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Rumo und die Wahrheit der Alchimisten

von

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Merkurius und Sulfurus

Als Sulfurus zur Welt kam, war sein Bruder bereits sieben Jahre alt und - obwohl er sich wohl niemals würde erinnern können - das erste Mitglied seiner kleinen Familie, das er an diesem Tag seiner Geburt zu sehen bekam. Denn während Merkurius den Säugling bereits aus einer angewärmten Flasche fütterte, kämpfte seine Mutter im Nebenzimmer mit dem Fieber, das die Schwangerschaft mit sich gebracht hatte. Es war ein Kampf, den sie gewinnen sollte, auch wenn die Chancen denkbar schlecht standen, und das erwies sich als großes Glück für ihre Söhne, die bereits ohne einen Vater auskommen mussten, da sich niemand aus ihrem Heimatdorf zu ihnen bekennen wollte.

Ohnehin sollte sehr bald klar werden, dass die Brüder wohl kaum selbiges sein konnten - zumindest nicht reinen Blutes - denn während Merkurius die weizenblonden Haare und die blasse Haut der übrigen Dorfbewohner geerbt hatte, zeigten sich bei Sulfurus wenige Wochen nach seiner Geburt die wilden, deutlich dunkleren Züge der Nomaden, die dann und wann Schutz in der kleinen Siedlung suchten.

Doch entgegen dem, was man jetzt vielleicht annehmen möchte, stellte all dies kein Hindernis für die jungen Menschen dar, denn man lebte in einer offenen und toleranten Gesellschaft, in einem harmonischen Miteinander, das keinen für seine Herkunft verurteilte. Als Mensch in Zamonien wurde einem das Leben auch sonst schon schwer genug gemacht.

So wuchsen Merkurius und Sulfurus in behütetem und gesittetem Umfeld auf, frei von jeder Zukunftsangst, denn ihr Weg war vorbestimmt.

Wie es der Zufall wollte, waren sie beide in ein Feuerzeichen des Zodiak geboren, was nach der Tradition ihres Stammes bedeutete, dass sie Krieger werden würden, ganz gleich was kam. So war es Gesetz: Die Erdzeichen wurden Bauern und Hirten, die Wasserzeichen Heiler, die Luftzeichen Ingenieure und Handwerker und die Feuerzeichen eben Krieger. Diese Destination wurde nicht hinterfragt, denn sie hatte sich über die Jahrhunderte bewährt. Und das Wohl aller stand über dem Glück des Einzelnen.

Also wurde Sulfurus gleich seinem Bruder mit erreichen des sechsten Lebensjahres dem obersten Heerführers des Dorfes zur Ausbildung unterstellt und somit seine Zukunft besiegelt.

Inzwischen war er zehn Jahre alt.

Es war nun ein Tag gekommen, der große Veränderungen in sein junges Leben bringen sollte, doch natürlich wusste Sulfurus das nicht, als er erwachte und sich über die einfallenden Sonnenstrahlen freute, die bereits eine beachtliche Wärme mit sich brachten und vom nahen Frühling kündeten. Auf dem Futon neben sich konnte er seinen Bruder schnarchen hören - nicht so, dass es ihn geweckt hätte, aber dennoch deutlich zu vernehmen. Der attraktive Siebzehnjährige hatte sich in den letzten Monaten zum regelrechten Langschläfer entwickelt, sehr zu Sulfurus' Verwunderung, denn der kannte ihn nur äußerst strebsam und pflichtbewusst.

Er beugte sich zu der schlafenden Gestalt herüber und versetzte ihr einen Stoß. "Hey, Merkur! Aufwachen!"

Sein Bruder sabberte.

Verblüffend, wie schnell aus einem sonst durchaus gut aussehenden Menschen etwas erschreckend Unattraktives werden konnte.

"Aufwachen, du Esel!" Sulfurus schlug erneut zu. Dieses Mal härter.

Merkurius öffnete die Augen. "Ich hasse dich!"

"Tu das. Solange du dabei wach bist..."

Sulfurus wusste, dass sein Bruder ihn selbstverständlich nicht hasste. Viel mehr fiel diese Beleidigung wohl unter das typische Geplänkel, welches selbst zwischen Geschwistern der besten Familien an der Tagesordnung war und auch die Menschen ebenso wie jede andere Gattung in Zamonien nicht verschonte. Man liebte und verabscheute sich in gleichem Maße und konnte dabei doch niemals vergessen, dass man das gleiche Blut in sich trug.

Na ja, in Merkurius' und Sulfurus' Fall zumindest zur Hälfte.

Ihre Mutter erwartete die beiden Jungen bereits mit aufgedecktem Frühstück, als sie - nun wieder ganz einträchtig - die Treppe herunter geschlendert kamen und sich an den Tisch setzten.

Sulfurus griff nach einer Scheibe Brot und belegte sie großzügig mit Käse. "Wir machen heute eine Exkursion zu den Schlachtfeldern auf den nördlichen Gipfeln", verkündete er dabei, nicht ohne ein gewisses Maß an Vorfreude in der Stimme. "Unser Lehrer will mit uns zum ersten Mal praktischen Taktikunterricht machen."

"Gut für euch." Seine Mutter - eine zierliche Frau mit rotblondem Haar und heller, sommersprossiger Haut - nickte zufrieden. "Mit roher Gewalt allein ist keine Schlacht zu gewinnen. Je früher ihr das lernt, desto besser."

Aus den Augenwinkeln konnte Sulfurus erkennen, wie sein großer Bruder kaum merklich das Gesicht verzog, denn, ganz im Gegensatz zu ihm selbst, hielt dieser rein gar nichts von seinen Zukunftsplänen. Das Krieger Sein lag ihm nicht – mehr noch: Er verabscheute Waffen zutiefst und hielt sämtliche Schlachten der zamonischen Geschichte für das unsägliche Werk Testosteron gesteuerter Holköpfe – so zumindest hatte er es einst in einem seiner seltenen emotionalen Ausbrüche formuliert.

Natürlich hatte ihre Mutter keine Ahnung von diesen Gedanken und würde auch niemals etwas davon erfahren, da waren sich die Brüder einig. Auflehnung gegen die eigenen Eltern war in ihrer Gesellschaft schlicht undenkbar, das hatte man ihnen früh beigebracht.

Also schwieg Sulfurus auch an diesem Morgen.

Merkurius schob seine leere Müslischüssel von sich weg. „Ich muss los. Professor Aspargus hat mich gebeten, vor dem Unterricht noch ein Paar der Waffen aus dem untern Lager zu holen, und ich möchte nicht zu spät sein.“

„Warte!“, würgte Sulfurus zwischen seinem halb zerkauten Sonnenblumenkernbrot hervor. „Ich komme mit!“

Doch gerade als er aufspringen und seinen Rucksack greifen wollte, legte sich die Hand seines Bruders schwer auf seine Schulter und drückte ihn herunter, zurück auf seinen Platz am kleinen Esstisch. „Nein, das wirst du nicht“, erklärte Merkurius ruhig und sah ihn mit durchdringendem Blick an, der ihm wohl etwas hätte sagen sollen, doch er verstand nicht.

„Warum nicht? Ich muss doch ohnehin in die Richtung, wenn ich zum Treffpunkt für unseren Ausflug will!“

„Tu einfach, was ich dir sage, Sulfur.“

„Also ich finde, du könntest deinen Bruder ruhig mitnehmen“, mischte sich ihre Mutter ein und verschränkte die Arme vor der Brust, was bei Müttern nie ein gutes Zeichen ist. „Er ist erst zehn und der Weg ans andere Ende des Dorfes ist nicht gerade kurz.“

Merkurius hatte sich bereits seine Tasche umgehängt und die Hand auf die Klinke der Haustür gelegt. „Er wird ihn schon alleine finden, Mutter. Er ist nicht dämlich.“

Und noch bevor Sulfurus sich so recht entschieden hatte, ob das nun als Kompliment zu verstehen war oder doch eher nicht, war der blonde Junge auch schon durch die Tür hinaus verschwunden und ließ eine verblüffte Mutter zurück, die sich fragte, seit wann ihr Sohn sich ihr so schamlos widersetzte.

„Was ist in letzter Zeit nur los mit ihm, er hat sich so verändert…“

„Das nennt man Pubertät, Mama, und es kommt in den besten Familien vor.“
 

So gelassen, wie er vor seiner Mutter tat, sah Sulfurus die Sache ganz und gar nicht. Natürlich waren auch ihm die Veränderungen an seinem großen Bruder aufgefallen, wahrscheinlich sogar noch viel früher als irgendwem sonst, denn immerhin teilten sie sich dasselbe Schlafzimmer. Und eins konnte der Menschenjunge mit Sicherheit sagen: Wenn es eins nicht war, das diesen Prozess in dem attraktiven Blondschopf ausgelöst hatte, dann war es die Pubertät. Nein, diese Phase hatte er lange hinter sich gelassen. Noch dazu hätte er sich wohl kaum von solch banalen Gefühlsschwankungen mitreißen lassen, korrekt und reserviert wie er von Natur aus war.

Aber was war es dann?

Sulfurus war nicht entgangen, dass mit den psychischen Veränderungen seines Bruders auch physische einhergingen. So war Merkurius, der ohnehin eher zierlich gebaut war, in letzter Zeit geradezu dürr geworden, seine Wangen waren eingefallen und unter seinen Augen lagen dunkle, für sein Alter völlig untypische Schatten, die er offenbar zu reduzieren versuchte, indem er jeden morgen zum Bach hinunter ging und seinen Kopf in das eiskalte Quellwasser tauchte.

Es funktionierte nicht wirklich.

Sulfurus wusste nicht, ob seiner Mutter all diese Dinge entgangen waren, oder ob sie sie lediglich ignorierte, weil sie nicht wahr haben wollte, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmte, doch vorsichtshalber mied er dieses Thema wann immer es ihm möglich war.

So beeilte er sich auch jetzt zu seiner Tasche und dann endlich ebenfalls aus dem Haus zu kommen, musste aber sehr zu seinem Missfallen feststellen, dass er seine Robe im Schlafzimmer liegen gelassen hatte. Wortlos und schon denkbar schlecht gelaunt für die frühe Uhrzeit stürmte er die Treppenstufen hinauf und in das recht geräumige Zimmer am ende des Flures, in dem sein Futon und der seines Bruders noch immer auf dem Boden lagen. Viele Möbel gab es hier nicht, nur einen Schreibtisch und einen Kleiderschrank, dazu zwei Stühle und eine kleine Kommode für Bücher, Schreibfedern und sonstigen Kleinkram. Wahrlich, sie besaßen nicht viel – und doch herrschte in dem spartanischen Raum ein heilloses Durcheinander.

Eilig begann Sulfurus sich durch Berge von Klamotten, Papier und nicht gemachten Hausaufgaben – das waren seine! – zu wühlen, doch seine dunkelrote Wanderrobe blieb unauffindbar. Sie hing weder im Kleiderschrank an der Stange noch hatte er sie über die Stuhllehne geworfen, sie flog nicht auf dem Boden herum und lag auch nicht zerknittert in irgendeiner Ecke.

Der Menschenjunge fluchte und ließ sich niedergeschlagen auf seinen Futon fallen. Heute war einfach nicht sein Tag. Und dabei war es erst kurz vor Acht!

Eine Möglichkeit gab es noch: Vielleicht war seine Robe vom Bügel gerutscht und auf den Boden des Schrankes gefallen – dort hatte er immerhin noch nicht nachgesehen.

Sulfurus ließ sich seufzend auf alle Viere fallen und krabbelte auf den geräumigen Kleiderschrank zu, schob die Tür auf und begann sich am Boden entlang zu tasten. Dort lagen ihre Ersatz-Futons und Schlafgewänder sowie einige Laken und Decken, nichts Ungewöhnliches also und schon lange keine dunkelrote Wanderrobe.

Sulfurus wollte seine Arme gerade zurückziehen, als er mit der rechten Hand in all dem weichen Stoff an etwas Hartes stieß, etwas Viereckiges.

Neugierig zog er es aus der Dunkelheit des Schrankbodens hervor und ließ es vor sich auf den Boden fallen.

Ein Buch.

Und nicht nur irgendein Buch. Er kannte es – natürlich – denn jeder in Zamonien kannte es. Sein Ruf eilte ihm voraus, es war ein Nachschlagewerk gleich dem Lexikon des Professor Nachtigaller, mehr noch, es war eine Bibel, und dann doch eine, von der man sich besser fern hielt:

„Alchimie“ von Zoltepp Zaan.
 

Sulfurus saß auf seinem Futon und wartete darauf, dass sein Bruder das Zimmer betrat. Versteckt hinter seinem Rücken lag das ominöse und für einen Menschen vollkommen unsittliche Buch, das er am morgen vor der Schule gefunden, danach allerdings sofort wieder versteckt hatte, um es vor ihrer Mutter geheim zu halten.

Inzwischen war es Abend geworden.

Der jüngere der beiden Brüder brauchte nicht lange zu warten, denn schon wenige Minuten später schob sich die Tür auf und Merkurius wankte gähnend über die Schwelle. Er ließ erst seine Tasche und dann sich selber auf den Boden fallen und reckte sich ausgiebig. „Oh Götter, was für ein anstrengender Tag!“

Sulfurus reagierte nicht, sondern starrte ihn nur mit ernstem Blick an, was der Ältere nach einer Weile dann doch etwas seltsam fand. „Was ist los? Was guckst du so?“

„Verheimlichst du uns etwas? Mir und Mutter?“

Merkurius ließ die Schultern hängen und legte fragend den Kopf schief. „Was meinst du?“

Sulfurus war im Moment nicht im Geringsten dazu aufgelegt, irgendwelche Spielchen zu spielen, also holte er das gefundene Buch hinter seinem Rücken hervor und warf es seinem Bruder vor die Füße. „Ist das deins?“

Der zierliche Blondschopf hob den Folianten hastig auf und presste ihn sich an die Brust, als hoffe er, ihn so vor den Blicken des Anderen verbergen zu können. „Na und?“, fauchte er. „Darf ich jetzt keine Bücher mehr besitzen?“

Sulfurus sprang auf. „Aber doch nicht so ein Buch!“, rief er aufgebracht und merkte am Rande, wie er wild mit den Armen zu gestikulieren begann. „Wir sind Menschen, Merkur, du bist ein Mensch! Alchimie ist für uns tabu! Und selbst wenn sie es nicht wäre: Sie ist gruselig und gefährlich! Ich weiß beim besten willen nicht viel darüber, aber das weiß ich dann doch: Zoltepp Zaan war ein Verrückter! Das sagen alle!“

Nun richtete sich auch Merkur auf, langsam und bedacht und mit dem Buch immer noch fest vor seiner Brust. Als er seinem Bruder in die Augen sah, lag viel Bitterkeit in seinem sonst so sanften Blick. „In einem Punkt hast du Recht, Sulfur“, sagte er leise und seine Stimme zitterte kaum merklich. „Du hast tatsächlich keine Ahnung. Du lebst jeden Tag mit der Gewissheit einmal mit Schwert und Schild durch die Gegend zu stolzieren und der Held deines Dorfes zu werden. Und das ist in Ordnung, denn offensichtlich macht dich dieser Gedanke glücklich. Für mich aber gibt es einiges mehr zwischen Himmel und Erde als das richtige Spannen einer Armbrust, auch wenn das für die vielleicht schwer nachvollziehbar ist.“

Dann ließ er plötzlich das Buch sinken und begegnete Sulfurus ganz offen. „Aber es ist ohnehin egal, denn schon morgen früh werde ich nicht mehr hier sein.“

Sein jüngerer Bruder starrte ihn verständnislos an. „Wie meinst du das?“

Merkurius klappte den Deckel des in schweres Leder gebundenen Buches auf und zog ein stück Pergament daraus hervor. „Ich habe mich an der Akademie von Gralsund beworben und vor ein paar Tagen die Zulassung erhalten. In einer Woche beginnt das Semester und da ich mich noch nach einer Bleibe umsehen muss…“

Sulfurus hatte das Gefühl, man hätte ihm von jetzt auf gleich die Luft zum Atmen genommen, und er musste sich anlehnen. „Das ist nicht dein Ernst!“

„Mein voller Ernst!“

Nein, das darf er doch nicht tun!, dachte Sulfurus im kindlichen Trotz. Ich muss ihn aufhalten! Es muss doch einen Weg geben ihn aufzuhalten!

„Wie… wie willst du das denn bezahlen? Gralsund ist viel zu teuer! Wir sind arm wie Kirchenmäuse, das weißt du selber!“

Nun huschte fast so etwas wie ein Lächeln über Merkurius’ jugendliche Züge. „Du hast folglich doch nicht all meine Verstecke gefunden. Denn hättest du, wüsstest du jetzt auch, dass ich bereits über ein ganz beträchtliches Vermögen verfüge. Ich habe gearbeitet. Die letzten eineinhalb Jahre, wenn du es genau wissen willst. Und außerdem bekomme ich ein Stipendium!“

In Sulfurus’ Kopf rasten die Gedanken wild durcheinander. Das dürfte doch alles nicht wahr sein! Das war doch nicht sein Bruder – sein ehrlicher, offener und aufrichtiger Bruder – der da vor ihm stand! „Du hast gearbeitet? Und wann? Du warst doch nie weg!“

„Zumindest nicht so, dass ihr es bemerkt hättet. Nachts habe ich gearbeitet. Und tagsüber, wann immer ich es mir leisten konnte von der Schule fern zu bleiben.“

Dann wurde Merkurius’ Blick auf einmal wieder ganz sanft und er ging auf seinen Bruder zu, hockte sich vor ihm hin, um auf einer Augenhöhe zu sein, und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Hör zu, mein Keiner. Seit ich denken kann, träume ich davon ein Alchimist zu werden. Ich bin mir sicher, dass wir eines Tages all die schönen Dinge um uns herum – Sonne und Regen, Gewitter und Stürme, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang – verstehen und erklären können. Und wahrscheinlich noch so vieles mehr, das unsere Welt um ein vielfaches besser machen wird. Ich möchte ein Teil dieses Prozesses sein, meinen Fingerabdruck in den Büchern der Naturwissenschaft hinterlassen, wenn auch nur ganz klein und irgendwo am untersten Rand einer Seite. Denkst du, du kannst versuchen, das zu verstehen?“

Denken konnte Sulfurus im Augenblick nur eins und das war, was ihre Mutter wohl dazu sagen würde. Würde sie wütend sein? Wahrscheinlich eher enttäuscht und traurig. Und für ein Kind, das seine Eltern liebt, war es bei Weitem die schlimmste Form der Strafe zu sehen, wie all die Hoffnungen und Träume der eigenen Mutter zerbrachen. Es war dieser Ausdruck in den Augen, der einem genau sagte, dass man gerade etwas zerstört hatte, was nicht so leicht wieder zu kitten war.

Vielleicht gar nicht mehr.

Sulfurus liebte seine Mutter.

Aber seinen Bruder liebte er auch und das machte die ganze Sache ja so schwierig.

Er konnte ihm nicht in die Augen sehen. „Willst du wirklich gehen? Steht deine Entscheidung fest?“

Merkurius nickte. „Das tut sie. Und schon lang. Es tut mir leid, dass ich dich und Mutter verlassen muss, aber anders geht es nicht. Ich hoffe nur, dass sie eines Tages begreifen wird, warum ich mich so entschieden habe. Du musst ihr dabei helfen, kleiner Bruder, ich verlasse mich auf dich.“

Sulfurus verzog das Gesicht. „Kannst du nicht mit etwas Kleinerem anfangen sie zu schocken? Du könntest dich zum Beispiel als schwul bekennen. Wenn du Glück hast, schmeißt sie dich dann ohnehin raus.“

Die Brüder sahen sich an und lachten und für einen Moment war Sulfurus’ Welt wieder in Ordnung.

Der Moment war kurz.

„Und du willst wirklich schon heute Nacht gehen?“

Wieder ein Nicken. „Meine Sachen sind gepackt und das Pferd steht für mich gesattelt im Stall. Für mich gibt es kein zurück mehr.“

Sulfurus begriff, dass er seinen großen Bruder ziehen lassen musste. Offenbar hatte er sich die ganze Alchimisten-Sache wirklich in den Kopf gesetzt und war es nicht nur gut und richtig seinen Träumen nachzujagen? Und so wie es aussah hatte der Blondschopf tatsächlich Erfolg darin, wie er eigentlich in allem Erfolg hatte, was er anfing. Warum ihm also keine Chance geben?

Ob seine Mutter das genau so sehen würde, wusste er nicht, doch vielleicht war dies der Berüchtigte Moment, in dem Jugendliche sich von ihren Eltern lossagten, um selbst in die Welt aufzubrechen. Davon hatte er zumindest schon viel gehört.

„Beantworte mir nur noch eine Frage…“

Merkurius sah auf. „Ja?“

„Wenn ich nicht durch Zufall heute das Buch gefunden hätte, hättest du mir dann gesagt, dass du gehst?“

Der Ältere ging auf Sulfurus zu, legte ihm die Arme um den Hals und zog ihn zu sich heran. Dann zerwuschelte er ihm das ohnehin schon recht zottelige, dunkelblonde Haar und küsste ihn federleicht auf den Scheitel. „Versprich mir, dass du deinen Weg gehen wirst, egal was passiert. Tust du das, Kleiner?“
 

Sulfurus war aufgeregt.

Mit leuchtenden Augen betrachtete der Vierzehnjährige die riesenhaften Gebäude, Fabriken und Handelszentren um sich herum. Alles qualmte, quietschte und fauchte vor sich hin, wie ein einziges, riesenhaftes Tier, es atmete, keuchte, lebte und all die Bewohner und emsigen Arbeiter waren seine Parasiten, Schmarotzer, die ihm im Fell hockten und ihm das Blut aussaugten, um selber überleben zu können. Hier war nichts grün, nichts bunt, alles hatte Metallfarben und war aus Metall, die Türme und Straßen, die Zäune und Karren. Und sogar der eine oder andere Bürger schien die glänzenden Elemente nicht nur am Körper zu tragen, sondern ganz und gar aus ihnen zu bestehen. Wohin man auch sah gab es schwere Industrie, Öl klebte an allen Wänden und fast jeder Gegenstand war von Rost überzogen.

Das also war Eisenstadt.

Sulfurus hatte sich riesig gefreut, als er vor einigen Wochen die Einladung von seinem Bruder erhalten hatte, ihn doch einmal an seinem neuen Wohnort zu besuchen, nachdem sie sich ja nun immerhin schon knapp vier Jahre nicht mehr gesehen hatte. Der inzwischen Einundzwanzigjährige hatte seine Ausbildung in drei Jahren summa cum laude abgeschlossen und war danach in die Stadt der Metalle gezogen um dort mit selbigen zu experimentieren. Er hatte Sulfurus in seinem Brief erklärt, was genau er machte, doch der hatte nicht ein Wort verstanden. Aber er durfte ihn sehen und das war sowieso viel wichtiger.

Schnell war ein Termin gefunden und nun, ja, nun stand Sulfurus in dieser verrückten Industriestadt und staunte sich sprichwörtlich die Augen aus dem Kopf.

Als Merkurius schließlich am Treffpunkt ankam, um ihn abzuholen, hätte sein jüngerer Bruder in beinahe nicht erkannt. Denn der, der da auf ihn zu geschritten kam - würdevoll und sanft lächelnd - war längst nicht mehr der frühreife Junge, der einst sein Heimatdorf verlassen hatte, um seinen Träumen nachzujagen. Nein, die Person, die jetzt dort, wenige Zentimeter vor Sulfurus zum Stehen kam, war ein erwachsener Mann, daran bestand kein Zweifel.

Er betrachtete seinen Bruder von oben bis unten, studierte ihn von unten bis oben und konnte es doch nicht fassen, so unglaublich erschien ihm diese Veränderung. Sie beide entstammten einer bäuerlichen Siedlung und dementsprechend war auch ihre Bekleidung stets einfach und zweckmäßig gewesen, jetzt allerdings hüllte sich der attraktive Menschenmann in ein weinrotes Gewand mit goldfarbenen Applikationen und Verzierungen - das ihm ausgesprochen gut stand, wie sein Gegenüber dann doch zugeben musste - und trug auf dem Kopf einen dieser Hüte, schwarz und mit großen Rabenfedern verziert, die Sulfurus bis jetzt nur auf den wenigen Bilder gesehen hatte, die man ihnen in der Schule von Alchimisten gezeigt hatte. Darunter hervor wallte langes, weizenblondes Haar, das knapp über den Schultern zu einem losen Zopf gebunden war und seinem Besitzer weit den Rücken hinunter reichte.

Aber das Beste, fand Sulfurus, das Beste war definitiv das dezente Ziegenbärtchen, das nun das Kinn des Älteren der beiden Brüder zierte und ihm dieses gewisse Etwas verlieh, das der Vierzehnjährige aus irgendeinem Grund mit "verrückter Wissenschaftler" verband.

Es gefiel ihm.

Wortlos fielen sich die beiden um den Hals und standen so einige Zeit lang unbewegt da, eingehüllt in die Frede endlich wieder jemanden in die Arme schließen zu können, den man nun schon über Jahre vermisst hadre.

Sulfurus für seinen Teil war überglücklich, doch als er endlich von nahem in Merkurius Gesicht sehen konnte, lächelte dieser nicht.

"Mutter ist nicht hier, nehme ich an?"

Der Jüngere schüttelte in nun ebenfalls etwas gedämpfter Stimmung den Kopf. "Nein. Sie sagte, sie könne es nicht ertragen, dich zu sehen…"

"Und ich kann sie verstehen", sagte Merkurius leise und tastete mit der Hand nach seinem Pferdeschwanz. "Es muss schlimm für sie gewesen sein."

"Das war es."

Die Brüder schwiegen einige Sekunden lang, dann raffte sich der Besuchte zusammen, fasste Sulfurus am Arm und zog ihn hinter sich her, während er einen Weg in den Norden der Stadt einschlug. "Nun komm, ich will dir alles zeigen! Meine Wohnung, mein Labor und sowieso die ganze Stadt! Hier ist alles so unglaublich, wir werden Tage brauchen!"
 

Sie verbrachten den gesamten restlichen Nachmittag damit durch Eisenstadts endlose, finstere und überfüllte Straßen zu wandern, Maschinen und Gebäude zu bewundern oder sich vor ihnen zu gruseln und Kreaturen nachzustarren, die eine perfekte Symbiose mit ihrer Umwelt darzustellen schienen, Wesen mit metallenen Körpern und Gesichtern aus beschlagenem Kupfer, aus dessen Münden es rauchte und Qualmte und denen Öl aus Knien und Ellenbogen tropfte.

Sulfurus konnte sich gar nicht satt sehen an all diesen Wunderlichkeiten, die ein Bauernjunge wie er im Normalfall niemals zu Gesicht bekommen hätte, nicht einmal in seinen Träumen. Besonderes Interesse wecke in ihm eine kleine Fabrik, die Geräte herstellte, welche ein wenig an riesige Vögel erinnerten und mit denen man, so schwärmte Merkurius, eines Tages würde fliegen können, auch wenn man keine Schwingen besaß.

Sulfurus erklärte ihn für verrückt.

Lachen mussten sie beide, als sie vor einem winzigen Bäckerladen standen, der inmitten von Schwerindustrie und Metallverarbeitung schon ein sehr skurriles Bild abgab mit seinen bunten und Zucker überzogenen Auslagen, den Kuchen und riesenhaften Torten, von denen eigne ganz herrlich dufteten. Sie kaufen sich jeder ein kleines Gebäck mit so viel Schokolade, Marzipan und bunten Streuseln, wie nur irgendwie auf den süßen Teig passte, und aßen es munter wie kaum jemand in dieser trostlosen Stadt auf einem hervorstehenden Rohr sitzend, während sie dem dumpfen Schlagen der allgegenwärtigen Maschinen lauschten.

Als schließlich die Dämmerung über die Stadt hinein bracht - was, faktisch gesehen, nicht wirklich etwas an der Lichtstimmung änderte - führe Merkurius seinen jüngeren Bruder schließlich in seine Bleibe, ein Zimmerchen in einem der heruntergekommenen Hinterhöfe der sowieso schon relativ schäbigen Stadt.

Sulfurus war entsetzt.

Nicht nur, dass diese Unterkunft einfach winzig war, sie stank auch noch erbärmlich nach Schwerölen und Metallverarbeitung, deren Dämpfe durch das zerbrochene Fenster hinein aber seltsamerweise nicht wieder hinaus zu wabern schienen. Rost kroch die schlecht verlöteten Wände empor und von der Decke tropfte eine Flüssigkeit, von der man nur hoffen konnte, dass sie Wasser war. In einem kleinen Schrank hingen mehrere, dann doch recht teuer aussehende Roben und Hüte, doch das wackelige Bett in der hinteren Ecke des Raumes war fleckig und abgewetzt und sah auch sonst nicht sonderlich gesund aus.

Sulfurus wirbelte zu seinem Bruder herum, der nach ihm das Zimmer betreten hatte. "Hier lebst du?", fragte er ungläubig. "Das ist ja… furchtbar!"

Diese Worte mochten für Merkurius recht verletzend sein, doch dem Vierzehnjährigen fiel beim besten Willen keine andere Umschreibung für diese erbärmlichen Lebensumstände ein. Es grenzte an ein Wunder, dass der junge Alchimist sich offenbar noch recht guter Gesundheit erfreute.

Merkurius schob sich an seinem Bruder vorbei und ließ sich auf das Bett fallen, das unter der plötzlichen Belastung bedrohlich quietschte. "Ja, irgendwie schon, du hast recht", gab er zu, grinste dabei aber recht selbstbewusst. "Es ist allerdings nur vorübergehend. Meine alte Wohnung musste ich kürzlich verkaufen."

Sulfurus setzte sich nun ebenfalls, wobei er aber den Fußboden vorzog. Der sah zwar nicht wirklich sauber aus, schien dafür aber relativ stabil. "Wieso das? Gab es Probleme?"

"Das nicht wirklich…" Merkurius zögerte. "Sagen wir, ich brauche in nächster Zeit eine etwas größere Summe Geld und da kam mir das recht gelegen…"

"Du brauchst Geld? Wofür das? Ist es für deine Arbeit?"

Der Anflug eines Grinsens huschte über die Züge des blonden Menschenmanns. "Na ja…"

Sulfurus verdrehte die Augen und schlug seinem großen Bruder spielerisch auf den Oberschenkel. "Nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Was ist los?"

Merkurius erhob sich wieder von der schmuddeligen Matratze und trat ans zersplitterte Fenster, wobei sich das Grinsen auf seinem Gesicht deutlich verbreiterte. "Wie soll ich sagen…", begann er, zögerte dann erneut und fuhr sich verlegen mit der Hand über den Hinterkopf. "Na ja…"

"Nun sag schon!!"

"Schon gut, schon gut!" Merkurius holte tief Luft. "Also… es… es gibt da ein Mädchen. So."

Sulfurus konnte nicht anders - er lachte laut auf, sodass sich sein Bruder überrascht zu ihm herumdrehte. "Was gibt es da zu lachen?"

Der jüngere der Beiden wischte sich eine Träne aus dem Auge und versuchte verzweifelt sein Gelächter herunter zu schlucken. "Das, haha, das ist doch - oh Götter, ich dachte schon, sonst etwas wäre los! Dabei hast du nur eine Freundin! Himmel, du bist einundzwanzig, ich würde mir mehr Sorgen machen, wenn dem nicht so wäre!" Dann stand auch er auf und legte seinen Arm um Merkurius Schultern - so weit er eben konnte, denn der Alchimist überragte ihn um gut einen Kopf. "Aber sag mal… das muss ja eine ziemlich teure Braut sein, wenn du ihretwegen deine Wohnung verkaufst:" Er grinste.

Doch sein Bruder schüttelte den freundschaftlich-zutraulichen Arm ab. "Nein, so ist das nicht. Es ist mehr so, dass… Nun, faktisch gesehen bin ich noch nicht wirklich mit ihr zusammen."

"Ah, daher weht also der Wind, du willst sie mit teuren Geschenken beeindrucken", schlussfolgerte Sulfurus. "Aber denkst du nicht, dass das der falsche Weg ist, so etwas anzufangen?"

"Nein, ich…" Merkurius seufzte. "Okay, hör zu, ich erzähle dir die ganze Geschichte. Das Mädchen, das ich meine… nun, wie es die Götter wollen ist sie die Tochter eines der richtig hohen Tiere der Stadt, einem Menschenmann, der es im Metallgeschäft richtig zu etwas gebracht hat. Ich habe sie bis jetzt nur ein paar Mal von weitem gesehen aber schon als ich ihr das erste Mal in die Augen sah war mir klar, dass sie die Eine, die Einzige für mich ist, auch wenn das vielleicht etwas verrückt kling. Lange glaubte ich, als keiner Wissenschaftler niemals eine Chance bei ihr zu haben, bis ich davon hörte, dass ihr Vater einen Wettbewerb ausgeschrieben hat, um einen Ehemann für seine liebreizende Tochter zu finden, der ihn gleichzeitig eines Tages beerben sollte. Natürlich war mir sofort klar, dass ich keine andere Wahl habe, als an diesem Wettstreit teilzunehmen. Und daher habe ich beschlossen, meine recht ansehnliche Wohnung zu verkaufen, um den zur Teilnahme erforderlichen Betrag von einhunderttausend Pyras aufbringen zu können."

"Einhunderttausend Pyras?", rief Sulfurus aus und pfiff anerkennend. "Das ist in der tat eine teure Braut, mein Lieber!"

Merkurius lächelte verschmitzt. "Was soll ich tun? Ich bin nun mal verliebt."

"Und der gleiche Idiot mit dem Kopf in den Wolken, der du schon immer warst."
 

Sulfurus genoss die Woche, die er bei seinem großen Bruder verbrachte, wie kaum etwas zuvor in seinem Leben. In den letzten Jahren war das Wohnen in einem Haus mit seiner Mutter eine einzige Tortur geworden, denn weil sie bereits von einem ihrer Söhne in Sachen Zukunftsvorstellung enttäuscht worden war, erwartete sie nun von ihrem zweiten Sprössling umso perfektere Leistungen, auch wenn der dazu überhaupt keine Lust hatte. Und so war es für ihn geradezu ein Segen, endlich einmal frei von jeglicher mütterlicher Kontrolle sein zu können, lange aufzubleiben, zum Frühstück Eis zu essen und all das zu tun, was man als Junge schon immer einmal tun wollte.

Die Tage vergingen wie im Flug.

Am letzten Abend dann lagen sie zusammen auf ‚ihrem Dach’, wie sie es nun nannten. Es war das Dach eines der höheren Gebäude der Stadt - wenn auch längst nicht das höchste - und man hatte einen recht schönen Blick auf die umliegenden Fabriken und Straßen. Doch das einmalige hier war, dass man, wenn der Wind günstig stand, manchmal, ganz manchmal das Glück hatte, dass der dichte Dunstschleier über der Stadt aufriss und man die Sterne sehen konnte.

Diese, ihre letzte Nacht war eine solche, seltene Nacht und das weiße Licht der fernen Sonnen stimmte Sulfurus melancholisch. Er beobachtete das, was laut Merkurius der große Wagen genannt wurde, und zeichnete seine Form mit dem Finger nach.

"Was denkst du, wie dein Leben weiter gehen wird?"

"Hm?", machte Merkurius und warf seinem kleinen Bruder einen kurzen Blick zu. Dann sah auch er wieder auf zu den Sternen. "Na ja… wenn es so laufen sollte, wie ich es mir wünsche… Ich würde Floria so schnell wie möglich ehelichen und dann mit ihr aus dieser hässlichen Stadt verschwinden, egal was ihr Vater dazu sagt!"

"Floria?"

"Ja, das Mädchen von dem ich immer sprach. Hatte ich ihren Namen noch nicht erwähnt?"

"Nein, das hattest du nicht."

"Oh…" Merkurius schwieg einige Sekunden und sagte dann leise: "Ich würde sie 'meine Blume' nennen…"

Sulfurus schnaubte einen Lacher. "Götter, bist du kitschig!"

"Was dagegen?" Der junge Alchimist verzog das Gesicht. "Warte erstmal, bis du verliebt bist! Dann hast du auch solche Gedanken!"

"Sich zu verlieben heißt nicht seine Männlichkeit aufzugeben, Kumpel!" Dieser Kommentar brachte dem vorlauten kleinen Bruder einen saftigen Schlag in die Rippen ein, der ihn aufkeuchen ließ und sie beide zum Lachen brachte.

"Und danach? Was machst du, wenn du mit deiner Blume in fremde Gefilde geflüchtet bist, sein Vater dich zum Vogelfreien hat erklären lassen und dich zum Abschuss freigibt?"

"Forschen", antwortete Merkurius ohne nachzudenken und ohne weiter auf Sulfurus' Sticheleien einzugehen. "Es gibt so vieles auf dieser Welt, das ich verstehen möchte. Ich möchte alles wissen, einfach alles! Jede noch so kleine Kleinigkeit. Ich werde alles katalogisieren, von der kleinsten Ameise bis hin zum Bollogg-Gehirn. Und ich werde nicht eher ruhen, bevor ich auch ihn endlich gefunden habe!"

Sulfurus blinzelte. "Ihn?"

Aus Merkurius' Richtung kam ein sanftes Lachen, kurz und beinahe zärtlich. "Den Stein der Weisen. Ich möchte der Alchimist sein, der es schafft – derjenige, der Metall zu Gold macht."

Das war der Moment in dem sich Sulfurus mit der Hand vors Gesicht schlug. "Gut, bis vor zwei Sekunden habe ich dir abgenommen, was du gesagt hast. Ich dachte: Meine Güte, mein Bruder ist tatsächlich ein Visionär! Jetzt weiß ich: Du bist einfach nur durchgeknallt."

"Na vielen Dank, dass du an mich glaubst!"

"Immer wieder gern, Bruder, immer wieder gern!"
 

Sulfurus würde niemals vergessen, was die letzten Worte gewesen waren, die er zu seinem großen Bruder gesagt hatte. Es war der Morgen seiner Abreise aus Eisenstadt gewesen und nachdem sie sich herzlich umarmt hatten, hatte er ihm einen Schlag auf den Rücke verpasst und gesagt, er solle sich auf dem Wettbewerb nicht unterkriegen lassen, die Konkurrenz platt machen und sich die Braut schnappen. Ja, genau das waren seine Worte gewesen.

Und an jenem Tag, an dem es soweit sein sollte, konnte der Vierzehnjährige sich kaum auf seine Schulaufgaben konzentrieren, so sehr war er mit den Gedanken bei dem verliebten Alchimisten, wünschte ihm im Geiste alles Gute und feuerte ihn an. Und eigentlich war er sich auch sicher, dass niemand anderer als sein Bruder diesen Wettbewerb gewinnen konnte. Wer sonst sollte seine Fähigkeiten, sein Geschick haben. Und wer sonst sah bitte so verboten gut aus?

Dann, eine Woche später kam dieser Brief.

Dass etwas nicht stimmen konnte, wurde Sulfurus recht schnell klar, als er an diesem Tag von der Schule nach Hause kam und seine Mutter weinend am Küchentisch sitzend vorfand. Vor ihm auf der bunt bestickten Tischdecke lag ein entfaltetes Blatt Papier, das der Junge nahm und überflog, dann wieder sinken ließ und fassungslos ins Leere starrte.

Das konnte nicht sein!

Völlig unmöglich!

Noch einmal las Sulfurus die so widersinnig erscheinenden Zeilen und es erschien ihm wie ein schlechter Scherz, ein makaberer Streich, den ihnen irgendwer spielte – wer auch immer das sein mochte...

… müssen Ihnen leider mitteilen, dass Merkurius von Midgard am vergangenen Montag unter tragischen Umständen im offenen Gefecht gefallen ist… wünschen Ihnen herzlichstes Beileid… in tiefster Trauer…

Der Junge ließ das Papier zu Boden gleiten.

Gefecht? Was für ein Gefecht? Etwa die Schlacht in den Midgardbergen? Ein Krieg? Sein Bruder - ausgerechnet sein Bruder - sollte in einem Krieg gefallen sein? Derselbe junge Mann, der nichts mehr verabscheut hatte, als den offenen, mit Waffen ausgetragenen Konflikt, sollte nun eben diesem zum Opfer gefallen sein?

Nein! Das war Irrsinn! Es musste eine Verwechslung vorliegen!

Sulfurus merkte kaum, wie ihm die Tränen in Strömen über die Wangen liefen und er zu einem Häuflein Elend auf dem Küchenfußboden zusammensank. In seinem Kopf war alles wie vernebelt, er vermochte keinen einzigen klaren Gedanken zu fassen außer: Das kann nicht sein! Das kann einfach nicht sein!
 

Man vergab dem fortgelaufenen Kind sein Vergehen und zelebrierte eine würdige Beerdigung, obwohl nie eine Leiche übergeben worden war, und das ganze Dorf erschien zur gemeinsamen Trauer.

Sulfurus selber konnte auch nach einer verstrichenen Woche noch nicht fassen, dass er seinen Bruder niemals wieder sehen sollte, seinen Bruder, der im Leben noch so viel vor gehabt hatte. All diese Pläne, die er für verrückt gehalten hatte - der Stein der Weisen, ein Perpetuum Mobile - plötzlich glaubte er fest daran, dass der junge Alchimist all dies hätte erreichen können, wenn ihm das Schicksal nur die Chance dazu gegeben hätte. Und Floria - was war aus Floria geworden? Hatte er den Wettbewerb um ihre Hand gewonnen? Hatte er sie gefreit? Hatte er es vorgehabt? Hatte er sie noch aus Eisenstadt hinaus und in eine bessere, schönere Welt führen können?
 

Was Sulfurus zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass er beobachtet wurde, dass jemand im Schatten verborgen stand und dem Begräbnis mit verzweifeltem Blick folgte. Jemand, der die Trauer in den Augen seiner Liebsten sah und sich nichts mehr wünschte als ihnen all ihre Fragen beantworten zu können.

Doch er konnte nicht, denn sie hätten ihn nicht erkannt.

Merkurius von Midgard war tot.

Und Succubius Eißpin saß verborgen im Zwielicht der jungen Bäume und beobachtete mit seelenlosem Starren, wie dort, wenige Meter von ihm entfernt, sein Leben zu Grabe getragen wurde.



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