Familienbande
„Faith!“ Mira und Itsuki sprangen gleichzeitig aus den breiten Clubsesseln des Pokémoncenters auf und stürmten auf ihre Begleiterin zu, die soeben den Raum betrat und zusammenzuckte, als sie schräg neben sich ihren Namen so lautstark hörte.
„Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht! Wo warst du?“ Mira schob Itsuki zur Seite und fiel Faith erleichtert um den Hals, drückte sie an sich und ließ nur widerwillig von der Freundin ab. „Wie konntest du mir das antun? Itsuki und ich haben die ganze Stadt nach dir abgesucht!“
„Tut mir leid“, murmelte Faith entschuldigend und schaute zu Itsuki, in dessen Augen eine Mischung aus Erleichterung und Neugierde aufblitzte. „Ich denke, ich habe einfach die Nerven verloren. Joel ist ein Arschloch.“
„Joel und Trixi sind übrigens schon abgereist. Sag beim nächsten Mal wenigstens kurz bescheid, wenn du dich zurückziehst.“ Itsuki schnaubte und verschränkte die Arme vor dem Körper. „Und so wie ich dich einschätze, hast du am Vulkan trainiert, nicht wahr?“
Faith staunte nicht schlecht über die messerscharfe Auffassungsgabe ihres kühlen Begleiters, nickte jedoch und reichte dann Schwester Joy ihre drei Pokébälle. Natürlich bemerkte sie augenblicklich die fragenden Blicke ihrer Begleiter und mit Stolz in der Stimme berichtete Faith ihnen von ihrem neuen Teammitglied Voltilamm. „Ich habe jetzt allerdings einen tierischen Hunger und werde die halbe Kantine leeren. Ein Relaxo ist nichts dagegen.“
Nach dem Abendessen saßen die drei Jungtrainer im Foyer des Pokémoncenters und unterhielten sich über dies und das. Mira hatte ihr Evoli auf dem Schoß und das kleine, braune Pokémon döste dort vor sich hin, nur ab und an zuckten seine Ohren, wenn es einen interessanten Gesprächsfetzen aufschnappte. Itsuki hatte seinen Schneppke aus dem Pokéball gelassen und sein Starter spielte mit Faiths Voltilamm, das sich als richtiges Energiebündel erwies und sich auf Anhieb blendend mit Schneppke verstand.
Faith, die kurz mit ihren Eltern in Litusiaville telefoniert hatte, kam lächelnd zu Itsuki und Mira zurück und setzte sich in ihren Sessel. „Meine Eltern lassen euch schön grüßen. Sie freuen sich schon darauf, wenn wir in Litusiaville sind und bei mir zu Hause vorbeischauen. Sie möchten euch wirklich gerne kennen lernen.“
„Deine Eltern haben dort ein Restaurant, wenn ich mich richtig erinnere?“ Itsuki legte seine Stirn in Falten und lächelte schließlich. „Dann müsstest du eigentlich besser kochen können.“
Faith schnitt ihm eine Grimasse, bestätigte jedoch den Beruf ihrer Eltern. „Ja, wir wohnen direkt am Strand, das ist wunderbar. Ich bin immer mit dem Rauschen der Wellen eingeschlafen und am nächsten Morgen wieder aufgewacht. Ihr werdet es lieben, da bin ich mir sicher.“
„Was machen deine Eltern, Mira?“
Das schüchterne Mädchen wandte Itsuki mit einem schmalen Lächeln den Kopf zu und strich liebevoll über Evolis Kopf. „Mein Vater ist ein Pokémonforscher und ständig unterwegs. Wir sind oft umgezogen, aber meine Mutter ist sehr bodenständig und hat seine windige Art immer gemeistert. Meine kleine Schwester kommt total nach meinem Vater, sie ist ein richtiger Wirbelwind. Und was ist mit deiner Familie, Itsuki?“
Gespannt schauten sowohl Mira als auch Faith ihn an, merkten jedoch beide sofort die Veränderung in seinen Augen, weshalb Mira ihre Nachfrage im nächsten Moment schon wieder leid tat.
Itsuki spürte Wut in sich aufkeimen, kalte Wut, die er mit ebensolcher Kälte unterdrücken konnte. Sein Blick wurde hart, er schaute zu Schneppke, das sein Spiel mit Voltilamm unterbrochen hatte und ihn starr musterte. „Meine Eltern leben getrennt“, meinte Itsuki schließlich und räusperte sich. „Ich lebe mit meinen beiden älteren Schwestern bei meiner Großmutter, der Mutter meines Vaters. Mehr gibt es darüber nicht zu erzählen.“
Faith hatte bei der Verteilung des Taktgefühls weitaus weniger abbekommen als Mira und öffnete bereits zur Nachfrage den Mund, doch Miras saftiger Tritt gegen ihr Schienenbein ließ ihre Lippen in einem stummen Schmerzenslaut verziehen. „Das tat weh“, zischte sie Mira zu, die lediglich eine deutliche Rosafärbung auf den Wangen bekam und den Blick senkte.
Im nächsten Moment erschien Schwester Joy neben ihnen, den Mund zu einem freundlichen Lächeln verzogen. „Mireillia, es ist jemand für dich am Telefon. Deine Schwester.“
„Kohana?“ Ungläubig hob Mira die Augenbrauen, zog diese jedoch schnell zu einem Strich zusammen und presste die Lippen aufeinander. „Na schön, ich komme.“ Sie erhob sich, doch lag Unsicherheit in jeder Bewegung, als sie Schwester Joy folgte.
„Wirst du bald gegen Anja kämpfen?“ Itsukis Themenwechsel kam prompt auf Miras Abwesenheit und Schneppke entspannte sich zeitgleich mit seinem Trainer wieder.
„Ich werde mir Zeit beim Training lassen. Bibor braucht dringend ein paar neue Moves und mit Voltilamm muss ich erst üben. Danach aber schon, ja. Was mich allerdings schon die ganze Zeit über“, sie pausierte kurz, „interessiert, ist die Frage, ob Mira und du in meiner Abwesenheit wirklich die ganze Stadt nach mir abgesucht habt.“
„Sicher“, antwortete Itsuki mit schneidender Sachlichkeit in der Stimme, als wäre Faiths Frage vollkommen abstrus. „Mira ist beinahe verrückt geworden, ich habe sie beruhigt und dann haben wir gesucht. Als du allerdings nach ein paar Stunden noch nicht wieder aufgetaucht warst, dachte ich mir schon, dass du trainieren wirst. Beim letzten Mal warst du auch so kopflos, als Joel dich aus der Fassung gebracht hat.“
„Damals haben wir und kennen gelernt, ja. Ich hatte Fieber bekommen. Dumme Sache.“ Ihr Mund wurde plötzlich ein wenig trockener, als sie sich ausmalte, wie genau Itsuki Mira beruhigt hatte. Ob er sie in den Arm genommen hatte? Ein leichtes Stechen in ihrer Brust, das eindeutig den Namen Eifersucht trug, ließ sie aufschrecken. Nein, an so etwas würde sie nicht denken. Da Itsuki nichts weiter dazu sagte, schwieg auch Faith und schaute dem Spiel von Schneppe und Voltilamm zu.
Das Elektroschaf mähte immer wieder vergnügt und trabte nach einer Weile zu Faith, um ihre Hand anzustupsen.
„Willst du zurück in den Pokéball?“ Auf das Nicken ihres Pokémon hin zückte Faith den Pokéball und ließ Voltilamm in dem rötlichen Strahl verschwinden. Kurz darauf trat Mira zu ihnen, war jedoch sehr blass um die Nase und wirkte vollkommen neben der Kappe. „Was ist los?“
„Schlechte Nachrichten?“, erkundigte sich nun auch Itsuki besorgt und beugte sich nach vorne.
Mira schüttelte den Kopf, hielt dann aber inne und nickte doch. Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich auf ihren Platz sinken und kuschelte Evoli an sich. „Meine kleine Schwester, sie will unbedingt in die Fußstapfen unseres Vaters treten. Das war schon immer ihr Wunsch, aber jetzt ist sie auch zu ihrer Reise aufgebrochen und sie will mich besuchen kommen! Ihr Anruf kam aus Lapidia, sie nimmt schon morgen früh den Bus hier her!“
„Das ist doch nett, dann lernen wir Kohana kennen. Sie ist bestimmt genau so nett wie du, da musst du doch jetzt nicht so panisch werden“, sprach Faith vollkommen überzeugt und knuffte Mira in die Seite, doch diese blickte Faith einfach nur entgeistert an.
„Das ist eine Katastrophe! Kohana und ich sind grundverschieden. Sie ist immer sofort bei allen beliebt und sie ist so offen. Ich dagegen… Nein, das ist schrecklich! Könnt ihr euch nicht vorstellen, wie es ist, immer im Schatten der kleinen Schwester zu stehen?“ Mira seufzte erneut und vergrub ihr Gesicht in Evolis weichem Fell. Das würde eine unruhige Nacht für sie werden.