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Rumo und die Wahrheit der Alchimisten

von

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Blaubär

Rumo fühlte sich ein bisschen wie der Held einer altzamoischen Abenteuer-Saga, einer handfesten Tragöde mit eindeutig archaischem Odyssee-Charakter, der durch die Weltgeschichte geschickt wurde, nur um festzustellen, dass er am Ende seiner Reise nicht viel weiter war als zu Beginn. Irgendeine absurde Laune des Schicksals schien sich daran zu amüsieren, ihn wie einen Narren über die Landkarte hetzten zu sehen, wobei es sich wahlweise um Obenwelt oder auch um Untenwelt zu handeln schien, Hauptsache war, dass er konstant und ohne Pause einem möglichst aberwitzigem Ziel hinterher jagte. Er hatte inzwischen genug Abenteuer erlebt, um eine ganze Generation junger, vorwitziger Zamonier mit einer aufregenden Lebensgeschichte auszustatten, die dieses ihren Angebeteten am Lagerfeuer mit einer Gruselkerze unter dem Kopf erzählten, um sich dann bewundern zu lassen.

Für seinen Geschmack hätten es allerdings ruhig ein paar Eskapaden weniger sein dürfen. Zum einen brauchte er die Frau seiner Träume nicht mehr mit Wagemut zu beeindrucken – das hatte er hinter sich – und zum anderen war er langsam aber sicher die ständigen Verletzungen und Schmerzen Leid. Ihnen verdankte er, dass ihm nun kupferfarbene Drahtstummel aus dem Nacken ragten, die ein wenig an alchimistische Anschlüsse erinnerten, ganz so als sei er ein entflohenes Experiment.

Während er von Hektor durch das Stollenlabyrinth, die eigentlich letzte Prüfung der Nachtschule geführt wurde, fuhr sich Rumo zum wiederholten Male vorsichtig über die metallenen Fremdkörper. „Vielleicht sollte ich mich bei den Kupfernen Kerlen bewerben“, witzelte er in allerbester Galgenhumor-Manier. „Ich habe gehört, die suchen noch einen Anführer.“

Hektor sah ihn fragend von der Seite an. „Kupferne Kerle? Wer soll das denn sein?“

„Ach, nicht so wichtig“, antwortete Rumo, der keine Lust hatte in große Erklärungen zu verfallen. Er war kein guter Redner und verspürte auch nicht das geringste Bedürfnis einer zu werden. „Sag mir lieber, wie lange wir noch in diesen Gängen herumrennen müssen. Diese bescheuerten Tunnel sehen alle gleich aus, ich werde noch irre im Kopf.“

Sein Begleiter lachte und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulte. „Sei froh, dass wir noch keinem Stollentroll begegnet sind. Die können dich wirklich irre machen.“

Der Wolpertinger musste gegen seinen Willen grinsen. „Das kommt mit bekannt vor.“

„Was?“, protestierte Löwenzahn in seinen Gedanken. „Willst du damit irgendetwas sagen?“

Rumo hatte keine Zeit sich um seinen nörgelnden Freund zu kümmern. Stattdessen blieb er irritiert stehen und hob die Schnauze, um Witterung aufzunehmen. Soeben hatte er – zum ersten Mal seit vielen Stunden – wieder einen Luftzug in seinem Fell spüren können und merkte, wie Euphorie in ihm hochstieg. Vielleicht war unterwegs sein alles in allem doch gar kein so schlimmer Zustand.

„Hey, Werwolf“, sagte er, plötzlich wieder voller Abenteuerlust, „hast du das gefühlt? Diesen Luftzug meine ich! Wir müssen nahe am Ausgang sein! Lass uns einen Zahn zulegen, ja?“

Er packte Hektor am Arm und wollte ihn zu einer schnelleren Gangart bewegen, doch dieser zog seine Pfote mit sanfter Gewalt zurück. „Immer langsam mit den jungen Wolpertingern, Rumo – das war doch dein Name, oder? Dass du hier einen Lufthauch spürst, bedeutet noch lange nicht, dass ein Tunnelende in der Nähe ist. Der Wind weht hier auch innerhalb der Stollen, er ist sozusagen gefangen. Wenn er einmal drin ist, findet auch er nur selten wieder heraus.“

Rumo beschlich ein unguter Verdacht. „Sag mal“, fragte er seinen Begleiter misstrauisch von der Seite, „du weißt aber schon, wie wir hier herauskommen, oder?“

Hektor lachte. „Wie hätte ich dich sonst unten im Wald auflesen können?“

Das war ein gutes Argument und es beruhigte ihn ein wenig, wenn auch nicht vollständig, das würde erst der Fall sein, wenn er endlich wieder den Himmel über sich sah und der – echte – Wind um seine Nase wehte. „Können wir uns trotzdem etwas beeilen?“, bat er. „Ich bin etwas nervös.“

Hektor musterte ihn kritisch. „Kannst du denn schon wieder so schnell laufen? Ich will dich nicht wieder zurück in die Nachtschule schleppen müssen, weil du auf halber Strecke schlappgemacht hast.“

Rumo hüpfte ein paar Mal auf der Stelle, schüttelte Arme und Beine und dehnte seinen Nacken. Es knackte kurz und zog etwas, tat allerdings nicht mehr wirklich weh. „Sollte funktionieren. Mach dir um mich keine Sorgen.“

„Ich mache mir eher Sorgen um mein Rückgrad“, neckte Hektor. „Wenn ich dich die ganze Zeit tragen muss, kann ich mir bald einen Chiropraktiker suchen.“

Die beiden Hundewesen grinsten einander an und verfielen in einen leichten Trab, liefen dann einige Minuten schweigend nebeneinander her. Rumo genoss es sich endlich wieder seiner Natur entsprechend bewegen zu können ohne bei jedem Schritt vor Schmerzen zusammen zu zucken. Er merkte, wie er sich mehr und mehr entspannte, mit jedem Meter weiter zu seinem alten Selbst zurückkehrte und freier und gelöster wurde. Seine Schritte wurden raumgreifender und seine Arme schwangen locker neben seinem Oberkörper, eine Veränderung, die auch Hektor auffiel. Mühelos passte er sich Rumos zügigem Tempo an. „Übernimm dich nicht, Windhund. Du bist noch nicht ganz gesund, vergiss das nicht.“

Rumo lachte laut auf und steigerte ein weiteres Mal seine Geschwindigkeit. „Das sagst du nur, weil du Angst hast, dass du nicht mit mir mithalten kannst!“ Er streckte sich stromlinienförmig, setzte die Vorderpfoten auf den Boden und preschte los, dass die Steine hinter ihm aufflogen. Hektor tat es ihm gleich und jagte neben ihm den Gang hinunter, zwei Hunde, die sich gegenseitig in wildem Spiel durch die spärlich beleuchteten Stollen hetzten, dabei wie toll bellten, heulten und lachten. Beide schienen froh endlich einmal einen Vertreter einer ähnlichen Gattung zu treffen, mit dem sie Instinkte und körperliche Voraussetzungen teilten und sich einmal richtig austoben konnten.

Sie standen einander in nichts nach, weder in Kraft noch in Geschwindigkeit und auch ihre Ausdauer ließ nicht zuwünschen übrig, beinahe eine halbe Stunden schossen sie durch die mal engeren, mal weiteren Gänge.

Dann geschah mit einem Mal etwas, womit Rumo schon beinahe nicht mehr gerechnet hatte.

Er sah Licht.

Nicht etwa das fahle, schummrige Licht der am Fels angebrachten Ewigkerzen, sondern helles, freundliches Tageslicht, das ihm entgegen schien wie das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels. Hektor hatte also Wort gehalten, er wusste, wie man dem Labyrinth der Finsterberge entkam, noch dazu hatten sie kaum mehr als zwei Stunden gebraucht, sodass er wohl sogar noch vor Sonnenuntergang des fünften Tages wieder Erdboden unter seinen Pfoten spüren würde.

Bleib nur noch eine letzte Frage.

„Wie kommen wir da runter?“, rief er Hektor, der neben ihm sprintete, zu, denn nach seiner Einschätzung befanden sie sich in mindestens einhundert Metern Höhe. „Nimmst du mich wieder huckepack?“

Hektor lachte und schüttelte den Kopf.

„Wie dann?“

Der Werwolf grinste schelmisch. „Wir springen.“

Rumo verlor für den Bruchteil einer Sekunde an Geschwindigkeit. „Wir springen? Bist du verrückt?“

„Nicht im Geringsten“, antwortete Hektor freudestrahlend. „Das ist das absolut Größte, das musst du ausprobiert haben!“ Er legte die Ohren zurück, zog den Kopf zwischen die Schultern und raste wie ein Berserker auf den Ausgang zu. Dann stieß er sich von dem Felsvorsprung ab und verschmolz mit dem hellblauen, wolkenlosen Himmel.

Rumo hatte keine Zeit sich zu fragen, ob er wahnsinnig genug war dem weißen Wolf zu folgen, das Ende des Stollens schien sich von ganz alleine auf ihn zu zu bewegen, ohne dass er irgendetwas dagegen tun konnte.

Und dann verließen seine Pfoten den Steinboden.

Er hatte sich kraftvoll vom Fels gelöst und schien nun zu schweben, völlig schwerelos zu sein, in der Luft zu hängen wie eine Feder, die von der Thermik immer höher gewirbelt wurde. Für einen Moment geschah gar nichts, die Welt um ihn herum stand still und nicht einmal das kleinste Geräusch war zu hören, als setze das gesamte Uhrwerk der Zeit für einen Schlag aus.

Dann ging es abwärts und an die Stelle des Gefühls des völligen Stillstands trat die pure Geschwindigkeit. Wind rauschte und pfiff in Rumos Ohren wie ein Orkan, sein Fell wurde eng an seine Haut gedrückt und er musste die Augen schließen. Sein buschiger Wolfsschwanz wehte unkontrolliert hinter ihm und er musste sich anstrengen keinen Überschlag zu vollführen, so kraftvoll rissen die Elemente an ihm. Es war ein schlicht unglaubliches Gefühl von nie gekannter Freiheit, ein einziger Endorphinrausch, der sein Bewusstsein überflutete und seinen Magen zum kribbeln brachte. Um seinen lädierten Schultergürtel nicht über zu strapazieren, verschränkte Rumo die Arme vor der Brust und klemmte dabei gleichzeitig seine neue Umhängetasche mit dem Ellenbogen ein. Seine Brusttasche ließ sich glücklicherweise mit einem Knopf verschließen, sonst hätte er bei einer gefühlten Fallgeschwindigkeit von etwa einhundert Stundenkilometern doch etwas um deren Inhalt gefürchtet.

So atemberaubend der freie Fall auch war, die Landung war es definitiv nicht. Rumo kam bei seinem Aufprall unwillkürlich das Bild eines Zaunpfahls in den Kopf, der unangespitzt in den Boden gerammt wurde, so hart schlugen seine Hinterläufe auf dem Boden auf. Eine Schockwelle jagte seine Wirbelsäule hinauf und versetzte die Drahtenden in Schwingung bis es schmerzte und er gepeinigt aufschrie. Sein gesamter Körper schien auf die Größe eines Fhernhachen zusammengestaucht zu werden und Rumo betete inständig, dass seine Gelenke und Knochen diesem plötzlichen Druck standhalten würden. Unter ihm platzte die trockene Erde auf und zerbarst zu feinem Staub, sodass er einige Zentimeter in den Waldboden einsank und eine beachtliche Wolke aus Sand und Grashalmen aufwirbelte.

Gerade als der Wolpertinger das Gefühl hatte, endgültig zerquetscht zu werden, wurde es um ihn herum still, der Druck auf seinen Schultern ließ nach, seine Muskeln entspannten sich und er konnte sich zitternd aufrichten.

„Wow“, hauchte er. „Das… das war unglaublich. Schmerzhaft, aber unglaublich.“ Er steckte Arme und Beine und fuhr sich mit der Pranke über den gehörnten Schädel, tastete dann seinen Oberkörper ab und drehte sich einmal um die eigene Achse.

„Na, alles noch dran?“ Hektor kam aus einem nahe gelegenen Gebüsch auf ihn zugesprungen und legte ihm seinen weißen Arm um die Schultern. „Du sahst echt Hammer aus da oben. Wie ein Wilder.“

Mit einem wilden, auf vier Beinen gehenden Wolpertinger verglichen zu werden, war, wenn man zivilisiert war und aufrecht ging, zwar meist eher kein Kompliment, doch dieses mal fühlte sich Rumo geschmeichelt. Es schien ihm durchaus positiv zu sein, wenn man die körperlichen Eigenschaften eines Raubtieres mit den geistigen Fähigkeiten eines höher entwickelten Zamoniers in sich verband.

„Das war absolut KRASS!“, rief Löwenzahn und gab ein triumphierendes Heulen von sich. „Wir sind wieder da, Baby, wir sind wieder da!“

„Hätte echt von mir sein können“, fügte Grinzold anerkennend hinzu. „Zu Lebzeiten war das meine Standartmethode von Bergen herunter zu kommen.“

Rumo grinste und verdrehte die Augen. ‚Aber klar doch.’

Dann sah er sich um. Sie waren nur ein paar Meter entfernt von der Stelle gelandet, an dem er von dem Laubwolf niedergestreckt worden war, noch immer waren Harz und Blut deutlich zu riechen. Er wandte sich zu seinem Wegbegleiter auf Zeit um, der den leicht desorientieren Wolpertinger mit sichtlichem Amüsement beäugte. „Sag mal, Hektor, was ist eigentlich aus dem Vieh geworden, das mich angefallen hat?“

Der Werwolf kratzte sich am Kopf. „Ähm, ich glaube, den hat der Professor zum Ausstopfen gegeben. So etwas sieht man ja nicht alle Tage, so ein Tier. Wieso? Wolltest du ihn als Andenken?“

Lachend schubste Rumo sein Anhängsel von sich weg, sodass dieser rückwärts taumelte uns sich unfreiwillig ins Gras setzte. „Ganz sicher nicht, du Straßenköter.“

Hektor hustete kurz, richtete sich wieder auf und schlug sich den Staub aus dem schneeweißen Fell, dann stemmte er die Hände in die Hüften und sah Rumo mit schief gelegtem Kopf an. „Und? Was hast du jetzt vor, du Kamikaze-Held?“

Der Wolpertinger blickte in den großen Wald, der sich vor ihm ausbreitete wie ein Dschungel, wild und unberechenbar und mit einem Haufen ziemlich gefährlicher Biester, die er so schnell nicht wieder unterschätzen würde. „Ich schätze, ich sollte tun, was Nachtigaller gesagt hat. Vielleicht kann mir dieser Mythenmetz ja wirklich weiterhelfen.“

„Davon kann man ausgehen“, sagte Hektor gut gelaunt wie eh und je und trat neben seinen neuen Freund.

„Du kennst ihn?“

„Rumo, so ziemlich jeder außer dir kennt Mythenmetz“, seufzte der Weiße theatralisch, konnte sich jedoch ein Grinsen kaum verkeifen. „Na was soll’s“ – er schlug dem Wolpertinger kraftvoll auf den Rücken, sodass dieser zusammenzuckte –„du wirst ihn ja bald kennen lernen. Dafür wüsche ich dir übrigens viel Glück.“

Rumo begann sich langsam zu fragen, warum ihm jeder, der von seinem nahenden Treffen mit dem Schriftsteller wusste, Glück für sein Vorhaben wünschte. Wie schwer konnte es denn schon sein, eine verweichlichte Urechse davon zu überzeugen ihm ein wenig über alte zamonische Legenden zu erzählen? Und außerdem hatte der Professor ja gesagt, dass dieser andere Typ, der Buntbär, ihm die Arbeit abnehmen sollte, warum auch immer. Es gab also im Grunde keinen Anlass sich Sorgen zu machen, alles schien perfekt – soweit man seine derzeitige Lage perfekt nennen konnte – und dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass an der ganzen Geschichte irgendetwas schrecklich faul war.

„Äh, wie auch immer“, antwortete er und strich sich über den Hinterkopf. „Danke für deine Hilfe, schätze ich.“ Er streckte Hektor unbeholfen seine Pranke entgegen und der schlug strahlend ein.

„Kein Problem, Kumpel. Du bist echt in Ordnung.“

Der Wolpertinger zog seine Hand zurück und trat nervös von einem Fuß auf den anderen, während er seinen Blick betreten zu Boden richtete. Abschiede lagen ihm so gar nicht, man brauchte ein gewisses Geschick mit Worten dazu und das war etwas, was er mit Sicherheit nicht besaß. „Na… gut, dann mache ich mich jetzt mal auf den Weg…“ Er lachte unsicher und wandte sich zum Gehen, drehte sich dann jedoch eine plötzlichen Eingebung folgend noch einmal um. „Und… äh….“ Er gab sich einen Ruck. „Du bist auch in Ordnung, Hektor. Lass von dir hören, wenn du mal nach Atlantis kommst, abgemacht?“

Hektor grinste von einem seiner weißen Ohren zum anderen. „Abgemacht!“
 

„Mann, was war das denn?“, fragte Grinzold angewidert, als sie einige Meter in den Wald hinein gelaufen waren. „Das war ja die reinste Schmierenkomödie! Du bist ein Krieger und Krieger machen so etwas nicht, verstanden?“

„Machen was nicht?“, erkundigte sich Rumo in gespielter Ahnungslosigkeit.

Grinzold machte ein Geräusch, das wohl ein Würgen sein sollte aber eher wie ein Knurren klang, der einzige Laut zu dem er abgesehen vom Sprechen fähig war. „Na dieses Herumgesülze! Was soll das? Du hättest ihm aufschlitzen und sein Fell verkaufen sollen, so weiß wie das war, hätten wir bestimmt eine Menge Schotter dafür bekommen.“

Löwenzahn quiekte. „Grinzold! Der Kerl war doch nett!“

„Ja, ein netter Bettvorleger.“

„Grinzold!!“

Rumo holte aus und versetzte dem Griff seines Schwertes einen Schlag mit der Pranke. „Jetzt haltet die Klappe, ihr Nervensägen! Hier wird keiner Hektors Fell als Bettvorleger verkaufen.“

„Dann halt nicht“, murrte der Dämonenkrieger. „Aber motz mich nicht an, wenn du pleite bist, klar.“

„Ich werde es mir merken“, seufzte Rumo während er sich in seinen Weg durch das Dickicht schlug und sich dann und wann unter einem zurückschnellenden Ast wegdruckte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den schwachen süßlichen Hauch, der ihm aus südlicher Richtung entgegenwehte, wo nach einigen Kilometern die Süße Wüste, die größte und tödlichste aller zamonischen Landschaften, begann. Dort würde, laut Nachtigaller, sein neuer Begleiter auf ihn warten, ein Buntbär mit offenbar zweifelhafter Vergangenheit, so zumindest hatte es in seinem Gespräch mit dem Professor geklungen. Alles in Allem rosige Aussichten…

Die untergehende Sonne färbte den Himmel über Rumo erst rot, dann nachtschwarz, Baumschemen wurden zu riesenhaften Schatten, normale Waldgeräusche zu bedrohlichem Flüstern und hinter jedem Felsen schien ein neues Untier zu lauern. Er hätte nicht gerade behauptet Angst zu haben, wohl war im allerdings auch nicht bei seiner einsamen Reise durch diesen finsteren Höllenwald, der der Legende nach einst eine Waldspinnenhexe beherbergt hatte, eines der mörderischsten Daseinsformen des Kontinents. Zwar galt dieses Wesen schon seit Jahren als ausgestorben – angeblich hatte man ihre Überreste sogar zeremoniell auf einer Waldlichtung verbrannt – dennoch schien es Rumo angebracht, den Forst so schnell wie möglich hinter sich zu lassen.

Es musste etwa Mitternacht sein, als der Wolpertinger durch die letzten, dünner werdenden Baumreihen brach und aus dem Unterholz stolperte, wie ein Welpe bei seinen ersten Gehversuchen. Vor ihm erstreckten sich in schier endlosen Weitern die ewig wandernden Dünen der Süßen Wüste, die durch ein seltenes Wetterphänomen, einer Art wolkenfreier Zone entstanden war, in deren ewigem Sonnenschein die Zuckerrohrfelder der fhernhachischen Bauern, die dort eins gesiedelt hatten, restlos ausgetrocknet und deren süße Frucht zu Staub zerfallen war. Der pulverisierte, dehydrierte Zucker hatte sich mit dem sandigen Boden gemischt und war zu dem geworden, was man in der alten Sprache die Deserta Dulcis nannte. Nirgendwo sonst als in Zamonien konnten Leben und Sterben so nahe nebeneinander existieren, ohne sich gegenseitig in die Quere zu kommen und sich den Rang streitig zu machen. Großer Wald und Süße Wuste gingen nahtlos ineinander über und büßten dabei nichts von ihren jeweiligen Eigenschaften ein, waren bis zu ihrem äußersten Rand ihrer ganz eigenen Schönheit verhaftet, die vor allem das Ödland so einzigartig machte. Der Wind hatte skulpturartige Formen in den erstarrten Zuckersand geschliffen, die sich gegen den Nachthimmel abzeichneten wie lebendige Wesen und auf Rumo hinabzustarren schienen. Der Boden hatte eine ebenso prächtige wie außergewöhnliche Maserung, die wie gemeißelt schien und doch völlig natürlich gewachsen war.

Der Wolpertinger fühlte sich ein wenig erschlagen von der plötzlich aufwallenden Hitze, die von der süßen Einöde ausging und ebenso präsent war, wir ihr einmaliger, durchdringender Geruch. Er starrte wie gebannt auf die faszinierende Todesfalle vor ihm, denn obwohl er ohne Frage weit herumgekommen war, hatte er diesen Teil des Kontinents noch nie gesehen. Der Boden unter seinen Pfoten fühlte sich beinahe weich an, der Sand gab angenehm nach und lud ihn geradezu ein, einen kleinen Rundgang über die nahe gelegenen Dünen zu machen. Er würde sich nur kurz umsehen, würde den Wald stets im Blick behalten und nur einen winzigen Blick auf das wunderbare Naturschauspiel werfen, dann sofort wieder umkehren und zum Saum zurückkehren.

Mit diesem Plan fest im Kopf trat er einen Schritt vor.

„Hey, willst du etwa ohne mich gehen?“

Rumo erstarrten inmitten seiner Bewegung und fragte sich einen Moment lang, wer ihn da aus der Schwärze der Nacht heraus ansprach. Dann dämmerte ihm langsam, dass er ja nicht aus Vergnügen und für die schöne Landschaft hier war, sondern einen konkreten, sogar ziemlich wichtigen Plan verfolgte, dessen nächster Abschnitt ihn hier, am Rande dieses unfreundlichen und doch so magischen Landstiches erwartete. Er wirbelte herum, konnte jedoch nichts weiter als einen Schattenriss etwa zehn Meter von ihm entfernt erkennen. „Bist du Nachtigallers Schüler?“, fragte er argwöhnisch in die Dunkelheit hinein und legte vorsichtshalber eine Pranke an Löwenzahns Griff.

„Der bin ich“, kam die prompte Antwort aus dem Dunkel und ließ Rumo unwillkürlich den Kopf schief legen. Er kannte diese Stimme, obwohl er sie lange nicht mehr gehört hatte und sie zu diesem Zeitpunkt auch noch keiner Person zuordnen konnte.

Vorsichtig trat er einen Schritt näher und sah, wie sein Gegenüber ebenfalls das Haupt zur Seite neigte, um ihn zu mustern. Dann änderte der Buntbär mit einem Mal seine Körperhaltung, schien geradezu in Verteidigungshaltung zu gehen, als erkenne er in dem Abenteurer einen alten Erzfeind. „Rumo? Rumo der Wolpertinger?“

Rumo kniff die Augen zusammen und versuchte, die Gesichtszüge des Bären auszumachen, der ihn aus irgendeinem Grund irgendwo her zu kennen schien, ebenso wie ihm zuvor die Stimme bekannt vorgekommen war. Dann tauchte mit einem Mal der Mond die Szenerie in sein weißes, kaltes Licht und er konnte für den Bruchteil einer Sekunde die Konturen eines Raubtier-Antlitzes erkennen, einen Bruchteil, der ausreichte, um seinen Erinnerungen auf die Sprünge zu helfen.

„Du meine Güte“, entfuhr es ihm, ohne dass er wirklichen Einfluss darauf nehmen konnte. „Du bist dieser Lügengladiator, das größte Talent von Atlantis. Dein Name ist Blaubär!“

Der Buntbär hatte die Arme in Boxerhaltung vor seiner Brust erhoben und wich einige Meter zurück. „Und du bist der Schlägertyp von Volzotan Smeik. Der Wolpertinger mit dem roten Fleck über dem Auge, den wir damals in Fhernhachingen aufgegabelt haben. Ich bin dir sehr dankbar dafür, dass du mich damals vor der Moloch bewahrt hast – na ja, oder eher für den Versuch. Aber ich frage mich, was du jetzt von mir willst. Nachtigaller hat irgendetwas davon geschrieben, dass ich für dich mit Mythenmetz reden soll. Ist da etwas dran oder ist das nur ein abgekarteter Plan von Smeik mich doch noch dranzukriegen? Hat er einen neuen Weg gefunden, aus mir Profit zu schlagen? Oder sinnt er einfach immer noch auf Rache?“

Rumo hob abwehrend die Hände. „Nein, nein, das verstehst du falsch. Ich brauche tatsächlich deine Hilfe – ein weiteres Mal.“

Blaubär ließ die Arme einige Zentimeter sinken, verlor jedoch nichts von seiner Wachsamkeit. „Wobei? Ich meine, ich weiß, wobei, ich soll für dich bei Mythenmetz vorsprechen. Aber warum? Wenn das alles keine Lüge ist, dann erzähl mir, worum es bei der ganzen Geschichte geht. Nachtigaller erwähnte das Geheimnis des ewigen Lebens und das du danach suchen würdest… Klingt ein wenig sehr weit hergeholt, wenn du mich fragst.“

Der Wolpertinger holte Luft und setzte zu einer Erklärung an, wollte einfach die Wahrheit erzählen, die ihn in diese missliche Lage gebracht hatte, und darauf hoffen, dass sein Gegenüber ihm glaubte. Viel mehr hatte er ja im Grunde nicht vorzuweisen. Dann jedoch hielt er inne. War es wirklich so klug dem Buntbären zu erzählen, dass Volzotan Smeik die Ursache für diese Misere war? Offenbar hatte Nachtigaller ihm lediglich mitgeteilt, dass er auf der Suche nach der Formel war, nicht aber warum. So viel zu „Rechtfertigungen werden nicht nötig sein“, der Professor schien eine ziemlich verquere Sicht darauf zu haben, mit wie viel Information sich Wesen mit weniger als sieben Gehirnen zufrieden gaben…

Doch wie es auch sein mochte, sicher war, dass Blaubär sicher nicht die besten Erinnerungen an Smeik hatte, immerhin hatte dieser eigenhändig veranlasst, dass er entsorgt wurde, wie er es genannt hätte. Rumo hatte ihn zwar vor dem Schlimmsten bewahren können, das war im Endeffekt jedoch nicht viel mehr als das Revanchieren für die Rettung seines eigenen Lebens als Welpe, der ehemalige Lügengladiator blieb ihm also nichts schuldig. Vielmehr hatte er allen Grund Smeik zu hassen, immerhin war es mehr oder weniger seine Schuld gewesen, dass er seine Stellung als Lügenkönig von Zamonien hatte aufgeben und Atlantis fluchtartig hatte verlassen müssen.

Rumo entschied sich zu lügen. „Es geht um meine Verlobte“, stammelte er in nicht einmal gespielter Verzweiflung und zupfte das Foto von Rala aus seiner Jackentasche. „Sie liegt im Sterben, fürchte ich. Irgend so eine Krankheit, von der noch kein Arzt in Zamonien gehört hat. Ich war bei sämtlichen Schrecksen und Alchimisten in Atlantis und Umgebung, aber keiner wusste Rat. Das Mittel ist vielleicht ihre einzige Chance.“

Es behagte ihm nicht wirklich Rala für eine so schamlose Lüge zu missbrauchen, aber er sah sich eindeutig in einer Notsituation, was die Lüge wohl zu einer Notlüge machte. „Bitte“, flehte er, „du musst mir helfen! Ich würde ja selber zu diesem Mythenmetz gehen, aber ersten weiß ich nicht, wer das ist, und zweiten wollte Nachtigaller aus irgendeinem Grund nicht, dass ich das tue.“

Blaubär ließ nun endgültig seine Hände sinken und entspannte sich ein wenig. „Du weiß nicht, wer…“

„Nein.“

„Oh, okay….“ Er kratzte sich am Kopf. „Der Professor hat schon recht damit, dass er dich nicht persönlich bei dem alten Dinosaurier vorsprechen lässt. Dieser verschrobene Eigenbrödler ist diesbezüglich etwas… exzentrisch, wenn du so willst. Wenn du ihn nicht mindestens an die Wand argumentieren kannst, erreichst du bei dem gar nichts, Auftreten und Ausdrucksweise sind bei ihm das A und O.“ Ein Seitenblick auf Rumo. „Der Professor schrieb, dass das nicht gerade deine Stärke sei…“

Der Wolpertinger schob die Hände in die Jackentasche und betrachtete etwas pikiert einen Punkt irgendwo schräg über ihnen in der Luft. „Kann schon sein“, murrte er, gar nicht erst bemüht seine Kränkung zu verbergen. „Bringt einen in der Schlacht nicht viel weiter. Anderes Thema: Heißt das, du hilfst mir?“

Blaubär überlegte einige Sekunden und nickte dann mit einem entschlossenen Lächeln, das Rumo erstaunte. „Ich finde es bewundernswert, dass du so hart um das Leben deiner Verlobten kämpfst. Viele würden sie einfach sterben lassen. Ich schätze, du bist etwas Besonderes.“

Schuldgefühle bohrten sich wie Pfeile in Rumos Magengegend und ließen ihn kurz wanken. Dieser Bär schien ihn für so vertrauenswürdig zu halten, dass er für ein Ziel, das nicht im Entferntesten sein eigenes war seine tief sitzende Feindschaft mit Smeik überwand.

„Da hast du dir ja ganz schön was eingebrockt“, flüsterte Löwenzahn scheinbar alles andere als begeistert in seinen Gedanken.

‚Halt die Klappe, glaubst du nicht, dass ich schon genug mit mir kämpfe?’

Der Stollentroll schnaubte. „Du wirst sehen, was du davon hast. Ich sag’s ja nur. Das ist meine Pflicht als dein Freund.“

‚Danke dafür’, dachte Rumo in sarkastischem Ton zurück. ‚Und jetzt sei endlich still!’

Blaubär streckte ihm eine Pranke entgegen. „Also? Ziehen wir das durch?“

Rumos Zweifel schienen kurzzeitig überhand zu nehmen, ließen ihn zögern und betreten zu Boden sehen. Dann schluckte er sie eisern hinunter, ging auf seinen neuen Partner – der ihm lediglich bist knapp zu den Schultern reichte – zu und schlug ein.

„Ich muss zugeben“, grinste der Buntbär, „dass ich nicht aus reiner, selbstloser Nächstenliebe mitgehe. Ein wenig Eigennutz ist auch dabei.“

Misstrauisch musterte der Wolpertinger sein Gegenüber und ließ die dargebotene Hand los. Da kam er also, der Haken.

Doch dann sah er das neckische Aufblitzen in Blaubärs Augen und entspannte sich sogleich wieder.

„Ich hänge schon viel zu lange in der Bärenbucht herum“, lachte der Buntbär. „Wenn ich nicht endlich einmal Urlaub von diesen grauenhaften Optimisten, die sich meine Artgenossen nennen, bekomme, werde ich noch wahnsinnig.“

Rumo schob letzte Skrupel beiseite, trat neben ihm und legte dem verglichen mit ihm klein und schmächtig aussehenden Bären einen Arm um die blauen Schultern. Er lachte. „Ich glaube, mein Freund, wir verstehen uns.“



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