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Rumo und die Wahrheit der Alchimisten

von

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Die einhundertdreiundsiebzigste Belagerung

Rumo trottete mit gesenktem Kopf neben Blaubär durch den weichen Wüstensand. Schuldgefühle nagten an ihm wie ausgehungerte Straßenköter an einem alten Knochen und er fühlte sich, gelinde gesagt elend. Lügen waren etwas grausames, das wusste er, doch bis jetzt war er immer davon ausgegangen, dass die Begründung dafür hauptsächlich im Sozialen zu suchen war. Jetzt wurde ihm klar, dass viel egoistischere Motive dahinter steckten. Das schlechte Gewissen war eine grausame Erfindung der Natur, ein hinterhältiges kleines Biest, das einem im Nacken saß und den Hinterkopf mit spitzen Nadeln perforierte während es nebenbei dreckig Lachte. Richtig sympathisch.

Zu Rumos Erleichterung hatten sie den Plan gefasst, die Süße Wüste noch in dieser Nacht zu durchqueren, auch wenn das bedeutete, dass sie die meiste Zeit würden joggen müssen. Wäre es erst Tag geworden, hätten sie mehr als zwölf Stunden pausieren und noch dazu von ihrer eigentlichen Route abweichen müssen, um einen Unterschlupf zu suchen, denn die Temperaturen in diesem trostlosen Landstrich konnten gut und gerne um die neunzig Grad erreichen – in der Sonne, versteht sich, was aber relativ Irrelevant ist, bedenkt man die Tatsache, dass es in Wüsten tendenziell immer sonnig ist.

Nun aber war es beinahe Mitternacht und die Luft war bis knapp über den Gefrierpunkt heruntergekühlt, was tatsächlich um einiges angenehmer war als die Hitze des Tages, wenn man ein dichtes, schützendes Fell besaß und einem einzig die Zunge als Transpirationsfläche blieb. Für die nötige Körperwärme sorgte zudem der zügige Laufschritt, den die beiden Weggefährten mühelos an den Tag legten, wobei sie von eher unterschiedlichen Gefühlsregungen angetrieben zu werden schienen. Während sich bei Rumo ein penetranter Fluchtgedanke breit machte, wirkte Blaubär abenteuerlustig und vergnügt, ganz so als sei er ein alter Hase im Abenteuer-Geschäft, den man soeben wieder auf die Wildnis losgelassen hatte.

Rumo fühlte sich mit jedem Schritt schlechter.

Gerade als er das Gefühl hatte sich innerhalb der nächsten Sekunden auf den ekelhaft süßen Wüstenboden übergeben zu müssen, durchbrach der Buntbär die unangenehme Stille, die sich vor geraumer Zeit über ihnen ausgebreitet hatte. „Sag mal, wie kann es sein, dass du noch in Zamonien bist?“

Rumo war verwirrt. „Wo sollte ich denn sonst sein?“

„Naja…“, begann Blaubär und kratzte sich im Laufen nachdenklich am Kopf. „Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, sagtest du mir, dass etwas im Gange sei. Zamonien würde untergehen oder so was. Dann bin ich aus der Stadt und nur Minuten später sehe ich Atlantis wie ein überdimensionales Ufo in den Weltraum verschwinden. Und jetzt stehst du plötzlich vor mir. Erklärung, bitte.“

Froh darüber seine Gedanken auf etwas anderes als seine Schuldgefühle konzentrieren zu können, holte Rumo tief Luft und begann zu erzählen. Was sonst nicht gerade sein Fall war, wurde nun zu einer willkommenen Ablenkung von der erdrückenden Stimmung, die sich in seinen Gedanken ausgebreitet hatte. „Du wirst lachen“, grinste er. „Das alles war ein mittelschwerer Reinfall. Aber von vorne: Wissenschaftler haben wohl vor nicht allzu langer Zeit festgestellt, dass es in wenigen hundert Jahren so etwas wie eine Naturkatastrophe geben wird, bei der ganz Zamonien von der Erdoberfläche verschwindet.“

Blaubär schnappte hörbar nach Luft. „Was? Aber wie…“

„Keine Ahnung“ Rumo zuckte ahnungslos mit den Schultern. „Das ist alles, was ich darüber weiß, ehrlich gesagt hat es mich auch nie weiter gestört, Wolpertingern werden nicht so alt, weißt du!?“

Der Buntbär starrte ihn fassungslos an und ihn beschlich der leise Verdacht, dass er vielleicht doch etwas zu arglos an diese Sache herangegangen war. „Äh, äh, wie auch immer. Wir, also, das heißt, einige fähige Atlanter haben dann einen Plan entworfen, um die ganze Stadt in den Weltraum zu katapultieren. Das hat dann auch recht gut funktioniert, wie du weißt. Nur womit keiner gerechnet hatte, war das große Dimensionsloch direkt über der Stadt. Was dann kam: Wir sind direkt hinein geflogen und kamen genau da wieder heraus, wo wir gestartet sind. Eben da, wo Atlantis normalerweise liegt. Für einen zweiten Start hatten wir dann keinen Treibstoff mehr. Und das ist die ganze Geschichte.“

Blaubär blieb abrupt stehen und schien sich nicht ganz entscheiden zu können, ob er lachen oder einfach auf der stelle geschockt umfallen sollte. Nachdem seine Gesichtszüge einige Sekunden mit den widersprüchlichen Emotionen gekämpft hatten, ließ er jedoch lediglich resignierend die Schultern hängen, seufzte und setzte wieder zu einem flüssigen Trab an. „Tja, ich schätze in Zamonien ist nichts unmöglich.“

„Du glaubst das? Einfach so?“

„Wieso nicht?“, summte Blaubär nun wieder fröhlich. „Du bist doch hier, oder? Und außerdem scheinst du mir ein ehrlicher Zeitgenosse zu sein. Echt, Rumo, ich glaube nicht, dass du lügst.“

Rumo spürte, wie er zu schwitzen begann und mühte sich um Fassung. „N…natürlich nicht, öh, ich meine nur, dass die Meisten, denen man diese Geschichte erzählt, einem einfach nicht glauben wollen, obwohl es leider nur zu wahr ist. Hähä, Zamonier – chronisch misstrauisch, wohin man auch schaut, nicht wahr?“ Er lachte unsicher und fuhr sich mit der Pfote über den gehörnten Schädel, während er die Augen seines Gegenübers um jeden Preis zu meiden versuchte.

Blaubär starrte ihn einige Zeit von der Seite an, ganz so als versuche er ihn einzuschätzen, herauszufinden, woran er bei ihm war und warum um alles in der Welt sich dieser Wolpertinger so seltsam verhielt. Der Blick brannte unangenehm auf seiner Haut, doch Rumo ertrug ihn schweigend, wohl wissend, dass er sich all das selbst eingebrockt hatte.

Dann war der seltsame Moment plötzlich vorüber und Blaubär setzte sich wortlos wieder in Bewegung, scheinbar völlig vertieft in seine eigenen Gedanken, die das eben Erfahrene für ihn verarbeiteten und abspeicherten. Rumo konnte das nur recht sein, der Buntbär war offenbar niemand von der sonderlich kritischen Sorte. Vielleicht hatte es mit seiner eigenen Lügen-Vergangenheit zu tun, er musste gewohnt sein, dass ihm die Leute nicht glaubten…

Eine ganze Weile herrschte nachdenkliches Schweigen auf beiden Seiten, Blaubär starrte gedankenverloren vor sich in den Wüstensand während der Wolpertinger mit jedem Atemzug einen Teil seiner Nervosität auszuatmen versuchte, was nach einigen Minuten auch ganz gut funktionierte. Seine innere Anspannung löste sich langsam und ihm wurde mehr und mehr bewusst, dass es keinen Unterschied machen durfte, ob er diese Lüge nun ausgesprochen hatte oder nicht. Er hatte ein Ziel und das musste er um jeden Preis erreichten, viel zu viel hing von seinem Erfolg bei dieser Reise ab, um sich von Kleinigkeiten aufhalten zu lassen.

Rumo atmete tief durch und beschleunigte seinen Schritt. Sie hatten eine Feste zu erreichen.
 

Wolpertinger haben kein wirklich guten Verhältnis zum Wasser, was hauptsächlich darin begründet liegt, dass die meisten von ihnen in dem Glauben aufgewachsen sind nicht schwimmen zu können.

Doch bei rund 48 Grad Celsius Außentemperatur (ein ungefähres Umrechnungsergebnis ausgehend von der zamonischen Einheit „Karyll“, die die Temperatur in Abhängigkeit von der Umgebung angibt) ignoriert selbst der konservativste Wolpertinger sein tierisches Erbe.

Rumo machte sich nicht die Mühe eines sonderlich eleganten Sprungs, als er am Vormittag des nächsten Tages mit einem lauten Platschen in die angenehme Kühle des Loch Lochs eintauchte. Blaubär folgte ihm auf dem Fuße, ließ es sich dabei nicht nehmen freudig zu schreien, als er zum Sprung vom felsigen Ufer des großen Bergsees ansetzte.

Die Nacht durch zu laufen war nicht weiter schwer gewesen, doch als die Sonne am Horizont erschienen war, hatte sich das angenehme Traben von einer Sekunde auf die andere in einen Höllentripp verwandelt. Temperaturen in der Süßen Wüste besaßen nicht die Güte, mögliche Passanten schonend durch langsames hinauf Klettern an der Skala auf die bevorstehende Hitze vorzubereiten. Nein, wenn man davon sprach, dass es in dieser Wüste entweder sehr kalt oder sehr warm war, dann meinte man das durchaus wörtlich, denn etwas zwischen „absolut viel zu heiß“ und „absolut viel zu kalt“ gab es hier schlichtweg nicht.

Rumo und Blaubär hatten eigentlich damit gerechnet noch vor Sonnenaufgang den Bergsee zu erreichen, an dem am westlichen Ufer die riesenhafte Lindwurmfeste aufragte, doch ein leichter Sandsturm – keiner von der gefährlichen Sorte, eher so ein unangenehmes hin und her Rieseln – hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, sodass sie eindrucksvoll hatten miterleben dürfen, was es hieß, bei lebendigem Leibe gegrillt zu werden.

Zumindest war es Rumo so vorgekommen, denn, ganz im Gegensatz zu ihm, der er sich fühlte wie gar gekocht, schien dem blauen Buntbär die sengende Hitze herzlich wenig auszumachen, vergnügt wie schon die ganzen Stunden zuvor war er über den weichen Sand gehoppelt und hatte den schnaufenden Wolpertinger schon bald weit hinter sich gelassen.

Inzwischen war es fast Mittag und sie waren am See angekommen.

Rumo entschied für sich, dass sich das Umhertreiben im lauwarmen Wasser doch um einiges besser anfühlte als das Rennen durch die stechende Vormittagssonne. Das bedeutete, überlegte er, dass er alles in allem doch lieber ein Suppenhuhn wäre als ein Grillhähnchen, wenn es drauf ankam.

Er hatte ganz offensichtlich einen Sonnenstich.

Das Wasser des Loch Lochs war fast klar, wirkte aber durch die Felsen am Grund an einigen Stellen beinahe grünlich. Kleine und größere Fische huschten furchtlos zwischen Rumos Beinen hindurch als er lange Wellen hinter sich herziehend durch die sonst glatte Wasseroberfläche paddelte. Fast das ganze Ufer entlang ragten hohe Berge in den wolkenlosen Himmel, eine von ihnen im unteren Teil bewachsen, die meisten jedoch völlig kahl und grau. Nur an der Stelle, an der die Süße Wüste an den See anschloss, hatte sich eine schmale Schlucht durch den Fels gegraben und ermöglichte so einen relativ unkomplizierten Zugang von dieser Seite.

Besonders imposant und geradezu elegant erhob sich am Westufer die uneinnehmbare Lindwurmfeste, Rumos Ziel. Im Grunde war sie lediglich ein spitzer Berg, doch wenn man genau hinsah, konnte man bereits vom See aus die unglaubliche Architektur dieser Festung erkennen. Unzählige Türmchen und Zinnen, Kanonenschlote und Schießscharten, alle mit reiner Muskelkraft und etwas Sprengstoff aus dem rohen Fels gehauen, zeichneten die Außenwand der riesigen Stadt, die, ebenso wie Wolperting, einzig und allein einer zamonischen Gattung als Behausung diente: Den Lindwürmern.. Wer immer noch glaubte, bei jenen Echsen handle es sich um verweichlichte Kreaturen ohne wirklichen Kampfgeist, der lag damit ziemlich falsch. Einige der großen Reptilien hatten einen ganz beachtlichen Kampfgeist entwickelt, sogar eine eigene Kampfkunstschule gab es, in der die Nachfahren der Dinosaurier lernen sollten, wie sie ihr Erbe besonders effizient nutzen konnten.

Zugegeben, gut besucht war diese Schule nicht gerade.

Rumo hielt kurz inne, paddelte auf der Stelle und blickte an diesem Höchsten der umliegenden Berge empor. Da sollte er also leben, der Typ, der ihm von der Formel erzählen würde. Wobei, genau genommen ja nicht ihm, sondern diesem Blaubär, denn offenbar erreichte man bei diesem Mythenmetz nur etwas, wenn man ihm gehörig einen vom Pferd erzählte. Nun gut, wenn dem so war, dann sollte es ihm recht sein. Im Grunde brauchte er sich also nur am Ufer des Loch Lochs in den grobkörnigen Sand zu legen, sich die Sonne auf den Pelz scheinen zu lassen und zu warten auf die Dinge, die da kamen.

Klang ja einfach.

Das ganze musste einen Haken haben.

Mit einigen ausladenden Zügen kam Blaubär neben ihn geschwommen. "Ganz schön hoch, das Ding, nicht wahr? Keiner weiß es so genau, aber einige behaupten, er wohne ganz oben, an der Spitze, weit ab von den anderen Lindwürmern."

Rumo, überrumpelt von Blaubärs plötzlichem Auftauchen in seinem Blickfeld, stand auf dem Schlauch. "Wer?"

"Na Mythenmetz, wer sonst", antwortete der Buntbär leicht irritiert. "Schon vergessen, warum wir hier sind?"

"Nein, nein", murmelte Rumo verlegen. Er starrte noch ein paar Sekunden wortlos auf die vor ihnen empor ragende Feste, drehte sich dann so elegant wie möglich im Wasser um und schwamm auf das Ufer zu, von dem aus sie in den See gesprungen waren. "Komm!", rief er seinem Gefährten zu. "Lass uns weitergehen. Es ist schon fast Mittag."

"Warte auf mich!" Blaubär kraulte ihm mit gekonnten Bewegungen hinterher, sodass er den Wolpertiger schon bald eingeholt hatte. "Von hier aus sind es nur noch ein paar Meter, die schaffe ich auch alleine. Am besten wäre es" - er spuckte einen Mund voll Wasser aus - "am besten wäre es, du wartest einfach hier auf mich und ich komme zurück, sobald ich alle nötigen Infos von Mythenmetz habe."

Der See begann flacher zu werden und schon bald konnte Rumo die Pfoten auf den felsigen Grund setzten. Er stammte sich über eine kleine Steinkante hinweg an Land und schüttelte sich das Wasser aus seinem nun wieder schneeweißen Fell. Es tat gut, den feinen Wüstensand los zu sein, endlich juckte es nicht mehr in seinen Ohren. Zwar tropfte er jetzt wie ein nasses Handtuch, doch so kraftvoll, wie die Sonne nun wieder auf ihn hinunter brannte, sollte es nur eine Frage der Zeit sein, bis er wieder völlig trocken war.

Unweit von ihm lagen seine Lederjacke und Löwenzahn unter einem Felsvorsprung. Loch Loch war eine gottverlassene Gegend, doch man konnte niemals vorsichtig genug sein, wenn es um den eigenen Besitz ging, soviel hatte Rumo von Smeik gelernt. Er legte sich seine Jacke über den Arm - Leder war sehr empfindlich gegenüber Nässe und sein Lieblingskleidungsstück, das einzige, das er besaß, um genau zu sein, war schon ramponiert genug - und band sich den Waffengürtel um die Schulter. Lange Zeit hatte er sein Schwert in einem normalen Gürtel um die Hüfte getragen, doch das hatte sich im Kampf als eher unpraktisch heraus gestellt. Jetzt hingen Löwenzahn und Grinzold in ihrer Scheide schräg auf seinem Rücken, sodass er sie bequem mit einem Griff über seine linke Schulter erreichen konnte. In dem speziell für Hieb- und Stichwaffen ausgelegten Gürtel hätten auch noch weitere Schwerter oder Lanzen Platz gefunden, doch Rumo bevorzugte den Kampf allein mit seinen beiden Freunden. Mit ihnen fühlte er sich immer noch am sichersten.

"Wenn du meinst", sagte er zu Blaubär gewandt, während er den silbernen Verschluss des Gürtels aufgrund der fehlenden Jacke zwei Löcher enger schnallte. "Aber wenn es Probleme gibt, dann ruf mich, klar?"

Der Buntbär hob nun ebenfalls seine Sachen auf, war dabei was seine Bekleidung anging aber offenbar nicht so empfindlich wie Rumo, weshalb er sich seinen roten Pullover auch trotz seines nassen Fells sofort überstreifte. "Was sollte es schon für Probleme geben? Ich bin ein wahrer Meister im Lügen, wenn einer diesen kauzigen Schriftsteller um den Finger wickeln kann, dann bin da ja wohl ich. Du wirst sehen, in weniger als zwei Stunden bin ich mit all deinen Informationen zurück und du kannst beruhigt wieder nach Atlantis gehen."

"Na wollen wir es hoffen." Rumo dachte an Nachtigallers Worte. Der Alte hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er von Mythenmetz nicht erwarten könne, die Formel zu bekommen, lediglich ein kleiner Tipp, ein Schubs in die richtige Richtung sollte es hier geben. Doch Blaubär gegenüber ließ er das lieber unerwähnt. Wer weiß, ob der sein Möglichstes versuchen würde, wenn ihm von vornherein bewusst wäre, dass er damit wenig würde erreichen können.

"Also dann…" Blaubär hüpfte einmal kurz auf der Stelle und grinste den stillen Wolpertinger an. "Ich mache mich dann mal auf den Weg. Es ist nur einmal um den See herum, hinter diesen Berg da liegt schon das Tor. Mach keine Dummheiten während ich weg bin!" Er trabte los und winkte, während er sich langsam entfernte. Rumo sah ihm nach, hob einmal kurz halbherzig die Pranke, ließ sie aber nach einmaligem Winken sofort wieder fallen. Die ganze Sache war so was von vage… Wieso traute er diesem Buntbär überhaupt? Er kannte ihn gerade einmal einen guten halben Tag. Klar, sie hatten sich, nachdem er es endlich geschafft hatte, seine Lüge für den Moment zu vergessen, recht nett unterhalten, doch was hieß das schon?

Er ließ sich auf den steinigen Boden fallen, legte sich der Länge nach hin und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Was tat er hier eigentlich? Er suchte nach der Formel für das Elixier des ewigen Lebens. Ging es noch ein wenig pathetischer? Er konnte von Glück reden, dass ihn noch keiner, den er bis jetzt um Hilfe gebeten hatte, in eine Psychiatrie verwiesen hatte. Rumo wusste, dass man Zamonien auch den Kontinent der Wunder nannte, was das allerdings genau hieß, war ihm schleierhaft. Er war hier aufgewachsen und wusste nicht, was genau seine Heimat von all den anderen Teilen der Welt unterschied, doch er zweifelte daran, dass er sich in Punkto möglich machen des Unmöglichen sonderlich von anderen Kontinenten abhob. Vielleicht gab es hier einige Dinge, die es anderswo nicht gab, aber die Formel des ewigen Lebens? Also bitte! Smeik hatte sie doch nicht mehr alle. Was, wenn es die Formel überhaupt nicht gab? Was, wenn er einem Phantom hinterher jagte?

Plötzlich erschien Rumo seine eigene Geschichte etwas sehr weit hergeholt. 'Vielleicht', überlegte er in bester Galgenhumor-Stimmung grinsend, 'vielleicht verkaufe ich sie eines Tages an irgendeinen heruntergekommenen Schriftsteller.'

"Hähä, dann wirst du sicher berühmt."

"Ja, gut möglich…" Löwenzahn konnte Recht haben, wer wusste das schon. Wahrscheinlich war es jedoch nicht. Er war schlechtweg nicht der Typ dazu im Rampenlicht zu stehen, das überließ er lieber anderen. Smeik zum Beispiel. Rumo beobachtete gedankenverloren, wie eine einzelne, wattige Wolke über den ansonsten strahlend blauen Himmel zuckelte. Wie viele Tage waren inzwischen vergangen? Sechs? Oder waren es mittlerweile acht oder neun? Er hatte den Überblick verloren und das schon nach so kurzer Zeit.

"Oh bitte. Dass du mir bloß nicht berühmt wirst", stöhnte Grinzold. "Berühmte Typen sind alle seltsam. Bestes Beispiel: Dieser Lindwurm da oben. Welcher anständige Kerl, der noch dazu in einem Berg lebt, schreibt Bücher? Bei dem muss doch etwas schief gelaufen sein."

"Ich glaube, die korrekte Reihenfolge wäre: Er hat erst angefangen Bücher zu schreiben und ist dann damit berühmt geworden, Grinzold."

Der Dämonenkrieger machte ein schnaubendes Geräusch, dass in Rumos Gedanken nachhallte. "Mach ruhig einen auf Klugscheißer, Kleiner. Mich beeindruckst du damit nicht. Ich bleibe bei meiner Meinung."

"Sei nicht immer so ein verdammter Dickkopf!", meckerte Löwenzahn drauflos. "Das ist so gar nicht angenehm, weißt du das?"

"Ach ja? Ich zeig dir gleich, was angenehm ist, du Weichei!"

Die beiden redeten sich nun richtig in Rage, doch Rumo versuchte einfach nicht hinzuhören - was gar nicht so einfach ist, wenn sich die Stimmen direkt im eigenen Kopf befinden. Er ließ die warme Mittagssonne sein Fell trocknen und schloss die Augen, um sich etwas Entspannung zu gönnen. Seit mehr als vierundzwanzig Stunden hatte er nun schon nicht mehr geschlafen und jetzt, wo er etwas Ruhe fand, spürte er auch wieder ein leichtes Ziehen im Nacken. Zeit, um sich ein wenig auszuruhen.

Während sich Grinzold und Löwenzahn munter weiter zankten, war Rumo nur wenige Minuten später fest eingeschlafen.
 

Dass er wieder wach wurde, lag vor allem daran, dass ihm ziemlich kalt geworden war. An seinem nassen Fell konnte es nicht liegen - er fühlte sich eher ausgetrocknet als zu feucht - viel mehr schien die Außentemperatur um einige Grad gefallen zu sein, was wiederum nur eins bedeuten konnte.

Rumo öffnete die Augen.

Um ihn herum war alles in ein oranges, warmes Dämmerlicht getaucht, die Berge warfen lange, nachtschwarze Schatten über den See und zwischen zwei Gipfeln konnte er die Sonne blutrot hinter den Felsen verschwinden sehen.

Es war Abend geworden.

Noch etwas dösig im Kopf setzte Rumo sich auf und rieb sich den schmerzenden Rücken - es war keine gute Idee gewesen, sein Schwert während des Schlafes umgebunden zu lassen. Nachdem er kurz mit den Schultern gekreist und sich die Steifheit aus den Armen geschüttelt hatte, sah er sich um. Entlang des Seeufers regte sich nicht nicht das Geringste, eine fast gespenstische Stille hatte sich über die gesamte Landschaft gelegt und nicht einmal ein Vogel kreischte.

Plötzlich fiel Rumo etwas auf und er sprang mit einem Satz auf die Füße.

Seine Beine fühlten sich wackelig und verkrampft an, doch er ignorierte es soweit er konnte.

"Blaubär?" Rumo drehte sich um die eigene Achse, lief ein paar Schritte auf und ab und stellte sich auf eine nahgelegene Anhöhe. Doch es war lediglich die Stille, die ihm antwortete. Kein tintenfarbenes Fell zu sehen, kein motiviertes Lachen, kein Blaubär.

Er war allein.

"Verdammt!"

Seinen Schätzungen zufolge waren mindestens acht Stunden vergangen, seit er am See eingeschlafen war, vier Mal so viel Zeit, wie der Buntbär zu brauchen angedacht hatte. Zwar hatte Rumo durchaus damit gerechnet, dass es möglicherweise etwas länger dauern würde - so genau konnte schließlich niemand sagen, wie viel Überredungskunst für diesen Mythenmetz notwendig war - aber fast ein halber Tag?

"Vielleicht ist er abgehauen?", mutmaßte Löwenzahn. "Ich habe mir ja schon gedacht, dass wir diesem Typen nicht trauen können. Er sah schon von Anfang an so seltsam aus."

Rumo schüttelte den Kopf. "Das würde keinen Sinn ergeben. Wieso sollte er erst mit mir durch die Wüste rennen, nur um dann zu verschwinden? Ich habe nicht einmal etwas dabei, was man stehlen…"

Er erschrak und sprintete zu seiner Jacke. "Ach du meine Güte! Die Goldrosenessenz!" Hektisch wühlte er sich durch das in Mitleidenschaft gezogene Leder und langte, ohne vorher den Knopf zu öffnen, mit der Kralle in die Brusttasche. Im ersten Moment fasste er ins Leere, dann legten sich seine Finger um das kalte, dünne Glas einer kleinen Phiole.

Die Essenz war noch da.

Rumo ließ sich zurücksinken und setzte sich wieder auf den Steinstrand. "Damit wäre zumindest diese Option ausgeschlossen…", murmelte er wie zu sich selbst. "Aber wo…"

"Vielleicht hat er einfach Schiss bekommen", mischte sich jetzt auch Grinzold ein, doch der Wolpertinger ging nicht darauf ein. Wie wahrscheinlich war das schon. Nach allem, was er bis jetzt sagen konnte, schien der Buntbär eher einer von dieser Sorte Charakter zu sein, die grundsätzlich erst einmal vor gar nichts Angst hatte, bis man ihm das Gegenteil bewies.

Rumo seufzte und ließ den Kopf hängen. Es gab tausende von Erklärungen, warum Blaubär bis jetzt noch nicht zu ihm zurückgekehrt war, und mindestens die Hälfte davon klang beim drüber Nachdenken erstaunlich plausibel. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als hier sitzen zu bleiben und zu warten. Natürlich hätte er auch selbst versuchen können, in de Lindwurmfeste hinein zu kommen, aber die hieß nicht ohne Grund Feste, und wenn Blaubär tatsächlich aus eine rein banalen Grund etwas länger Brauchte, um die Informationen zu beschaffen, war eine solche Aktion mehr als überflüssig und würde höchsten dazu führen, dass sie sich aus den Augen verloren, was wiederum einen erneuten Zeitverlust bedeuten würde.

Minuten verstrichen in denen keiner der drei Freunde ein Wort sprach. Langsam wurde es dunkler und in der Behausung der großen Urzeitechsen flackerte hier und da ein Licht auf. Nach wie vor zeichnete sich der imposante Berg gut erkennbar vor dem dunkelgrauen Himmel ab und verwandelte sich mit dem Verschwinden des letzten Rest Lichts in ein vieläugiges Untier, das seien Gast argwöhnisch aus dem Schatten heraus musterte.

Rumo fühlte sich wie einer der Soldaten aus Smeiks zahlreichen Geschichten, wie jemand, der sich auf die Jagt nach dem legendären Lindwurmfestediamanten begeben hatte und nun sein Ziel zum Greifen nahe fand.

'Ich bin ein Belagerer', dachte er mit einem schiefen Grinsen im Gesicht und ließ seine Gedanken kurz zu all den Legenden aus seiner Zeit auf den Teufelsfelsen abschweifen. 'Dies ist die einhundertdreiundsiebzigste Belagerung durch den legendären Rumo von Zamonien. Nehmt euch in Acht, ihr Lindwürmer, ich werde mir euren wohl gehüteten Diamanten schon holen.'

Als wohnten seinen Worten neuerdings magische Kräfte inne, wurde es in genau diesem Augenblick für den Bruchteil einer Sekunde taghell. Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Stille über dem gesamten See so urplötzlich, dass Rumo aufsprang, zurück stolperte und unsanft auf dem Rücken landete.

Irgendetwas war explodiert.

Und dieses Etwas befand sich in der Lindwurmfeste.



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