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Die Herzschwert-Saga

Die Hüterin des Herzschwertes
von

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9. Akt: Die Herausforderung

Tief in der Wüste leben nicht nur Eidechsen und wilde Ungeheuer,

Sondern auch die Stämme der freien Nomaden.

Sie kennen die Wüste wie kein anderer

Und haben gelernt sie zu respektieren und zu schützen.

Sie sind ehrenhafte und wilde Krieger

Und reiten die stolzesten Pferde.

In Jeris nennt man sie Wüstenreiter,

Die Winde der Wüste.
 

Anshak Orga,

Gelehrter aus den Wüstenländern
 

***
 

Nohrasil lauschte geduldig den Worten Lorgrens, der das Schicksal sucht. Er hatte auf Geheiß des jüngeren Mannes seine Berater und Freunde weggeschickt und war mit ihm und der jungen Halbork allein im Ratszelt geblieben. Der Clanführer des Sanddrachenclans konnte seinen Ohren kaum glauben, als Lorgren ihm offenbarte, dass das Mädchen, das auf den Namen Fynn hörte, die Hüterin des legendären Herzschwertes sein sollte. Wenn er den jungen Wüstenreiter nicht persönlich kennen würde, hätte er ihn ausgelacht und behauptet, er hätte sich zu gütig am Sonnenschnaps getan. Doch die Wahrheit in seinen Worten war unumstößlich.
 

Sein Blick fiel auf Fynn, die neben Lorgren saß und sich immer noch an dessen Ärmel festhielt, als fürchtet sie, er selber wolle ihr etwas antun. Nach Ragas grober Behandlung verstand Nohrasil das Mädchen sogar. Dennoch wollte ihm der Anblick nicht gefallen. Schließlich war Lorgren der Verlobte seiner Tochter und wenn sie dies sehen würde, die Halbork wäre ihres Lebens nicht mehr sicher.
 

„Ich entschuldige mich im Namen meiner Leute für den Überfall und die schlechte Behandlung, ehrenwerte Hüterin Fynn“, entschuldigte der Clanführer sich bei der Halbork und verneigte sich vor ihr, wie es dem Brauch entsprach.
 

Unsicher sah das Mädchen von Lorgren zu Nohrasil, als wüsste sie nicht, was sie davon halten sollte. „I-ch“, sie stotterte unsicher. „Ich …“
 

„Nohrasil, sie muss sich erstmal erholen“, unterbrach Lorgren sie. Nohrasil sah zu seinem künftigen Schwiegersohn. „Sie hat viel mitmachen müssen. Aber sie wird deine Entschuldigung annehmen.“
 

„Ich verstehe“, sagte er zu ihm und nickte. „Ich werde ihr ein Zelt herrichten lassen, wo sie sich erholen kann.“
 

„Das wird nicht nötig sein“, entgegnete der Jerisane. „Fynn und unsere Gefährten werden mit in meinem wohnen, bis wir weiter ziehen.“
 

Der ältere Mann sah ihn ungläubig an. „Das geht nicht“, sagte er sofort und warf ihm einen eindeutigen Blick zu. „Allein dir und Amirah ist der Zutritt dazu gewährt. Außerdem werde ich die Zwerge nicht frei lassen, zumindest nicht beide.“
 

Die Halbork sah etwas verwirrt drein, als Nohrasil seine Tochter erwähnte. Von Lorgren hatte er erfahren, das sie aus Helios stammte und daher nicht die Bräuche und Sitten des Wüstenvolkes kannte. Wahrscheinlich wusste sie nicht einmal um die Verlobung Lorgrens.
 

„Die Zwerge haben sich nur verteidigt, Nohrasil“, erwiderte Lorgren widerspenstig. „Es wäre nicht so weit gekommen, wenn…“
 

„Ich weis, was du sagen willst“, unterbrach der Clanführer den Wüstenreiter schroff, „aber du kennst unsere Gesetze, wie auch die alte Fehde unserer beiden Völker. Wenn ich den Zwerg mit dem roten Bart nicht richten lasse, wird mein Clans es selber tun.“
 

Lorgren schnaubte säuerlich. Als Wüstenreiter kannte er die Gesetze seines Volkes nur zu gut. Doch das Nohrasil ihn mit diesen konfrontierte wollte ihm nicht gefallen.
 

„Kann man nichts dagegen tun?“, fragte das Mädchen, als sie etwas Mut gefunden hatte, sich in das Gespräch einzumischen. Sie bangte um das Leben ihres Freundes.
 

„Leider nicht“, knurrte Lorgren wütend.
 

„Doch“, wand der Clanführer des Sanddrachenclans ein und erregte so die Aufmerksamkeit der Hüterin und des Jerisanen. „Obwohl es mir widerstrebt, gegen die Sitten meines Clans zu handeln. Allein dir ist es erlaubt, den Richtspruch zu widerrufen. Du bist die Hüterin und stehst über unseren Gesetzen. So war es seit Generationen.“
 

Lorgren sah überrascht drein. Er hatte davon nichts gewusst. So erging es auch dem Mädchen, das von ihrer Rolle als Hoffnungsträgerin selbst kaum etwas wusste. „Dann möchte ich, dass ihr eurer Urteil zurück zieht“, bat sie den Clanführer mit bittendem Blick.
 

Nohrasil schloss knurrend die Augen. Er neigte das Haupt und sagte: „Wie ihr wünscht, ehrenwerte Hüterin. Den Zwergen wird das Leben geschenkt.“
 

„Hoffentlich werden deine Leute deinen Worten gehorchen“, wagte Lorgren zu sagen. „Sie verlangen für den Tot ihrer Brüder das Blut der Zwerge.“
 

„Wenn sie einmal erfahren, wer diesen Befehl wirklich gegeben hat“, erwiderte Nohrasil zuversichtlich, doch mit Ärger in der Stimme, über die Worte seines künftigen Schwiegersohnes, „werden sie sich beugen. Sie alle wissen um die Macht der Hüterin und würden es nie wagen, ihr zu widersprechen.“
 

„Ich danke euch“, sagte Fynn mit ehrlichen Worten, der sie verwundert und mit großen Augen ansah, da er nicht erwartet hatte, dass sie ihren Dank aussprechen würde.
 

Er neigte rasch vor ihr das Haupt und stieß hervor: „Ich bin euers Dankes nicht würdig, Hüterin.“ Fynn sah ihn verlegen an, während um Lorgrens Mundwinkel ein leichtes Lächeln zuckte.
 

„Ich werde die Zwerge sofort frei lassen“, kündigte Nohrasil an. „Danach werde ich meinen Leuten die Worte der Hüterin verkünden.“ Er sah das Mädchen ernst an, bevor er sich an den Wüstenreiter wand. „Dann werde ich alles für eure Weiterreise veranlassen.“
 

„Ich danke dir, Nohrasil“, bedankte sich Lorgren und verneigte sich vor dem Clanführer, bis seine Stirn den Teppich berührte. Fynn wollte es ihm gleich machen, doch der Jerisane hinderte sie daran. Mit strengen Blick erklärte er ihr: „Mach das nicht, sonst bringst du Nohrasil nur noch mehr in Verlegenheit.“ Die Halbork lief rot an vor Verlegenheit und nickte bloß. „Wir werden uns jetzt zurückziehen.“
 

Jetzt war es an Fynn, den Wüstenreiter zurück zu halten. „Warte“, bat sie schüchtern. Der Mann nickte, sichtlich verwirrt und neugierig auf ihre nächsten Worte. Sie wand sich an den Clanführer und sagte: „Ich nehme dein Angebot mit dem Zelt an. Ich will nicht weiter die Sitten deines stolzen Volkes herabwürdigen.“
 

Der ältere Mann hob stolz die Brust und nickte dankbar. „Ich werde dir eins meiner besten Zelte geben“, erklärte er.
 

Sie dankte ihm mit einen Nicken und einem kleinen Lächeln, bevor sie sich von Lorgren hinaus führen ließ. Trotz seiner Abscheu gegen die orkische Seite der Hüterin, musste Nohrasil zugeben, das sie für ihr junges Alter eine schlaue, junge Frau war. Zudem hatte sie Herz, was wohl eine der vielen Eigenschaften der Hüterin des Herzschwertes war. Die Legenden stimmten also. Sie war gekommen und würde die Wüste mit neuer Hoffnung segnen.
 

***
 

„Das wurde aber auch mal langsam Zeit“, schnaubte Valzar, als Lorgren ihn und Flint von ihren Fesseln befreite. Flint reichte ihm einen Schlauch mit Wasser und er trank gierig daraus. Er konnte gar nicht glauben, wie gut Wasser schmecken konnte! Nach einem genüsslichen Rülpser, reichte er Flint den Schlauch. „Was hat euch solange aufgehalten?“
 

„Eine lange Geschichte“, meinte Lorgren nur, als er sich erhob. „Es würde zu lange dauern, um sie dir zu erzählen.“
 

Flint sah hinüber zu Fynn und meinte: „Also dir haben wir unsere Rettung zu verdanken. Herzlichen Dank, Fynn.“
 

Fynn lächelte etwas verlegen, als sie zu dem alten Zwerg ging und ihm auf die Beine half. Obwohl sie kein Wort sagte, wusste der Zwerg sofort, dass sie seinen Dank entgegen genommen hatte.
 

„Können wir dann mal endlich von hier verschwinden?“, fragte Valzar, als er auf den Beinen stand und die Hände in die Hüften gestemmt hatte. „Ich will keinen Augenblick länger hier verbringen.“
 

„Du musst dich da wohl noch etwas gedulden“, erwiderte der Wüstenreiter ruhig. „Der Clanführer bereitet bereits alles für unsere baldige Abreise vor. Morgen werden wir wieder unterwegs sein.“
 

Der Zwergenkönig schnaubte abfällig, doch beließ es dabei.
 

„Ich schlage vor, dass ihr aber hier im Zelt bleibt, bis wir abreisen“, schlug Lorgren vor. „Wir wollen nicht riskieren, dass einer der Männer seinen Zorn an euch abreagiert.“
 

„Na wunderbar“, brummte Valzar mürrisch. „Kaum sind wir die Fesseln los, da steckt man uns wieder in Gefangenschaft. Der Traum eines jeden Zwerges.“
 

„Ganz ruhig, Junge“, meinte Flint versöhnlich. „Es ist nur für einen Tag. Und morgen sind wir ja wieder unterwegs. Dann kannst du nach Herzenslust wieder deine Freiheit genießen.“
 

Valzar nickte bloß, bevor er fragte: „Was ist mit unserer Ausrüstung und unseren Waffen?“
 

Lorgren sah ihn an. „Die erhaltet ihr rasch wieder“, erwiderte er tonlos. „Ich werde mich darum kümmern. Zuerst muss ich Fynn noch zu ihrem Zelt bringen.“
 

„Jetzt trennt man uns auch noch“, brummte Valzar gleich wieder los. „Und du? Steckt man dich auch irgendwo anders hin?“
 

Der Jerisane winkte ab. „Sei versichert, ich bin ganz in der Nähe, wenn ihr mich braucht“, versuchte er den Zwerg zu beruhigen, der das ganze nur noch mit einem Schnauben zur Kenntnis nahm. „Fynn“, sagte Lorgren darauf.
 

Das Mädchen nickte, ging aber vorher zu den beiden Zwergen und legte beiden ihre Hände auf die breiten Schultern der Beiden. Diese sahen sie neugierig an. „Ich wünsche euch beiden eine erholsame Nacht“, sagte sie lächelnd. „Wenn es mir möglich ist, werde ich euch später noch besuchen.“ Sie erhob sich und ging zu Lorgren, der auf sie gewartet hatte.
 

„Wenn du es irgendwie arrangieren könntest, kannst du uns beiden ja noch ein paar Humpen Bier mitbringen“, rief Valzar dem Mädchen nach, das ihm mit einem amüsierten Lächeln zu nickte, bevor es mit dem Wüstenreiter aus dem Zelt verschwand.
 

„Ich glaube nicht, dass die Wüstenleute Bier haben“, meinte Flint, der es sich wieder auf dem Boden gemütlich machte und einen tiefen Schluck von dem Wasserschlauch nahm.
 

„Pah“, schnaubte der junge Zwerg. „Wenn sie keins haben, dann sollte Fynn etwas finden, was uns so ordentlich die Sinne benebelt. Ich kann auf weichen Kissen einfach nicht schlafen.“
 

***
 

Lorgren führte Fynn vom Zelt der Zwerge weg, wo zwei Krieger Stellung bezogen hatten. Das Mädchen wusste, das Nohrasil nur aus Vorsicht die Männer dort aufgestellt hatte, doch ihr wollte das nicht recht gefallen. Sie glaubte, dass der Clanführer den beiden Zwergen und ihrem Wort nicht vertraute. Sie konnte ihn verstehen, denn sie selber wüsste niemanden, der einem Halbork auch traute. Dennoch fühlte sie sich gekränkt.
 

Fynn folgte dem Wüstenreiter quer durch das Lager. Sie spürte wieder die Blicke der Männer und Frauen auf sich ruhen, doch vermochte sie dieses Mal sie zu ignorieren. Die Nähe zu Lorgren gab ihr die Kraft dazu. Sie erreichten ein unauffälliges Zelt, das in der Nähe des großen, roten Ratszeltes des Sanddrachenclans stand. Zwei Wächter standen, mit Speeren bewaffnet, davor und neigten vor Lorgren und Fynn das Haupt, als sie an ihnen ins Innere schlüpften.
 

Im Inneren erwartete sie mehrere Frauen in schlichten, weißen Kleidern. Sie verneigten sich vor ihr, bis auf eine, die ihr zum Gruß nur zu nickte. Fynn fand sie schön, eine wahre Wüstenschönheit. Sie hatte ihr seidenschwarzes Haar zu einem langen Zopf geflochten und ließ es sich über den Rücken fallen. Hinter ihrem Ohr hatte sie sich ebenfalls einen kleinen Zopf gemacht, in den sie goldenen Schmuck geflochten hatte und der ihr bis zur Schulter ging. Ihre Lippen waren voll und ihre dunklen Augen – Fynn glaubte, das sie blau waren – musterten sie unentwegt. Sie war einen halben Kopf größer als Fynn.
 

Lorgren trat vor und stellte die Frau Fynn vor. „Das ist Amirah, die Tochter des Clanführers.“ Fynn nickte ihr freundlich zu. Diese erwiderte knapp den Gruß.
 

„Herrin“, sagte Amirah mit zarter Stimme. „Ich fühle mich geehrt, euch persönlich kennen zu lernen.“ Um ihre Worte zu untermauern, trat sie auf das Mädchen zu und reichte ihr die Hand.
 

Etwas zögerlich streckte Fynn ihre aus und ergriff die der anderen Frau. Die andere Frau drückte zu und das Mädchen spürte, wie kräftig die andere war. „Ich danke euch, Prinzessin“, sagte Fynn schüchtern. Die anderen Frauen sahen einander an und kicherten verhalten. Etwas verwirrt sah sie zu diesen, bevor sie Lorgren rat suchend anblickte.
 

Der Wüstenreiter räusperte sich. „Ich werde euch nun alleine lassen“, kündigte er an. „Ich muss noch einiges mit Nohrasil besprechen, bevor wir morgen aufbrechen können.“
 

„Wieso?“, fragte Fynn etwas zu hektisch und klang dabei sogar etwas panisch, was die einfachen Frauen wieder zu einem Kichern hinriss.
 

„Es wäre nicht angebracht“, meinte der Wüstenreiter nur und räusperte sich noch einmal. Er neigte vor Fynn und Amirah förmlich das Haupt und verließ mit schnellen Schritten das Zelt.
 

Fynn sah ihm mit großen Augen nach. Er war weg und ließ sie mit bildfremden Leuten zurück. Sie wusste nicht, wie sie sich zu verhalten hatte, da Amirah die Tochter des Clanführers war. Dieser hatte ihr zwar erklärt, das sie alles Recht der Welt hatte, doch sie fühlte sich nicht, als hätte sie diese. Sie wand sich Amirah zu, die sie die ganze Zeit über angesehen hatte.
 

Diese sagte nun einer der Frauen etwas auf ihrer Muttersprache und führte Fynn in die Mitte des Zeltes, wo die anderen Frauen auf sie warteten. Sie hörte hinter sich, wie die Dienerin, denn was anderes konnte diese nicht sein, den Eingang mit einem Vorhang zu hängte und zu ihnen zurückkehrte.
 

„Zieh dich aus, Herrin“, sagte Amirah, die an ihrer Seite stand. Ungläubig sah das Mädchen die Frau an, glaubte, dass diese einen Scherz gemacht hatte, doch in den dunkelblauen Augen sah sie deutlich, das dem nicht so war. Eine Braue hob sich und Amirah fragte: „Traust du dich nicht?“
 

Fynn fühlte sich übergangslos wie ein kleines, dummes Mädchen und schämte sich sogleich. Sie schüttelte den Kopf und begann zögerlich sich ihrer Kleider zu entledigen. Doch der Wüstenprinzessin schien dies zu langsam zu gehen und sie half dem Mädchen dabei. Fynn wurde davon vollkommen überrumpelt und wollte schon etwas sagen, als schon zwei der Dienerinnen zu ihr kamen und ihrer Herrin dabei halfen. Erschrocken schrie Fynn auf, doch die Frauen kicherten nur wieder.
 

Nun stand sie nackt vor den anderen Frauen. Ihr Gesicht verfärbte sich vor Scham und sie versuchte notdürftig sich mit den Händen zu bedecken. Doch es half nichts.
 

„Du brauchst dich nicht zu schämen, Herrin“, meinte Amirah, als wäre nichts weiter dabei. Neben der Prinzessin fühlte sich Fynn wieder klein und dumm und machte sich unweigerlich kleiner. „Nun komm. Dein Bad wartet.“
 

Eine alte Dienerin trat an Fynns Seite, während die Jerisanin voraus ging, und schob sie voran. Hinter einem Verhang stand eine große Wanne aus reich mit Schnitzereien verziertem Holz. In dieser war bereits dampfendes Wasser eingegossen worden. Fynn konnte den Drang nicht unterbinden, sehnsüchtig auf das warme Wasser zu sehen und ihre Schritte beschleunigten sich bereits, ohne das die Dienerin sie weiter schieben musste.
 

Amirah blieb nun stehen, während Fynn und die Dienerinnen an ihr vorbei traten. Das Mädchen sah die andere Frau fragend an, als würde sie von ihr eine Erlaubnis benötigen, in die Wanne zu steigen. Die Prinzessin nickte ihr nur knapp zu und das Mädchen stieg in das warme Wasser.
 

Bevor sie auch nur die Wärme genießen konnte, waren die Dienerinnen bei ihr und begannen sie mit Lappen zu waschen. Wieder schrie Fynn erschrocken auf und versuchte sich gegen die amüsiert lachenden Frauen zu wehren. Doch es half ihr nichts. Eine Hand legte sich auf ihren Kopf und tunkte sie unter Wasser. Prustend tauchte die Halbork wieder auf, doch wurde sie sofort wieder runter gedrückt.
 

So habe ich mir mein Bad nicht vorgestellt, dachte Fynn, als man sie wieder frische Luft atmen ließ. Eine der Dienerinnen trat an sie heran und zeigte ihr eine Flasche mit langen Hals. Sie hielt sie ihr unter die Nase und Fynn musste des Geruchs wegen niesen. Was auch immer da drin war, reizte ihre empfindliche Nase. Die Frau sah sie fragend an, bevor sie ging und mit einer anderen Flasche zurückkam. Diese hielt sie ihr wieder unter die Nase und erneut musste das Mädchen niesen. Das ganze wurde solange wieder holt, bis sie bei einer nicht niesen musste. Der aus der Flasche steigende Duft erinnerte sie an eine Frühlingswiese zuhause in Steindorf.
 

Der Inhalt der Flasche wurde ihr über den Kopf gegossen. Hände legten sich auf ihr Haupt und begannen die Flüssigkeit in ihr Haar einzumassieren. Das Mädchen konnte unter den sanften Berührungen nicht anders und schloss genießerisch die Augen. Doch der Moment der Ruhe hielt nicht lange. Sie wurde wieder unter Wasser gedrückt. Das wiederholte sich wieder einige male, bis ihr Haar von der flüssigen Seife befreit war.
 

Endlich konnte sie aus der Wanne und zwei Dienerinnen trockneten sie mit Tüchern gründlich ab. Als Fynn auch dies überstanden hatte, zog die alte Dienerin von eben sie hinter sich her, zu einem anderen Verhang, wo man sie auf einen Hocker schob.
 

„K-kann ich meine Sachen zurück bekommen?“, fragte Fynn eine der Dienerinnen, als Amirah zu ihnen stieß.
 

„Hab noch etwas geduld, Herrin“, beschwichtigte die junge Frau das Mädchen. Als Fynn ihrem Blick begegnete, glaubte sie so etwas wie Abscheu in ihren Augen zu sehen. Scheinbar wusste Amirah nicht wer sie war, dachte Fynn und verzieh der Frau im Stillen für ihre Unwissenheit. „Wir werden euch frische Kleider geben.“
 

Zögerlich nickte Fynn. Es dauerte nicht lange, als einige Dienerinnen ihr Kleidung brachten. Die Halbork wollte schon damit beginnen, sich die Sachen selber anzuziehen, doch die Dienerinnen waren wieder zu schnell. Zumindest waren sie jetzt etwas vorsichtiger, dachte Fynn erleichtert, als sie in die Kleider schlüpfte.
 

Zu erst in ein Hemdchen, dem die Arme fehlten, gefolgt von Lendenwäsche und einer engen Hose mit kurzen Beinen. Statt eines Hemdes, wurde Fynn eins der langen, weißen Kleider übergezogen, das ihren zierlichen Körper umwaberte. Man drückte sie zurück auf den kleinen Hocker.
 

Sorgfältig kämmte man ihr die langen Haare und mehr als einmal zuckte Fynn zusammen, als die Dienerin ihr mit der Bürste einen Knoten im Haar löste. Ich war zu lange in der Wüste, dachte Fynn, doch wusste sie, dass sie auch in Steindorf sich recht selten gekämmt hatte. Das letzte Mal hatte sie sich für Jakob die Haare gekämmt, bevor er sie hatte ermorden wollen.
 

Als das Kämmen überstanden war, flocht ihr die Dienerin ihr langes Haar zu einem ordentlichen Zopf. Kurz darauf flocht ihr die Dienerin und eine zweite die Strähnen der Halbork zu kleinen Zöpfen, wie Amirah einen hatte. Statt des goldenen Schmuckes nahmen sie glitzernde Perlen. Die Frau zu ihrer rechten griff ihr in den Ausschnitt und förderte den Schwertanhänger zu Tage, bevor Fynn überhaupt noch protestieren konnte.
 

„Du bist fertig“, stellte Amirah fest, ohne eine Regung in ihrer wohlklingenden Stimme. Die Dienerinnen zogen sich mit gesenkten Häuptern zurück. Die Prinzessin trat zu dem Mädchen und forderte sie auf aufzustehen. Sie betrachtet sie nun kritisch und nickte schließlich zufrieden. „So können wir dich zeigen.“
 

„Zeigen?“, fragte Fynn verwirrt und sah die andere Frau wieder direkt an.
 

Amirah nickte. „Mein Vater will dich unserem Clan präsentieren“, sagte sie. Sie legte den Kopf leicht schief und fragte: „Warum bist du so wichtig für ihn?“
 

„Eurem Vater?“, fragte Fynn vorsichtig.
 

„Nein, Lorgren“, klärte Amirah sie mit etwas Schärfe in der Stimme auf. Fynn zuckte leicht zusammen. „Er sorgt sich sehr um dein Wohlergehen. Das finde ich höchst verdächtig.“ Sie ging um die Halbork herum und nahm sie dabei genau in Augenschein. „Sag mir, was läuft zwischen euch beiden.“
 

„Ich verstehe nicht, was…“, erwiderte Fynn, doch die Wüstenprinzessin unterbrach sie barsch.
 

„Spiel hier nicht die Dumme, Halbork“, zischte sie Fynn direkt ins Gesicht. „Er verhält sich sonst nicht so. Hast du ihn verhext? Wieso bist du in der Wüste?“
 

„Es ist sein Auftrag“, stieß sie hervor und wich vor der Jerisanin zurück, die ihr mit einem Mal unheimlich wurde.
 

„Sein Auftrag? Hat er ihn etwa von dir erhalten? Sprich!“
 

„Das reicht“, erklang eine Stimme nicht weit ab von ihnen. Beide Frauen wanden sich um und erblickten Lorgren, der mit schmalen Augen beide ansah. „Amirah, lass Fynn zufrieden. Sie ist nicht deine Feindin.“
 

„Wer ist sie?“, wollte Amirah wissen und ging mit schnellen Schritten auf den Wüstenreiter zu. Sie deutet mit dem Finger auf das Mädchen. „Warum ist sie bei dir? Was hat das zu bedeuten, Lorgren?“
 

„Beruhig dich“, forderte der Mann sie auf. „Du muss nicht eifersüchtig werden. Sie ist nur mein Mündel. Ich habe den Auftrag erhalten sie wohlbehalten in die Hauptstadt zu bringen.“
 

Sie betrachtet ihn, als würde sie kein Wort von dem glauben, das er ihr so eben gesagt hatte. Doch sie beruhigte sich allmählich. „Und was soll sie in der Hauptstadt?“, wollte die Frau wissen.
 

Lorgren schien zu überlegen, ob er ihr offenbaren sollte, wer Fynn war. Dabei sah er kurz zu dem Mädchen. Fynn erwiderte seinen Blick, senkte ihn aber gleich wieder, als auch Amirah zu ihr sah und sie anfunkelte. Das Mädchen wusste nicht, was die Frau gegen sie hatte. Sie hatte ihr schließlich nichts getan. Oder galt ihr Groll mehr Lorgren? Fynn wusste nur, das er und Amirahs Vater bekannte waren. Hatte der Wüstenreiter der Prinzessin auf sich gezogen, weil er sie und die beiden Zwerge in die Wüste gebracht hatte?
 

„Da es sowieso alle erfahren werden“, fuhr er ruhig fort, „wäre es nur recht, dich vorher in Kenntnis zu setzen.“ Er deutete mit einem Nicken auf Fynn. „Dieses Mädchen dort ist die Hüterin des Herzschwertes.“
 

Amirah wirbelte zu Fynn herum und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, in denen deutlich ihr Unglaube und ihre Überraschung standen. Sie sah zu Lorgren, als wolle sie von ihm hören, dass er log, doch seine Miene war unverändert geblieben.
 

„Die Hüterin“, stieß sie leise hervor, bevor sie sich wieder faste und den Kopf schüttelte, um ihre Gedanken wieder zu ordnen. „Unglaublich.“ Sie sah Fynn jetzt mit ganz anderen Augen an. „Diese Halbork soll die Hüterin sein?“ Deutlich war ihr Zweifel in ihrer Stimme zu hören. „Das kannst du nicht ernst behaupten.“
 

„Sind dir nicht die Zeichen aufgefallen?“, fragte Lorgren ruhig und trat zu Fynn. Er hob leicht den Schwertanhänger an, damit Amirah diesen sehen konnte. „Das erste Zeichen. Und über ihrem Herzen wirst du auch das zweite finden. Ich selber habe sie gesehen.“ Als sich Amirahs Augen zu schmalen Schlitzen verengten, fuhr Lorgren mit einem Seufzer fort. „Vergiss lieber schnell, was dir da im Kopf herum spukt. Du kennst mich gut genug, um selbst zu wissen, wie töricht sie sind.“
 

Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust und wand den Blick beleidigt ab. Lorgren reagierte gar nicht darauf, sondern schenkte seine Aufmerksamkeit Fynn. „Ich möchte mich für Amirahs Verhalten entschuldigen“, sagte er förmlich zu ihr, doch Fynn merkte, das seine Worte ehrlich gemeint waren. Er warf der Frau einen kurzen Blick zu. „Sie wird schnell eifersüchtig.“
 

Fynn verstand nicht wirklich, was er damit meinte, nickte dennoch.
 

Amirah wand sich wieder Lorgren zu und meinte, als sie auf ihn zuging. „Man sollte nicht so über seine Verlobte reden“, sagte sie lächelnd. Sie schmiegte sich an den Wüstenreiter, der einen Schritt zurück gewichen war und küsste ihn genau auf die Lippen.
 

Fynn machte große Augen, als sie diese Geste der Zuneigung von Seitens Amirah sah. Also das hatte Lorgren mit eifersüchtig gemeint, dachte das Mädchen. Er und Amirah waren also einander versprochen. Aus einem unergründlichen Grund wurde das Mädchen eifersüchtig auf die schöne Wüstenprinzessin. Sie konnte sich selber nicht erklären, wieso, doch sie war da. Zudem fühlte sie sich verletzt, verletzt von Lorgren, der ihr davon nichts erzählt hatte.
 

Amirah sah zu Fynn und meinte, fast schon entschuldigend: „Verzeih mir, Hüterin, aber ich habe meinen Geliebten seit langen Monaten nicht mehr gesehen. Ich konnte einfach nicht mehr an mich halten.“
 

Bevor Lorgren seinen Protest abgeben konnte – sein Gesicht hatte sich bei den Worten Geliebter verzerrt -, erschien eine Dienerin. „Entschuldigt die Störung, Herrin“, bat sie Amirah untertänig.
 

„Was ist?“, fragte die Prinzessin und wand sich der anderen Frau zu.
 

„Ich soll euch von eurem Vater und dem Rat ausrichten lassen, das eine Versammlung des gesamten Clans einberufen wurde“, berichtet die Dienerin. „Ich soll euch und unsere Gäste holen.“
 

„Ich hab verstanden“, sagte die Jerisanin und schickte die Dienerin mit einem Wink weg. Sie sah Lorgren an und meinte: „Wirklich schade. Dieser Moment hätte ruhig länger andauern können.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die linke Wange und trennte sich von ihm. Sie neigte vor Fynn kurz das Haupt und verließ dann mit schnellen Schritten das Zelt.
 

Fynn sah zu Lorgren, der angefangen hatte zu zittern. Sie wusste nicht wieso, aber momentan war es ihr wirklich egal. Sie wollte nur so schnell wie Möglich die Versammlung hinter sich bringen und dann für die Nacht ins Zelt zurückkehren.
 

Der Jerisane schnaubte leise. „Komm, Fynn“, sagte er bestimmt und marschieret ihr voraus zum Ausgang des Zeltes. Sie folgte ihm mit einem gewissen Abstand.
 

Vor dem Zelt sahen sie schon, das sich alle Männer und Frauen, ob jung, ob alt, vor dem Ratszelt eingefunden hatten. Ihre Unterhaltungen drangen bis zu den zwei Gefährten, die sogleich zu der Menschenmenge hinüber schritten. Zwei Krieger fingen sie ab und führten sie sicher um die Menge herum, hinter das Zelt, wo Nohrasil und die anderen vier Ratsmitglieder sie erwarteten.
 

Alle verneigten sich tief vor Fynn, die sich wieder peinlich berührt fühlte. Der Clanführer wand sich an Lorgren und sagte: „Der Rat wurde von mir schon informiert. Jetzt wird der Rest des Clans unterrichtet.“
 

Lorgren nickte. „Dann lasst uns keine Zeit mehr verlieren“, sagte er bestimmt. Nohrasil nickte und führte sie um das Zelt wieder herum. Als sie die Menge erreichten, teilte sie sich vor ihnen, das sie in ihre Mitte treten konnten. Sobald sie hindurch waren, schloss sich der Halbkreis wieder um die kleine Gruppe. Vor dem Eingang des Ratszeltes versammelten sie sich.
 

Nohrasil nickte Fynn und den anderen kurz zu, bevor er sich vor seine Leute stellte und mit lauter Stimme um ihre Aufmerksamkeit bat. Es wurde sofort leise und alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf ihren Herren. „Brüder und Schwestern des Sanddrachenclans“, sagte er mit lauter und kräftiger Stimme. „Ich habe euch zusammen rufen lassen, um euch mitzuteilen, dass wir entschieden haben, was mit den Zwergen geschehen wird.“ Die Wüstenbewohner fingen an zu murmeln und es war deutlich, was sie sich erhofften. Das Leben der Zwerge, für die Leben ihrer verlorenen Brüder. „Sie erhalten ihre Freiheit.“
 

Empörte Rufe wurden laut. Die Männer und Frauen verlangten lautstark den Tot der beiden Bärtigen, die zwei ihrer Brüder ermordet hatten. Einige der Männer zogen sogar ihre Schwerter oder Dolche, um ihre Worte damit zu bekräftigen. Sie verstanden nicht, was in ihren Anführer geraten war, der sie so viele Jahre gut geführt hatte.
 

„Ruhe!“ brüllte einer der vier Ratsmitglieder mit imposanter Stimme. „Beruhigt euch! Hört Nohrasil erstmal an, bevor ihr ihn verpönt!“
 

Der Clanführer nickte seinem Freund dankend zu, bevor er seine Worte wieder an die Menge richtete. „Ich habe nicht diesen Entschluss gefasst“, erklärte er ihnen. Er deutet mit einer Hand auf Fynn, die aus Reflex den Kopf einzog, als unzählige Blicke sie trafen. „Es war ihre Entscheidung.“
 

„Seit wann hört Nohrasil auf eine Halbork?“, verlangte ein aufgebrachter Mann zu wissen und trat vor. Der Zorn stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ich dachte immer, das Nohrasil unser Anführer wäre und nicht so eine Missgeburt.“ Er spie die Worte regelrecht aus.
 

Fynn spürte die Abscheu der Leute gegen sie, aber auch die Wärme, die von ihrem Anhänger ausging. Sie waren gute Menschen, die voller Zorn waren, dachte sie und umklammerte unbewusst das Erbstück.
 

Hinter ihr hatte Lorgren sich angespannt. Sie spürte es deutlich. Er war erbost über die Worte des Mannes, wusste sie. Doch er war klug genug, sich nicht auf diesen zu stürzen.
 

„Zügel deine Zunge!“, fuhr Nohrasil den Mann an, der überrascht zusammen zuckte und einen Schritt zurück gewichen war. „Rede nicht in so einem Ton von ihr! Oder willst du nicht mehr den Tag erleben, wo die Wüste erblüht?“
 

Verwirrtes Schweigen trat ein. Die Leute sahen ihren Anführer verständnislos an. Einige wenige sahen sogar zu der Halbork hinüber, als könnte der bloße Anblick ihnen erklären, was mit dem Clanführer los war.
 

Nohrasil winkte Fynn zu sich. Sie zögerte. Lorgren berührte sie an der Schulter. Sie sah den Wüstenreiter fragend an. Er deutete ihr an, zu dem Mann zu gehen. Sie erwiderte kurz sein Nicken und trat hinüber zu Nohrasil, der ihr eine Hand auf die zierliche Schulter legte, sobald sie neben ihm stand.
 

„Dieses Mädchen ist die Hüterin des Herzschwertes!“, rief Nohrasil mit kraftvoller Stimme aus. „Sie ist es, die die Wüste erblühen läst!“
 

Ein Raunen ging durch die Reihen der Wüstenreiter. Der Mann, der Fynn zuvor als Missgeburt beschimpft hatte, sah sie mit großen Augen an und schluckte schwer. Er sank vor ihr auf die Knie und verneigte sich vor, bis seine Stirn den Wüstenboden berührte. Weitere folgten seinem Beispiel. Männer und Frauen, Kinder und Alte fielen auf die Knie und verneigten sich dem Mädchen.
 

Fynn sah das mit großen Augen. Sie wollte nicht wahrhaben, das so viele Menschen sich vor ihr in den Dreck warfen, um ihr ihre Ehrerbietung zu zeigen. Sie wollte zu ihnen gehen, sie bitten, sich wieder zu erheben, denn sie wollte nicht, dass sich jemand vor ihr herabwürdigte. Keiner sollte je so etwas vor ihr tun. Doch ihr fehlte dazu der Mut. Besonders, seit Nohrasil angekündigt hatte, das sie die Wüste erblühen lassen würde.
 

Einige der Männer waren stehen geblieben und sahen Fynn voller Abscheu an. Einer von ihnen war der Hüne Raga. „Die soll uns Hoffnung bringen?“, brüllte er voller Verachtung. „Diese Missgeburt? Sie kann niemals die Hüterin sein!“
 

„Raga, schweig!“, knurrte Nohrasil den Mann an, doch dieser winkte einfach ab und trat aus der Menge heraus, gefolgt von seinen wenigen Verbündeten.
 

„Ich werde nicht schweigen, Nohrasil“, herrschte er den Clanführer an. Kurz darauf traf sein Blick wieder Fynn, die erschrocken einen Schritt zurück gewichen war. „Sieh sie dir an. Sie ist kein Mensch. Sie ist eine halbe Bestie, die unsere Gedanken vergiftet! Deine sind es bereits!“
 

„Wie kannst du es wagen, so über sie und Nohrasil zu sprechen?“, verlangte Lorgren zu wissen, der vorgetreten war und sich zwischen Raga und Fynn gedrängt hatte und den Hünen mit zusammen gekniffenen Augen anfunkelte. „Entschuldige dich sofort.“
 

„Das werde ich nicht, Einarmiger“, fauchte der Hüne den kleineren Mann an. „Eher würde ich sterben, als vor so einer Laune der Natur nieder zu knien.“
 

Lorgren knurrte und trat einen Schritt auf Raga zu. „Du wagst es immer noch?“ Er griff an seinen Gürtel, erinnerte sich aber, dass er keine Waffe bei sich trug. „Sie ist die Hoffnung für uns alle. Siehst du das nicht?“
 

„Ich sehe nur etwas, das es hätte nie geben dürfen“, erwiderte Raga. Er deutet anklagend auf das Mädchen. „Ich verlange, dass sie zusammen mit den Zwergen den Tot findet!“
 

„Vergiss es, Raga“, fuhr Nohrasil den anderen an. „Du sprichst im Zorn. Er blendet dich für die Wahrheit. Du hast kein Recht so etwas zu verlangen.“
 

„Dann fordre ich Shar´Thek!“, brüllte der Hüne laut. Die Leute um sie herum keuchten auf. Nohrasils Gesicht war blass geworden. Lorgren kniff bedrohlich die Augen zusammen. Fynn sah den Hünen mit großen Augen an. Was war Shar´Thek, fragte sie sich ängstlich. Der Reaktion der anderen nach zu urteilen, war es etwas überaus brisantes, was der große Mann da verlangte. Und sie wurde das Gefühl nicht los, das dabei Blut fließen würde.
 

Raga zog einen Dolch und deutete mit dessen Klinge auf Fynn, die ihn mit entsetztem Blick ansah. „Ich fordere sie zum Shar´Thek heraus!“, verlangte er sofort.
 

„Das ist nicht möglich“, sagte Nohrasil und baute sich vor dem Mann auf. Raga überragte mit einer Haupteslänge den Anführer des Sanddrachenclans, doch diesen störte es nicht. „Shar´Thek ist alleine den Kriegern vorbehalten. Und die Hüterin ist keine Kriegerin.“
 

„Dann wählt einen Vertreter für sie“, herrschte der große Mann seinen Herren an. „Ich habe meine Herausforderung ausgesprochen und nichts wird mich davon abbringen, diese zurück zu ziehen.“ Er funkelte den Clanführer an. „Nicht einmal du, alter Mann.“
 

„Ich werde für sie kämpfen“, bot Lorgren sich sofort an. Er drängte sich vor Nohrasil und sah den anderen Mann offen ins Gesicht, ohne vor seinem finsteren Blick zurück zu schrecken.“
 

„Lorgren!“, erklang Amirahs Stimme, die aus der Menge hervor getreten war und zu den Männern lief. „Bist du wahnsinnig?“
 

Lorgren sah sie nur kurz an. „Mach dir keine Sorgen“, sagte er mit tonloser Stimme. „Mach dir lieber um das Wohl unseres Landes Sorgen. Denn Raga bedroht es.“ Dabei sah er den Hünen wieder an, in dessen Blick offene Feindschaft stand.
 

Der Hüne wand sich um und knurrte: „Heute, wenn der Mond aufgeht, dann wird dein Blut den Sand tränken, Einarmiger.“ Zusammen mit seinen gleich denkenden Brüdern verließ Raga die Versammlung.
 

Nohrasil sah dem Krieger nach. Mit verdrießlichen Gesichtausdruck wand er sich Fynn zu. „Bitte entschuldige seine Worte, Hüterin“, bat er das Mädchen. „Er spricht im Zorn.“ Er zögerte kurz. „Sein Bruder ist einer der Männer, die ihr Leben durch den Zwerg verloren haben. Er ist von seinem Schmerz verblendet worden. Ich will sehen, ob ich ihn nicht zur Vernunft bringen kann.“
 

Sie nickte nur. Der Clanführer verneigte sich und löste die Versammlung auf. Die Leute strebten auseinander, doch einige blieben und sahen die Halbork unentwegt an. Fynn waren die Blicke unangenehm und sie wand sich Lorgren und Amirah zu.
 

„Muss das sein?“, fraget Fynn den Wüstenreiter, der sie mit erhobener Braue ansah. „Ich will nicht, dass wegen mir Blut vergossen wird.“
 

„Es geht nicht anders“, sagte er zu ihr. „Raga will nicht verstehen, wie wichtig du für unser Volk bist.“
 

Fynn wusste nichts zu erwidern und schwieg. Sie sah Lorgren einen langen Augenblick an, bevor sie den Blick senkte und sagte: „Ich werde mich zurück ziehen.“ Sie drehte sich von dem Wüstenreiter weg und ging davon, zurück zu dem Zelt, das sie von Nohrasil großzügigerweise bekommen hatte.
 

Wieso musste überall Blut vergossen werden, wo sie erschien, fragte sie sich, während sie ihres Wegs ging. Die Männer und Frauen, die sich vor ihr verneigten, nahm sie gar nicht erst war, so vertieft war sie in ihre Gedanken.
 

Seit sie erfahren hatte, dass sie die Hüterin des Herzschwertes war, dieser legendären Waffe, die Hoffnung bringen sollte, hatten viele ihr Leben gelassen. Erst Garyn, der den Klingen Skorms zum Opfer gefallen war. Dann war Ian von ihr gegangen, um ihr Leben zu beschützen. Und Broko, der stolze Zwerg, der sein Leben in der Schlacht ausgehaucht hatte. Warum hatten sie alle sterben müssen? Wegen ihr, erkannte sie selbst. Alle waren allein durch ihre Schuld ums Leben gekommen.
 

Sie erreichte ihr Zelt und huschte hinein. Das Mädchen konnte nicht an sich halten, sank auf die Knie und fing an zu weinen. Sie konnte all den Schmerz, den sie erlitten hatte, nicht mehr unterdrücken. So viele waren tot und nun setzte Lorgren sein Leben für sie aufs Spiel. Wieso tat er das? Wegen einer Legende, in der sie eine Rolle spielte! Sie wollte nicht mehr. Sie wollte nicht, dass wegen ihr noch jemand starb, der ihr lieb war.
 

„Das ist doch kein Grund zu weinen“, erklang eine alte, freundliche Stimme in ihrer Nähe. Fynn schrak auf und sah sich um. Ein alter Mann, mit langen, silbernen Bart, der die weiße Robe der Wüstenbewohner trug, stand nicht weit ab von ihr und hielt sich an seinem knorrigen, alten Wanderstab fest. Seine azurblauen Augen sahen sie warmherzig an und seine Lippen zierten ein freundliches Lächeln.
 

„Wer bist du?“, fragte Fynn hektisch und wich vor dem alten Mann zurück.
 

Dieser setzte sich mit einem angestrengten Ätzen auf eins der vielen Kissen und meinte: „Keine Angst, Kind. Ich will dir nichts Böses. Dazu wäre ich sowieso nicht mehr in der Lage. Dazu tun mir schon zu sehr die Knochen weh.“
 

Das Mädchen wusste nicht wieso, aber sie mochte den Alten sofort. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und setzte sich ihm gegenüber. „Wer bist du?“, fragte sie wieder.
 

„Nur ein alter Mann, der deine Aufmerksamkeit nicht verdient“, sagte der Alte und lächelte sie an. Auf dem Gesicht Fynns erschien ebenfalls ein Lächeln, zwar schüchtern, aber es war da. „Das sehen meine alten Augen gern. So ein liebes Mädchen wie du sollte öfter lächeln.“
 

Fynn fühlte sich geschmeichelt und nickte leicht. „Ich finde schon, dass ich deinen Namen wissen sollte“, meinte sie. „Woher soll ich denn sonst wissen, mit wem ich mich unterhalte?“
 

Der alte Mann gluckste amüsiert. „Kluges Mädchen, muss ich schon sagen“, kicherte er und legte sich den Stab über die Beine. „Die Leute nennen mich Drelden, Hüterin.“
 

„Nenn mich bitte Fynn, Drelden“, bat sie den Alten, der darauf nickte.
 

„Gut, dann eben Fynn“, sagte er mit einem breiten Lächeln. „Ein hübscher Name, muss ich schon sagen. Wer hat ihn dir gegeben?“ Er sah sie neugierig an.
 

„Meine Mutter.“
 

„Deine Mutter, so, so“, murmelte er und versank kurz in Gedanken, bevor er Fynn wieder ansah. „Sag mir, Fynn. Wieso hast du denn geweint?“
 

Sie sah verlegen zu Boden. „Nur so“, log das Mädchen.
 

„Nur so weint man doch nicht“, wand Drelden ein, klang dabei etwas tadelnd. „Du solltest keinen alten Mann anlügen. Das ist sehr unschicklich für eine junge Dame. Besonders, wenn es sich dabei um die Hüterin des Herzschwertes handelt.“
 

Fynn wurde rot vor Scham. „Verzeih“, murmelte sie eine Entschuldigung.
 

„Schon gut“, sagte Drelden und tätschelte ihre Hand. „Nun sag dem alten Drelden, was dich bedrückt. Vielleicht geht es dir besser.“ Er wartete geduldig und legte den Kopf dabei schief. „Oder soll ich Lorgren holen?“
 

„Nein!“, quiekte sie auf und hielt ihn am Arm fest, als der Alte sich erheben wollte. „Nein“, sagte sie nun etwas leiser. Schließlich ließ sie ihn los und meinte: „Ich möchte ihn nicht mit meinen Problemen belasten.“ Der Gedanke, das Lorgren von ihren Gefühlen wusste erweckte in ihr das Gefühl, als würde sie vor dem Mann Schwäche zeigen und das wollte sie nicht. Nicht, seit sie Amirah kannte, die eine starke und selbstbewusste Frau war.
 

„Es wäre aber nicht ganz verkehrt, wenn du jemanden hättest, dem du alles erzählst, was dir auf dem Herzen liegt“, erklärte Drelden ihr mit einem väterlichen Lächeln. „Du solltest dich nicht vor deinen Gefährten verschließen. Sie stehen dir nicht nut tapfer im Kampf zu Seite. Sie stehen dir auch mit ihrem Rat bei.“
 

Fynn dachte über die Worte des alten Mannes nach und musste schließlich zugeben, das er Recht hatte. Sie nickte. „Ich glaube, du hast recht.“
 

„Natürlich habe ich recht“, lachte der Alte amüsiert. „Ich spreche aus Erfahrung, meine Liebe. Und davon habe ich wahrlich genug.“ Er sah sie wieder an und wurde etwas ernster. „Nun sag mir, was dich bedrückt.“
 

„Nun…“, sie zögerte noch etwas, bevor sie endlich sprach. „Seit ich weis, wer ich bin, habe ich viele sterben sehen, die ich kannte oder die mir lieb und teuer waren. Unter ihnen war ein besonders guter Freund. Er war wie ein Bruder für mich. Er hat immer auf mich aufgepasst, als wir Kinder gewesen waren und auf der Reise tat er es wieder und hat sein Leben schließlich verloren, um meins zu retten.“
 

„Wie hieß er denn, dein Freund?“, fragte Drelden neugierig.
 

„Ian.“
 

„Ian“, murmelte er und strich sich durch seinen langen Bart. Darauf sah er sie an und tätschelte mitfühlend ihre Hand. „Er war sicher ein wackerer Bursche, oder?“ Fynn nickte und wischte sich eine einzelne Träne von der Wange. „Ich werde heute Abend für sein Seelenheil beten, bevor ich zu Bett gehe.“
 

„Das ist freundlich von dir“, sagte Fynn mit einem Lächeln. Sie fühlte sich um einiges wohler, als zuvor. Das Mädchen merkte, das ihr das Gespräch mit dem fremden, alten Mann gut tat, das sie endlich das Gewicht von ihrem Herzen nehmen konnte, das sie so lange schon geplagt hatte.
 

„Herrin?“, fragte jemand. Fynn wand sich um und erblickte eine der Dienerinnen, die ihr zuvor beim Umkleiden behilflich gewesen war. „Möchtet ihr etwas essen?“
 

„Fynn überlegte kurz und nickte. „Ja, bitte“; sagte sie und wand sich Drelden zu. Doch dieser war weg. Verwundert sah sich das Mädchen nach dem alten Mann um, der noch vor wenigen Augenblicken ihr gegenüber gesessen und sich mit ihr unterhalten hatte. Wo war er hin, fragte sie sich. Er hatte so alt und gebrechlich gewirkt, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass er davon geschlichen wäre.
 

„Sucht ihr jemanden, Herrin?“, fragte die Dienerin.
 

Fynn beschloss Drelden fürs erste geheim zu halten, weil sie sich nun nicht mehr sicher war, ob der liebe, alte Mann wirklich da gewesen war oder er nur eine Figur ihrer Einbildung gewesen sein könnte. „Nein, nein“, winkte sie ab. „Ich hab nur noch eine Bitte.“ Die Dienerin nickte und erwartet ihren Wunsch. „Könntest du mir einen großen Krug mit Bier beschaffen?“
 

„Bier? Wir haben keins. Aber ich könnte Sonnenschnaps herbei schaffen“, schlug die Frau vor.
 

Fynn nickte und lächelte. „Dann bring mir das, bitte“, sagte sie. „Nein, warte. Bring den Krug ins Zelt der Zwerge. Du wirst mich dort finden.“
 

„Wie ihr wünscht“, sagte die Dienerin und huschte davon und ließ Fynn mit der Frage zurück, ob sie sich Drelden nicht nur eingebildet hatte.
 

***
 

Lorgren streifte umständlich die weiße Wüstenrobe ab. Mit freiem Oberkörper und nur mit einer langen Hose bekleidet setzte er sich auf den mit Teppichen ausgelegten Boden seines Zeltes und schloss die Augen.
 

Amirah trat an den Wüstenreiter heran und kniete sich an seine Seite. Sie setzte die drei Schüsseln neben sich ab und betrachte den Mann eingehend. Seine Brust, gestählt und braungebrannt, hob und senkte sich ruhig. Erinnerungen an frühere Zeiten stiegen in der Wüstenprinzessin auf, Zeiten, in denen sie beide vertrauter miteinander umgegangen waren. Schnell kämpfte sie die alten Erinnerungen nieder und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.
 

Nohrasil hatte es nicht geschafft Raga umzustimmen. Der Hüne hatte den Clanführer mit Flüchen aus seinem Zelt geschmissen und davon geprahlt, wie schnell Lorgrens Blut den Sand rot färben würde. Nun musste Amirah ihren Verlobten auf den bevorstehenden Shar´Thek-Kampf vorbereiten, wie es den alten Sitten entsprach, in einer Zeremonie, die Geist und Körper des Kämpfers stählen sollte.
 

Es war üblich, das ein Familienmitglied des Kämpfers ihm bei der Zeremonie beiwohnte, doch Lorgrens Clan war viele Tage von ihnen entfernt. Amirah hatte diese Aufgabe übernommen, denn bald, wenn das nächste Jahr anbrach, würde sie seine Frau werden.
 

Amirah sah zu den drei Schüsseln, die sie mitgebracht hatte. In ihnen waren verschiedene Farben enthalten – rot, blau und weiß. Sie schloss die Augen und murmelte ein leises Gebet an die vier Winde, den vier Göttern der Wüstenländer. Raytih, der Nordwind, Janatha, der Westwind, Sylma, der Südwind und Otho, der Ostwind. Langsam öffnete sie wieder ihre Augen.
 

Sie ließ einen Finger in die rote Farbe tauchen, spürte deren angenehme Kühle an ihrer Haut und wand sich dem stillsitzenden Lorgren zu. Sehr vorsichtig, als hätte sie Angst, er könnte auseinander springen bei ihrer Berührung, trug sie feine Linien mit der Farbe auf seiner Haut auf. Immer wieder sank ihr Finger in die Schüssel und die Linien auf Lorgrens Brust bildeten langsam ein Bild. Einen Sanddrachen, der einen lautlosen Schrei ausstieß. Das Wappentier Amirahs Clans
 

Sie betrachtet einen Augenblick das Bild, bevor sie ihren Finger von den Resten der roten Farbe befreite und ihn anschließend in die blaue tauchte. Mit diesem trug sie nun Linien auf seinem Rücken auf. Amirah wiederholte das ganze auf seinem Rücken, doch kein Sanddrache entstand, sondern einen stolzen Wüstenhengst, der seine Vorderläufe gen Himmel hob. Das Wappentier Lorgrens Clans.
 

Sobald der Finger gereinigt war, ließ sie ihn in der weißen Farbe versinken. Unwillkürlich zitterte die Prinzessin. Nun kam wohl das wichtigste aller Zeichen dran, das Lorgren, so der Glaube, vor allen Angriffen schützen und ihm unglaubliche Kraft schenken sollte. Sie durfte sich nicht verzeichnen, denn sonst wären die Winde nicht mit ihrem Verlobten und das wollte sie vermeiden.
 

Zögerlich streckte sie den Finger aus, um über seinen starken Arm zu malen. Kurz bevor sie die bronzene Haut berührte, hielt sie inne und schloss die Augen. Amirah sammelte Kraft und Mut für den bevorstehenden Akt. Als sie ihre Augen wieder öffnete, stand wilde Entschlossenheit in den dunkelblauen Tiefen geschrieben.
 

Sie berührte die Haut mit dem weißen Finger und fing an komplizierte Muster zu malen. In schneller Reihenfolge tauchte ihr Finger in die Farbe und huschte über die Haut von Lorgrens Arm. Feine Schweißperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet und unwillkürlich biss sie sich auf die Unterlippe. Sie vollzog diese alte Zeremonie das erste Mal in ihrem Leben, doch einem Zuschauer würde es so erscheinen, als hätte sie nie etwas anderes gemacht.
 

Als die Wüstenprinzessin den Finger von seiner Haut nahm, zitterte sie, denn es war vollbracht. Verstrickte Muster wanden sich von seiner Schulter bis hin zu seiner Hand. Sie glaubte nicht, dass sie so etwas auch nur annähernd wieder schaffen würde, so kunstfertig waren die Muster. Beim nächsten Shar´Thek, dachte Amirah unwillkürlich und musste ihr aufkommendes Lächeln nieder ringen.
 

Lorgrens Augen öffneten sich und sein Blick traf den der jungen Frau. Sie nickte ihm leicht zu und tunkte ihren immer noch von weißer Farbe benetzten Finger in die rote und blaue Farbe. Mit diesem Finger strich sie behutsam über seine rechte Gesichtshälfte. Sie malte vier Wellen, die für die vier Winde standen. Als sie fertig war, nahm sie ihren Finger zurück und sah ihm in die braunen Augen.
 

„Mögen die vier Winde deine Klinge sicher führen“, hauchte sie ihm zu und schlug die Augen nieder. Sie erhob sich langsam, denn nun kam die Zeit der Ruhe, wo Lorgren sich geistig auf den bevorstehenden Kampf vorbereiten musste. Doch sie konnte nicht anders und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. Als er sie überrascht ansah, sagte sie leise: „Soll auch der dir Glück bringen.“ Dann ging sie, ließ ihn zurück.
 

Amirah hörte nicht mehr, wie er flüsterte: „Danke, Prinzessin.“
 

***
 

Raga sah seiner Frau nach, als sie mit dem Ritual fertig war. Wie auch bei Lorgen hatte sie seinen Körper mit den drei Farben bemalt, doch war sein Rücken mit einer Sonne versehen worden. Er war ein Krieger des Wüstendrachenclans und stolz darauf, obwohl ihn die Blindheit seines Clanführers verärgerte.
 

Als er alleine war, kam eine gedrungene Gestalt aus den Schatten zu ihm geschlichen. Der Mann hatte die Kapuze seiner Robe tief ins Gesicht gezogen, bis nur noch sein Mund zu sehen war. Ein hinterhältiges Lächeln lag auf seinen Lippen, das von seiner heimtückischen Natur zeugte. Er kniete sich neben den hünenhaften Mann und betrachtet die Muster auf seinen beiden Armen, die Ragas Frau darauf gemalt hatte.
 

„Die Muster sind fehlerfrei“, krächzte der kleine Mann mit einer Stimme, die an das Quieken einer Ratte erinnerte. Er begutachtet den Wüstendrachen und die Sonne, bevor er nickte. „Oh ja, die vier Winde sind wahrlich mit dir.“
 

Raga drehte dem kleinen Mann den Kopf zu und funkelte ihn an. „Warum bist du noch hier?“, wollte er von ihm wissen. „Du siehst doch, dass ich mich auf den Kampf vorbereiten muss, Tensh.“
 

Tensh kicherte nervös und nickte. „Ja, ja.“ Er nickte eifrig. „Aber ich wollte dich vorher noch fertig machen.“
 

„Fertig? Mein Weib…“, fuhr er auf, doch der kleine Mann schnitt ihm rasch das Wort ab.
 

„Nein, nein, hat sie nicht“, kicherte er und zog einen Dolch mit einer hauchfeinen Klinge aus den Ärmeln seiner Robe. „Es gibt da noch ein Muster, das in alten Tagen gemacht wurde, ein Zeichen, das seinem Träger unbeschreibliche Kraft verlieh. Ich frag mich nur, warum das heute nicht mehr gemacht wird.“
 

„Was soll das für ein Zeichen sein?“, wollte der große Mann wissen, dessen Interesse geweckt worden war.
 

„Ein Zeichen aus Blut“, erklärte ihm Tensh eifrig. „Man ritzt dem Träger das Zeichen ein, damit die Stärke in den Körper fließt. Das hat früher immer der Clanführer gemacht. Doch das scheint in Vergessenheit geraten zu sein, wie mir scheint.“
 

Raga funkelte den kleinen Mann misstrauisch an. „Woher weist du von so etwas?“, wollte er wissen.
 

„Weil ich mich nun mal mit den alten Schriften befasst habe“, brabbelte Tensh und erwiderte den Blick des anderen. „War ja schließlich nicht umsonst in den Städten unterwegs, mein Freund.“
 

„Glaubst du wirklich, das dieses Blutzeichen mir behilflich sein könnte?“, fragte Raga den kleinen Mann, der sofort nickte. „Dann setz deine Klinge an und vollziehe schnell, was du vorhast.“
 

Tensh kicherte begeistert und rückte hinter den großen Raga. Als er seinen breiten Rücken vor sich hatte, legte er die Klinge seines Dolches an und ritzte behutsam etwas in die Sonne hinein.
 

Raga zischte, als er die Klinge spürte, doch Tensh ließ sich davon nicht stören. Das Zeichen nahm allmählich Form an und das Blut, das aus den hauchfeinen Wunden trat, vermischte sich mit der blauen Farbe des Sonnenbildnisses.
 

Als er fertig war, rutschte Tensh von Raga zurück und bewunderte sein Werk stolz. Er hatte es perfekt getroffen. Der kleine Totenkopf war so klein, das er niemanden auffallen würde, der auf den Rücken des großen Mannes sehen würde.
 

Ohne rot geworden zu sein, hatte Tensh den großen Raga angelogen, als er ihm von diesem angeblichen fehlenden Zeichen erzählt hatte. Wieder einmal musste er seine Kunst der Lügen preisen und Skorm, dem allmächtigen Zerstörer dafür danken, ihn mit dieser Gabe gesegnet zu haben. Sein Ruhm würde umso mehr steigen, wenn erst das Blut der Hüterin fließen würde. Dann wäre Skorm vollends mit ihm zufrieden.
 

„Mögen die vier Winde dich mit diesem Zeichen zusätzlich stärken“, flüsterte Tensh Raga zu, bevor er sich wieder in die Schatten des Zeltes schlug und durch das kleine, geheime Loch in der Zeltplane schlüpfte, das er mit seinem Dolch geschnitten hatte. Endlich aus dem Zelt raus, murmelte der Anbeter Skorms: „Möge Skorm dich zu seinem todbringenden Werkzeug machen.“
 

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