wenn ich wieder zu Hause bin?" Überrascht starrte ich ihn erst einmal eine Weile an, bis ich schließlich nur noch überrumperlt fragte: "Sag mal, hast du meine Telefonnummer etwa?" "Nein", gab er zu, "aber ich weiß ja, wie du heißt und wo du wohnst. Ist das in Ordnung, wenn ich bei dir zu Hause anrufe?" "Klar!" Das Gespräch war wohl nicht sehr originell, ich gebe es zu, aber in dem Moment fiel es mir noch nicht einmal auf. "Dann bis heute Abend!", rief ich und drehte mich um. "Tschüss!", hörte ich ihn noch hinter mir rufen, dann wurde mir klar, was ich getan hatte und ich rannte los.

"Was ist denn mit dir los?", fragte meine Cousine, als ich bei ihr ankam. "Frag nicht, renn!", zischte ich und zog sie am Ärmel mit. "Was zum Teufel-?" "RENN!"

Wir waren drei Straßen weiter, als ich es endlich wagte, anzuhalten. Schwer atmend lehnte ich mich gegen die Mauer und schlug die Hände vor mein Gesicht. "Oh Gott", murmelte ich immer wieder, "oh mein Gott..." "Hättest du jetzt die Güte, mir dein komisches Verhalten zu erklären?", fragte meine Cousine gereizt und lehnte etwas außer Atem die Tüten gegen die Wand. Ich nickte. Dann schüttelte ich den Kopf. Und nickte wieder. Und schüttelte wieder den Kopf. "Ich warte", sagte sie scharf. Ich seufzte. "Ich habs getan." Sie sah mich verständnislos an. "Was hast du getan?" "Ich hab ihn gefragt", stöhnte ich, als hätte ich Zahnschmerzen – was nach der Aktion auch kein Wunder gewesen wäre. "Was hast du ihn gefragt?" "Ob er morgen Zeit hat." "Ja und?" Sie verlor sichtar die Geduld. "Hör mal, ich habe keine Lust, dir dauernd alles aus der Nase ziehen zu müssen! Erzähl´s oder lass es bleiben!" Ich atmete tief durch. Dann begann ich stockend, ihr mein Unglück zu schildern.

"Ja und?", fragte sie verständnislos, als ich geendet hatte. "Du bist jetzt so verstört und fängst an zu rennen, weil du ein Date mit dem Mädchenschwarm der Schule hast? Andere wären froh darum!" Ich versuchte, es ihr zu erklären. "Es ist nicht, dass ich renne, weil ich ein Date mit ihm habe, sondern einfach weil ... oh man, wer ist so blöd und fragt, während die ganze Clicque daneben steht? Das hätte so was von ins Auge gehen können!" Sie zuckte ungerührt mit den Schultern. "Das hätte es auch, wenn er alleine gewesen wäre. Und wenigstens können die Typen dir jetzt nicht mehr nachsagen, dass du feige bist." "Aber was ist, wenn er jetzt nur deshalb ja gesagt hat, weil ich jetzt neue Klamotten habe? Wenn er ansonsten garantiert nein gesagt hätte? Wenn er nur deswegen mit mir verabredet sein will, weil ich besser aussehe als davor?" "Das wäre dann doch ein perfekter Grund, um noch zum Friseur zu gehen und endlich mal neue Schuhe zu kaufen statt den Jesuslatschen." Ich war am Verzweifeln. Wie erklärte man jemandem, der sein erstes Date offensichtlich schon längst vergessen hatte, wie schlimm es war, was ich gerade getan hatte, wie ich mich fühlte, was ich dachte! In meiner Erklärungsnot starrte ich sie hilflos an. Plötzlich grinste sie. "Ich glaube, ich weiß, was mit dir los ist." Sie lachte. "Du bist verknallt, meine Liebe! Und du gibst es noch nicht mal vor dir selbst zu!" "Unsinn!", blaffte ich sie an, merkte aber, wie ich rot wurde. "Ich bin nicht verknallt!" Immer noch breit grinsend drehte sie sich um und zuckte mit den Schultern.
 

Die Heimfahrt verlief weitestgehend schweigend.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2006-06-25T17:22:41+00:00 25.06.2006 19:22
Waaas?! Ach,herrlich..mal eine Liebesgeschichte.. <3<3 :)
Von:  _Fox_
2006-06-16T12:24:58+00:00 16.06.2006 14:24
schick schick ^^
Hast ab jetzt in mir eine treue leserin gefunden ^^ bitte schreib mir, wenn das nächste Kapitel oben ist ^^
*knuddel*


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