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Orthogonalität am Beispiel des virilen Objekts

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Eigentlich mag ich solche Sachen gar nicht, solche Slash-Geschichten, in denen irgenwie jeder schwul bzw lesbisch ist. Weiß auch nicht. Komplett anzeigen

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Summarische Einführung in die Oberstufenmathematik

Mein bester Freund war genau deshalb mein bester Freund.

Natürlich hätte er mit ein wenig mehr Entgegenkommen ein noch besserer Freund sein können, aber so, wie er war, war er im Ganzen schon ein toller bester Freund. Einen besseren besten Freund konnte man wohl kaum noch erwarten.

Nichts desto trotz brauchte ich natürlich auch eine beste Freundin, denn so tolerant, wie Ray-Ray auch war, einige Sachen gingen nunmal nicht mit einem besten Freund.

Und das war das Thema des ersten Montagnachmittags nach den Sommerferien.

„Niemals!“ sagte Ray laut und lief stur weiter zur Bushaltestelle.

Ich folgte ihm schnell, die Hände vor der Brust ineinander gefaltet und sah ihn aus sehr großen, grünen Augen heraus an.

Doch er blieb stur: „Nein Tim, zum allerletzten Mal. Ich werde niemals, unter keinen Umständen jemals High School Musical mit dir gucken.“

Er sah mich sehr ernst an.

Ich schluckte und sank verletzt den Blick „Aber ich schwörs dir, der sieht aus wie Zac Efron.“

„Du verstößt gegen die Regeln, Tim!“ rief er über seine Schulter hinweg zu mir herüber.

Ich sog scharf die Luft ein und lief schnell zu ihm hin.

Wir hatten die Haltestelle erreicht und er nahm sich eine Zigarette aus seiner Hosentasche „für solchen Kram hast du Lilly! Wo ist sie überhaupt?“

„Urlaub.“ Nuschelte ich.

Er zündete die Zigarette an und nickte „ruf sie halt an und erzähl es ihr. Ganz aaaufgeregt“

Ray fuchtelte zynisch mit den Händen vor seinem Gesicht herum, dann grinste er.

„Nicht lustig“, sagte ich, konnte mein eigenes Grinsen aber nicht unterdrücken.

„Ach man.“ Er seufzte hart und sah kurz zum Boden, ehe er einen weiteren Zug nahm und dann nochmal, etwas widerwillig, auf seufzte: „Nagut. Aber nur, weil Lilly heute nicht da ist!“

Ich quietschte vergnügt auf, hüpfte auf den Zehenspitzen auf und ab und warf meine Arme um Ray.

Der hob abwehrend seine Hände „Tim, Tim, Tim, Tim! Tim! Die Regeln!“ rief er aus.

Ich ließ von ihm ab, sah mit roten Wangen zum Boden und murmelte gepresst ein „Tschuldigung“ hervor.

Ray brummte genervt.
 

„Also“, sagte ich dann und sah ihn wieder grinsend an „Heeer Branner sieht echt genauso aus, wie Zac Efron. Nur älter. Na ja, ein bisschen älter. Eigentlich.. nein, eigentlich nicht älter. Eher wie Zac Efron ungeschminkt. Wobei du natürlich keine Ahnung hast, wie Zac Efron aussieht, weil du High School Musical ja nicht kennst!“

„Deine Zimmerwände sind vollgekleistert mit Postern von diesem Typ!“ warf Ray ein, doch ich ignorierte ihn natürlich „und seine Stimmte klingt so, wie Zac Efrons deutsche Stimme. Und die Haare, man, die Haare. Genauso glatt und glänzend und perfekt, die gleichen Augenbrauen und die Augen selbst. Als Herr Branner rein kam ins Klassenzimmer hab ich echt gedacht, das wäre Zac Efron!“

„Bist du deshalb hysterisch kreischend vom Stuhl gefallen?“

„Natürlich gibt es die kleinen, feinen Unterschiede. Zac Efron ist kleiner als Herr Branner. Und die Haarfarbe, na ja, ist bei Zac ja unterschiedlich. Herr Branners Haare sind bestimmt immer dunkelbraun. Und er ist ein bisschen... dicker!“

„Ich würde das trainierter nennen!“

Ich japste empört auf. Dieses Kommentar konnte ich ihm nicht durchgehen lassen.

„Du kannst das nicht!“ sagte ich genervt und drehte ihm den Rücken zu.

„Ja, ich bin auch ein Mann.“

„Aber ich rede mit dir auch über Frauen!“ antwortete ich enttäuscht.

„Ja, weil du so denken kannst wie Frauen.“
 

Ich schnaubte nochmal.

Ray lachte leise „ist doch so. Du bist dann nur nicht sofort eingeschnappt, wenn man ein falsches Wort sagt.“
 

Ich glaubte, nicht nur ich erfreute mich einer wunderbaren Freundschaft mit Ray-Ray, sondern er sich auch an einer mit mir.

Natürlich waren nicht alle Jungs so stoisch wenn es um das vermeintliche Thema „Schwul“ ging.

Sie waren eher verspannter und etwas leidig.

Ray-Ray rauchte, akzeptierte und stellte bald fest, dass es nebst einiger höchst schwuchteliger Eigenschaften auch ganz praktisch sein konnte, einen schwulen Freund zu haben.

Wie zum Beispiel das große und allseits beliebte Platz eins Thema Frauen.

Nicht nur, dass ich sie bedingungslos verstand und mein Wissen diesbezüglich gern an meinen besten Freund weitergab, nein, es wirkte bei Mädchen gerade anziehend, wenn man schwul war.

Ähnlich wie der Trick mit dem Baby-Hund.

„Es gibt Tage, da wünschte ich, ich sei auch schwul, dann wäre es viel leichter, Mädchen kennen zu lernen.“ hatte Ray mal gesagt.
 

Natürlich konnte er nicht nach vollziehen, was genau ich jetzt an Zac Efron oder diverse Männchen aus dem Pub verlockend fand und gegen überschwules Verhalten in der Öffentlichkeit gab es vereinzelte Regeln, denen ich mich zugunsten seiner Heterosexualität fügen sollte.
 

Die hatte Ray vor eineinhalb Jahren verfasst und er musste, zugegeben, mich dennoch täglich daran erinnern.

Es fiel mir nunmal nicht besonders leicht, mich gegen mein natürliches Verhalten zu stellen und mich zu verstellen.
 

Und über Jungs oder Zac Efron quatschen, das ging auch nicht mit ihm.

Dafür hatte ich dann Lilly. Wobei sie, genauso wie Ray-Ray, meine Zuneigung gegenüber Zac auch nicht wirklich nach vollziehen konnte, aber in gewissen anderen Dingen war sie eben unersetzlich.
 

Und da fing die Geschichte an.

Nach den Sommerferien, die uns innerhalb von sechs Wochen zu den großen Oberstufenschülern machten.

Es lief alles doch erheblich anders ab, als in der Mittelstufe.

Wie wir unsere Pflicht- und Wahlkurse vor den Ferien gewählt hatten, erhielt jeder Schüler am ersten Montag einen eigenen Stundenplan mit Raum- und Lehrerangaben und von da an mussten wir zusehen, wie wir zurecht kamen.

Es gab Deutschkurse und Englisch, Physik und Musik, Sozialwissenschaften und Sport und und und.

Und Ray-Ray und ich, wir hatten fast alles zusammen.

Was für ein ausgesprochenes Glück.
 

So auch Mathe.

Und Mathe war eine Angelegenheit in meinem Leben, die ich alles andere als gern ansprach.

Mathe war mir unbegreiflich.

Ich hasste Mathe.

So sehr, dass ich manchmal Nachts nicht schlafen konnte.

Und Mathe hasste mich.

So sehr, dass es sich alle Mühe gab, sich voll und ganz gegen mich zu versperren.

Und wir hielten das schon ziemlich stur vier Jahre durch.

Und keiner von uns sah sich in Naher Zukunft aufgeben.
 

Hatte ich bis zum Abschluss der zehnten Klasse noch geglaubt.
 

Stimmte nicht.
 

Nun ja, Mathe an sich würde für mich auch in der Oberstufe ein einziges Rätsel bleiben, das war uns allen klar.

Aber ich fing am ersten Montagnachmittag nach den Sommerferien an, mich auf Mathe zu freuen.
 

„Wie zur Hölle konnte das denn passieren?“ fragte Lilly empört am Telefon, als ich ihr diese Nachricht überbrachte.

Ich zuckte lächelnd die Schultern „Vielleicht wegen Zac.“

Sie schnaubte „Was hat der denn jetzt damit zu tun?“

Offensichtlich nervte ich mit Zac. Was mir sehr egal war.

„Du wirst es kaum glauben, aber Zac unterrichtet jetzt an unserer Schule Mathe. Unseren Kurs.“

„Wie darf ich das denn verstehen?“

„Ja, du hast Recht“, gab ich zu „es ist nicht wirklich Zac, aber er sieht aus wie er. Fast ganz genau so. Frag Ray.“

Lilly lachte.

„Er heißt Branner. Marc Branner. Ist neu an der Schule seit jetzt, wir sind seine erste eigene Klasse. Kurs. Wie auch immer.“
 


 

„Hey Tim“, begrüßte Ray-Ray mich am nächsten Morgen an der Bushaltestelle. Er nickte zu mir rüber, nahm den letzten Zug seiner Zigarette und ließ den Stummel dann auf den Boden fallen, um drauf zu treten.

Ich gähnte und erwiderte sein begrüßendes Nicken.

„Na, alles klar?“ fragte ich müde und riebe mir das linke Auge.

Er nickte knapp „jap. Du, sag mal...“

„hm?“

Ray sah mich kurz musternd an, dann redete er weiter: „wenn du jetzt auf Herr Branner stehst... hörst du dann auf, ständig von Zac Efron zu reden?“

Ich schnaubte leicht empört „bist du verrückt?“

Mit einem Mal war ich hell wach, als wenn ich nie geschlafen hätte „wie kann ich jemals meine erste große Liebe vergessen?“

„Tim...“ Ray seufzte genervt, doch natürlich reagierte ich nicht darauf

„glaubst du wirklich, dass es wahrscheinlicher ist, dass Herr Branner eines Abends mit Popcorn vor meiner Haustür steht und einen High School Musicla Abend machen will, als dass Zac anruft um zu erklären, dass er die Dreharbeiten für den vierten Teil hinschmeißt und zu mir in mein Zimmer ziehen will?“

Ray tat so, als würde er kurz darüber nachdenken, natürlich wusste ich, dass er das nur mit „Ja“ beantworten konnte, doch stattdessen sagte er: „du würdest wirklich auf den vierten High School Musical Teil verzichten?“

Überrascht ob dieser Frage zog ich die Augenbrauen zusammen und legte meinen Kopf nachdenklich schief.

Das ist eine doch sehr bedenkswerte Frage, die in der Tat einige Zeit brauchen würde.

Ich sah Ray böse an, steckte mir die Ohrhörer meines lila iPods in die Ohren und als der Bus kam und wir einstiegen, hörte ich nur noch Brian Molkos Stimme, die laut und entspannend in mein Ohr säuselte.
 

Ray-Ray, eigentlich Ramon Schuster, war ungefähr zur Hälfte Spanier, zur anderen Deutscher und sein Name brachte diesen Umstand deutlich zur Geltung.

In der fünften Klasse handelte er sich durch den Englischunterricht den Spitznamen Ray ein, weil unsere damalige Lehrern, echt gebürtige Kanadiern, es nie auf die Reihe brachte, Ramon echt deutsch oder wenigstens spanisch auszusprechen, sondern immer diesen leichten, englischen Akzent drinnen hatte und er so jede vierte Stunde nicht mehr Ramon, sondern Raymon war.

Er war äußerst muskulös mit breiten Schultern und schmaler Hüfte und unter seinen dunklen Locken glänzten fast schwarze Augen.

Lilly war klein und schmal, hatte helle Haut, helle Augen und helles Haar. Sie war ein sehr verwöhntes Einzelkind und wir munkelten, dass sie adoptiert war, weil sie mit Cleverness und Intelligenz überzeugte, ihre Eltern hingegen eher normal waren; streng und hart arbeitende Workaholics, die es irgendwie schafften, ihrer Tochter trotz der rundum-arbeiterei genügend Aufmerksamkeit entgegen zu bringen, dass sie auf ein Glückliches Sein schauen konnte. Und dass wir bemerken konnten, dass Lisa, so hieß sie eigentlich, eine erstaunliche Kombinationsgabe besaß, ganz im Gegensatz zu „Mom“ und „Dad“. Natürlich liebten wir Herrn und Frau Wolf trotzdem.
 

Über Herr Branner wusste ich so gut wie nichts.

Er sah aus wie meine erste große Liebe, im Unterricht war er locker, trotzdem diskret und wenn es sein musste, konnte er auch ganz schön laut werden.

Und um ehrlich zu sein, das fand ich extrem sexy.

Er schien mir am Anfang etwas nervös zu sein, aber ich glaube, dass überdeckte er ganz geschickt mit seinem eben angeeignetem Wissen.

Herr Branner, Marc, hatte vor gar nicht so langer Zeit erst seine Abitur-Prüfungen gemacht und neben Mathe unterrichtete er auch noch Sport und ich beneidete die Klassen, die Sport bei ihm hatten.

Doch wahrscheinlich würde ich am laufenden Band in spontane Ohnmacht fallen, würde ich diesen Mann hautnah in engen T-Shirts sehen, wie er seine Schüler womöglich mit Körpereinsatz zum Sport und Spiel animierte.

Und ich würde wahrscheinlich die Leichtathletik gar nicht überstehen, wenn er mir nur einmal Hilfestellung geben würde.
 

Lilly wartete im Bus auf uns und zwinkerte mir zu. Es war Dienstag und das bedeutete, zwei Stunden Mathe standen auf dem Plan. Gleich, nachdem wir Philosophie hinter uns gebracht hätten, nach unserer zwanzig-minütigen Pause würde Herr Branner wieder irgendetwas reden von Definitionen und Funktionen.

Ich hörte ihm zu. Gerne. Mit vollstem Genuss, ich ließ mich durch Nichts ablenken, durch gar nichts.

Nicht durch Ray-Ray oder Lilly, einem Eichhörnchen auf dem Baum vorm Fenster oder durch Patricks alltägliche Alberein zum allgemeinen Vergnügen.

Ich lächelte Lilly vergnügt an und bedeutete ihr dann, dass ich gerade sauer auf Ray war und deshalb nicht mit ihm sprach und deshalb laut Musik hörte, weshalb ich auch mit ihr nicht sprechen konnte.

Und natürlich dachte ich an Ray-Rays Frage, ob ich auf einen vierten High School Musical Teil verzichten könnte, wenn ich dafür Zac oder wenigstens Herr Branner bekäme.

Und ich dachte an Definitionen von Funktionen und Lineare, denn alles, was mit Mathe zutun hatte, brachte ich neuerdings zwangsläufig mit Herrn Branner in Verbindung.

Er war einfach toll.

Ganz besonders an diesem Morgen, als Lilly, Ray-Ray und ich das Schulgebäude betraten und uns für den Rest der Wartezeit an einen Tisch in der großen Pausenhalle niederlassen wollten.

Ich hörte nur noch auf einem Ohr Musik, nämlich auf dem, welches Ray-Ray (und deshalb auch Lilly) zugewandt war, als ich Zacs und Herr Branners Stimme neben mir wahrnahm: „Tim“, sagte sie freundlich.

Mir blieb der Atem stehen und ich drehte mich, mir kam es vor wie in Zeitlupe, zu ihn um.

Meine Augen wurden größer und größer, doch er merkte das nicht. Er lächelte nur lieb, umwerfend, einfach göttlich.

Nicht dieses blöde Lächeln, dass ihn wirken ließ, wie ein Idiot, sondern das andere Lächeln. Das Lächeln, dass wohl jedes Mädchen auf der ganzen Welt zum Schmelzen brachte.

Und mich. Und bei meinen Knien fing es an.

„Guten Morgen“, sagte sein Lächeln.

Und ich starrte es an. Die rosigen Lippen, die so zart aussahen, die sicherlich nach etwas ganz besonderem schmeckten, und diese perfekten Zähne im perfektem Weiß.

Ich stotterte „ähm.. äh...“

„Was hörstn da?“ Herr Branner nickte zu meinem Ohr.

Ich schluckte hart und zog den Kopfhörer raus.

„Placebo“, nuschelte ich und spürte, wie das Blut in meine Wangen schoss, sie aufwärmten und mit Sicherheit leicht rot färbten.

Wie peinlich.

„Sind gut“, lächelte Herr Branner, er zwinkerte, drehte sich dann nach rechts um und ging in die Richtung der Klassenzimmer, und zum Abschluss sagte er: „das neue Album ist nicht schlecht.“
 

Lilly legte ihre Hand auf meine Schulter.

Mit rasendem Herzen drehte ich mich zu ihr um und sah nur ihr blondes, langes Haar irgendwo vor mir.

„Atmen nicht vergessen“, hörte ich ihre Stimme, doch sie klang gedämpft, wie durch Wände, sehr weit weg.

„Das ist doch bescheuert“, hörte ich auch Ray-Rays Stimme, sie klang deutlich genervt.

Ich sah, wie er sich seine Tasche enger auf die Schulter klemmte und uns dann verließ.

„Mach dir nichts daraus, er ist noch müde.“ entschuldigte Lilly sein unsensibles Verhalten.
 

Welches mir herzlich egal war an diesem Morgen.

Herr Branner hatte mich persönlich begrüßt.

Herr Branner hatte meinen Musikgeschmack für gut befunden.

Herr Branner hatte mich bemerkt.

Ich war total in Herrn Branner verschossen.

Von deutschen Mathefreaks und kanadischen Rockmusikern

Wir, das waren rund hundert Schüler, also alle der elften Klasse, saßen in der Aula und redeten und quatschten und tratschten was das Zeug hielt. Versammlung zur Besprechung der Stufenfahrt zwecks Kennenlernens im Dezember war angesagt. Es war Montagmorgen, acht Uhr und ich saß tief in meinem Sitz hängend neben Ray-Ray, der sich seine Ohrhörer in die Ohren gestopft hatte und die Augen geschlossen hielt.

Es war zu früh.

Müde wandte ich meinen Blick zu Lilly links neben mir. Sie redete aufgeregt mit  Julie aus unserem Freundeskreis. Rechts von Ray-Ray hangen, ebenso kaputt und müde wie wir beide, Pat und Flo.

Wie es sich so gehörte, war man schon früher als acht an oder in der Schule und musste so irgendwie die zehn Minuten bis zum Beginn überbrücken.

Der Vorteil dieser Veranstaltung war unumstritten, dass Kunst für mich ausfiel und ich gleich, nach dieser Versammlung, zu meinem geliebten Mathelehrer spazieren durfte um ihn in seiner Ansprache über lineare Funktionen mit Nichtsverstehen aber schmachtem Anstarren irgendwie zu unterstützen.

In Kunst am Montag saß ich immer ganz allein, denn Lilly und Ray-Ray belegten den Musikkurs, eine Wahl, die ich absolut nicht nachvollziehen konnte.

Natürlich war Musik ein äußerst wichtiger Lebensbestandteil, aber gerade noch unwichtig genug, dass man nicht unbedingt ein Instrument spielen, Noten lesen und sonore Töne singen können musste.
 

Um acht Uhr klingelte die Schulglocke und schreckte mich, Ray-Ray und Pat gleichzeitig aus unserem Döszustund. Verwirrt sahen wir uns um, streckten uns und Ray-Ray gähnte herzhaft, um seinem Missgunst an der unhumanen Zeit zum Ausdruck zu bringen.

Ich schmunzelte, faltete die Finger ineinander und drückte sie gegen die Rückenlehne des Vordersitztes.

Herr Pieper tauchte vor den Sitzreihen auf und begrüßte uns mit einem fröhlichen „Morgen Jungs, Morgn Mädls.“

Einige verschlafene Stimmen antworteten, wir schwiegen.

„Die Stufenfahrt findet wie jedes Jahr vom neunten bis einschließlich dreizehnten Dezember statt und führt uns wie jedes Jahr in die wunderschöne, westlichste Großstadt des Landes, die mit einer außergewöhnlichen Historie... bla bla. Nach Aachen, wie jedes Jahr. Die Kosten betragen für vier Nächte, vier Frühstücks und vier Abendsessens und die Fahrt dorthin hundert Euro. Ihr bekommt diese“, Herr Pieper hielt einen Batzen Dokumente hoch „Blätter noch ausgehändigt, darauf“, er sah sie sich genauer an „findet ihr noch mal alle wichtigen und ausführlichen Informationen zur Fahrt, die Bankdaten für die Überweisung des Betrags und dieser Abschnitt hier“, er deutete auf den untersten Teil eines Blattes „ist bis zum zwanzigsten November an mich oder einen der aufsichtshabenden Lehrer wieder zu geben. Das Geld überweist ihr bitte bis dahin auf das Konto, wer nicht mit kommen will schreibt einen ausführlich... wobei, ich hab keine Lust, das alles zu lesen, der schreibt einfach einen Grund und reicht ihn bald möglich bei mir ein. Mal gucken, ob ich das so genehmigen kann wegen diverser Vorschriften. Hat irgendwer noch Fragen dazu?“

Ein gemeinsames Räuspern ging durch die Schülerschaft, dann hob sich links von mir eine Hand und eine piepsige, weibliche Stimme fragte: „Wer sind die aufsichtshabenden Lehrer?“

„Gute Frage, Christine, wirklich ausgezeichnet. Nun ja“, Herr Pieper, eine an sich doch recht witzige Natur, nickte in die rechte Ecke des Raumes „ich werde mitkommen müssen, außerdem noch Frau Berger, Frau Rescher und Herr Branner.“

Ich drehte mich zur rechten Ecke und erblickte den attraktiven Mann zwischen zwei mittelalten Frauen stehen, die eine nervös, die andere genervt lächelnd.

Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, und das tat ich in diesem Moment wahrscheinlich auch nicht, hätte ich gedacht, dass Herr Branner nur für mich lächelte und seine blauen Augen fixierten genau mich.

Nervös schluckend drehte ich mich wieder um, zog mir die weiße Mütze meines Kapuzenpullis über das blonde Haar und rutschte tief in meinen Sitz runter.

Er hatte mich unmöglich sehen können. Ich saß mitten in einem Haufen von Leuten und war so mega unauffällig, dass ich mir nicht mal selber auffiel.

Er hatte nicht mich angelächelt. Er hatte die Schülerschaft angelächelt. Das musste einfach so gewesen sein!
 

Ich schluckte hart und sah wieder rauf zu Herrn Pieper, der mit seiner Ansprache fertig war, den Batzen Blätter in die erste Reihe reichte und uns dann „in den Unterricht“ entließ.

Das waren also zehn Minuten gewesen, für die wir uns hier versammeln mussten.

Mir passte an der Sache nicht, dass mein Unterricht trotzdem nicht statt fand – faules Lehrerpack – und ich jetzt die restlichen achtzig Minuten Zeit überbrücken musste, die ich lieber gern in meinem Bett verbracht hätte. Da hätten mein Bett, ich und Zac nichts gegen gehabt.

Ich gähnte herzhaft, verfluche diese Woche und schlurfte neben Lilly aus der Aula.

„Dein Kurs fällt aus?“ fragte sie mich und sah mich musternd an.

Ich nickte müde.

„Und du bist der Einzige von uns in diesem Kurs?“

„Du und Ray und Flo habt Musik, Pat und Julie sind im anderen Kunstkurs!“ antwortete ich leise und sah sehnsüchtig meine Freunde an, die sich verabschiedeten, um zum Kunstkurs im oberen Stockwerk zu gehen.

„Hm“, machte Lilly „hast du Herrn Pieper mal gefragt, ob du den Kurs wechseln kannst?“

Ich zog die Augenbrauen zusammen und sah sie verwirrt an.

Natürlich war ich darauf nicht gekommen, aber mir hatte auch niemand gesagt, dass das möglich war.

Vielleicht konnte ich den Sportkurs wechseln?

„Frag ihn doch mal, kostet ja nichts!“ sagte Lilly, lächelte, umarmte mich kurz und lief dann zu Ray und Flo, die schon auf sie warteten.

„Genieß deine Freistunden!“ sagte Flo, zwinkerte und die vier verließen das Gebäude.

Ich unterdrückte mein Gähnen, drehte mich zu den Tischen um und ließ mich auf einen Plastikstuhl neben der Glastür zum Flur nieder.

Ich seufzte herzhaft, sah mich kurz um, um fest zustellen, dass ich keinen der hier sitzenden Schüler kannte, und legte dann meinen Kopf auf meine Arme, die ich auf der Tischplatte abgelegt hatte.

Schnell wurde es angenehm warm um meinem Gesicht, dann unangenehm heiß.

Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, ich läge in meinem Bett als die Tischplatte wackelte, ich das Rauschen einer Jeans wahrnahm und schließlich jemand „Hey, Tim?“ sagte.

Verwirrt ob ich meinen Kopf, koordinierte mich kurz und sah dann ein Paar grüner Augen vor mir, die mich vergnügt anleuchteten.

„Ähm“, antwortete ich und musterte den jungen Mann. Er hatte schmale Schultern, helle, reine Haut und tief schwarze Haare. Die waren gefärbt und zu einem schicken Seitenscheitel gekämmt.

„Ich bin Joe“, stellte der hübsche Unbekannte sich vor und zeigte sein perfekt weißes Lächeln.

„Joe?“ antwortete ich mit flagranten, fragendem Unterton. Mein Gegenüber nickte nur „Joe...“

„Okay!“

„Wir haben Kunst zusammen.“

„Hab ich mir irgendwie gedacht.“

„Und Mathe.“ Er lächelte mich an. Mit diesem wissenden Blick.

„Äh...“
 

Joe lehnte sich leise schmunzelnd zurück „Ich kann das voll verstehen.“

„Äh“

„Dass du einen Narren an ihn gefressen hast.“

Er wandte sich um und sah zum Sekretariat. Die große Tür stand offen und durch den Spalt gab sich mein Mathelehrer zu erkennen, der sich mit Herrn Pieper unterhielt.

„Ähm...“

„Ich fand Mathe schon immer ziemlich gut. Aber seit Neuestem ist es einfach nur genial.“

Joe drehte sich wieder zu mir um und lächelte ziemlich lüstern.

„Er ist zum anbeißen.“

„Heißt das, du bist auch...“ ich hielt kurz inne und musterte ihn.

Er nickte „schwul, ja.“

Ich schluckte hart.

Man merkte es ihm nicht unbedingt an. Wahrscheinlich sah man es nur, wenn man es wusste.

Bei mir war das – offensichtlich – anders.

Ich konnte mich einfach nicht zurück halten, ich war so, das war meine Natur.

„Das ist ungewohnt.“ antwortete ich leise und musterte Joe.

„du kennst keine anderen schwulen Männer?“

„äh...“ ich zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte vorsichtig mit dem Kopf „nicht wirklich...“

Joe kniff die Augen zusammen und musterte nun seinerseits mich „das heißt, du hast nie...“ er zog die Augenbrauen hoch und drehte seine Hand.

Ich sog scharf die Luft ein.

Ich konnte mich nicht verstellen, und ich konnte nicht aufpassen, was ich zu wem sagte. Oder generell, was ich sagte.

Schnell versuchte ich, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken: „Du bist jetzt neu hier?“ Er nickte „Von welcher Schule kommst du?“

„Gesamtschule Rothstraße!“

„Ah...“

„Ja...“

„Ich war vorher schon hier.“ erklärte ich und presste die Lippen aufeinander. Ich wusste wirklich nicht, was ich noch sagen sollte. Ihm gegenüber zu sitzen fühlte sich irgendwie ein bisschen peinlich an.
 

Wir schwiegen und wechselten einige Worte und die Anspannung zwischen uns war quasi greifbar. Bis mein Handy klingelte.

Ich nahm das Gespräch entgegen, ließ mir von meiner Mutter sagen, dass sie die Schicht ihrer Kollegin noch übernahm und daher erst später nach Hause kam, sagte ihr, dass ich sie lieb hatte und legte dann wieder auf.

„Billy Talent Fan“, lächelte Joe.

Zuerst sah ich ihn verwirrt an – woher wusste er denn das jetzt? - dann steckte ich mein Handy zurück in meine Tasche und das Wissen kam wie eine Erleuchtung über mich. Mein Klingelton.

„Ähm“, ich nickte verlegen „ja. Ja, eigentlich schon.“

„Ich liebe das neue Album...“
 

An diesem Morgen erfanden wir ein neues Spiel. Wir hatten ihm keinen Namen gegeben und eigentlich war uns auch gar nicht wirklich klar, dass es für uns eine Art Spiel sein oder werden sollte.

„Heißester Typ in Kanada“, lächelte er und musterte interessiert meine Reaktion. Ich überlegte kurz, dann antwortete ich: „Alex Evans.“

Er verzog überrascht das Gesicht „Nie gehört.“

„Nicht?“

Er schüttelte den Kopf.

„Man.“ Ich lächelte leicht „kanadisches Model und... Fotograf.“ unwissend zucke ich die Schultern „glaub ich. Heiß, auf jeden Fall. Musst du mal googeln.“

Er griente verschmizt.

„Und?“ fragte ich neugierig „heißester Typ in Kanada?“

Jetzt lachte er vergnügt auf und zuckte dann die Schultern: „Weiß nicht, vielleicht... Keanu Reeves oder... hm, Ben Kowalewicz?“

„Hm“, ich legte nachdenklich den Kopf schief, dann nickte ich: „Ja schon, aber die sind so alt...“

Dann lachte er wieder. Er lachte schön.

Es war aufrichtig und unverhüllt, man hörte, dass er es ehrlich meinte.

„Natürlich, die sind alt, aber“ er schielte kurz zum Sekretariat, Herr Branner war nicht mehr da „da kennen wir ja noch jemanden, nicht wahr?“

Ich lächelte beschämt und meine Wangen färbten sich rot.
 

Man sagte ja „da stimmt die Chemie“, wenn man sich außerordentlich gut mit jemanden verstand.

Joe und ich waren ein Traumpaar.

Meine Freunde nahmen ihn ohne Widersprüche in unserem Kreis auf, wir lachten viel, redeten viel und wurden allmählich richtig gute Freunde.

Dass er homosexuell veranlagt war allerdings sollte ich für mich behalten.

Wieso genau verstand ich nicht, er hatte mir nur gesagt, dass das an seiner alten Schule weniger gut aufgefasst wurde.

Er hatte zwar nie beabsichtigt, sich zu outen, aber irgendwie hatte es irgendwer erfahren und schon bald war er monatelang das Thema an der Schule gewesen.

Das hatte ihn gestört und er hatte beschlossen, irgendwie auf zupassen, dass das nicht noch mal passierte.
 

„Jeder hier weiß davon, dass ich schwul bin und niemand tratscht.“ versuchte ich, seine Überzeugung umzuwerfen, doch er schüttelte nur lächelnd den Kopf: „Das glaubst du.“

Er deutete auf eine Mädchengruppe, die etwas entfernt rechts von uns auf den Tischtennisplatten saß und sich sonnte „deren Lieblingstratschthema bist du. Und die da“ er deutete auf eine Gruppe Sechstklässler, die verdächtig zu mir und Joe rüber

starrten „ekeln sich schon eine Weile vor uns.“

Ich verdrehte genervt die Augen „Ja und? Dann ekeln die sich eben, ist nicht meine Sache.“ ich zuckte die Schultern, rutschte von der Mauer, die den oberen Schulhof vom unteren trennte und griff nach den Riemen meines Rucksacks „komm, die Pause fängt gleich an.“

Und wir gingen zum Schulgebäude, um die anderen abzufangen.
 

Ich hatte mich dagegen entschieden, den Kunstkurs zu wechseln, denn nicht nur, dass ich mit Joe zusammen dort saß, entfielen unsere Stunden auch noch außergewöhnlich oft, sodass ich fast jeden Montag später zur Schule musste; oder Frau Neumann entließ uns sehr viel eher in die Pause als es vielleicht angebracht war.
 

Als ich die Stufen zur Tür hoch lief, achtete ich wie gewohnt nicht direkt darauf, wo ich hin ging... oder vielleicht viel direkter, als es gut war; so besah ich mir meine Schuhe – nebenbei erwähnt wahnsinnig schicke Treter – und wie sie die Treppe hoch stiegen, als zu sehen, ob mir jemand entgegen kam.

Ich kann mich nicht entscheiden, ob das gut oder schlecht gewesen war, aber als ich die vierte Stufe erreicht hatte, spürte ich einen harten Schlag an meiner Schulter und ich ließ wegen des Rucks den Riemen des Rucksacks los und meine Tasche fiel auf die Kante der Treppenstiege und purzelte von da runter zum Boden.

„Boah man ey du Vollidiot pass doch auf wo du hinrennst...“, fluchte ich laut, als ich dem schwarzen Rucksack hinterher sah, dann schaute ich auf und spürte, wie das Blut gleichzeitig aus meinem Gesicht entwich und hinein schoss, ich musste abwechselnd bleich und rot geworden sein.

„Ähm“, stotterte ich und hob entschuldigend meine Arme.

Natürlich, und das war klar, musste es Herr Branner gewesen sein, den ich umgelaufen hatte.

Er lächelte, er lächelte so liebevoll und besonnen, dass sich die Welt augenblicklich aufhörte zu drehen, der Wind still stehen blieb, mein Herz nicht mehr schlug und es nur noch dieses Lächeln und mich gab.

Er ging schnell die Treppe runter, griff nach meinem Rucksack und reichte ihn mir „Tschuldigung, Tim, mir tuts Leid, war meine Schuld.“

„Äh...“ mit zitternden Fingern nahm ich den Riemen meiner Tasche. Ich sah in diese blauen Augen, die genau mich fixierten. Die meine Augen betrachteten, über meine Wangen fuhren, kurz an meinen Lippen klebten, dann wieder meine Augen ansahen.

Ich schluckte hart, packte den Rucksack richtig und nickte dankend.
 

Er schmunzelte kokett, wandte sich dann ab und ging über den Schulhof zum anderen Gebäude runter.
 

Herr Branner.

Er hatte mich persönlich angesprochen. Hatte mich berührt. Meine Schulter fühlte sich ganz kribbelig an.

Er hatte meinen Rucksack genommen.

Erschrocken sah ich den an, dann lächelte ich verliebt, seufzte glücklich auf und wusste, dass ich jetzt ohne Reue sterben könnte.

Ungenügend reicht nicht aus

„Boah man“, ich griff den Zettel fest und seufzte theatralisch genervt auf „das hab ich ja total vergessen. Wie das nervt.“ ich verdrehte die Augen und reichte den Zettel an Ray weiter.

Der nahm das Stück Papier entgegen und lachte dann vergnügt auf „Oh man.“

„Bescheuertes... blödes scheiß Sommerfest.“

Super angenervt ließ ich mich auf meinen Stuhl neben der Tür zum Flur fallen und legte das Gesicht in die Hände.

„Was ist denn so schlimm?“ sagte Ray-Ray, er zerknüddelte den Zettel, warf ihn zum Mülleimer, welchen er verfehlte, was ihm egal war, und setzte sich zu mir an den Tisch in der Pausenhalle.

„Ich hab voll kein Bock auf diese Scheiße“, erklärte ich und erinnerte mich an die unzähligen Male aus den vorherigen Jahren an das jährliche Sommerfest unserer Schule.

Es war vielleicht ganz spaßig, wenn man in der fünften oder sechsten Klasse war, aber jeder Sommer danach war einfach nur quälend oder unermesslich peinlich.

Die jüngeren Schüler spielten dämliche Spiele, die etwas älteren langweilten sich auf dem Sportplatz zu Tode und die Oberstüfler gaben sich jedes Jahr die Kante.

Und um den Titel als „schlimmere Säufer“ kämpften jedes Jahr die Elfer gegen die Abiturienten, und aus sehr verlässlichen Quellen wusste ich, dass der Dreizehner Jahrgang diesen Titel die letzten beiden Jahre einheimste.

Und das, obwohl sie letztes Jahr gar nicht teilnahmen, an diesem inoffiziellen Wettkampf.

Deshalb auch nur konnten sie den auch gewinnen, weil er eben nicht konventionell war.
 

Ray-Ray lächelte und zuckte gleichgültig die Schultern „ach komm schon Tim. Wir saufen die Dreizehner unter den Tisch, dieses Jahr.“

Ich lachte argwöhnisch auf „Ja klar. Aber du weißt sicher noch, dass dein Bruder in dem Jahrgang ist? Er hat mindestens fünfzig Prozent dazu beigetragen, den Titel der schlimmsten Säufer zu erlangen.“

Ray-Ray nickte selbstbewusst und verschränkte die Arme vor der Brust „Ja. Letztes Jahr haben wir ja nicht dran teilgenommen. Und erinnere dich daran, dass ich viel jünger und vitaler und kräftiger und hübscher und klüger und toller bin als Steve. Den hau ich weg und um die restlichen fünfzig Prozent kümmert ihr euch.“

Ich lächelte.

Und dachte daran, dass ich nicht an diesem Wettkampf teilnehmen sollte.

Wenn das ein Sommerfest der Schule war, dann würde sicherlich auch Herr Branner da sein.

Herr Branner war neu am Neuling-Gymnasium, so wie Joe und diverse andere aus meinem Jahrgang und es wäre ihr erstes Fest.

Joe war verpflichtet, teilzunehmen, Herr Branner wahrscheinlich nicht, er wusste ja gar nicht, was da los war.
 

Aber ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass er kommen würde. Um zu gucken, wie es war.

Die Theater AG aus der Mittel- und Unterstufe würde sicherlich etwas vorführen, auf dem Sportplatz würden die jüngeren Schüler Völkerball- und Fußballspiele spielen und engagierte Mütter verkauften Obsttarteletten.
 

Letztes Jahr, ich war damals frisch fünfzehn geworden, hatte ich mir mit Lilly, Ray-Ray hatte sich den Fuß gebrochen und war deshalb befreit gewesen, eine Flasche Schnaps geteilt und wollten zu zweit allein den damaligen Oberstufenschülern den begehrten Alki-Titel abstreiten, aber die Teilnahme einzelner Schüler war nicht erlaubt und der Rest unseres Jahrgangs hielt sich im Sommer noch stark zurück.
 

Ich hatte meine damalige Französischlehrerin angepöbelt, war halbnackt über den Sportplatz gerannt, hatte dreizehn Tarteletten geklaut und dann, als ich meine Französischlehrerin wieder über den Weg gelaufen war, hatte ich ihr diese auf ihre Sandalen gekotzt.

Das war im Allgemeinen nicht so schlimm gewesen, die Schulleitung wusste, worauf sie sich bei diesem Spektakel einließ und dadurch, dass es jedes Jahr wieder gemacht wurde, gab es eine stille Unterstützung zur Weiterführung dieser Tradition ihrerseits, oder?
 

Ich wollte eigentlich nur sehr, sehr ungern, dass Herr Branner mich so erlebte und ich ihm womöglich auf seine Vans Chukka kotzte.
 

Was sollte er von mir denken?
 

„Tim.“

Etwas mitleidig sah er mich an. Nur mich, als er auf mich zu kam, er wandte seinen Blick kein einziges Mal ab.

Seine Lippen lächelten leicht und vorsichtig, seine Augen waren etwas feucht und anteilnehmend.

„Nicht so gut, hm?“ er beugte sich zu mir vor und reichte mir das unordentliche Pack Blätter.

Ich lächelte schüchtern, zuckte die Schultern und nahm es entgegen, als ich den Blick verlegen sank.

Ich schaute mir die Note gar nicht erst an.

Herr Branners Benehmen war es nicht unbedingt gewesen, das mich wissen ließ, dass die erste Matheklausur beschissen gelaufen war.

Sowas wusste man schon, wenn man vor dem Aufgabenblatt saß und nicht eine einzige Frage verstand. So rein von den Wörtern her.

Herr Branner sah, wie ich die Blätter, leicht verknüddelt, in meine Tasche verschwinden ließ und seufzend die Hände vor das Gesicht hob.

Bisher hatte ich mich immer irgendwie da durch mogeln können und eigentlich hatte ich gehofft, dass es auch so weiter gehen würde.

Aber irgendwie waren die Anforderungen anders und überhaupt.

Alles war gerade doof.

Dann spürte ich die kleine, sanfte Hand von Lilly auf meiner Schulter.

Schnell ließ ich die Hände sinken und sah sie lächelnd an.

„Na?“ sagte sie einfühlsam „nicht so prickelnd, was?“
 

Ich sah zu meinen ineinander gefalteten Fingern, die auf der Tischplatte lagen und zuckte die Schultern.

Was sollte ich tun?

Die Zeit zurück drehen und genau das vertiefen, was in der Klausur dran kam?

Obwohl ich das nicht mal verstand?
 

Auch, wenn ich jeden Montag und Dienstag gerne hier auf meinem Platz neben Lilly in der ersten Reihe saß und ihn anstarrte und versuchte, ihm zuzuhören, nichts von dem, was er redete, drang irgendwie zu mir durch.

Er benutzte so viele Begriffe, die ich noch nie gehört hatte, oder verdrängt hatte, damit andere, wichtigere Gedanken in meinem Kopf Platz hatten, und zeichnete Striche und Geraden in Koordinatensysteme, mit denen ich nichts anfangen konnte.
 

Dafür besah ich mir jede Woche seine Lippen, wenn er sprach. Sie waren schmal und blass und wunderschön.

Ich schaute mir seine langen Finger an, wenn er in seinem Buch oder in seiner Mappe blätterte. Sie waren fahl und ich hätte sie zu gern gespürt, wie sie mich berührten.

Ich sah mir die Bewegungen unter seinem Shirt oder seinem Hemd an, wenn er etwas an die Tafel schrieb, die breiten Schultern, die schmale Hüfte und die dünnen Beine.

Und natürlich sein festes Gesäß, über welchem sich eine Lee Flint oder Levis Rigid spannte.
 

Und ein oder zwei Mal hatte ich mich sogar dabei erwischt, wie ich ihm in den Schritt gestarrt hatte.

Ich war sofort errötet und hatte beschämt dämliche Bildchen in meinen Collegeblock gekritztelt.
 

Als die Schulglocke das Ende der Stunde ankündigte, raschelte es heftig um mich herum und alle packten schnell ihre Blätter, Blöcke und Stifte in ihre Taschen, um eilig das Klassenzimmer zu verlassen.

Wir taten gerade so, als handelten wir uns eine weitere Stunde Mathe ein, wenn wir den Raum nicht schnellstmöglich verließen.

Als ich mir den Riemen meines Rucksacks um die Schulter warf und das Zimmer schon halb verlassen hatte, hörte ich Zacs Stimme in meinen Ohren klingen.

Sie sagte meinen Namen, ganz sanft und verführerisch. Den Tonfall hörte aber nur ich.

Ich verspannte mich, schluckte meinen Missgunst der kompletten Situation runter und drehte mich zu ihm um.

„Hättest du vielleicht noch mal kurz Zeit?“ fragte er. Herr Branner stand neben dem Pult, auf dem sein brauner Rucksack lag und wirkte beinahe schon wie ein schüchterner Junge, der seine Mutter um Süßigkeiten gebeten hatte.

Nahm aber nur ich so wahr.

Verlegen senkte ich den Blick und ließ die anderen Schüler an mir vorbei gehen.

Flo, der meine Schwärmerei nicht so mit bekommen hatte, klopfte mir aufmunternd auf die Schulter und Lilly zwinkerte mir verschmizt zu.

Als Joes schwarzes Haar als letztes den Raum verließ, sah ich verschämt zu ihm auf.

Er lächelte schüchtern.

Und niemand konnte mir sagen, dass ich das nur sehen wollte.

Sein Lächeln war zaghaft.

Er kramte gehemmt in seinen Unterlagen rum, dann setzte er sich mit einer Arschbacke auf den weiß lackierten Tisch und sah mich letztendlich an.

„Tim“, er seufzte beseelt auf „ich glaube, ich habe noch nie eine Sechs unter eine Klausur schreiben müssen.“

„Ähm...“

Das war bestimmt nicht schwierig, wenn man erst zwei Jahre Lehrer war, dachte ich böse, bereute meinen Ton aber sofort und wurde etwas rot.

„Solange wir noch am Anfang sind sollte es eigentlich kein Problem für dich darstellen, dich etwas mit der Materie auseinander zu setzten. Tim.“ erklärte er liebevoll „Wenn du hinterher versuchen willst, da noch was zu machen, kann das viel Zeit und vor allem Nerven kosten.“ Herr Branner griff nach einem Kugelschreiber und klickte einige Male darauf herum.

„Johann ist eigentlich ziemlich gut mit der Sache“, sagte er und ich verzog kurz das Gesicht, bis ich mich daran erinnerte, dass er meinen Freund Joe meinte „und ich sehe, dass ihr... gut miteinander aus kommt?“

Ich presste die Lippen aufeinander und nickte schnell.

Er lächelte erheitert und nickte dann auch: „Das ist nur eine Idee... oder vielleicht ein Ratschlag. Ich denke nicht, dass er Nein sagen würde, würdest du ihn fragen, dir zu helfen, oder?“

Ich schüttelte schnell den Kopf.

„Gut.“ er lächelte wieder. Ich liebte sein Lächeln.

Er rutschte vom Tisch runter, legte den Kugelschreiber in seine Stifterolle und packte die dann in den Rucksack.

Mein Hals war ganz trocken, als ich mich umdrehte und zwei Schritte zur Tür machte, als ich noch mal seine Stimme hörte

„Und?“

Ich verspannte mich noch mehr und drehte mich wieder zu Herrn Branner um. Er hatte seine Sachen fertig zusammen gepackt und nahm gerade die megafette Mappe vom Tisch „hast du dir das neue Album von Placebo angehört?“
 

Ich hielt die Luft an, als er auf mich zu kam, mit diesem Lächeln, mich fröhlich ansah und, als er mich erreicht hatte, seinen Arm hinter meinen Rücken legte und mich sanft zum Ausgang schob.

Ich schüttelte beklommen den Kopf, schluckte, dann nickte ich: „Ähm... ja, also nein, ich meine... nicht ganz. Nur ein bisschen...“

„Gut.“ Er lächelte wieder, schloss die Tür zu und verabschiedete sich dann, um die Treppe runter zum Lehrerzimmer zu gehen.

Mein Herz raste. Und mein Rücken kribbelte ganz aufgeregt.

Der neuseeländische Halbbruder und unser Mutterkampf

Ich glaubte, Gott, sofern es irgendwo existierte, hatte Schwule nicht besonders gern.

Oder zumindest mich nicht.
 

Ziemlich genervt saß ich oberhalb des Sportplatzes auf der Wiese und beobachtete missmutig die Sechstklässler, die sich ein eher langweiliges Volleyball-Turnier leisteten.

Die waren verdammt wehleidig und wegen jedem harten Schlag wurde das Spiel unterbrochen, ein Finger oder ein Fuß verarztet und Spieler ausgewechselt.

Die Lehrer waren mindestens genauso entnervt von ihren Schülern wie ich von

Ray-Ray und Jan und Pat und Lilly und Julie und Joe.

Ich wandte mich um und sah die meisten Schüler meines Jahrgangs auf der anderen Seite des Platzes auf den Grashügeln sitzen.

Einige Flaschen glitzerten in der Sonne. So dreist waren sie, dass sie sich nicht mal die Mühe machten, die Flaschen und Becher zu verstecken.

Wobei es ein offizielles Alkoholverbot scheinbar nie gegeben hat für diese Veranstaltung, aber die meisten der Schüler waren noch keine achtzehn und daher wäre rein vom Gesetz her doch nur Bier und vielleicht Wein toleriert gewesen, oder?
 

Ich seufzte traurig, legte die Arme auf die angezogenen Knie und versenkte das Gesicht darin.
 

Die Spätsommerluft wehte angenehm warm über den Platz hinweg, die Sonnenstrahlen wärmten meinen Rücken und die Stimmung war geprägt von Gelächter und reiner, unschuldiger Fröhlichkeit.

Zumindest auf dieser Seite des Platzes, wo Alkohol, Zigaretten und Sex noch kein Thema war.

Und die Liebe.
 

Ich seufzte noch mal schwer auf.
 

Herr Branner wusste jetzt, dass sich die Logik mir gegenber gänzlich verschloss und ich mit keiner Mühe dieser Welt es wahrscheinlich jemals schaffen würde, Funktionsrechnungen zu verstehen.

Was hatte er gedacht, als er meine Klausur vor sich hatte und die ganzen, zaghaften Versuche gesehen hatte, irgendetwas richtig zu machen?

Als er die Seite umgeblättert hatte und dort nur schmutziges Gekrakel zu sehen war und als er festgestellt hat, dass ich absolut nichts richtig hatte?

Ob er schweren Herzens das Ungenügend darunter geschrieben hatte? Ob er aufgeseufzt hatte und ich ihm Leid tat?
 

Kurz lächelte ich verliebt auf, als ich Rascheln der Wiese wahrnahm und sch ein schwerer Körper neben mich ins Gras fallen ließ.

Ich verdrehte die Augen und sah auf, erstarrte kurz, weil es so hell war außerhalb meiner gemütlichen, kleinen Kopf-Auf-Knie-Welt und sah dann in zwei mir sehr bekannte, blaue Augen.

Ich zog die Augenbrauen zusammen, verzog angesäuert mein Gesicht und drehte mich halb von Josh weg „was willst du?“

Er lachte vergnügt, legte seine Hand auf meinen Kopf und wagte es, meine Frisur zu ruinieren, als er durch das Haar strich „nichts.“

„Dann verschwinde wieder.“

„Nicht doch“, sagte er freundlich und legte jetzt seine Arme um meine Schultern

„mein kleiner, schwuler Freund. Ich wollte dich fragen, was du so allein hier oben machst? Wieso bist du nicht bei Anderen und trittst gegen mich an?“

Ich brummte genervt, befreite mich aus seine unangenehmen Umarmung und rutschte etwas von ihm weg.

„Timmi“, nuschelte er weiterhin freundlich „was ist los?“

„Selbst, wenn irgendwas wäre, was ginge es dich an?“ antwortete ich sauer und genervt und so böse, wie ich konnte.

Josh rutschte seinerseits näher zu mir, legte wieder seine Arme um mich und zog meinen kleineren, schwächeren, dünneren Körper an sich heran und drückte mich fest in eine Umarmung, die ziemlich unangenehm nach Rum und Cola roch.

„Mein armer Timmi, dich bedrückt was.“ nuschelte er in mein Haar und ich erschauderte, als ich daran dachte, dass meine schöne, blonde Frisur jetzt nach Barcadi roch.

„Josh“, quängelte ich „lass mich los.“ und drückte ihn weg.
 

Josh war einen Kopf größer als ich, Josh war fitter und trainierter als ich und er war deutlich beliebter als ich.

Mich störte dass ganz und gar nicht, ich brauchte nicht von allen aus der Oberstufe geachtet und verehrt zu werden, mir reichte es aus, wenn Ray-Ray und Lilly da waren und ich von Zac Efron schwärmen durfte.

Schlimm wurde der Umstand für mich, als wir im Philosophieunterricht saßen und Herr Stein von Anthropologie berichtete, und das ganze so dermaßen langweilig war, dass Lilly neben mir tatsächlich eingeschlafen war und ich in meinem Collegeblock keinen Platz mehr fand, um rumzukritzeln.

Wie ich so meine Deutschmitschrift betrachtete, als Herr Stein auf einen gewissen rechtsradikalen Gehlen zu sprechen kam, fand sich plötzlich ein zusammen geknüddeltes Zettelchen auf meinem Platz wieder.
 

Verwirrt hob ich den Kopf und erblickte Joe, der mich rabiat angrinste und deutete, dass ich den Zettel lesen sollte.

Ich nahm das Papier, entfaltete und las den Satz „heißester Typ der Oberstufe“ und musste lachen.

Herr Stein fragte mich, ob ich Gehlenes Auffassung vom Menschsein zum Lachen fände, ich entschuldigte mein Benehmen und sah mich dann im Kurs um.
 

Die Jungs hier waren nicht gerade ansprechend, ganz und gar nicht, was ich von einem Mann erwartete.

Ich seufzte also nachdenklich und erinnerte mich an die Gesichter und Körper meiner Mitschüler.

Auf Anhieb fiel mir keiner ein, dachte ich, also gab es wohl keinen besonders auffällig attraktiven Mann in der Oberstufe und zuckte einfach die Schulten.

Joe hob die Augenbrauen, forderte den Zettel zurück und schrieb sofort, als ich ihn ihn zugeworfen hatte, etwas drunter.

Er faltete ihn zusammen und warf ihn mir wieder zu.

Da stand „Josh Sutherland aus der 13?“.

Ich ekelte mich kurz, dann erschauderte ich, um die Gänsehaut los zu werden und schüttelte dann angewiedert den Kopf.

Er sah mich überrascht fragend an, ich deutete ihm, dass ich dem Unterricht folgen wollte und bekam noch mit, dass Gehlens Auffassung von der menschlichen Natur eigentlich ziemlich spannend war.

Als es klingelte und der Unterricht vorbei war, hatte ich gar keine Gelegenheit, mich auf Herrn Branner zu freuen, weil ich einfach mal total sauer auf Joe war.

„Was ist los?“ fragte er mich und sah mich höchstgradig verwirrt an.

„Bah“, antwortete ich etwas laut „wie kannst du auf Josh stehen?“

Er zuckt verwirrt die Schultern „Josh ist sexy.“

„Nein“, antwortete ich piepsig und ging weiter die Treppe runter zum Schulhof „Doch!“ rief er mir nach und ich hörte Lilly, die ihn irgendwas von „er hat seine Tage“, erklärte.
 

Später fand Joe raus, dass Josh mein blöder, älterer Halbbruder war und verstand, wieso ich mich geekelt hatte, als er ihn für den heißesten Typen aus der Oberstufe

erklärt hatte, verstand aber nicht, wieso ich ihn hasste.

Josh war dieser Umstand scheinbar total egal und um so mehr ich ihn bat, mich einfach in Ruhe zu lassen, desto mehr schien er um mich herum zu sein.

Sein bester Freund war Stefano Schuster, Rays älterer Bruder, was den Umstand, ihn zu ignorieren, noch viel schwieriger machte, als es sowieso schon war.
 

Mein Vater, Thomas Jung, hatte in seiner Studienzeit an der Schauspielschule eine deutlich jüngere Ausstauschstudentin aus Neuseeland geschwängert und sich sechs Monate nach Joshs Geburt von ihr getrennt.

Nachdem Joshs Mutter ihr Studium dann an der Schauspielschule abgebrochen hatte, aufgrund diverser, privater Probleme, die ich nicht weiß und nicht wissen will, hat sie ihr eigenes Kind einfach bei Papa abgeladen und ist Hals über Kopf zurück nach Neuseeland geflogen.

Da standen mein Papa und meine Mama dann mit dem kleinen, zurück gelassenen Jungen.
 

Ich glaube, das ist der Grund dafür, dass er immer bevorzugt und mehr liebgehabt wird, als ich.

Wenn meine Mama mich mal verstoßen hätte, wäre ich jetzt vielleicht zwei Meter groß, sportlich, attraktiv und umworben von reizvollen Jungs.
 

Dabei haben sich meine Eltern auch getrennt, ich bin auch ein Scheidungskind, auch, wenn Mama und Papa nie verheiratet waren, ich sollte auch liebgehabtwerden.
 

Josh wusste um mein Faible für Männer, ganz im Gegensatz zu meinen Eltern.

Natürlich beanspruchte Josh meine Mutter gewissermaßen auch für sich und betrachtete sie irgendwie auch als seine eigene – was mir auch nicht passte, sie war meine und niemanden sonst'st Mama! – und war trotz meiner Abneigung ihm gegenüber immer so nett gewesen, ihnen nichts von meiner vermeintlichen Homosexualität zu erzählen.
 

Ich war sauer auf Joe gewesen, weil ich wenigstens meine Freunde auf meiner Seite dieses Mutterkampfes, den es nur in meinem Kopf gab, haben wollte.

Joe nickte verstehend, fand Josh weiterhin sexy und lachte darüber, wie „niedlich“ ich mich darüber aufregte.
 

„Timmi weiß, dass er mir alles sagen kann!“ sagte Josh und ließ mich dann los.

Er zwinkerte mich verschmitzt an, stand dann auf und ging zu seinen Freunden, die ihn schon gerufen hatten.

„Bäh.“ rief ich ihm nach, er winkte mir lächelnd zu und verließ dann mit der Gruppe Abiturienten den Sportplatz.
 

Dann sah ich zu meiner Uhr und stellte voller Glückseligkeit fest, dass das Fest offiziell vorbei war und uns nun nichts mehr hier auf dem Sportplatz hielt und stand auf, streckte mich und ging rüber zu meinen Freunden.

„Tiiiim“, rief mir Ray-Ray entgegen und umarmte mich sehr leidenschaftlich, als ich mich neben ihn in das Gras fallen ließ „Wo warstnzuhölle nochmal du dummer Junge“, nuschelte er gegen meinen Hals und ich verdrängte die assoziative Erinnerung an meinen Halbbruder „Und wieso bist du nicht betrunken?“

sagte er dann und lehnte sich böseguckend zurück um mich anzusehen und zu mustern.

„Ray“, sagte ich leise und entschuldigend.

Er schnaubte und ließ sich rücklings ins Gras fallen „Joe hat nach dir gefragt, er hat dich gesucht.“

Ich nickte.
 

Ray-Ray richtete sich auf, hielt mir seine Hand entgegen und lallte: „Komm.“

„Wohin?“

„Na... wir gehen jetzt in die Stadt, was essen und dann in Pub.“

„Was?“ ich stand vom Boden auf, ohne Rays Hilfe in Anspruch zu nehmen, ich hatte Angst, dass er umfallen würde, wenn er versuchen würde, mich hochzuziehen.

„Na das hab ich doch gesagt, dass wir heute im Pub feiern.“

„Nein, hast du nicht.“

„Nicht?“ nachdenklich legte er den Kopf schief und ich schüttelte heftig den Kopf „Nein, hast du nicht.“

„Is aber auch egal, Tim, als mein bestester Freund solltest du so oder so wissen, dass ich mein siebzehntn Geburtstag mit euch feiern will.“

„Wie...?“

„Und du solltest wissen, dass der heute ist!“ Er stemmte angesäuert die Hände in die Hüfte.

„Moment mal“, sagte ich überrumeplt, ordnete meine Gedanken und seine Aussagen und sagte dann: „Erstmal bin ICH die schwule Zicke von uns beiden, klar?“
 

Wieso hatte ich ausgerechnet das gesagt?

Und wieso ausgerechnet jetzt?

Wieso in diesem Moment, als Herr Branner hinter mir auftauchte, um uns zu verabschieden?

Und wieso waren Ray-Ray und Pat so schrecklich betrunken?
 

„Hallo, Herr Branner!“ sagte Ray und winkte blöd.

Ich erstarrte Augenblicklich und ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken.

Ich kam nicht im entferntesten auf die Idee, dass er sich einen Scherz erlauben könnte, ich wusste, Herr Branner stand wirklich hinter mir.
 

Leichenblass drehte ich mich um. Da stand er. Mein eigener Zac Efron.

Er lächelte verstört und wirklich irgendwie unsicher und verwirrt.
 

Er war homophob! schoss es mir in dem Moment durch den Kopf.

Wahrscheinlich sah nur ich das aufgewühlte Verhalten.
 

„Na“, sagte er und lächelte verlegen „wie geht’s euch?“

„Subber!“ sagte Ray und grinste dermaßen blöd, dass ich mich für ihn gleich mit schämte.

„Schön“, er zog die Augenbrauen hoch, schlug die Hände zusammen und schien so, als würde er jetzt nicht mehr weiter wissen mit der Konversation.

„Und, Tim“, sagte er dann und sah mich musternd an – ich errötete sofort „hast du mit Johann geredet?“

Ich schluckte hart, schaute mich unauffällig um, um zu sehen, ob Joe in der Nähe war und nickte dann und schüttelte gleichzeitig den Kopf „Irgendwie...“ sagte ich, dann wurde ich von Lillys dämlichen Gekicher abgelengt.

Verwirrt sah ich sie an, die mindestens genauso rot war, wie ich und sich über Herr Branners Anwesenheit scheinbar köstlich zu amüsieren schien.

Dann beugte die Ray vor, legte tatsächlich seinen Arm um Herr Branner und machte mich unfassbar eifersüchtig damit.

Aber das war nicht mal annähernd so schlimm, wie das, was Ray jetzt sagen würde: „Sie sind verdammt aktaktiv, Herr Branner.“

Eine Entschuldigung, der man nicht widerstehen kann

Von draußen drangen Motorengeräusche vieler Autos in mein Zimmer, alle fünf Minuten bimmelte eine Straßenbahn und dämliche Vögel zwitscherten vergnügt, um ihre Freude über den neuen Tag zum Ausdruck zu bringen.

Ich zog die Nase hoch, seufzte missmutig und zog die Bettdecke noch enger über meinen Kopf.

Dann klopfte es an der Tür, meine Mutter kam ins Zimmer und sagte: „Tim? geht’s dir besser?“ sie kam zu meinem Bett, setzte sich auf die Kante und zog die Decke von meinem Gesicht.

Ich sah sie aus müden Augen heraus an, so leidig, wie ich nur konnte und zog nochmal theatralisch meine Nase hoch und tat, als könne ich nur durch den Mund atmen.

„Mein Armer“, sie strich mir über die Stirn und seufzte mitleidig „hat es dich voll erwischt, hm? Willst du noch zu Hause bleiben?“
 

Ich nickte und kuschelte mein Kinn enger an die Decke, die sie weggezogen hatte.

„Nagut, Liebling“, Mama tätschelte noch mal meine Stirn, dann stand sie auf und ging zu meinem Fenster, um es zu schließen „Dann ruh' dich noch ein bisschen aus. Ich komm erst heute Abend nach Hause, hab eine 12-Stunden Schicht, meinst du, du schaffst das allein?“

„Ich werd eh nur schlafen“, antwortete ich träge, als ich mich im Bett umdrehte und mich viel mehr in meine Decke kuschelte.

„Gut, ich bring dir was von der Arbeit mit. Schlaf dich schön aus, hab dich lieb.“ Sie beugte sich über mich, drückte mir einen Kuss aufs Ohr und ging dann zur Tür und bevor sie die von außen wieder schloss, antwortete ich noch „Ich dich auch, Mama.“
 

Nachdem ich mir irgendwann in den letzten Tagen eine Erkältung eingefangen hatte, die aber sehr schnell abklang, hatte ich es dennoch irgendwie geschafft, dass ich nicht mehr zur Schule musste.

Und ich wollte auch gar nicht mehr dahin zurück, nie wieder am liebsten. Ich wollte auf keinem Fall Herrn Branner begegnen, nachdem Ray-Ray und Pat mich am vergangenen Freitag so oberpeinlich geoutet hatten, und noch viel weniger wollte ich Ray oder Pat oder Joe sehen, und Lilly oder Julie oder Flo auch nicht, da sie nämlich nur blöd rumdrucksend da neben gestanden, aber nichts getan hatten.
 

Meine Mutter war die hübscheste Frau der Welt, Anfang Vierzig, sah aus, wie Zwanzig, uns hielten alle für Geschwister, hatte schöne, lange, glatte, blonde Haare, ein wohl geformtes Gesicht und war dazu noch sehr attraktiv. Und das konnte ich alles natürlich aus rein objektiver Sicht sagen, Töchter durften Mütter so betrachten, so auch schwule Söhne. Auch, wenn Mama nichts davon wusste.

Sie arbeitete als Krankenschwesteer in der alten Klinik Blankenstein und verdiente angeblich so wenig, dass sie immer darüber jammerte.

So auch, als ich ihr den Zettel über die Stufenfahrt gegeben hatte.

„100 Euro?“, hatte sie überrascht gesagt „das ist aber viel.“

„Ist doch erst im Dezember“, hatte ich geantwortet und war davon ausgegangen, dass man hundert Euro in drei Monaten hätte zusammen sparen können.

„Ja, schon, aber du weißt, unser Monatsgeld ist haarklein abgestimmt... wir müssten...“

Ich unterbrach sie mit einem genervtem Seufzer „Mama, rauch einfach weniger, dann geht’s schon!“

Sie kniff die Augen zusammen und schielte zu ihrer Zigarettenschachtel, die auf dem Küchentisch lag, seufzte dann, strich mir über den Kopf und nickte: „Du hast recht, ich muss aufhören.“
 

Ich hatte am Montag schon eine SMS von Lilly bekommen, in der sie fragte, wo ich denn sei, und mir kurz mitteilte, dass wir den Alki-Titel bekommen hätte und sie am Nachmittag im ICQ online sei.

Ich blieb offline.

Denn mein Sauersein erstreckte sich über Tage hinweg und ich schaffte es nicht so einfach, ihr oder Ray oder den anderen zu verzeihen, dass sie sich so bescheuert aufgeführt hatten.

Natürlich kam ich nicht im geringsten auf die Idee, dass ich derjenige war, der sich jetzt bescheuert aufführte.
 

Mittlerweile war es Donnerstag und da ich mich nicht einmal bei Lilly oder Ray oder den anderen gemeldet hatte, machte sich Sorge im Freundeskreis breit.

Wobei die natürlich wesentlich krasser ausgefallen wäre, wenn am Freitag nicht dieser Vorfall gewesen wär.

Sie dachten sich wahrscheinlich, dass ich peinlich berührt, gedemütigt und deprimiert in meinem Bett lag und über die Hoffnungslosigkeit der Liebe zu älteren Lehrkörpern oder entfernten Disney Channel Schauspielern nachdachte und machten deshalb nicht einen so penetrant extremen Wind um meine Abwesenheit in der Schule.

Unter normalen Umständen wären Lilly und Ray schon am Dienstag vor der Wohnungstür gestanden und hätten Sturm geklingelt, jetzt kam nur täglich eine SMS in der sie fragten, wie es mir ginge.

Und am Mittwoch entschuldige sich Ray sogar.
 

Nichts desto Trotz schoss mir das Blut schon in die Wangen und ich fing an, zu zittern, wenn ich nur daran dachte, Herrn Branner über den  Weg zu laufen.
 

Ich machte mir einen gemütlichen Tag, hörte über den iPod im Bett Placebo, aß eine Tafel Milka Traube Nuss und schaute Scrubs auf DVD.

Gegen halb vier klingelte es dann tatsächlich an der Wohnungstür. Ich schaute auf die Uhr an meinem Computer und stellte fest, dass das nicht meine Mutter sein konnte.

Gähnend stand ich auf, warf beim Vorbeigehen am Bad ein Blick in den Spiegel, ignorierte, dass ich noch meine Schlafhose und ein altes, buntes T-Shirt aus meinen Kindertagen (ich war so schmächtig, es war mir nur etwas zu kurz, nicht aber zu eng) trug, war mir egal; nur meine durcheinander gebrachte Frisur beunruhigte mich etwas.

Ich strich die blonden Strähnen unsanft über meine Stirn, dann ging ich zur Wohnungstür und öffnete sie.

Ray-Ray war genau fünf Centimeter größer als ich, und das reichte schon, dass ich zu ihm aufschauen musste.

„Was willstn du hier?“ sagte ich, und bemühte mich, dabei vollkommen gleichgültig zu klingen.

Rays Schultern zuckten „Du hast dich sechs Tage lang nicht gemeldet, ich wollte wissen, wie es dir geht.“

Er lächelte so lieb und herzerweichend und starrte mich aus seinen dunklen Augen so unglaublich liebevoll an, dass ich ganz vergessen hatte, wieso ich ihm aus dem Weg ging.

Ich seufzte erfreut auf und ging zur Küche.

Ray kam in die Wohnung, schloss die Tür, zog seine Schuhe aus, pfefferte sie in die Schuhecke und folgte mir dann.

„Ich mach mir gerade essen“, erklärte ich und befreite Minipizzen von der Plastikfolie „willst du auch?“

„Und wie, hab n Bombenhunger, Frau Hoppe hat uns tierisch dran genommen in Sport.“ Antwortete Ray und machte es sich auf Mamas Platz am kleinen Küchentisch gemütlich, nahm seinen Collegeblock aus seiner Tasche und ließ diese dann auf die Fliesen fallen „ich hab alle Arbeitsblätter für dich und Mitschriften aus den wichtigen Fächern. Wir haben in spanisch eine neue Lektion angefangen und müssen die Vokabeln bis nächste Woche gelernt haben“, erklärte Ray und blätterte blöd in seinem Block rum, doch ich ignorierte ihn, denn als sein Rucksack auf dem Boden gekippt war, war etwas äußerst reizvolles für mein Auge heraus gerutscht.

Ich schob das Blech mit den zwanzig Pizzen in den Ofen, bevor ich mich zur Tasche bückte und eine weiße DVD-Hülle griff.

Es war also Herr Branners Gesicht gewesen, das mich von da unten angestarrt hatte.

Ich war entzückt und strahlte wahrscheinlich über das ganze Gesicht bis nach Norwegen und Griechenland über diese Entdeckung.

„Was ist denn das?“ fragte ich und drehte mich vergnügt zu Ray um.

Der hielt in seinem Geschwafel inne und sah mich zuerst fragend, dann lächelnd an.

„Ach so, hm, die hab ich dir gekauft“, er deutete mit seinem Stift verlegen auf die DVD in meiner Hand „das ist doch Zac Efron, auf den stehst du doch. Sein neuer Film.“

„Uuuuhm“, machte ich voller Freude, beugte mich vor und umarmte Ray so heftig,  dass ihm der Stift aus der Hand fiel „danke danke danke danke danke!“ rief ich aus und hüpfte vergnügt auf den Zehenspitzen auf und ab.

„Die Regeln“, nuschelte er mir ins Ohr, aber ich ignorierte ihn.

Wir waren immerhin in meiner Küche und nicht in der Öffentlichkeit, niemand sah uns.
 

Wir aßen die Pizzen, ich ignorierte die Dokumente, die Ray mir brachte und wir schauten uns, er etwas widerwillig, den Film an, den er mir gewissermaßen als Entschuldigung gekauft hatte.

Zac Efron spielte den Typen, der durch mysteriöse, magische Umstände vom vierunzdreißigjährigen Versager wieder siebzehn wird und mit seinen verblödeten und hässlichen Kindern wieder zur High School geht.

Wobei Ray anmerkte, dass er die, die seine Tochter im Film spielt, ziemlich heiß fand.
 

Am Freitag, nach dem Sommerfest, als Ray Herrn Branner diesen unmissverständlichen Antrag gemacht hatte, hielt der arschbesoffene Pat es für angebracht, ihm noch zu erzählen, dass er „heiß wie Zacfrom!“ war.

Herr Branner war total verwirrt, ich war total sauer, da tauchte Joe auf, begrüßte den Lehrer lächelnd, vergnügt, als wenn nichts wäre, legte seinen Arm um meine Taille und drückte mir einen Kuss auf die Schläfe.

Sowohl mir als auch Herrn Branner wichen augenblicklich alle Züge aus dem Gesicht, doch, wie immer, sah nur ich das und er schien sich sehr schnell wieder fassen zu können.

Er räusperte trocken, befreite sich aus Rays Umarmung, wünschte uns ein schönes Wochenende und ging irgendwie angespannt davon.
 

Nach dem Film erzählte mir Ray, wie wir es geschafft hatten, den Alki-Titel zu bekommen und dass wir es fast ganz allein ihm zu verdanken hätten.

„Wobei Steve immer noch findet, dass du den bekommen solltest weil du letztes Jahr Frau Lavie angekotzt hat“, erklärte er auch und schob sich eine Hand voll M&Ms in den Mund.

Ich verdrehte die Augen und dachte an diesen Tag zurück.

Die Frau war furchtbar erzürnt gewesen, aber das war sie eigentlich immer, also im Grunde kein großes Theater.

Ich hatte tagelang danach schreckliche Kopfschmerzen und mir war furchtbar schlecht, im Französischkurs war ich aber der Held.

Deswegen war es, obwohl diese Aktion unvoreingenommen wahrscheinlich viel peinlicher war, als ein lächerliches Coming-Out vor einem unglaublich hinreißenden Mathelehrer, letztes Jahr nicht so schlimm gewesen, nach dem Fest wieder in die Schule zu gehen.
 

„Mich allerdings“, erklärte Ray und deutete auf seine Brust „halten die jetzt allerdings für schwul.“

„Was?“ fragte ich aufgeregt und drehte mich ganz zu ihm um „Wieso?“

„Na weil ich Herrn Branner deine Verliebtheit gestanden habe.“ sagte er und rollte genervt mit den Augen „ich hab nicht wirklich gut rübergebracht, dass ich für dich gesprochen habe“, er tippte mit seinem Finger auf meiner Brust herum „und das kam irgendwie so rüber, als würde ich das meinen.“

Ich gluckste „und Herr Branner?“

„Nichts“, er zuckte mit den Schultern „tut so, als sei nichts. Na ja, hat nach dir gefragt und ich könnt schwörn, der hätte mir... eine art betörenden Blick zugeworfen, aber irgendwie schein ich mir das in dieser ganzen Tiefe der Peinlichkeit nur eingebildet zu haben.“

Was ich mysteriös fand, da ich mir scheinbar auch immer eine Menge doch recht eindeutige Blicke, Gesten und Mimiken von und bei Herrn Branner einbildete.

„Auf jeden Fall habe ich jedes Recht, sauer auf dich zu sein.“ meinte er dann und ich hob verwirrt eine Augenbraue „wieso denn das?“

„Na, die halten mich wegen dir für schwul!“

„Ich kann ja nichts dafür, wenn im Suff irgendwelchen Kerlen gestehst, dass du sie“ ich gestikulierte Gänsefüßchen „aktaktiv findest.“
 

Wir sahen uns kurz ernst an, dann lachten wir los.
 

Deshalb war Ray-Ray mein bester Freund.

Natürlich könnte er ein noch besserer Freund sein, wenn er mit mir nur einmal High School Musical gucken würde.

Brian verbindet

Trotzdem hatte ich ein merkwürdig flaumiges Gefühl im Magen, als ich am Montagmorgen aus de Bus stieg und zur Schule runter ging.

Auch, wenn es so ausgesehen hatte, dass es Ray war, der in Herrn Branner veknallt war, und dass Herr Branner quasi so tat, als sei gar nichts passiert, hatte ich dennoch irgendwie Angst, ihm zu begegnen.

Und Joe.
 

Er war auf jeden Fall angeheitert gewesen, als er beim Sommerfest zu uns stieß und  unmissverständlichen gestikuliert hatte, wie er angeblich zu mir stand.

Dadurch war nun auch für Herrn Branner klar, dass ich schwul war und er musste denken, wir seien eine kleine, homosexuelle Gruppe von Freunden, die es höchstwahrscheinlich noch mit allen gegenseitig tat.

Oh Gott.
 

Ich verfluchte Joe und alle anderen leise, als es um acht Uhr zum Unterricht klingelte, mein Kunstkurs aber, wie so oft, ausfiel und mir nichts anderes übrig blieb, als genervt und müde auf meinem Stuhl in der Pausenhalle sitzen zu bleiben.

„Genieß deine Freistunden“, hatte Flor gesagt, dann waren er, Lilly und Ray zum Musikunterricht im anderen Gebäude, und Julie und Pat zum Kunstkurs im oberen Stockwerk gegangen.
 

Ich seufzte genervt, kannte nach wie vor niemanden, der in Pausenhalle verweilte, die Menge löste sich so wie so ziemlich schnell auf. Wer war schon so blöd, und kam Montagmorgen früher?

Außer mir natürlich, der ich nicht wusste, dass Kunst ausfallen würde, Joe und der Rest meines Kurses allerdings schon.
 

Also griff ich in meinen schwarzen Burton-Rucksack und nahm meinen iPod hervor, steckte mir die charakteristischen, weißen Ohrhöhrer in die Ohren, schaltete den Player an, der ging jedoch sofort wieder aus.

Verwirrt schaltete ich de iPod noch mal an, er leuchtete auf, dann ging er wieder aus.

„Scheiße“, nuschelte ich noch genervte, riss mir die Ohrhöhrer wieder aus den Ohren und pfefferte das Gerät deutlich angenervt zurück in den Rucksack.

Wie konnte der Akku jetzt leer sein?

Jetzt?
 

Ich zog die Knie auf meinen Stuhl, legte die Arme um sie und den Kopf in die Arme.

Hallo, gemütliche Kopf-Auf-Knie-Welt, ich bin's, Tim Müller und ich könnte heulen, alles läuft irgendwie beschissen heute.

Noch prekärer wurde die Angelegenheit, als sich jemand zu mir an den Tisch setzte.

Ich vermutete Joe, wie letztes Mal, doch der war sicher zu Hause und schlief noch.

Dann dachte ich an Josh, wie beim Sommerfest, doch wenn der die ersten Stunden frei hätte, wäre der garantiert nicht hier und würde ausgerechnet mich in meiner Schwermut ermuntern wollen. Es war zwar sein Fachgebiet, in den unangenehmsten Situationen zu nerven und anwesend zu sein, wenn man ihn nicht wollte oder brauchte, aber selbst ein Montagmorgen konnte diese Nervensäge in die Knie zwängen.

Da mir sonst niemand einfiel, der sich neben mich setzten würde, zog ich konfus die Augenbrauen hoch, hob den Kopf, kniff die Augen zusammen und sah dann ihn neben mir sitzen.

„Zac...“ nuschelte ich verwirrt. Dann lächelte er. Dieses blöde Lächeln.

Es war bezaubernd.

„Alles klar?“ Fragte er und mir blieb die Luft weg „Ähm.“
 

„Gehts dir wieder besser?“

„Ähm“

„Warst du die ganze Woche krank, hm?“

„Äh...“, ich hob die Hand zu meinem Mund, räusperte mich und nahm mir gleichzeitig vor, eine normale Konversation zu führen, mit richtigen Wörtern.

„Erkältet“, antwortete ich leise „wahrscheinlich vom Sommerfest.“

Er nickte lächelnd, etwas verwirrt.

„Weil ich den ganzen Tag auf der Wiese gesessen hatte“, erklärte ich schüchtern.

Wieder nickte er lächelnd, diesmal verstehend.

„Und was machst du hier?“ Fragte er und sah zur großen Uhr hoch, die an der Wand über den Türen zum Sekretariat hing.

Ich seufzte genervt auf „Kunst fällt aus und ich hab's nicht gewusst.“

„Oh, so ist das!“ sagte er lächelnd.

Das Lächeln war so schön.

Und ich vergaß, wieso ich überhaupt Angst gehabt hatte, ihm zu begegnen.

„Ich hätte eigentlich jetzt den Mathe LK der Dreizehner.“ fing Herr Branner an, zu erklären „aber die sind nicht aufgetaucht.“

Er zuckte die Schultern „irgendsoein Streich. Wobei es ja noch etwas zu früh ist, für Abistreiche, oder?“ Herr Branner sah zu seiner Uhr.

Ich nickte „Ja, irgendwie schon.“

Das klang eindeutig nach meinem bescheuerten Halbbruder, der kam am Laufenden Band auf solche dummen Ideen, und ich erwartete nur mit (Ehr)furcht die Abistreiche dieses Jahr, die garantiert fast alle auf seine Kappe gehen würde.

Blödes, verwöhntes Kind.
 

Ich spürte Herr Branners musternden Blick auf mir.

Ich schluckte. Ich wusste nicht so wirklich, was ich tun sollte.

Dann tat er etwas, was ich mir nicht mal mit viel Mühe vorstellen konnte, dass er, Zac Efron oder irgendwer sonst auf der Welt, das jemals tun würde.
 

„Hey Tim, du stehst doch auf Kaffee?“

„Ähm?“ ich zog verwirrt die Augenbrauen hoch

„Ich kenn' eine gute Bäckerei“

„Kaffee?“ ich sah ihn scheinbar viel perpelexer an, als ich eigentlich war

„Du wirkst noch ziemlich neben dir stehend“, antwortete er freundlich. Und lächelte.

Das andere Lächeln. Das wunderschöne Lächeln.

„Aber, aber aber“, sagte ich, als Herr Branner aufstand „Sie sind doch mein Lehrer!“
 

Der Satz, den ich aussprach, stach mir tief ins Herz, ich fasste mir kurz an die Brust; doch der Knoten löste sich, als er antwortete: „Betrachte mich eben nicht als deinen Lehrer!“

Er lächelte.
 

Ich liebte sein Lächeln.
 

Unser zweisames Beisammensein war total kribbelig in meinem Körper, ich zitterte teilweise sogar so sehr, dass ich den Kaffeebecher abstellen musste.

Die Kommunikation blieb eher spärlich, ich wusste nicht wirklich, was ich hätte sagen oder erzählen sollen und Herr Branner selbst schien teilweise auch irgendwie verlegen.

Er frage mich, ob es mir zu Hause gut ginge, und da ich die Frage nicht verstand, nickte ich einfach und antwortete mit Ja.

Wir drucksten eine Weile blöd rum, dann kamen wir irgendwie auf Musik zu sprechen, auf meinen iPod und die doch etwas ungewöhnlichen Farbe, dann auf Placebo und am Ende schwärmten wir uns beide einen was über Brian Molko vor.

Es war trotz anfänglicher Schwierigkeiten so ausgelassen, mit Herrn Branner zu reden, dass ich vergaß, angespannt zu sein und ganz hingerissen von Brian Molko und später Steve Joachim erzählte und auch vergessen hatte, dass es mir ein winziges bisschen peinlich war, dass ich schwul war.

Jetzt war es so oder so raus.

Dass und wie er über Brian Molko sprach, wurde mir in diesem Moment nicht bewusst.
 

Voller Glückseligkeit erwartete ich meine Freunde am Anfang der Pause an unserem Pausenstammtisch.

„Wasn mit dir los?“ fragte Ray misstrauisch, als er die ausgelassene Freude in mir wahrnahm.

„Nichts“, trällerte ich vergnügt und lächelte weiter doof vor mir rum.

„Okay“, sagte Ray, setzte sich auf seinen Stuhl neben meinen und konnte nicht aufhören, mir immer wieder skeptische Blicke zu zuwerfen.

Gerade, als er zum Sprechen ansetzte, erblickte ich Josh und Steve in die Pausenhalle treten.

Ich zog die Augenbrauen zusammen, stand auf und ging schnurstracks auf meinen Halbbruder zu.

„Josh“, rief ich, als ich fand, dass ich nah genug dran war, und neben seinem drehten sich auch einige andere Gesichter zu mir um.

„Timmi“, entgegnete er fröhlich und nahm meinen wehrlosen Körper, als ich nah genug dran war, ungefragt und etwas zu heftig in eine Umarmung.

Und er ließ mich nicht mehr los.

Steve und die anderen Dreizehner lachten leise darüber und ich verdrehte genervt die Augen.

„Ich muss mit dir reden“, sagte ich ernst, Josh schmiegte sein Gesicht an mein Haar und nickte „Was gibt’s, mein kleiner, schwuler Freund?“

Ich brummte noch genervter, versuchte, mich weg zudrücken, spürte dabei seine trainierte Brust durch das T-Shirt, war davon kurz etwas irritiert, fing mich wieder und fragte dann angesäuert „tust du mir einen Gefallen?“
 

Er nahm ernstere Züge an, ließ mich endlich los und sah dann zu mir herab „was denn, mein kleiner Freund?“

Ich ignorierte den versteckten Kommentar über meine Körpergröße, der gar nicht da war, ballte die Hände zu Fäuste, um meine irrationale Wut zu unterdrücken und sagte: „Ärger Herrn Branner nicht mehr so!“
 

Er hob verwirrt eine Augenbraue „Wie bitte?“

„Du hast doch Mathe bei ihm.“ sagte ich gepresst und Josh nickte.

„Dann mach nicht mehr so'n Scheiß wie heute.“

„Was meinst du?“

„Na, einfach nicht zum Unterricht kommen. Das ist unfair!“ sagte ich etwas lauter.
 

Josh lachte vergnügt auf, legte dann seinen Arm um meine Schulter und ging mit mir ein paar Schritte von der Menge weg „soll das heißen, du  bist verknallt in ihn?“
 

Ich lief rot an und verpsannte mich deutlich.
 

„Ach nein, wie süß!“ entgegnete Josh. Er stellte sich vor mich, kniff mir in die Wange und sagte: „So was niedliches. Was nur Ray dazu sagen wird.“

Er grinste böse.

„Ray ist nicht schwul.“ sagte ich verkrampft und spürte langsam, wie sich meine Fingernägel in meine Handflächen bohrten.

„Schon gut. Wenn du es so ernst meinst“, sagte er friedlich „dann werd ich das beherzigen. Für dich alles, mein kleiner, schwuler Freund.“

„Und hör auf, mich so zu nennen!“ sagte ich scharf, drehte mich dann um und ging zurück zu meinen Freunden.

„Kannste vergessen, mein kleiner, schw...“ rief er mir hinterher, ich drehte mich nach zu Josh, zeigte ihm den Mittelfinger, er verstumme, lächelte, und ich ging endgültig zu Ray-Ray und Lilly zurück.

Jetzt hatten wir Mathe.
 

Bei Herrn Branner.

Und ich fühlte mich irgendwie etwas mehr verbunden mit ihm, als noch heute morgen.

Joshs Suche nach seinen Wurzeln

Als ich aufwachte, kroch mir ein seltsam unangenehmer Geruch in die Nase.

Es war kalt und dunkel außerhalb meines Bettes, sodass ich nur widerwillig daraus kroch, zum Schalter bei der Tür krabbelte und das Licht an machte.

Hier war der Geruch viel beißender.

Ich sah mich verschlafen und verwirrt im Raum um, doch nichts war ungewöhnlich oder anders, als gestern Abend.

Erst, als ich die Tür öffnete, bemerkte ich auf eine höchst unangenehme Weise, dass der Gestank aus der Küche kam.

„Puh“, sagte ich laut „wasn das ey.“ Ich stieß die nur angelehnte Tür zur Küche auf. In der Dunkelheit sah ich nichts und als das Licht an war, fiel mir beim ersten und zweiten Hinsehen nichts ungewöhnliches auf.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass meine Mama in ungefähr zehn Minuten von der Arbeit kommen würde.
 

Wir hatten kein Auto oder so was und um diese Uhrzeit kamen die Busse eigentlich sehr pünktlich, dass ich mich gut darauf verlassen konnte.
 

Ich schloss die Tür zur Küche, ging zurück in mein Zimmer, schloss auch die Tür und öffnete das Fenster.

Die kalte Morgenluft weckte mich endgültig und erfrischender.

Ich atmete tief ein, dann suchte ich meinen Kram für den Dienstag zusammen und freute mich auf Mathe.
 

Pünktlich wie erwartet hörte ich, dass die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, zurück ins Schloss fiel, der Schlüssel in den Schlüsselkasten gehängt wurde und wie meine Mutter mit müder, entnervter Stimme sagte: „Tim, was hast du gemacht?“

Dass sie mich verdächtigte, etwas getan zu haben, was den Geruch verursachte, kam mir vorhin nicht in den Sinn, jetzt aber dachte ich, hätte ich damit rechnen sollen.

„Nischts, Mama!“ antwortete ich ihr, stieß die Badezimmertür auf, nahm die Zahnbürste aus dem Mund und sagte: „Das war schon so als ich aufgestanden bin, das kommt aus der Küche!“
 

„Scheiße“, nuschelte sie wenig später.

„Was ist denn los?“ rief ich ihr entgegen, als ich die restlichen, wichtigsten Dinge in meinen Rucksack räumte: meine Stifte und mein Collegeblock.

„Der Kühlschrank ist kaputt gegangen.“ entgegnete sie gestresst.
 

Der Tag fing beschissen an und machte auch im Matheunterricht keine Anstalten, sich zu verbessern.

Zwar hatte Herr Branner Guten Morgen zu mir gesagt und gelächelt, aber er hatte uns auch unsere Klausuren zurück gegeben und mich dabei wieder so mitleidig angestarrt.

Lilly beugte sich über mich, um meine Note sehen zu können und quietschte vergnügt auf, als sie das mit grüner Tinte geschriebene „Mangelhaft Plus“ unter meinen schmierigen Rechnungen erblickte.

„Das ist doch super, Tim!“ sagte sie und umarmte mich kurz aber fest.

Ich nickte, wusste aber nicht, ob ich das wirklich super finden sollte.

Es war immerhin drei Notenpunkte besser als bei der ersten Klausur, aber es waren immer noch zwei Punkte zu wenig und Herr Branner hatte daran bestimmt gemerkt, dass ich Joe nie gefragt hatte, ob er mir mit Mathe helfen konnte.
 

Nach dem Unterricht bat Herr Branner mich, wie letztes Mal, noch um ein kurzes Gespräch „Hast du kurz Zeit?“

Ich war verwirrt, nickte aber „Ja, hab jetzt eh nur ne Freistunde.“

„Gut“, er lächelte. Das schöne Lächeln.

Lilly sagte, sie würden in der Pausenhalle auf mich warten, zwinkerte grinsend und ging dann mit den anderen runter.
 

„Keine Angst“, sagte Herr Branner lächelnd, als er seine Sachen in seinen Rucksack packte „es ist nichts Schlimmes.“

Er zog den Reißverschluss zu und sah mich dann lächelnd an.

Herr Branner lächelte unglaublich viel.

„Bei deiner Klausur kann man wohl von Fortschritt reden, nicht?“ sagte er. Und er grinste.

Ich nickte verstört „ähm.“

„Na ja, deshalb wollte ich nicht mit dir reden“, erklärte er und nahm sich wieder den Kugelschreiber.

„Du scheinst aus dem Dreier Kurs der Einzige zu sein, der das Geld für die Stufenfahrt noch nicht überwiesen hat.“ Erklärte er.

„Ach so“, sagte ich leise und fummelte an meinen Fingern.

„Wenn du irgendwie Förderhilfe brauchst“, fing er dann an „dann musst du uns das auch mitteilen. Tim!“ Herr Branner zog eine Augenbraue hoch und sah mich weiterhin bedauernd an.

Ich schüttelte jedoch nachdenklich den Kopf: „Nein, nein, das ist es nicht. Ich... ähm, ich weiß nicht, ich muss mit Mama... ähm, also meiner Mutter reden. Ich werd's ihr heute sagen. Gleich, nach Spanisch, sie ist zu Hause.“

„Okay“, er nickte und lächelte.

Ich nickte und lächelte zurück, dann drehte ich mich um und ging verstört die Treppe zur Pausenhalle runter.
 

Als ich nach Hause kam, lag noch ein Hauch des Gestankes vom Morgen in der Luft, doch war es nun deutlich angenehmer in der Wohnung.

„Mama?“ rief ich, sobald ich die Wohnungstür offen hatte und aus meinen Schuhen schlüpfte.

„In der Küche!“ antwortete sie mir, ich warf den Rucksack in mein Zimmer und ging zur ihr.

Auf der Anrichte und in der Spüle lagen Tupperdosen, Gefrierbeutel und Konserven, frisches und weniger frisches Gemüse und verschiedene Gläser mit Soßen oder etwas, was mal eine Soße sein wollte, drinnen.

„Was ist denn hier?“ fragte ich verwirrt, noch bevor ich mich erinnerte, dass sie etwas vom kaputten Kühlschrank geredet hatte.
 

Meine Mama kroch von hinter dem Schrank hervor, wo sie sich befunden hatte, ihre Haare hässlich mit einem Haarband aus dem Gesicht haltend uns sah mich müde an: „Was gibt’s, mein Junge?“

„Ähm“, sagte ich, sah Mama dann an und erklärte ihr mit angesäuertem und enttäuschtem Ton mein Problem: „Das Geld, Mama! Für die Stufenfahrt! Das sollte schon längst überwiesen sein!“

„Oh“, entgegnete sie und klang dabei verboten desinteressiert, dann kroch sie wieder hinter den Schrank. Was auch immer sie da tat.

„Oh, Mama!“ sagte ich „du hattest drei Monate Zeit dazu. Willst du nicht, dass ich mit nach Aachen fahre? Dass ich mich gut in meine Klasse integriere? Willst du, dass ich verstoßen werde und deshalb sitzen bleibe und Alkoholiker werde?“

Gut, ich wurde etwas pathetisch, aber in etwa traf das das, was ich sagen wollte.

Sie antwortete mit einem leisen Lachen, dann wurde ihre Stimme ernst: „Nein Tim, das will ich nicht. Aber wie es dir wahrscheinlich aufgefallen ist“, sie hielt kurz inne, um irgendetwas sehr anstrengendes hinterm Schrank zu machen „ist unser Kühlschrank kaputt gegangen!“

Sie kam wieder hervor und sah mich an „Das Geld für deine Klassenfahrt brauchte ich für den neuen Kühlschrank, aber frag doch einfach Papa! Der überweist dir das schon.“

„Hm“, ich presste die Lippen aufeinander und verfluchte den alten Kühlschrank.

Angesäuert riss ich den Informationszettel von der Magnetwand in der Küche und ging zurück zu meinen Schuhen, um sie wieder anzuziehen.

„Was machstn jetzt?“ fragte Mama und ich hörte, wie sie wieder hinter den Schrank kroch.

„Ich fahr zu Papa! Hier stinkst nach deinem Käse!“

„Du kannst ihn auch anrufen“, hatte sie mir noch hinter her gerufen, aber ich ignorierte das; vergrub meine Hände stattdessen tief in meinen Jackentaschen, zog die Schultern hoch und strapfte durch die kalte Novemberluft zur Straßenbahnhaltestelle.
 

Mein Vater wohnte mitten in der Innenstadt, oberhalb des Bermuda Dreiecks in einer sehr großen Wohnung, die sich über das ganze letzte Stockwerk erstreckte und einen Balkon hatte, von dem aus man alles mitbekam, was unten in der Kneipenmeile passierte.

Er arbeitete als Schauspieler am Schauspielhaus; wenn Theateraufführungen waren, vorwiegend Abends, während der Proben Vormittags bis Nichmittags.

Nach den Herbstferien im Oktober waren wir einen Abend da gewesen und hatten uns Antigone im Rahmen des Deutschunterrichts angesehen.

Ich war fast eingeschlafen, weil Theater so schrecklich langweilig war und war noch nicht mal begeistert vom Sitz gefallen, als ich meinen Vater auf der Bühne erkannt hatte, der die Rolle des Haimons spielte.

Ich konnte auch nicht sagen, ob er schlecht oder gut war, davon hatte ich ja keine Ahnung. Was ich aber sagen konnte war, dass er jeden GZSZ-Darsteller um Meilen überbot, immerhin hatte er auch Schauspielerei studiert, aber er war gewiss kein Zac Efron.
 

Und mit ihm wohnte sein ältester Sohn Josh und irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass die beiden eher so etwas wie eine Art Männer-Wohngemeinschaft hatten, anstatt des üblichen Eltern-Kind-Zusammenwohnen.

Ich liebte meine Mutter und wir beide waren miteinander total tolerant, aber sie rastete an schlechten Tagen auch gern mal aus, wenn mein Schuh falschrum lag oder ich benutztes Geschirr nur in die Spüle statt in die Spülmaschine stellte.

Solche kleinen Differenzen, so stellte ich es mir zumindest vor, schien es bei meinem Vater und Josh nicht zu geben.

Aber vielleicht irrte ich mich, vielleicht trog der Schein, vielleicht war ich in diesem Haushalt einfach kein Mitglied der Familie, die hier lebte.
 

Ich lief zielstrebig auf den versteckten Hauseingang in der Seitenstraße zu und drückte auf den Klingelknopf, neben dem in säuberlicher Handschrift die Namen

„Jung / Sutherland“ zu lesen waren.

Wenig später ertönte das summende Geräusch, welches mir mitteilte, dass ich die Tür auf drücken konnte und ich ging durch den Hausflur und joggte die Treppe hoch bis in den vierten Stock.

Völlig außer Atem kam ich oben an, die schwere Tür war nur angelehnt.

Offenbar erwartete mein Vater mich schon.

Ich betrat die helle, geräumige Wohnung, schloss die Tür und genoss erstmal die angenehme Wärme hier oben.

„Papa?“ rief ich durch den Flur, doch niemand antwortete.

Ich zog meine Jacke aus und legte sie über die Garderobe, zog die dreckigen Schuhe von den Füßen und stellte sie neben den Chucks von Josh.

Er war also da.

„Josh?“ rief ich deshalb und als ich zur Wohnesszimmerküche ging, erschien sein Kopf von hinter der halben Trennwand, wo sich die Küchenzeile befand „Was gibt’s, mein kleiner, schwuler Freund?“
 

Seine Wortwahl ließ darauf schließen, dass mein Vater nicht da war.

„Wo ist Papa?“

Joshs Kopf verschwand wieder, ich kam in den großen, hellen Raum und setzte mich auf einen hohen Stuhl an die Küchentheke.

„Ist noch arbeiten. Aber Mama“, ich sog scharf die Luft ein und Josh lächelte entschuldigend, als er sich zu mich umdrehte „Tschuldigung, Timmi, Marion, hat gerade angerufen und gesagt, dass du kommen wirst. Sie hat gesagt, dass du nichts gegessen hast und ich soll dich zwingen, wenn es sein muss, dich anketten und gewaltsam einflößen, was zu essen.“

Ich nickte „Alles Klar.“

„Und sie hat gesagt, dass sie mich lieb hat!“ Er zwinkerte, dann drehte er sich wieder um und beschäftigte sich weiter mit dem, wobei ich ihn gestört hatte.

„Was wird das?“ fragte ich neugierig. Er ignorierte mich kurz, dann hörte er auf, an etwas rum zufummeln, begutachtete es und trat dann einen Schritt zu Seite, damit ich es sehen konnte „Tadaa.“

Erfreut über sein was auch immer klatschte er in die Hände, dann zeigte er auf das weiße, komische Ding, das aussah, wie ein geschmolzener Schneemann, auf dem jemand seine Goldbärentüte ausgeschüttet hätte und sagte: „Das ist eine Torte. Die hab ich selbst gemacht. Nach originalem, neuseeländischem Rezept.“

„Tz“, ich verdehte genervt die Augen, dann sah ich zur Uhr und fragte „Wann kommt Papa nach Hause? Er muss das Geld für die Stufenfahrt überweisen.“
 

„Nicht so hastig.“ entgegnete Josh, er nahm ein Messer aus dem Messerblock und schnitt seine Torte an, schob dann das Messer unter das riesig ausgeschnittene Stück und hievte das auf einen bereitstehenden Teller, den er mir letztendlich vor die Brust stellte „iss ersmal n Stück Pavlova.“

„Aber ich hab Angst, dass ich sterbe, wenn ich das esse!“ Sagte ich und musterte sehr misstrauisch das entstellte Gesicht des Schneemannes vor mir.

Josh lachte fröhlich, hatte sich selbst ein Stück seiner Torte abgeschnitten und biss dann genießerisch einen Happen ab.

„Hm“, machte er „is n bisschen süß. Wollen wir uns ne Pizza bestellen?“

„Ich bin eigentlich nicht gekommen, um ein auf Freund zu tun.“

„Musst du nicht“, er legte sein Tortenstück zurück auf den Tortenteller und ging zum Telefon „bist ja mein Bruder.“

„Halbbruder!“
 

Er winkte mich ab, wählte dann (aus dem Kopf!) die Nummer des Pizzaliferservice und bestellte eine mittlere und eine große Pizza Margharita.

Als er aufgelegt und sich wieder zu mich umgedreht hatte, musste er meine Stimmung dazu aus dem Gesicht abgelesen haben, denn sofort erklärte er mit sanfter Stimme: „Mensch, Tim, jetzt hab dich nicht so. Papa kommt frühestens in einer Stunde“, er sah zur Uhr, um sich zu bestätigen „und du hast Hunger und zu Hause stinkst nach Mamas Käse. Du bist so wie so viel zu selten hier dafür, dass du zur Familie gehörst. Lass uns Playstation spielen!“
 

Ich sah ihm widerstrebend zu, wie er sich mit seiner Figur durch eine virutelle Welt kämpfe, bis unsere Pizza kam, die wir dann aßen. Er ermutigte mich, nicht ganz so verkrampft zu sein.
 

Meine Mutter und mein Vater hatten sich getrennt, als ich sechs Jahre alt war und ich erinnere mich nur vage an unsere Zeit als Familie zusammen.

Zuerst hieß es, dass Josh und ich bei meiner Mutter blieben, dann kam es aber so, dass Josh, der nun ja nicht Mamas leiblicher Sohn war, doch zu Papa zog.

Ich erinnere mich nicht, dass wir beide jemals so richtig dicke Freunde gewesen waren, aber so eine Großer-Bruder-Kleiner-Bruder Beziehung pflegten wir irgendwie schon.

Als ich dann in die Schule kam, lernte ich Ray-Ray kennen und meine Abhängigkeit von Josh wurde immer geringer, bis wir uns nachmittags zu Hause schließlich gar nicht mehr sahen.

Am Anfang war Josh noch regelmäßig nach der Schule mit zu uns gekommen und Papa hatte ihn Nachmittags nach der Arbeit abgeholt, als er aufs Gymnasium kam, erledigte sich die Sache dann auch und als ich schließlich aufs Gymnasium kam waren wir eher wie zwei flüchtige Bekannte als Geschwister.

Niemand schöpfte auch nur den geringsten Verdacht, dass wir Brüder waren, wir wohnten nicht zusammen, sahen uns nicht besonders ähnlich und hatten vollkommen unterschiedliche Namen.
 

Als Papa nach Hause kam, war er sehr überrascht, mich in seiner Wohnung anzutreffen „Tim?“ sagte er „was machst du denn hier?“

„Du musst mir meine Klassenfahrt bezahlen“, erklärte ich ihm sofort und war total froh, von Josh und seinen Fantasy-Fabel-Gestalten los zu kommen.

„Wie bitte?“ entgegnete er matt, hängte seine Jacke an die Garderobe und ließ seine Schuhe mitten im Weg im Flur liegen.

„Mama wollte das bezahlen, aber sie hat's vergessen, dann ist unser Kühlschrank kaputt gegangen und jetzt haben wir kein Geld mehr. Aber es ist wichtig. Es sollte bis Freitag überwiesen sein.“

Erklärte ich ihm und folgte meinen Vater in die Küche.

Er schien nur halbherzig zuzuhören und als er Joshs Schneemantorte erblickte, seufzte er genervt auf.

Er drehte sich zu mich um, lächelte mich liebevoll an und deutete auf das Gebäck: „Er backt ständig dieses Pavlovading, dabei schmeckt es uns gar nicht, ist viel zu süß. Ich denke, das hat irgendwas mit seinem plötzlichen Interesse an Neuseeland zu tun.“

Er ließ sich auf einen Stuhl an der Theke fallen und streckte sich „Hm, ich überweis das Geld morgen früh, okay?“

Aachener Weihnachtsschmetterlinge

Aachen im Dezember.

Es ist kalt, es ist nass, es schneit. Der Weihnachtsmarkt ist echt schön, und der Dom und die Altstadt.

Die niedlichen Konditoreien und Aachener Opladen. Teestübchen und überall der Duft von Weihnachten in der Luft.
 

Mein Vater hatte mich nicht vergessen.

Josh umarmte mich zum Abschied zu fest, sagte mir, ich solle Mama grüßen und fuhr dann wieder, nachdem er mich zu Hause abgesetzt hatte.

Am nächsten Tag hatte mein Vater das Geld für die Stufenfahrt überwiesen und am Morgen des neunten Dezember, ein eisiger Mittwoch, saßen wir im warmen Zug und waren auf den Weg in ein aufregendes Abenteuer.

Aachen im Dezember.

Ich war vorher noch nie in Aachen gewesen und es hatte mich vorher noch nie gereizt, dahin zu fahren und ich erhoffte mir nichts.

Ein wenig Spaß mit den Jungs, natürlich, ausgiebige Schwärmerein mit den Mädels und illusorische Blicke von Herrn Branner.

Julie und Lisa saßen eine Sitzreihe vor uns und kicherten alle paar Minuten weibisch auf, Flo, Pat und Ray redeten über Boxen oder Wrestling oder so sowas und ich saß hier am Fenster, starrte auf die vorbei ziehende Landschaft und unterhielt mich mit Joe.

Zuerst über Herrn Stein und wie langwierig sein Unterricht immer war.

Dann über Musik und Billy Talent.

Dann schwiegen wir eine Weile, als wir in den Kölner Hauptbahnhof einfuhren.

„Hey, Tim“, sagte er dann leiste und beugte sich mit einem Grinsen zu mir vor „heißester Typ aus Köln?“

Ich lachte leise auf.

Köln war, soweit ich wusste, etwas bekannt für seine reiche Anzahl an Homosexuellen und seine Homosexuellenfreundlichkeit.

Ich warf einen Blick aus dem Fenster und überflog die Menschenmengen am Bahnsteig.

„Ich kenne niemanden aus Köln.“ antwortete ich und drehte mich zu Joe um.

Er grinste immer noch „Nicht? Nun ja, ich komme aus Köln!“

„Was, echt jetzt?“

Joe nickte lächelnd „Na ja, ich bin hier weggezogen, als ich zwei war, aber ich finde, das gilt trotzdem!“

Ich lachte, legte meine Arme um Joe und zog ihn zu mich heran, um ihm durch seine Haare zu wuscheln.

Er wehrte sich, doch ich hielt ihn so fest, dass er sich nicht los machen konnte.

„Na gut“, sagte er dann, hörte auf, sich befreien zu wollen und legte seinen Oberkörper auf meine Beine „Heißerster Typ in diesem Zugabeteil?“
 

Ich überlegte nicht lange, drückte Joe etwas kräftiger auf meine Beine und presste glucksend ein „Das weißt du ganz genau, Herr Branner natürlich.“ hervor.
 

Er lachte wieder, wehrte sich gegen meinen festen Griff und schaffte es dann irgendwie, sich um zudrehen. Er sah mich an.

Sein Blick war so voller Liebe und Zärtlichkeit, dass er mich unverweilt sofort einfing.

Es war magisch.

Dann lehnte er sich etwas zu mir hoch.

Ich spürte sein Herz, das wild in seiner Brust hämmerte, und mein Puls war versucht, sich dem anzupassen.

Ich beugte mich etwas zu ihm vor, mein ganzer Körper kribbelte aufgeregt, als wir ein Räuspern hinter uns wahr nahmen.

Ich neigte mich sofort wieder nach hinten, Joe wurde rot und richtete sich wieder auf, dann drehten wir uns zu Herrn Branner und Frau Berger um.

Sie lächelte verlegen, er presste seine Lippen aufeinander und spannte sein ganzes Gesicht an.

Er versuchte zumindest, zu lächeln.

Lilly hatte sich zu uns umgedreht und begrüßte unsere Lehrer fröhlich: „Frau Berger, Herr Branner. Was gibt’s?“

„Wir kontrollieren ein bisschen“, antwortete die dunklehaarige Frau und tippte ihren Kollegen an „diese Flasche haben wir gerade schon euren Mitschülern abgenommen. Die stand bei denen einfach auf dem Tisch, unglaublich, oder?“

Herr Branner hielt die Flasche Mezcal in seiner Hand etwas höher, so dass wir sie sehen konnten.

„Oh, das ist das Zeug von letztes Jahr“, sagte Lilly aufgebracht und tippte mich nervös an „erinnerst du dich, Tim?“

Ich seufzte genervt und nickte peinlich berührt.

„Oh ja“, Frau Berger lachte vorsichtig „du hast Frau Lavie angekotzt. Gute Arbeit“, sie zwinkerte, Lilly freute sich noch mehr, und Frau Berger und Herr Branner gingen weiter.
 

Joe räusperte sich und warf mir einen schüchternen Blick zu.

Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, ich zog die Schultern an, sah Joe an, dann nach draußen, verspannte mich und fragte dann leise: „Wieviel hat er mit bekommen?“

Joe zuckte die Schultern.
 

Zumindest das würde über die kommenden vier Tage verschwiegen bleiben.

Wir beruhigten uns schnell wieder, taten, als sei nichts, und alberten schnell wieder rum.
 

Wir kamen am Vormittag in Aachen an und mussten uns um die Zimmeraufteilung kümmern, die ich bis dahin nicht bedacht hatte.

Wir schliefen in einer niedlichen Jugendherberge, außerhalb der Innenstadt in einer scheinbar etwas wohlhabenden Gegend und mussten sieben Minuten mit dem Bus in die Stadt fahren.

Die Zimmer waren gemütlicher, als ich es erwartet hatte, die Etagenbetten waren aus Holz, in jedem Zimmer stand ein kleiner Tisch und zwei Stühle (auf acht Schlafplätze...), die Wände waren hell und die dominierende Farbe war gelb. In jedem Zimmer.

Unsere Bettwäsche war blau-gelb kariert, ich hoffte, ich bekäme keine Alpträume, und wenn man aus dem Fenster sah, betrachtete man direkt die kahlen Bäume, eine grüne Wiese und einen kleinen Platz unterhalb des Hauses, auf dem man Tischtennis spielen konnte.

Ich schlief im unterem Bett rechts neben dem Fenster und Pat und Flo hatten Angst, dass sie schwul werden würden, wenn sie im selben Bett schliefen wie ich.

Ray schlief oben, die anderen entschieden sich alle dazu, ein eigenes Bett zu nehmen und auch oben zu schlafen.

So würde ich jede Nacht einsam und allein hier unten den Schlaf finden.

Da wir sowieso vor hatten, aus der Stufenfahrt ein einziges Saufgelage zu machen, würde das wohl weniger das Problem sein.
 

Den Mittag verbrachten wir alle mit den Lehrern in der Stadt, schauten uns die Altstadt an, begutachteten den Dom und schlenderten über den Weihnachtsmarkt. Immer, wenn Herr Branner in der Nähe war, warf ich ihm verstohlene Blicke zu und ich meinte sogar, dass er einige Male zurück geguckt hatte.

Lilly zeigte mir einen Marktstand, an dem es hübsche, aus Holz handgefertigte Figuren in verschiedenen Formen gab und wir entschieden uns beide dafür, dass wir den blau-violetten Schmetterling am schönsten fanden.
 

Nachdem wir den Nachmittag frei bekommen hatte, aßen wir bei McDonalds, die Jungs kauften Bier im Supermarkt, die Mädchen kicherten und wir fuhren zurück zur Jugendherberge.
 

Am Abend war die Stimmung ausgelassen.

Die Party, wie es beschrieben wurde, fing dezent mit acht Flaschen Bier an, die Flo, Pat, Joe und Ray gemütlich tranken.

Ich verzichtete, wurde als Langweiler abgestempelt und saß die erste Zeit mit den Jungs zusammen, wir redeten und lachten.

Dann kamen einige andere dazu, brachten noch mehr Bier mit, und die Luft im Zimmer wurde allmählich wärmer.

Dann kamen noch mal welche, und die brachten sogar zwei Flaschen Wodka, die im nu leer auf dem Boden lagen.

Das Niveau der Gespräche sank dementsprechend, und die Fähigkeit, Gedanken zu verbalisieren und eine normale Konversation zu führen, ebenfalls.

Als sie über das Thema 'Saufen' bei 'Sex und Frauen' angelangt waren, hockte ich schon gelangweilt in meinem Bett und starrte raus in die dunkle Winterlandschaft.

Es hatte angefangen, zu schneien und die einzelnen Flocken wurden draußen vom Mond angestrahlt, die Wiese schien wie ein glitzernder See vor dem Haus zu liegen und die Luft musste sich glasklar abgekühlt haben.
 

„Ey Tim“, sagte dann jemand.

Ich schreckte aus meinen Gedanken auf und sah in die Runde, sie hatten allesamt rote Gesichter und fahle Blicke.

„Was“, entgegnete ich trocken, räusperte mich dann und beugte mich etwas zu ihnen vor.

„Du bisdochschwul, odda?“

„Hm, ja, wieso?“

„Na, wieisndas so mitm Mann? Also weißte?“

Ich hob verwirrt eine Augenbraue und sah zu Joe rüber.

Er sah mich an. Nicht erwartend oder fragend.

Er wollte mir eine stumme Mitteilung machen, sich entschuldigen? Mich bitten, darauf nicht zu antworten?

Was hätte ich so wieso sagen sollen?

Keine Ahnung, ich war noch nie mit einem zusammen?

Oder viel besser als mit einer Frau?

Ich zuckte nur die Schultern: „Wieso fragst du so'n Scheiß?“

„Na ja“, antwortete er und deutete in die Runde „wir haben festgestellt, dass niemandvon uns jewasmit nem Kerl hatte, dass wir alle bisher nur die Ladies flach gelegt haben und na ja es ist echt nicht so, als würden wir mit dir figgn wollen Tim, echt nicht, aber...“

Ich sah zu Joe.

Er war etwas rot, und sah mich immer noch entschuldigend an.

Dann sah ich in die Runde.

Ich verdrehte genervt die Augen und stand von meinem Bett auf „Probiert es doch an euch aus, ihr seid doch eh so besoffen, dass ihr keine Schamgrenzen mehr habt.“ sagte ich, als ich das Zimmer verließ.

Darauf wollte ich mich echt nicht einlassen, da hatte ich so was von keine Lust drauf.

Sollten die doch machen, was sie wollten, aber mich sollten sie daraus lassen.
 

Ich ging die Treppe runter und verließ leise und unauffällig das Gebäude.

Die Nacht war kalt und ich beobachtete mein Atem, wie er sich als weiße Wolke leise davon schlängelte.

Genervt lehnte ich mich über den Zaun und sah runter auf die Wiese.

Hier konnte man bestimmt gut mit dem Schlitten fahren.
 

Ich stand eine Weile da und beobachtete die Flocken, als ich hörte, wie jemand hinter mir durch den Schnee stapfte.

„Hey“, sagte sie und stellte sich dann neben mich „was machst du hier?“

„Hm“, brummte ich, sank den Blick und sah Lilly dann an „mich langweilen.“

„Was ist los?“ sie legte ihre Hand auf meine Wange „wie lange bist du schon hier, du bist ganz kalt?“

Lilly war eben nicht dabei gewesen, aber ihre rote Nase verriet mir, dass sie auch getrunken hatte.

Die waren eben alle ziemlich hardcore, meine Freunde, und ich der blöde Langweiler, der daneben steht und sich ärgert.

„Lilly“, sagte ich und sah wieder zum Schnee runter „hattest du eigentlich schon Sex?“

„Was?“ sie klang etwas überrascht.

„Wir reden nie über sowas.“ entgegnete ich.

Dann hörte ich sie lächeln. Sie legte ihren Arm um mich, drückte mir einen Kuss auf die Wange und flüsterte „Tim, du bist meine beste Freundin.“ „Ja...“ „Wenn ich jemals einen Freund gehabt hätte, oder verliebt gewesen wäre, glaubst du nicht, du wüsstest das?“

„Hm“, ich legte meinen Kopf nachdenklich schief.

„Siehst du, Tim. Manche sind eben noch nicht so weit, du solltest dir deshalb gar kein Kopf machen. Alles kommt, wie es kommt.“

Sie lächelte mich an.

Ich lächelte auch, dann ließ ich mich von Lilly umarmen, dann wurde sie etwas hysterischer: „Tim! Du hast gar keine Schuhe an, bist du bekloppt oder was? Willst du sterben?“

Sie griff meine Hand feste, keine Chance, ihrem Griff zu entkommen und zog mich entzürnt zum Haus zurück.

„Komm einfach mit zu uns, ja?“ hatte sie gesagt.
 

Als Lilly zurück in ihr Zimmer kam und mich an der Hand hielt, sahen einige Mädchen, die im Kreis auf dem Boden – auf dem sie die Matratzen der Betten gehievt hatten – verwirrt und teilweise überrascht zu mir auf.

„Lilly“, sagte Christine „keine Jungs.“

„Ach, das ist Tim“, hatte Lilly erwidert „der ist schwul!“
 

Damit konnten die Mädchen leben, sie schienen sich sogar zu freuen und als ich mich in ihrem Kreis nieder lies, rückten die Damen neben mir sogar näher an mich heran.

„Trink erstmal was, Tim!“ sagte Lilly und reichte mir eine Flasche Barcadi Breezer.

Ich schüttelte den Kopf: „Nein, ich will nicht.“

„Ach Tim, komm schon. Ich glaube, du brauchst das jetzt.“ Lilly lächelte liebevoll.

Ich dachte an die Jungs in meinem Zimmer, an den Wodka und deren charakterloses Gerede über Sex und Frauen.

Dann sah ich in die Runde, eine Gruppe, schüchterner, süßer Mädels in rosa Schlafanzügen, die bei einer Pyjama Party Wahrheit oder Pflicht spielte.

„Hm“, ich nahm die Flasche und trank.
 

Sie spielten tatsächlich gerade Wahrheit oder Pflicht.
 

Nach fünf weiteren Barcadi Breezer fühlte ich mich schon leicht betrunken und das Spiel wurde zunehmend witziger.

Ich musste bisher beantworten, ob ich schonmal verliebt war, ob ich Frau Lavie wirklich angekotzt hatte, einmal sollte ich mir für eine Runde meinen Pullover ausziehen und als ich die letzte Flasche Breezer geleert hatte, wurde Christine gerade gefragt „Wer ist der sexiste Lehrer an der neuen Schule?“

Die Mädchen kicherten und ich war mir ziemlich sicher, dass, man das nur mit 'Herrn Branner' beantworten konnte.

„Hm, also“, stotterte sie. Sie wusste schon ganz genau, was sie antworten würde, aber tat trotzdem, als würde sie überlegen.

„Herr Pieper ist eigentlich ziemlich sexy.“

„Was?“ entgegnete ich entsetzt und die Mädchen sahen mich belustigt an „Herr Pieper; bist du bescheuert?“

Christine musterte mich prüfend, während ich ihr einige Dinge aufzählte, die sowas von gegen Herrn Pieper sprachen „der hat Schlabberlippen und is voll untrainiert, der hat voll den beschissenen Kleidungsgeschmack, hast du mal seine Schuhe gesehen? Und die Frisur, alter, voll die Alte-Mann-Frisur.“

Herr Pieper war ein durchschnittlicher, 37-Jähriger Jeans-T-Shirt-Träger, an dem es weit und breit nichts besonderes gab, er war in der Tat eigentlich total unscheinbar weil voll unauffällig.

„Na ja“, Christine zuckte die Schultern „wen findest du denn sexy?“

„Herr Branner natürlich“, entgegnete ich sofort und mit einer Selbstsicherheit, als wenn das zweifellos die richtige Antwort wäre.

„Hm“, Christine überlegte, dann nickte sie „ja okay, Herr Branner ist auch sexy.“

„Herr Branner erinnert mich an irgendwen“, warf ein Mädchen ein „und ich kann diesen wen nicht leiden.“

Ich hob verwirrt eine Augenbraue.

„Du stehst also auf den Mathelehrer.“

Ich nickte.

„Gut, dann... geh zu ihm hin und gesteh es.“ Die Mädchen kicherten.

„Natürlich“, antwortete ich, deutlich sarkastisch natürlich.

„Okay, aber, geh zu ihm hin und sag ihm, dass du schwul bist.“

„Ich glaub, der weiß das.“

Ich dachte an das Sommerfest und an Joe. Grimmig ballte ich die Hände zu Fäusten.

„Egal“, entgegnete sie „geh zu sein Zimmer und sag es ihm richtig.“

„Hm“, ich zuckte die Schultern und richtete mich auf „na gut.“

Und ich hatte keine Ahnung, wieso ich darauf eingegangen war, aber ich denke, dass lag am Barcadi, der feucht fröhlich durch meine Adern floss und meine Hemmungen niedriger setzte.
 

„Und wenn du wieder kommst wollen wir alles haargenau wissen!“ rief mir Julie nach, als ich das Zimmer verließ und zum Jungenflur zurück ging.
 

Aus unserem Zimmer hörte ich lautes, fröhliches Gelächter und war gleich wieder genervt von deren Gelage.

Dass sich Jungs bloß durch Aufnahme von Ethanol und Anwesenheit von Anderen von solchen hirntoten Idioten substituieren ließen, war mir ein Rätsel.

Sie, auch Pat, Flo, Ray und Joe, die sonst immer ganz lustige und liebe Gesellen waren, waren auf einmal totale Trottel, die um ihr Ansehen in der Jungsgesellschaft kämpften.
 

Ich klopfte an Herr Branners Zimmertür und wartete.

Als ich bemerkte, dass das Herr Branners Zimmertür war, und er vermutlich gleich vor mir stehen und mich ansehen würde, mich musternd beäugen würde und garantiert von mir wissen wollte, wieso ich mitten in der Nacht bei ihm klopfte, fing mein Bauch an, merkwürdig zu grummeln und ein komisch kribbeliges Gefühl machte sich von meiner Mitte aus im ganzen Körper breit, meine Knie zitterten aufgeregt und um meinen Kopf herum wurde es plötzlich schwindelig.

Oh mein Gott!

Was sollte ich tun?

Verwirrt und unwissend drehte ich mich um und wollte wieder gehen, als ich das Knarren der Tür hörte, die geöffnet wurde.

„Hm“, machte Herr Branner und mit seiner Stimme kam ein bekannter Geruch und eine unangenehme Wärme aus seinem Zimmer.

Irritiert drehte ich mich wieder um und brauchte eine Weile, um ihn zu fixieren.

„Timm“, nuschelte er leise und hielt sich verdächtig an der Tür fest.

„Herr Branner“, entgegnete ich zitternd.

„Was gibs?“ fragte er und lächelte mich dann an.

„ähm äh... i.. ich sollte irgendwas sagen zu ihn.“ erklärte ich „a... allerdings hab ich irgendwie vergessen was.“

„Hm“, er machte etwas, dass aussah, wie missglücktes Schulternzucken „machtja nischst.“

Ich verengte die Augen. Seine Nase war so rot wie Lillys und beim Festhalten schwankte er merkwürdig hin und her.

Und der Geruch.

Das war doch...

„Mezcal!“

„hä?“

„Sie sin betrunken!“ sagte ich, dann schlug ich mir die Hände vor den Mund „oops.“

„Hm“, er lächelte schief „Mag sein, Tim Müller, du...“ er streckte seine Hand aus, griff mein T-Shirt und zog mich zu sich heran.

Herr Branner war ganz warm, sein Atem roch nach Tequila und sein Arm legte sich stark um meinen schmalen Körper.

„Hm“, machte ich „Herr Branner?“

Dann beugte sich sein Gesicht zu meinem runter, er lächelte noch immer so charmant, auch, als mein Herz rasend verdeutlichte, dass es Herr Branner war, der mich küsste.

Das war Herr Branner.

Das war mein Mathelehrer.

Mein betrunkener Mathelehrer Herr Branner.

Was sollte das?

Gefühlsbarrieren

Mein Kopf dröhnte gegen meine Stirn, und von meinem Magen aus kroch eine unangenehme Übelkeit in meinen Hals.

Ich wachte am nächsten Tag allein auf und mein Arsch tat mir gewaltig weh.

Brummend öffnete ich die Augen und konnte die Lider nicht bewegen, ohne, dass mich ein ekliger Kopfschmerz durchzuckte.

Die Wand, die ich betrachtete, war makellos weiß.

Verwirrt fuhr ich die Hand an ihr hoch, legte sie dann auf meine Stirn und erinnerte mich an gestern.

Ich seufzte genervt und tastete neben mich.

Die Matratze war kalt.

Widerwillig hob ich den Kopf und drehte mich um, damit ich ins Zimmer sehen konnte.
 

Mein Mathelehrer saß gegenüber an der Wand, hatte die Beine angezogen – es erinnerte mich an meine Kopf-Auf-Knie-Welt – starrte zwar in meine Richtung, sah mich jedoch nicht an und kaute nervös auf seiner Fingerkuppe.

„Hm“, machte ich und drehte den Rest meines Körpers um.

„Was sitzen Sie da so verstört rum“, sagte ich und merkte im selben Moment, dass ich noch nicht vollkommen ausgenüchtert war.

Ich ließ genervt meinen Kopf in das blau gelb karierte Kissen fallen.

„Ich fusche nicht gern irgendwo drin rum!“ sagte er dann.

Diese nichtssagende Aussage setzte meinen Kopf noch mehr zu „Was?“

„Es tut mir Leid“, sagte er dann endlich und schaffte es, mich an zu sehen „wegen... na ja, dein Gesäß.“
 

Ich lachte leise auf, erfreut über Herr Branners schüchterne Wortwahl.
 

Er hatte mich leidenschaftlich geküsst am vorherigen Abend. Er war betrunken, genauso wie ich, und das machte es, dass wir darauf eingingen, auf einander. Auf diesen älteren Mann.

Er sah mir in die Augen, dann lächelte er glücklich und küsste mich nochmal, als wir das leise Flüstern und Tapsen der Mädchen hörte.

Er ließ von mir ab, legte doch etwas unsanft seine Hand auf meinen Mund und drückte mich hinter die Tür, welche er etwas zu zog.

„Guten Abend... ähm“, ich hörte Lillys Stimme und mein Herz raste.

„Sie sind noch wach.“ Lilly klang gespielt überrascht und ich sah durch sein T-Shirt, wie sich seine Muskeln am Rücken und an den Schultern verspannten.

Auch die Hand, die um meinen Kiefer fasste und der Arm, der mich gegen die kalte Wand drückte.

Ich war so aufgeregt, mein Herz musste so schnell geschlagen haben wie das eines Kolibris, als die Mädchen auf der anderen Seite der Tür standen und nicht wissen durften, dass ich hier war.

„Haben Sie Tim gesehen?“

Obwohl sie mich hierher geschickt hatten.

Ich versuchte, mich zu räuspern, doch sein Griff hielt mein Kopf hoch und nur der Versuch, ein Geräusch von mir zu geben, tat mehr weh, als dass es einen Zweck erfüllte.

„Hm“, machte ich dann unter seiner Hand, und ich sah, wie sich seine Muskeln noch mehr verspannten.

„Nun ja, mehr wollten wir auch nicht.“ sagte sie dann und ich dachte, ich müsse irgendwas tun, damit sie mich bemerken würde; nur, damit sie wusste, dass ich meine Pflicht erfüllt hatte.

„Lül...“, versuchte ich, unter seiner Hand her zu rufen, doch er war so stark, er ließ mich nicht. Stattdessen zog er meinen Kopf ein Stück vor, dann drückte er ihn mit etwas zu viel Wucht zurück gegen die Wand.

Ich spürte einen dumpfen Schlag, die Welt drehte sich kurz auf den Kopf, ich verlor meine Orientierung, mir wurde schlecht und meine Beine gaben nach.

In dem Moment, in dem Herr Branner die Tür schloss und mich los ließ.
 

Unsanft sackte der Körper zusammen und noch unsanfter schlug der schöne Arsch auf den harten Linoleumboden auf.

Autsch.
 

„Oh mein Gott, Tim“, sagte er besorgt und hockte sich zu mich runter.

Die Welt verlangsamte sich und ich konnte ihn wieder erkennen.

Sein braunes Haar, die blauen Augen, die mich so liebevoll ansahen, die Wangenknochen und die rote Nase.

„Alles in Ordnung?“ fragte er und ich nickte. Ich nickte und war vollkommen glücklich und zufrieden.

Dann wurde mir schwarz vor Augen und ich bemerkte irgendwie nebenbei im Döszustand, wie sich sein warmer Körper über mich beugte, wie ich im Bett lag und wie er sich leise Vorwürfe machte.
 

Bis ich aufwachte.

Mein Kopf dröhnte und mir war so richtig schlecht.
 

Herr Branner richtete sich vom Boden auf, er sah mich etwas verstört an, aber in seinem Blick war auch Glück und genauso Unsicherheit.

Vorsichtig setzte er sich neben mich auf das untere Bett und lächelte verklemmt.

Er wusste nicht recht, ob er mich berühren sollte, wog es mit sich ab, bis er schließlich befangen die Hand hob, in der Bewegung inne hielt und mir dann vorsichtig über die Wange strich.

„Tim Müller“, er lächelte so glücklich und zufrieden, wie ich es noch nie gesehen hatte bei ihm.

Ich schluckte vorsichtig und nickte, dabei genoss ich die Berührung seiner sanften Finger an meiner Haut und war mir ziemlich sicher, dass ich träumte. Denn so von ihm angefasst zu werden war sicherlich immer ein Traum gewesen, es konnte jetzt einfach nicht real sein.

„Du bist bewundernswert.“ flüsterte er dann.

Ich wurde etwas rot, natürlich.

Dann beugte sich mein Mathelehrer zu mich runter, schloss seine blauen Augen und drückte mir einen Kuss auf die kalten Lippen.
 

Es war soviel intensiver und klarer als gestern, ich nahm mit viel mehr Bewusstsein auf und wahr, wie er mich berührte, wie seine Lippen meine massierten, wie er mich so wunderbar küsste, seine Hand mein Gesicht in sich nahm, er durch mein blondes Haar strich.

Mein Herz raste regelrecht, schlug mit aller Gewalt und voller Aufregung gegen meinen Brustkorb, und es fühlte sich so gut an.

Ich war glücklich, fühlte mich federleicht, tanzend auf allen Wolken im Himmel und solange ich hier war bei ihn, solange war alles gut.
 

Dann hörte er auf und richtete sich wieder auf.

„Was ist?“ flüsterte nun ich, musterte ihn, sein Gesicht, seine Augen, die mich so liebevoll ansahen, seine Lippen, die ich zurück haben wollte.

„Was ist mit Johann?“ sagte er dann und klang etwas weniger warm und mild.

„Joe?“ fragte ich verwirrt.

Er nickte.

„nichts ist mit Joe.“ vorsichtig richtete ich mich auf, sah ihn verwirrt an und zuckte die Schultern. Ich wusste einfach nicht, wo drauf er hinaus wollte.

„Du bist doch mit ihm zusammen“, er wandte den Blick ab „ich will nicht irgendwo rein geraten oder euch auseinander bringen.“

Ich gluckste vergnügt und mein Kopf fühlte sich weniger schlimm an als noch vorhin.

„Joe und ich sind garantiert nicht zusammen. Wir sind bloß Freunde. Gute Freunde, aber kein Paar.“

„Nicht?“

„Das war alles wohl ein Missverständnis, man, dafür könnte ich ihn töten!“

Ich dachte an das Sommerfest im September zurück und dann kam mir in den Sinn, dass Herr Branner seit dem geglaubt hatte, er und ich wären ein Paar?

„Heißt das, Sie haben... die ganze Zeit geglaubt, Joe und ich...“

Er sah mich wieder an, fragend, dann lächelte er und nickte: „Natürlich hab ich das.“

„Heißt das, Sie... moment“, ich schluckte nochmal hart.

Es kam plötzlich über mich wie eine Erleuchtung.

„Herr Branner“, sagte ich etwas verstört und stand vom Bett auf, legte die Hand auf die Türklinke, fühlte mich so, als müsse ich von ihm weg.

Der Raum war auf einmal so klein und die Luft heizte sich plötzlich so schrecklich auf.

Atmen ging jetzt viel schwerer.

„Sie sind mein Lehrer...“

Er hob verwirrt eine Augenbraue.

„Aber... ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht als dein Lehrer betrachten.“

Ich nickte. Die Luft schnürte mir immer mehr den Hals zu.

„Ja. Sie haben recht. Ich denke, ich sollte jetzt rüber gehen. In mein Zimmer. Anziehen und so. Wir sehen uns beim Frühstück.“

Ich verließ den Raum, sah ihn nicht noch mal an, hielt den Blick auf den Boden und versuchte in meinem Kopf das ganze zu rekonstruieren, zu verstehen, wieso das passiert war und wieso ich diesen Seifenblasentraum kaputt machen musste.
 

War es nicht schön so gewesen?

Wir hätten im Bett liegen können, beieinander sein, kuschlen, küssen, reden, träumen.

Vielleicht träumte ich ja doch noch.
 

Als ich in mein Zimmer kam, waren Joe und Ray schon wach, etwas träge und scheinbar schlimmer verkatert als ich, aber immerhin wach.

Ray putzte sich die Zähne und Joe saß müde auf seinem Bett an der Wand gelehnt und sah mich misstrauisch an.

Pat und Flo lagen noch wie Steine in ihren Betten und dünsteten unangenehme Dämpfe aus.
 

„Na Tim“, sagte Ray grinsend „kommste jetzt erst nach Hause?“

„hä was?“

„warst wohl die ganze Nacht unterwegs, hä? Haste Mädels aufgerissen?“
 

Ich lief augenblicklich rot an, wandte deshalb schnell mein Gesicht von ihm ab und wühlte ziellos in meiner Tasche rum.

Und spürte Joes traurigen, musternden Blick auf meinem Rücken.

Der tat weh.
 

Ich mied Herr Branner den ganzen Morgen.

Ich mied ihn auf der Fahrt zur Hochschule, ich mied ihn während der Vorlesung und ich mied ihn, als wir uns danach in der Schule umschauen und informieren durften.

Die Gänge und Räume waren voll bis oben hin, es war ein Tag der offenen Tür und dementsprechend war der Andrang im Gebäude.

Nach einer Stunde neben Lilly rumrennen beschlossen wir, uns in die Cafeteria zu setzten.

Hier trafen wir auch den Großteil unseres Jahrgangs wieder.

Und natürlich Herrn Branner.

Er saß allein am Ende eines langen Tisches und starrte gedankenverloren auf seine Hände.

Und mir wurde gleich ganz komisch.

Ich schluckte das Gefühl runter und setzte mich zwischen Ray und Lilly auf einen der Plastikstühle.
 

Ich wusste einfach nicht, was los war.

Mit mir, mit ihm.

Mit uns und der Sache heute Morgen.

Denn es kam ganz gewiss von ihm.

Er wollte es.

Und ich sehnte mich danach.

Wieso hatte ich mich dem entzogen?

Mein Herz schlug wütend gegen meine Brust.

Ich seufzte schwer.

Meine Hände zitterten.

Ich sah auf und schielte rüber zu ihn.

Er saß unverändert da.

Vielleicht ging es ihm nicht so gut, vielleicht ähnlich wie ungefähr allen anderen.

Er hatte einen dicken Kopf.

Ein besoffener Lehrer.

Diese Sache war gerade so absurd, dass ich leise Schmunzeln musste.

„Was ist?“ fragte Lilly, ich schüttelte nur den Kopf, dann schob ich meinen Stuhl zurück und stand auf.

„Wohin gehst du?“ fragte sie, aber ich ignorierte die Frage und ging zu ihm.

Ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber und sah Herrn Branner in die blauen Augen, als er aufschaute.

Er schwieg.

Und mir fiel einfach nichts anderes ein, als jetzt diesen belanglosen Scheiß zu sagen: „Josh hat mir versprochen, dass er nicht mehr blau macht bei Ihnen!“

Zuerst sah er mich weiterhin ohne Regung an.

Dann zuckten seine Mundwinkel nach oben und er lachte kurz unsicher auf: „Was?“

Und ich lachte auch: „Ja, Josh hat gesagt, er benimmt sich, und was er mir verspricht, das hält er.“

„Josh Sutherland, hm?“

Ich nickte „In solchen Gruppen gibt es immer einen, der so eine Art Führerrolle übernimmt, der sich alle irgendwie unterwerfen. Wenn Josh was sagt, dann machen's alle. Aber wenn ich was sage, dann macht Josh das.“

Herr Branner musterte mich genau, und nur ich schien dabei den verlangenden Blick zu bemerken „Und was genau... hast du mit Josh Sutherland zu tun?“ Er kniff verdächtigend die Augen zusammen und ich hörte den fürchtenden Unterton in seiner Stimme. Als wenn jetzt, wo gerade Joe als Konkurrenz aus dem Weg war, der unschlagbare Joshua auftauchen würde.

Ich ekelte mich kurz ob diesem Gedanken, dann sagte ich so nüchtern wie möglich: „Er ist mein Bruder.“ Dann korrigierte ich: „Halbbruder. Selber Vater, verschiedene Mütter.“

„Tatsächlich?“ Und ein Hauch Erleichterung klang mit.
 

Und das erleichterte mich, als wenn eine Tonne Steine von meinem Schultern fiel und dieselbe Menge von meiner Brust.

Ich spürte, dass ich plötzlich freier Atmen konnte, das Zittern meiner Hände ließ nach und in meinem Magen blieb ein angenehm aufregendes Gefühl zurück.

Und als ich Herr Branners blaue Augen sah, wie sie mich glücklich anschauten, da wurde mir heiß und kalt und ich wusste, nichts schien mehr im Weg zu stehen.

Geheime Nächte zuzweit

Ich wartete den Rest des Tages ungeduldig ab.

Wippte nervös den Fuß auf und ab, kaute auf meinen Fingernägeln rum und erfand irgendwelche dummen Ausreden, wenn einer meiner Freunde fragte, was los sei.

Was genau los war, war mir heute so unglaublich bewusst, das mir stundenlang Adrenalin durch den Körper schoss.

Dementsprechend hibbelig war ich.

Wir schlenderten nach der Uni in der Innenstadt rum, aßen noch mal bei McDonald's – eigentlich nur Ray, Pat und Flo, die Mädchen kauften sich dann Brötchen oder sowas beim Bäcker, ich war fiel zu aufgeregt um was zu essen und dass Joe seit gestern Nahrung verweigerte, fiel mir in dem Moment nicht auf – und am frühen Nachmittag kehrten wir in die Jugendherberge zurück.

Die Kennenlernfahrt hatte nicht besonders viel mit Kennenlernen zu tun, zumindest tat ich mich immer noch schwer, mit denen, die ich nicht kannte, zu reden; wobei sich die Gelegenheit dazu auch gar nicht ergab.

Nur Abends, wenn auf den Zimmern gesoffen wurde.

Doch für heute hatte ich was anderes vor.
 

Meine Freunde, ganz besonders die Mädchen, waren sehr misstrauisch, als ich mich zu Herrn Branner gesetzt hatte. Sie hatten nicht verstehen können, was wir redeten, doch war ihnen das Schmunzeln, Anlächeln, Auflachen und warme Ansehen nicht entgangen.

Zum Glück aber wusste ich, dass sie daraus niemals die richtigen Schlüssel ziehen konnten, denn eine Affäre zwischen dem sexy Mathelehrer und dem unscheinbaren Tim war einfach zu abwegig als das sie das ernsthaft in Betracht ziehen würden.

Und so rätselten sie kurz, zuckten dann die Schultern und kümmerten sich weiterhin um ihren Kram.

Was mir sehr zusagte, denn neugierige Stalker konnte wohl keiner in so einer Situation gebrauchen.
 

Erst Recht nicht am Abend, als wir zusammen in unserem Zimmer saßen und trotz der erschreckenden Erkenntnis des schmerzvollen Ausnüchterungsprozesses wieder dabei waren, Alkohol zu verwirtschaften.

Und dieses mal zog ich mit, immerhin musste ich locker und offen sein für das, was später noch passieren sollte.

Heute blieben wir unter uns, Ray und Joe, Pat und Flo, Lilly und Julie, tranken dezent Bier und Sekt und wurden von Stunde zu Stunde lustiger, jedoch nicht absurd, abartig und niveaulos.

Bis auf Joe, der schweigend da saß und auch nach drei Stunden immer noch an seinem ersten Bierchen nuckelte; was uns aber nicht sehr auffiel.
 

Herr Branner und ich hatten den Tag nicht mehr miteinander gesprochen. Wir hatten uns wissende Blicke zu geworfen und lächelten dann immer bis zu den Ohren, ich ganz besonders, und irgendwie hatten wir im Stillen aus gemacht, dass ich ihn am Abend besuchen würde.

Um halb zwölf stand ich dann vom Boden auf, verfluchte meine eingeschlafene Füße und streckte mich.

„Was machstn?“ fragte Flo und ich antwortete: „Frische Luft schnappen, Beine vertreten...“

Und ich hoffte, niemand würde auf die Idee kommen, mit zu gehen.

Doch ihren musternden Blicken aus dem Fenster nach zu urteilen, verweilten sie wohl lieber im heißen Suffzimmer als ein Fuß in den kalten Schnee zu setzten.

Erleichtert und der Natur dankend verließ ich das Zimmer und atmete entlastet aus.

Ich sah mich im dunklen Flur um, um zu sehen, dass niemand da war, dann tapste ich leise rüber zur Tür, hinter der sich Herr Branner befand und auf mich wartete.

Ich schluckte die Angst, dann klopfte ich leise.

Wenig später öffnete er die Tür einen Spalt, erspähte mich und ließ mich in den Raum.

Mein Herz schlug mir bis in den Hals, so aufgeregt war ich.

Weil es irgendwie verboten war, diese Gefahr des Erwischtwerdenkönnen trällerte in meinem Hinterkopf; weil es Herr Branner war, in den ich seit Monaten jämmerlich verliebt war und weil er der Erste war.

Der Erste, den ich küssen konnte, auch so, den ich küssen wollte, auch so, den ich berühren wollte und konnte, spüren konnte.

Ein wohliger Schauer lief mir den Rücken runter, als wir uns schüchtern gegenüber standen und ansahen und nicht genau wusste, was wir tun sollten.

„Tja“, krächzte ich dann und schlug unsicher die Hände ineinander.

Er nickte, presste die Lippen aufeinander und ich spürte sein Verlangen geradezu in der Luft hängen.
 

War irgendwie beängstigend, gleichzeitig aufregend und ganz kribbelig.

Dann sagte er was: „Wir sollten da mal kurz drüber reden!“

Und ich strahlte ihn an, als er weiterfuhr: „Über das, was da gestern war.“

Er sah beschämt zur Seite und räusperte sich leise.

Ich nickte und sagte: „Ja.“
 

Und dann nickte er.
 

Hilflos standen wir da, in diesem kleinen Raum, gegenüber, mieden den Blick des anderen und wurden erdrückt von der Erregung, die die Atmosphäre beherrschte.

„Also, Tim“, setzte er dann an, sah auf zu mir, seine Lippen zitterten, seine Augen suchten meinen Blick, dann sahen sie runter zu meinem Mund und er schluckte hart.

Er wollte mich, aber so was von, doch etwas blockierte ihn.
 

„Mir macht das nichts aus!“

Sagte meine Stimme.

Mein Herz raste daraufhin und meine Beine machten zwei Schritte vor, zu ihm ihn. Jetzt waren wir uns so nah, dass ich aufschauen musste, um seine Augen zu sehen und er den Kopf senken musste, um mir ins Gesicht blicken zu können.

Zwischen uns baute sich eine ungemeine Spannung auf und so, wie ich in der Stille der Umgebung sein Herz klopfen spürte, war ich mir sicher, er hörte auch meines.

„Sie sind nicht mein Lehrer.“

Ich lächelte unsicher.

Er musterte mein Gesicht zum dreihundertsten Mal, doch schien er von meinem so wie ich von seinem nicht genug zu bekommen.

Sein Blick fuhr über die hohen Wangenknochen, die schmalen Lippen, das spitze Kinn, die rosigen Wangen und die leuchtend grünen Augen.

Allein das erregte mich schon etwas und ich konnte mich kaum zurück halten, ihn zu berühren und zu spüren, doch ich blieb standhaft, wenn auch nur ungern und ziemlich angespannt.

Er lächelte auch: „Nein, ich bin nicht dein Lehrer, aber...“

Ich hob meine Hand und legte vorsichtig meine kalten Finger auf seine zarten Lippen.

Ein Schauer überkam mich, ich erzitterte, dann breitete sich ein angenehmes, warmes Gefühl in mir aus, das nach noch mehr schmachtete.

Mehr Berührungen, intensiveren Kontakt zwischen den beiden Körpern.

Ich machte den letzten Schritt und schloss den letzten, kleinen Abstand.

Mein Herz berührte sein Herz, ich spürte es deutlich gegen meine Brust schlagen, ganz wild und aufgeregt; ich fühlte, wie seine Beine weicher wurden und das Beben in seinen Armen.
 

So fühlte sich so eine Nähe also nüchtern an.

So viel stärker als gestern, in der Luft lag heute nicht der fiese Geruch von Mezcal, aber diese erregte Spannung zwischen den sich Liebenden, die ihre Hürden überwinden, um zusammen zu sein.
 

Mein Gesicht näherte sich seinem, bis meine Stirn seine Nasion berührte. Er schloss die Augen und ich sah seine Lippen an, leicht geöffnet, wartend.

„Das ist mir egal.“ flüsterte ich und sie bebten unter diesen Wörtern.

Er schluckte, dann schob er den Kiefer vor und küsste mich.

Zuerst zurückhaltend und sanft, doch als er die süße Frucht des Verbotenen gekostet hatte und für unwiderstehlich gut befand, wurde er heischer.

Seine Hände umfassten meinen Körper und drückten ihn an seinen, sodass ich sein Herz noch klarer Klopfen spürte.
 

Ich liebte ihn.
 

Das wurde mir gerade in dem Moment so richtig bewusst.

Das war keine dumme Schwärmerei mehr, kein kleines Verliebtsein, es war richtige, aufrichtige, große Liebe.
 

Und dem sollte doch nichts im Weg stehen, absolut gar nichts.
 

Und dann lag ich plötzlich auf ihm, auf der trainierten Brust, die mein Gewicht gut aushalten konnte, meine Hände umfassten sein Gesicht und ich verschlang seine Küsse geradezu gierig.

„Hm“, machte ich, dann ließ ich von seinen Lippen ab, berührte mit meiner Stirn seine, hielt meine Augen geschlossen, denn ich wollte ihn so intensiv spüren, wie ich konnte.

„Herr Branner“, flüsterte ich „wie... wie alt sind Sie?“

Dann drückte ich ihn einen kleinen Kuss auf die Lippen.

Er lächelte, seine Hand strich immerzu über meinen Rücken und entfachte eine brennende Gänsehaut, die alles andere als unangenehm war.

„Siebenundzwanzig“, flüsterte er dann gegen meine Lippen und küsste mich kurz zurück.

Ich nickte leicht, überlegte kurz, dann küsste ich ihn nochmal kurz und sagte: „Elf Jahre also...!?“

„Scheint so.“ Er legte seine Hände auf meine Brust, drückte mich von sich hoch und legte meinen Körper neben sich auf die Matratze, den Kopf in das blaugelbe Kissen, und legte sich selbst auf die Seite, stützte den Kopf auf einem Arm ab, die andere Hand lag ruhig auf meiner Brust.

„Okay“, flüsterte ich, sah ihn an, sein Gesicht und war wiedermal erstaunt über diese unfassbare Ähnlichkeit mit dem Mann, der in Postern meine Zimmerwände zierte.

Ob er sich diesem Aussehen bewusst war?
 

Dann lagen wir da. Wir schwiegen. Wir berührten uns gegenseitig so viel und intensiv, wie es ging, wir küssten uns sanft und schüchtern, dann fordernd und fest und als wir beide so müde waren, dass wir uns kaum noch wach halten konnten, rüttelte er vorsichtig meinen Körper.

Ich schreckte aus meinem Duselzustand auf, doch war ich keineswegs orientierungslos, ich fühlte sofort die angenehme Nähe seines Körpers und fühlte mich geborgen und warm.

„Tim“, flüsterte seine Stimme, dann drückten mir seine Lippen einen Kuss auf.

„Du gehst besser zurück.“

„Was?“, nuschelte ich, drehte mich auf die Seite und kuschelte mich an seine Brust. Er lachte leise auf, streichelte meinen Rücken und hauchte einen Kuss auf mein Haar „das geht nicht; Tim, wir müssen aufpassen, und das zählt dazu. Du musst so tun als wenn nichts wäre.“

Erklärte er leise, dann küsste er nochmal die Stelle auf meinem Haar und strich sehr tröstend über meinen Rücken.

Ich verstand, was er meinte, aber ich wollte nicht weg.

Draueßen war es kalt, in meinem Bett war es einsam und ungemütlich, ich wollte nicht dahin zurück, wenn es doch hier so warm und zweisam war.

Er rüttelte mich nochmal sanft: „Tim!“

Ich seufzte, dann löste ich mich von seiner Wärme und sah ihn so unglaublich traurig an, wie es mir eben möglich war mit müden Augen.

Er lachte wieder sanft auf und flüsterte ein „Tut mir Leid“, gegen meine Lippen, dann küsste er mich.

Ich brummte, dann standen wir vom Bett auf und gingen zur Tür.

„Morgnabnd?“ fragte ich hoffnungsvoll und er zuckte die Schultern: „Kannst du doch von den anderen losmachen?“

Ich zuckte die Schultern „bestimmt, die sind betrunken nicht auf auf einer sonderlich geistigen Höhe!“

Er lachte wieder, dann beugte er sich zum letzten mal zu mir vor und küsste mich.
 

Dann lächelten wir uns an, ich öffnete die Tür und verließ den Raum.
 

Der Flur war kalt und einsam, man fühlte sich gleich so angreifbar und allein.

Ich seufzte traurig, dann tapste ich zurück zu meinem Zimmer.

Das Licht brannte noch, doch so richtig wach waren sie nicht.

Lilly lag eingerollt in Rays Umarmung und mir kam fast das Kotzen bei dem

Anblick.

Pat schlummerte auf dem Boden, da würde er morgen eine schicke Verpsannung haben und Joe lag ziemlich einsam aussehend in meinem Bett.

Ich seufzte genervt, beugte mich zu ihm runter und schüttelte ihn.

Doch außer einem Brummen machte er nichts.

„Grrr, Joe!“ zischte ich, doch er wachte nicht auf.

Missmustig schielte ich zu seinem Bett hoch.

Obwohl da drin niemand lag, degoutierte es mich, da zu schlafen.

Also schob ich Joe etwas schwerfällig zur Seite und legte mich neben ihn.

Und weil das Bett viel zu klein war, als dass zwei nebeneinander vernünftig darin liegen konnten, rückte ich ganz nah an ihn heran, fing seine Wärme auf und merkte gleich, dass es sich fast so gut anfühlte, wie bei Herrn Branner.

Nur nicht ganz so aufregend.

Ich legte unsanft einen Arm um Joe, sollte mir doch egal sein, wenn er dadurch aufwachte. Tat er aber nicht, das missbilligte ich dann doch ein wenig.

Brummig zog ich uns die Decke bis zum Kinn, dann kuschelte ich mein Gesicht an seinen Rücken und schlief ein.

Placebo (This Picture)

„Hey ihr Schwuchteln“, flüsterte jemand und holte mich so sanft, trotzdem unangenehm aus meinem kurzen Schlaf.

Um mich herum war es ungewohnt warm und ich erinnerte mich an den vorherigen Abend, als ich mit Herrn Branner im Bett lag und wir kuschelten.

Ich lächelte, freute mich, weil ich aus einem Traum aufwachte und mein tiefstes Begehren Realität war und öffnete dann meine Augen.

Es war Ray, der mich vergnügt ansah.

Ich zog verwirrt die Augenbrauen zusammen.

Ray hatte hier nichts verloren.

Etwas ratlos hob ich den Kopf, dann bemerkte ich, dass ich gar nicht bei Herrn Branner unter der Decke lag.

Dann kroch die Erinnerung an den traurigen Abschied von gestern in mein Kopf und dass mein Bett besetzt war, als ich zurück ins Zimmer kam.

Erschrocken drehte ich mich um, erblickte Joe neben mir, der seinen Arm um mich geschlungen hatte, aber immer noch fest schlief.

„Ob scheiße“, sagte ich, schlug die Decke zur Seite und strampelte mich aus dem Bett.

Rays schallendes Gelächter erfüllte dabei den Raum.

„Meine Fresse“, nuschelte ich, hielt mir den Kopf und fand, dass der Boden, auf dem ich mich gerettet hatte, ziemlich kalt war.

„Und ich dachte, du verbringst die Nacht wieder bei deiner süßen!“ sagte Ray und hielt mir die Hand hin, um mich hoch zu ziehen.

Ich brummte, rieb mir den Hintern und antwortete: „Ich würd viel lieber über deine Süße reden.“

Rays Gesicht färbte sich rot und er stotterte: „Keine Ahnung, was du meinst.“

„Ja klar“, entgegnete ich „was ist mit Lilly und dir?“

„Ähm“, er verschluckte sich, hustete kurz, dann räusperte er sich und zuckte die Schultern: „Alter. Lilly!“

„Ja“, sagte ich „ganz genau man. Lilly, sie ist unsere Freundin. Und du weißt genau, dass zwischen Freunden nichts läuft.“
 

Dass Joe das gehört hatte, wusste ich nicht; und dass er wach war, als ich mich so erschrocken hatte, neben ihn zu liegen, das wusste ich auch nicht; doch wenn ich gewusst hätte, wie es in ihm aussah, dann wäre ich vielleicht umsichtiger gewesen.

Und dass ich ihm damit ins Herz stach, konnte ich in meiner rosa Naivität wirklich nicht ahnen.
 

Der letzte Abend in Aachen verlief ungefähr genauso.

Ich verließ das Zimmer mit dem Vorwand, die Betrunkenen seien wir zu nervig, schlich mich rüber zu Herr Branner und blieb bei ihm bis sechs Uhr in der Früh.

Dann weckte er mich sanft und ich ging zurück in mein Zimmer, kroch in mein kaltes Bett und schlief wieder ein, bis die Jungs mich um neun weckten.

Sie ließen es, mir dämliche Fragen zu stellen über meine ständige Abwesenheit, vielleicht hatten sie das auch nicht mehr gewusst, denn wer drei Tage am Stück betrunken war, der konnte schon einiges gut vergessen.

Tagsüber versuchte ich, Herrn Branner so gut wie es ging normal gegenüber zu treten, doch war irgendwo in mir immer noch die Furcht, irgendwer könnte an einer Gestik oder Mimik genau erkennen, was zwischen uns war.

Deshalb mied ich ihn so gut, wie es ging.

Am dritten Abend nahm ich mein Handy mit zu ihm auf das Zimmer, wollte seine Nummer haben und ein Foto machen.

„Wozu brauchst du ein Foto?“ hatte er mich gefragt, als er gerade in seiner Jackentasche kramte und sein Mobiltelefon hervor nahm.

„Na, zum Haben!“ hatte ich geantwortet.

Er hatte mich verwirrt angesehen, die Tasten des Telefons entsperrt und nach seiner Nummer gesucht „wieso musst du ein Foto von mir haben?“

„Weil ich es nunmal will. Außerdem; tu nicht so, als hättest du nicht Fotos von mir gemacht heute Mittag auf dem Weihnachtsmarkt!“
 

Seine Mundwinkel zuckten und seine Wangen wurden leicht rot.

Er setzte sich neben mich auf das Bett, in dem wir die meiste Zeit küssten und kuschelten: „Ich habe Fotos von den Schülern gemacht, für die Abizeitung und so.“

„Ja, klar. Und fünfundzwanzig für deine private Sammlung?“ ich klang wohl etwas schärfer, als ich wollte, denn das Rot in seinem Gesicht wurde gleich dunkler.

„Hm“, er brummte, dann strich er sich sein Haar aus dem Gesicht, doch ich hielt ihn davon ab: „Nicht. Mir gefällt es so besser.“

„Ah ja?“ er lächelte und ich nickte.

Dann durfte ich mit meiner kleinen Handykamera ein Foto machen.

Und das war das erste Bild, das ich von meinem ersten Freund hatte. Ein kleiner Herr Branner in meinem Handy, der nur mir gehörte und welches mich wieder daran erinnerte, was für eine verblüffende Ähnlichkeit er mit Zac Efron hatte.

Seine Nummer bekam ich auch.

Er natürlich auch meine, und das nutzte er gleich am Sonntag, als wir im Regionalexpress nach Hause saßen, aus.
 

Die Lehrer waren scheinbar noch am entspanntesten von allen; den Schülern dröhnte der Schädel im Kater, immerhin waren sie drei Tage lang dauerbesoffen gewesen, doch für sie hatte sich nichts geändert.

Aber für mich.

Als total unerfahrene Jungfrau mit einer erbaulichen Schwärmerei bin ich dort hin gefahren; liebend in einer richtigen Beziehung steckend kehrte ich zurück.

Ich war unschuldig gewesen, nun hatte ich ein schmutziges Geheimnis.
 

Und dabei fühlte ich mich natürlich ungeheuer gut.
 

Es war aufregend, erfrischend, spannend und irgendwie erregend.

Niemand durfte irgendetwas ahnen oder richtig deuten oder sogar wirklich sehen.

Herr Branner lief (sonst) Gefahr, seinen Job zu verlieren.

Das war die milde Sache, die er mir am frühen Abend nahe legte.

Später erklärte er mir, dass ich so jung so sei, dass es für ihn wirklich ernsthafte Konsequenzen haben könnte, wenn auch nur irgendwer Wind von der Sache bekäme.

„Und das willst du doch nicht, oder?“ hatte er gefragt.

Ich hatte den Kopf geschüttelt und ihn dann wieder auf seine Brust gelegt, um seinem Herzschlag zu lauschen.

Ich wusste, dass ich bei ihm bleiben wollte und soviel Zeit, wie ging, mit ihm zusammen sein wollte, und wenn das hieß, immer achtsam zu sein und aufzupassen, was man tat, dann konnte ich damit umgehen. Dachte ich.
 

Ich saß also allein in meinem Sitz in der Bahn und hörte zu, wie Brian über einen Aschenbecher und ein Mädchen und ein Bild sang, als ich spürte, wie mein Mathelehrer sich näherte.

Mein Herz klopfte schneller gegen die Brust.

Ich umklammerte meinen iPod fester und verspannte etwas.

Im Augenwinkel dann sah ich seine dunkle Jeans, sie strich meine Schulter.

Seine Hand war zu einer Faust geballt, doch der Zeigefinger stand ab.

Er wollte mir etwas sagen.

Doch tat er es so unauffällig, dass niemand was merkte und ich nicht mal darauf kam, was er wollte.

Wenig später vibrierte dann mein Handy.

Ein Lächeln zuckte über mein Gesicht, ich wusste schon, dass er es war.

„Komm mit“ stand in der SMS.

Ich legte meinen MP3-Player in meinen Rucksack und stand dann auf.

Als ich mich umsah, sah ich nur die müden Gesichter der Mitschüler, einige fremde Passagiere, doch keinen Herr Pieper, keine Frau Berger und keine Rescher.

Joe saß auf seinem Sitz einige Reihen hinter mir und schien zu schlafen, zumindest waren seine Augen geschlossen und Billy Talent dröhnte aus seinen Kopfhörern bis zu mir vor.

„Wohin gehst du?“ fragte Lilly, ich antwortete knapp mit: „Klo.“ und sie akzeptierte, bevor sie weiter in ihrem Buch las, was auch sonst.

Ray und die anderen schliefen.

Eigentlich ein guter Moment für ein kurzes, geheimes Treffen.

Ich stieg die kleine Treppe hinab und ging an der Boardtoilette vorbei durch einen kleinen Gang zum Fahrradwagen.

Hier standen keine Fahrräder, auch keine Fahrgäste, was für ein Glück, nur einsam und allein mein Lehrer. Der ja jetzt nicht mehr mein Lehrer war, sondern mein Freund.

Hier stand einsam und allein mein Freund.

„Was gibt’s?“ fragte ich lächelnd, als ich zu ihm hinkam.

Er drehte sich zu mir um, lächelte auch und antwortete: „Nichts besonderes. Ich hatte bloß... Langeweile.“

Er beugte sich zu mich vor, zog mich an sich ran und drückte mir einen Kuss auf die Lippen.
 

Mein Herz pumpte nicht nur wild Adrenalin in meinen Körper, weil es so aufregend war, meinen neuen Freund zu küssen, sondern auch, weil es verdammt nervenaufreibend war, ihm ausgerechnet hier auf diese Art so nah zu sein.

Wo mein ganzer Jahrgang nur wenige Meter weiter saß, mein Oberstufenleiter irgendwo ganz nah nichts ahnte und meine Vertrauenslehrerin sicher dachte, wir seien zumindest dahin sichtlich ziemlich artige Gesellen.
 

„Hm“, machte ich in den Kuss, dann löste ich mich und sah mich verstört um.

Niemand war da, niemand hatte uns gesehen, niemand konnte uns verpetzten.

„Meine Fresse“, flüsterte ich wegen dem geringen Schock, der noch in meinen Gliedern saß.

„Doch nicht hier, verdammt, doch nicht so, Sie haben mir gestern ewig eingetrichtert, was auf dem Spiel steht!“

Er grinste verschmitzt: „Ich bin doch auch nur ein Mann.“

Ich brummte.

Dann drückte ich mich gegen ihn, stellte mich auf die Zehenspitzen, Herr Branner war immerhin sieben Zentimeter größer als ich, und drückte ihm einen festen Kuss auf die Lippen.

Dann wandte ich mich ab, nicht, ohne breit zu Grinsen und wollte wieder gehen.

Doch seine Stimme hielt mich fest: „Wirst du abgeholt?“

Ich drehte mich zu ihm um: „Was?“

„Vom Bahnhof nachher.“ Herr Branner sah mich an.

Ich zuckte die Schultern „Wieso...“

„Ich kann dich nach Hause fahren.“
 

Ein Auto hatten wir ja sowieso nicht, was anderes als mit der Straßenbahn Heim zu fahren wäre mir nicht übrig geblieben.

Und das reizte mich ja nun überhaupt nicht.

Also nahm ich an und ging dann leise lächelnd zurück zu Brian und den Meds.
 

Als wir am Mittag am Hauptbahnhof ankamen, schneeregnete es und die Luft schien kälter zu sein, als sie es in Aachen gewesen war.

Ich erschauderte kurz, als ich auf dem Bahnsteig stand, einen Rucksack auf dem Rücken, eine Tasche in der Hand haltend und mich von den anderen knapp verabschiedete.

„Willste mit uns fahren?“ fragte Ray, als er sich ein Snickers in den Mund schob und deutete auf den hinteren Ausgang des Bahnhofs.

Ich verspannte und suchte schnell, während ich langsam den Kopf schüttelte, nach einer plausiblen Ausrede dafür, nicht mit Ray nach Hause zu fahren.

„hm?“ hakte er nach und sah mich erwartend aus seinen dunklen Augen an und ich antwortete mit dem ersten, was mir in den Sinn kam: „Ich geh zu Papa!“

„Hm“, entgegnete Ray, sah etwas verwirrt aus, zuckte dann jedoch die Schultern, warf die Snickersverpackung in den Mülleimer und ging dann „Alles klar, bis Morgen dann.“

„Bis dann.“
 

Mein Vater wohnte nicht weit weg vom Bahnhof, zu Fuß kam man da in sieben Minuten hin, doch hatte ich sicher nicht vor gehabt, Josh zu begegnen.
 

Ich wartete in der Halle, bis sich das Getummel gelegt hatte und wirklich jeder Schüler mit Sicherheit nicht mehr in der Nähe war.

Dann machte ich mich auf dem Weg zum hinteren Ausgang, wo ich Herrn Branner schon stehen sah.

Mit dem Rücken zu mir und er machte die ganze Zeit keine Anstalt, sich um zudrehen.

So grinste ich böse, nahm die letzten Meter Anlauf, ließ die Tasche unterwegs fallen und sprang mit soviel Kraft, wie ich aufbringen konnte – das war bei weitem nicht alles, wozu ich eigentlich fähig war – und sprang ihm auf den Rücken, schlang meine Arme um seine Schultern und lachte ihm laut ins rechte Ohr.
 

Herr Branner erschreckte sich so sehr, dass er einige Schritte unkoordiniert nach hinten setzte, dann nach vorn baumelte und sich anstrengen musste, das Gleichgewicht wieder zu bekommen.

Dann ließ ich los, rutschte runter zum Boden und grinste ihn sehr breit an.

Er grinste zurück.

Wortlos nahmen wir unsere Sachen und ich lief neben ihm her zum Parkplatz.

Über sein Auto war ich plötzlich gespannt, obwohl ich mich für so etwas wirklich nicht interessierte.
 

Ich ahnte es schon, als wir uns dem Ding näherten, doch wirklich wahr haben wollte ich es wohl nicht.

Dieses Auto war uns auf dem Parkplatz vor dem Schulgebäude auf jeden Fall schon öfter aufgefallen, teilweise hatten wir Spaße über die Farbe gemacht, die Autointeressierten waren aber auch deutlich neidisch.

Das einzige, was ich darüber sagen konnte, war, dass es in einem sehr auffälligem, leuchtend quietsche blau war und für mich aussah, wie ein Porsche.

Selbstverständlich wurde ich für diese Aussage imaginär gelyncht.

Wobei dieses Gefährt ein ziemlich direkter Konkurrent für Porsche war und sich die Geschmäcker auch hier entscheidend teilten, doch waren meine Autointeressierten Kameraden sich einig darüber, dass dieser Wagen in dieser heraus stechenden Farbe besser sei.

„Meine Fresse“, sagte ich beeindruckt „ich dachte, wir sollten uns unauffällig benehmen!“

Herr Branner grinste, als er die Heckklappe öffnete und seine Tasche achtlos in den kleinen Kofferraum warf „Kein Mensch achtet auf den Fahrer.“

„hm“, entgegnete ich und suchte den Aufmachknopf an der Tür.

„Und was fürn Auto willst du fahren?“ fragte er mich, als er zu mir kam und mir die Beifahrertür öffnete, die nicht, wie wohl bei jedem normalen Auto einfach zur Seite hin auf ging; nein, der Mathelehrer brauchte eine extravagante Art für seine Autotüren, die sich nämlich nach vorn hin anhoben.

Und da war ich mir gar nicht mal mehr so sicher, ob nicht einen kleinen Komplex hatte, vielleicht irgendetwas kompensieren musste mit diesem Luxusgefährt.

„Meine Fresse“, kommentierte ich sein Auto „ich habe mir wirklich noch nie Gedanken darüber gemacht.“

„Hm“, er lächelte, als ich einstieg, die Innenverkleidung bestaunte und er die Tür von außen schloss.
 

„Gut“, sagte er dann, als er einstieg, seine Tür zuging und er den Schlüssel in das Zündschloss steckte.

Der Motor startete, die Karosserie vibrierte und ich war nicht minder beeindruckt.

Dann fuhr das Auto los, reihte sich in dem wenigen Sonntagsverkehr ein und fuhr genau in die andere Richtung von da, wo ich wohnte.

„Herr Branner?“

„hm?“

„Sie sind doch seit zwei Jahren erst Lehrer?“

„hab eigentlich erst im Sommer das zweite Examen gemacht“, erklärte er.

„Wie können Sie sich so ein Auto leisten?“

Er schwieg.

An einer roten Ampel kam das Ding zum Stillstand, er legte den ersten Gang ein, sah dabei doch ziemlich nachdenklich aus, dann sah er mich an, zuckte die Schultern und sagte: „Ja, wie eigentlich?“

Der Mathelehrer und der Matheschüler

Als Herr Branner in einer Parklücke eingeparkt und den Motor ausgestellt hatte, atmete er laut auf und sah mich dann an.

Ich schaute aus dem Fenster. Wir befanden uns in einer gewöhnlichen, kleinen Einkaufsstraße; Mehrfamilienhäuser standen Wand an Wand, in den untersten Etagen waren kleine Blumenläden, eine Bäckerei, ein Café und eine Eisdiele, eine Sparkassenfiliale und eine Boutique.

„Wo wohnstn du eigentlich?“ fragte er dann. Ich spürte seinen Blick auf mir, er sah mich gespannt und schmachtend an, musterte mein Gesicht, meinen Hals, die Schulter unter dem Pullover und das Schlüsselbein.

Als ich fertig geguckt hatte, drehte ich mich zu ihm um, erwiderte den begehrenden Blick und antwortete: „Bei meiner Mutter.“

Er nickte und grinste, und ich grinste zurück.

Dann strich er mir durch das Haar, die Hand glitt über meinen Hinterkopf in den Nacken. Er sah mich wieder so an.

Ein Blick voller Wärmer und Vertrauen, der mir sagte, dass er mich wollte, mich liebte, so, wie ich hier vor ihm saß und dass er froh war, mich endlich haben zu können.

Dann zog er mich zu sich hin, seine Lippen trafen auf meine, berührten sich hart, bewegten sich aufeinander.

Seine andere Hand strich über meine Wange und ein aufregendes Kribbeln folgte der Berührung.

Er glitt über mein Kinn zur Brust, die Seite runter und legte die Hand schließlich auf meine Hüfte, zog meinen Körper noch näher zu sich und ich spürte seine Wärme, wennauch wir durch die Mittelkonsole getrennt wurden.

Nah waren wir uns trotzdem.
 

Als er von mir ab ließ, sah er mir wieder so in die Augen.

Sein Blick lächelte.

Dann flüsterte er: „Wann erwartet dich deine Mutter?“

Ich lächelte auch und zuckte die Schultern: „Weiß nicht.“
 

Dann lehnte ich meine Stirn an seine, ich schloss die Augen und genoss es, bei ihm zu sein.

Seinen Herzschlag unter meiner Hand zu spüren und seinen leisen Atem in meinem Ohr zu hören.

Wenn diese Stille zwischen uns nicht unbehaglich war, wenn sie als angenehm und unterstreichend empfunden wurde, dann durfte ich doch wohl von richtiger Liebe reden, oder?
 

Herr Branner hielt sich sehr zurück, wenn es darum ging, etwas von sich zu erzählen.

Er schwieg gern, genoss die Stille der Zweisamkeit, lag gern einfach nur da, neben mir, streichelte mein Gesicht, spielte gedankenverloren mit meinem Haar, hielt liebevoll meine Hand und erbaute sich am zusammen sein.

Er war mir gern nah, legte seine Arme um mich, oder seinen Kopf in meine Halsbeuge, ließ mich gern seinen Herzschlag hören und freute sich einfach nur darüber, dass er mit mir zusammen sein konnte.
 

Eigentlich hielt er sich insgesamt mit dem Erzählen sehr zurück.
 

Seine Wohnung war oberhalb des kleinen Blumenladens und passte eigentlich nicht wirklich zu seinem blauen Lotus.

Sie war nicht besonders groß und ziemlich spärlich eingerichtet.

Ein Regal im kleinen Flur, ein Tisch und zwei Stühle neben der Küchenzeile. Ein Dreisitzter und ein freischwingender Sessel von Ikea, eine ziemlich große Fernsehbank für seinen riesigen Plasma Fernseher und die Playstation drei fanden sich in dem kleinen Wohnzimmer wieder.

Weniger  auffällig im Eck unter einem der zwei Fenster stand ziemlich einsam ein kleiner Schreibtisch, dadrauf der neuste iMac neben ordentlich gestapelten Bücern und CDs.

„Hm“, machte ich, als ich die Wohnung betrat und mich umsah.

Ich fragte mich, an wen ich da geraten war.
 

Ich hatte mir sicherlich hundert Mal ausgemalt, Herrn Branner in seiner Wohnung zu besuchen.

In meiner Fantasie war sie immer ziemlich hedonistisch gewesen, Bücher und CDs, die auf dem Boden lagen, Benutzten Pfannen und Töpfe in der Spüle, eine Schlafcouch, die nie zum sitzen, sondern nur zum Schlafen benutzt wurde und mit Sicherheit kein Fernseher mit einer Bildschirmgröße im Ausmaß meines Bettes.
 

„Sie leben nicht schlecht“, stellte ich fest.

Er legte seine Schlüssel auf das Regal im Flur, zog sich die schwarze Jacke aus und warf sie einfach über die Garderobe und kam dann zu mir in die Tür zum Wohnzimmer.

Er legte die Hände auf meine Schultern, massierte eine wenig durch den Stoff des Pullovers und der Jacke und sagte: „Beeindrucken muss ich dich doch nicht damit?“
 

Auf die Frage hin, wie er sich einen iMac und einen zweitausend Euro Fernseher leisten konnte, bekam ich keine Antwort und auch der blaue Lotus Esprit blieb mir ein Rätsel.
 

Wir verbrachten den Nachmittag auf seiner Couch.

Das Gerät von Fernseher lief, meistens aber nur nebenbei, wir küssten uns und kuschelten und genossen einfach nur die Zweisamkeit; und aßen Pizza.

Am frühen Abend, als es anfing, dunkel zu werden, fuhr er mich dann nach Hause.

Mama war nicht da gewesen, hatte mir einen Zettel auf den Küchentisch hinterlassen, der mir sagte, dass sie bei Lou sei und vermutlich erst spät nach Hause käme.
 

Lou, eigentlich Louise-Marie, war ihre beste Freundin seit Kindheitstagen. Sie gingen zur gleichen Schule, machten gleichzeitig ihren Abschluss, Mama studiere vier Semester Sozialpädagogik, Lou machte eine Ausbildung zur Krankenschwester.

Dann lernte Mama den verrückten, hippen jungen Mann von der Schauspielschule kennen und sie verliebten sich.

Sie brach ihr Studium ab und begann ebenfalls eine Ausbildung zur Krankenschwester. Hier traf sie dann Lou wieder und die alte Freundschaft blühte ganz neu auf.
 

Herr Branner und ich verabschiedeten uns voneinander mit einem innigen Kuss.

Total müde und total glücklich ging ich an diesem Abend in mein Bett und ich nahm mir vor, am nächsten Tag alle Poster von Zac aus meinem Zimmer zu entfernen.
 

In der Schule taten wir weiterhin so, als sei nichts.

Herr Branner war viel souveräner, er konnte mich wirklich so behandeln wie vor der Klassenfahrt. Sogar ich kaufte ihm das Benehmen ab und manchmal war ich mir nicht mehr so sicher, ob wirklich etwas zwischen uns war.

Doch wenn er im Unterricht zu mir an den Tisch kam und sich davor hin hockte, um mir persönlich nochmal zu erklären, was Orthogonalität bedeutete, dann spürte ich seine Zuneigung.

Manchmal leuchteten seine Augen auch, sehr dezent, aber für mich war es zu sehen.

Doch irgendetwas bemerken, das konnte niemand.

Wir begrüßten uns so, wie sich Schüler und Lehrer begrüßten, er berührte mich nicht auf eine Art, auf die ein Lehrer seine Schüler nicht berühren sollte und wenn er mich ansah, dann war seine Zuneigung nur für mich ersichtlich.

Eigentlich verhielten wir uns unauffälliger, als wir es vor Aachen getan hatten, und auch meine verbalen Schwärmerein im Freundeskreis gingen sehr zurück.
 

Am letzten Dienstag vor den Weihnachtsferien wünschte er uns, bevor die Schulglocke läutete, schöne Feiertage, schöne Ferien und einen guten 'Rutsch ins Neue Jahr'.

Wir packten unsere Blöcke in die Rucksäcke und wollten in die Pausenhalle gehen.

Ich ließ mir sehr viel Zeit und Lilly, Ray und Joe wartete bei der Tür auf mich.

„Hm“, sagte ich, sah meine Freunde, dann Herrn Branner an, der sich noch Notizen in sein Kursbuch machte.

„Ich wollt' eigentlich noch mal kurz mit Herrn Branner reden. Wegen Noten und so.“

Erklärte ich ihnen und ließ den Collegeblock in meine Tasche gleiten.

„Nagut“, sagte Lilly „wir sind unten am Stammtisch, ja?“ sie lächelte mich merkwürdig an, Ray seufzte genervt und Joes Blick war so durchdringlich, dass mir augenblicklich kalt wurde und ich eine unangenehme Gänsehaut bekam.

Schnell schluckte ich das Unbehagen runter, zog den Reisverschluss von der Tasche zu und sah dann zu Herrn Branner auf.

Der schrieb sich noch immer etwas auf, doch lächelte er.

Und das Lächeln war so warm, dass ich mich sofort besser fühlte und mein Herz einige Sprünge machte.

Ich stand von meinem Stuhl auf, legte den Rucksack auf den Tisch, ging zur Tür, sah in den Flur, ob dort jemand war, zum Glück keiner, und schloss die Tür dann zu.

Dann drehte ich mich wieder zu ihm um.
 

Er sah mich immer noch nicht an, er schrieb sich immer noch etwas auf.

Ich ging zu ihm.

Ich griff nach seinem sich permanent über das Papier bewegendes Handgelenk.

Das Schreiben hörte auf.

Herr Branner sah meine Hand gespannt an.

Ich hob seinen Arm, legte ihn um mich, drückte seinen Oberkörper nach hinten und ließ mich dann auf seinem Schoß nieder, legte die Arme um seinen Hals und lächelte ihn sinnlich an.
 

Dann lehnte er sich vor und wir küssten uns.
 

Und in meinem Hinterkopf war wieder die Angst vor der Gefahr, dass jemand plötzlich ins Zimmer geplatzt käme und sah, welche Auffassung wir hier von Unterricht hatten.

„Hm“, machte er, dann lösten wir uns und er lächelte mich frech an „und du glaubst wirklich, dass deine Noten dadurch besser werden?“

„Zumindest versuchen sollte ich es.“ antwortete ich und küsste ihn erneut.
 

Es fühlte sich so verboten gut an.
 

„Herr Branner“, sagte ich, legte meinen Kopf auf seine Schulter und spürte sein Herz gegen meins. Seine Arme waren um mich geschlungen und ich konnte fühlen, wie sehr er diese Berührungen genoss.

„Was ist mit Weihnachten?“

„Was sollte damit sein?“

„Wollen wir da zusammen sein?“
 

Sein Schweigen war etwas unangenehm und ich wollte mich aufrichten um ihn anzusehen, doch drückte er mich an sich, dann küsste er mein Haar und nickte: „Natürlich wollen wir das.“

Ich spürte seinen Atem an meinem Hals.
 

„Na ja“, sagte ich „Heilig Abend ist doof, da sind wir immer zu Hause und Papa und Josh kommen und so. Aber an den Weihnachtstagen haben wir nichts vor.“

Er nickte wieder: „Alles klar.“

„Ziemlich cool, was?“ Jetzt lehnte ich mich endlich zurück und strahlte meinen Lehrer an. Der nickte.

„Dann seh ich dich am Freitag wieder?“

„Ja.“

„Alles klar.“
 

Ich stieg von ihm runter, drückte ihm einen letzten Kuss auf die Lippen und als ich mich umdrehte um meinen Rucksack zu holen, wurde die Tür aufgerissen und eine Schülerin aus der zehnten Klasse stand im Türrahmen.

Mein Herz raste und pumpte ungewohnt viel Adrenalin durch meinen Körper, sodass ich deutlich sichtbar zitterte, als ich den Riemen meines Rucksacks griff.

„Man Herr Branner, wo bleiben sie denn“, sagte sie genervt „sie sind seit zwanzig Minuten überfällig!“

Ich schluckte nervös, drehte mich dann zu ihm um, lächelte unsicher und verabschiedete mich.
 

Auf dem Weg in die Pausenhalle dann kam mir zum ersten Mal der Gedanke, wie absurd und riskant diese Beziehung war.

Wäre sie nur eine Minute eher rein gekommen hätte sie uns in dieser absolut unmissverständlichen Position vorgefunden.

Dann wäre es aus gewesen.

Zwischen ihm und mir, mit seiner Karriere in diesem Beruf und mit seiner Freiheit.

Und ich hätte ewig mit diesem Gewissen leben müssen, dass ein unschuldiger Mann meinetwegen sein ganzes Leben versaut bekommen hätte.
 

Den Rest das Tages zitterte ich vor Aufregung und der Angst, die immer noch in mir saß.

Große Brüder und kleine Brüder

Ich vermisste Herrn Branner.

Der Mittwoch zog sich und Donnerstag war sicherlich kein angenehmer, erster Ferientag für mich.

Zwar schlief ich endlich mal wieder richtig entspannt aus, doch trotzdem fühlte es sich nicht so gut an, so ganz allein im Bett.

Nicht, dass ich jemals bei Herrn Branner übernachtet hätte, ich hatte sein Schlafzimmer noch nie gesehen.

Doch wenn ich bei ihm war, fuhr er mich ganz von sich aus, wie eine Art Regel, Abends nach Hause.

Und zu mir kam er ja sowieso nie.

Wäre mir schon schlimm genug, wenn Mama mich mit irgendeinem Mann erwischen würde, aber einen elf Jahre älteren, der zusätzlich noch mein Lehrer war, das wollte ich ihr garantiert nicht zumuten.
 

Meine Abwesenheit in den letzten Tagen schrieb sie einer heimlichen Freundin zu, was so unverkehrt auch nicht war.

Nur meine Freunde waren da etwas skeptischer.

Neulich fragten sie mich, ob ich mit ihnen in den Pub wollte, doch natürlich hatte ich an diesem Abend vor, zu Herrn Branner zu fahren.

Da warf mir Ray das erste mal vor, dass ich in letzter Zeit kaum Zeit mehr hätte.

Nach der Schule sofort nach Hause, ich würde nicht mehr auf Telefonanrufe oder ähnliches reagieren und online sei ich auch so gut wie gar nicht mehr.
 

Dass das seit Aachen so war, bemerkten sie zum Glück nicht, oder sie fanden keinen Zusammenhang.
 

Und dass Joe sich von mir immer mehr distanzierte, dass bemerkte ich natürlich auch nicht, immer hin war ich viel zu beschäftigt mit meiner Liebe.
 

Es war nicht so, dass Herr Branner mich je mehr berührt hätte, als ich wollte. Und ich war so nervös, was das anging, dass ich garantiert noch nicht so berührt werden wollte.

Ich hatte mir im Grunde niemals Gedanken über Sex gemacht, das war für mich immer sehr fern, immerhin war meine einzige Liebe immer nur Zac Efron gewesen, und es gab sicherlich kaum etwas unrealistischeres als Sex mit dem.

Und da ich so unerfahren und nervös war, machte ich mir auch keine Gedanken über Sex, als ich mit Herrn Branner zusammen kam.

Er war siebenundzwanzig Jahre alt, ich erwartete garantiert nicht, dass er eine keuschere Jungfrau war, und vielleicht war es genau deshalb total unwirklich, mit ihm zu schlafen.

Nicht, dass ich niemals Sex wollte, aber das alles war mir in diesem Moment so fern, wie Zac Efron.
 

Als ich endlich im ICQ online kam, wurde ich gleich von Nachrichten von Lilly bombadiert, die sie mir scheinbar die halbe Nacht zukommen lassen hatte.

„Verdammt“, hieß es in der Neusten „ich hab dir hundert SMS geschrieben und dich achthundert Mal angerufen, Tim!!!!“

Etwas verwirrt und noch müde fragte ich, was los sei.

„du musst mit Ray reden! Sofort.“ antwortete mir mein Bildschirm und die Verwirrung wuchs immer mehr.

„Wieso?“ tippte ich in das kleine Gesprächfenster.

Sie antwortete nur mit einem ziemlich nachdrücklichen 'Sofort' und einigen Ausrufezeichen.
 

Etwas lahm kramte ich in meinem Rucksack nach meinem Handy.

Es war auf Lautlos eingestellt, was erklärte, wieso ich ihre dreiundzwanzig Anrufe nicht bemerkt hatte.

Genervt drückte ich die weg, dann suchte ich nach Ray im Telefonbuch und seufzte genervt auf, als ich es bei ihm Klingeln ließ.

Dann ertönte das Klicken, dann hörte ich schon ein nervöses „Tim?“

„Äh“, antwortete ich matt „was'n los, alter?“

„Es geht um Steve un...“, er hielt inne.

„Was ist denn los?“ fragte ich und seine Nervosität sprang auf mir über.

Ray war doch immer jemand, der nicht schnell auf der Ruhe zu bringen war und eigentlich hatte ich gedacht, dass er erst so ausflippen würde, wenn er das von Herrn Branner und mir erfuhr.

„Steve ist...“, sagte er, hielt wieder inne und ich hörte sein nervöses Atmen.

„Was ist mit ihm? Geht’s ihm gut?“ fragte ich prononciert, so langsam wurde mir schlecht von dem ganzen Theater und irgendwo in meinem Kopf, ganz klein, ahnte etwas, dass mit Josh was nicht stimmte und allein, dass ich mir Gedanken darüber machte, ärgerte mich und machte mir gleichzeitig Angst.

„Steve ist schwul, okay?“

Ray klang so entrüstet, wie ich war.

Nämlich darüber, dass ich mir am frühen Morgen so eine Show reinziehen durfte, für so eine Nebensächlichkeit.
 

Wenn er vom Auto angefahren worden wäre, oder aus irgendeinem mysteriösen Grund nach Spanien geflohen wäre, um seine Uroma im Land Valencia an der Mittelmeerküste zu besuchen, oder wenn er und Josh die Nacht in einer Ausnüchterungszelle auf dem Polizeirevier verbracht hätten, dass wären zwar keine unerwarteten Gründe, aber durchaus welche, bei denen man rumheulen durfte.

„Aha“, entgegnete ich also sehr genervt.

„Aha?“ antwortete er total verdrießen „Aha? Sag mal, is dir klar, was das bedeutet? Meine Fresse. Ein schwuler, spanischer Katholik? Der wird von meiner Familie verstoßen werden. Er wird gehasst, verbannt, gesteinigt. Du meine Güte, das ist sein Todesurteil.“

Ray klang sehr aufgekratzt.

Ich unterdrückte mein Gähnen „Ray, bist du dir sicher?“

Er hielt in seinen Tötungsdelikten inne.

„Was meinst du damit?“ fragte er.

„Na, hat er es dir gesagt, oder was?“

„Nein, nicht direkt.“ entgegnete Ray etwas ruhiger. Ich wollte ihm gerade sagen, dass er sich keine Sorgen machen sollte, als er mich beim Nachdenken unterbrach: „Er hat es mir nicht gesagt, aber ich habs gesehen. Okay? Ich hab ihn gesehen mit... einem anderen. Also einen Typen. Gesternabend. Sie waren zusammen, Tim, sie haben sich geküsst.“ seine Stimme wurde leiser, bis er flüsterte „so richtig.“

„Kennst du den Anderen?“ fragte ich.
 

Und Ray schwieg.

Ich hörte sein nervöses Einatmen.
 

„Na, ich war das nicht“, sagte ich dann, und er nickte: „Nein, herzlichen Glückwunsch. Es war Josh!“
 

Dann war es ganz still um uns herum.

Stundenlang.

Ich hörte nichts weiter, als das Rauschen vom Handy in meinem Ohr, und ganz leise dadrunter war Rays angespanntes Atmen.
 

„Dein Bruder fickt mein Bruder?“ flüsterte ich.

Ich drehte mich zur Tür. Ich hatte plötzlich Angst, dass meine Mutter hörte, was ich sagte.

„Sieht ganz so aus.“ antwortete Ray, er flüsterte auch.

„Das ist absurd.“

„Du sagst es.“

„Josh und schwul?“

„Steve, man. Steve!“

„Heißt das... mein Bruder ist wie ich?“

„Was?“

„Mein Vater hat zwei schwule Söhne...“
 

Dann hörte ich Rays leises Kichern.

Und dann musste ich auch Lachen.

Dabei war gar nichts zum Lachen.
 

„Soll ich vorbei kommen?“ fragte ich.

„Nein, ist schon gut“, entgegnete Ray „du hast Recht. Ich sollte mich nicht aufregen, oder?“

„Solltest du nicht.“

„Ich sollte mit Steve reden.“

„Wahrscheinlich.“

„Okay.“ sagte er und klang etwas erleichtert.

„Bis dann, Ray. Schöne Weihnachten.“

„Dir auch, wir sehen uns.“
 

Dann legten wir auf und die Stille fing mich wieder ein.
 

Mein großer Halbbruder sollte also schwul sein.

Ich wusste nicht, ob ich das lustig, seltsam oder traurig finden sollte.

Für meine Eltern.
 

Sofort rief ich bei Herrn Branner an und erzählte ihm alles.

Er lachte und sagte mir, dass ich mir keine Sorgen machen sollte.

Wir wünschten uns ziemlich innig schöne Weihnachten und sagten „bis Morgen“ zueinander.

Und ich vergaß die Sache auch ziemlich schnell, bis zum Nachmittag, als Papa und Josh Traditionsgemäß in unsere Wohnung kamen, damit wir Heilig Abend als eine Scheinfamilie glücklich zusammen verbringen konnten.
 

Als Josh die Wohnung betrat, und dabei so tat, als sei nichts, gar nichts ungewöhnliches, als er lächelte, meine Mutter umarmte und sich vorbeugte, um ihr auf die Wange zu küssen, und mich wie immer verschmitzt angrinste, da erinnerte ich mich wieder daran und in mir breitete sich ein komisches, mulmiges Gefühl aus.

Ich hatte sogar total vergessen, dass ich zum Töten eifersüchtig wurde, wenn meine Mutter Josh so berührte.
 

Das war meine glückliche Scheinfamilie, die Mutter und der Vater und zwei schwule Söhne.

Traditionsgemäß wurde gegessen, geredet, gelacht, nur ich konnte mich an dieses Weihnachten wirklich nicht erfreuen.

Ich beobachtete Josh auf irgendetwas Ungewöhnliches. Ob er Angst hatte, oder nervös war, aber nichts dergleichen war der Fall.

Josh war einfach wie immer.

Glücklich, ausgelassen, vital.

Machte Scherze, trank Wein (Moment, Wein?) und zwinkerte mir hin und wieder zu.
 

„Alles klar, Tim?“ fragte mein Vater im Verlauf des Abends und meine Mutter nickte lächelnd, strich mir über den Kopf und sagte: „Tim hat eine Freundin, nicht wahr?“

„Äh“, sagte ich und wurde rot.

„Eine Freundin“, Papa klang erfreut und überrascht gleichzeitig und Josh zog beide Augenbrauen hoch: „Tatsächlich? Kenn ich sie?“

Er wackelte böse mit den Augenbrauen.

„Ich will das jetzt nicht besprechen.“ antwortete ich scharf und sah Josh durchdringlich an.

Er vermutete wohl, ich wollte ihm sagen, dass er sich zügeln sollte, irgendein falsches Wort zu sagen; doch eigentlich sah ich ihn so an, weil ich genau wusste, wo er gesternabend war und was er gemacht hatte.
 

Mein Vater schenkte mir Geld für den Führerschein, meine Mutter schenkte mir viel Milka Schokolade und Geld und von Josh bekam ich einen iTunes-Gutschein.

Meine Eltern waren leicht angeduselt und redeten stundenlang im Wohnzimmer, als ich mich verabschiedete und in mein Zimmer ging, wo ich mich über eine Packung Lebkuchenherzen her machen wollte.

Ein Weihnachten, wie jedes andere.

Nur, dass Josh mich heute in meinem Zimmer besuchen kam.

Er klopfte vorsichtig an, dann trat er ein.
 

„Wasn los?“ fragte ich und sah ihn mit gemischten Gefühlen im Bauch an.

Er sagte nichts.

Er sah sich in meinem Zimmer um, begutachtete die letzten zwei Bilder von Zac Efron, die ich noch über meinem Bett hängen hatte, und das Foto von Herrn Branner, das auf dem Boden neben dem Bett lag.

„Woher hastn die Bilder von Herrn Branner?“ fragte er verwirrt, als er in Zacs blaue Augen starrte.

„Das ist nicht Herr Branner“, entgegnete ich genervt.

„Hm?“

„Das ist Zac Efron, das ist ein Schauspieler, der genauso aussieht wie Herr Branner.“

„aha?“ machte Josh und musterte Zac genau.

„Du hast Recht“, sagte er dann, drehte sich zu mich um und ließ sich auf meinem Bett nieder.

„Du hast also einen Freund?“ fragte er dann und lächelte.

Josh war ungewöhnlich nett zu mir und wirkte nicht so verrückt und klammernd, wie sonst immer.

Vielleicht hatte das was mit dem Schwulsein zu tun.

Ich zuckte die Schultern: „Ich hab doch gesagt, ich will nicht dadrüber reden.“

„Ist es Ray?“

„Das würde dir gefallen, ne?“ sagte ich mit einem leicht amüsiertem Unterton.

„Ich fänd's zumindest witzig.“ antwortete er schmunzelnd. Dann sah er mich so komisch an. So durchdringlich und allwissend.
 

„Du weißt es.“ sagte meine Stimme dann und ich war selbst verwundert über ihre Selbstständigkeit.

Er nickte lächelnd „Steve hat mich angerufen und vorgewarnt. Ray hat uns wohl erwischt gestern, war irgendwie klar, dass er es dir gesagt hat.“

„Josh“, sagte ich dann, etwas mitleidig, obwohl ich das gar nicht wollte „weißt du, was das heißt?“

Er lachte vergnügt auf „wir können ein Doppel-Coming-Out starten!“

„Papa weiß also nichts?“
 

Josh schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander.

Es fiel ihm offensichtlich etwas schwer, das alles, die gesamte Situation, und irgendwie war das ja auch alles komisch und sicherlich keine Sache, die man mal eben wegsteckte.

Ich war schon Jahrelang so und hatte mich kein mal getraut, meinen Eltern es zu sagen. Sicherlich hatte ich es mir hin und wieder mal vorgenommen, doch ich hatte einfach viel zu viel Schiss vor deren Reaktion.

Es meinen Freunden zu sagen, das war soviel einfacher.

Als Josh es mitbekommen hatte, war es mir sogar ziemlich gleichgültig gewesen und das an der Schule jeder darüber redet bedeutet doch nichts.

Die kenne ich ja nicht mal, die sehe ich in meinem Leben nie wieder, doch meine Eltern?

Immer hin will man es den Eltern immer recht machen, man will sie niemals enttäuschen, man verehrt sie, und wenn sie über einen urteilen, dann trifft es einen härter als jedes andere Urteil der Welt.

„Und...“, sagte ich „bin ich der Erste, der... dem... also?“

Josh lächelte und nickte dann „ja. Mein kleiner Bruder ist der Erste, der es weiß.“

„Das ist... ich weiß nicht, irgendwie...“

„Ich weiß, dass du eine irrationale Aversion gegen mich hast, Timmi, aber das heißt nicht, dass ich das gleiche für dich empfinde.“
 

Ich wurde irgendwie rot, das klang gerade so, wie eine Liebeserklärung, wenn das nicht total komisch gewesen wäre, immerhin war Josh mein Bruder und er war mit Steve zusammen.
 

Und dann war in mir irgendwie plötzlich nicht mehr dieses Gefühl der Abneigung gegen ihn.

Ich fühlte mich sogar etwas erleichtert, als ich ihn nun ansah und ich glaubte, uns verband doch mehr, als bloß derselbe Erzeuger. Mein großer Bruder war schwul.

Genau, wie ich.

Komische Sache.
 

Mit gemischten Gefühlen schlief ich am Abend ein, wachte am Morgen auf und sagte meiner Mutter, dass ich 'mal an die Frische Luft' wollte.

Sie zwinkerte mir zu und sagte, dass ich mir ruhig Zeit lassen könne.

Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, meine Mutter war kleiner als ich, und lief dann, dick und warm eingepackt in meiner Jacke, zur Sraßenbahnhaltestelle.

Josh verwirrte mich.

Aber ich hatte mir vorgenommen, diesen Tag nicht darüber nach zu denken. Ich wollte einen gemütlichen Mittag mit meinem Freund verbringen. Ich wollte mit ihm was essen, einen blöden Film im Fernsehen sehen und gemütlich auf seiner Couch liegen und kuscheln und das Zusammensein genießen, ohne irgendwelche Faktoren, die das ganze auf irgendeine Weise stören würden.
 

Ich lief an dem kleinen Blumdenladen vorbei zum Hauseingang. Gerade, als ich den Knopf neben seinem Namenschild drücken wollte, wurde die Haustür aufgezogen.

Ein älterer Mann sah mich kurz erschrocken an, dann lächelte er, begrüßte mich und ging an mir vorbei.

Ich lächelte ihn zurück an und ging, ohne zu Klingeln, ins Haus. Auch gut.
 

Er wohnte im dritten Stock und das blöde Haus hatte natürlich keinen Aufzug und als ich oben ankam, war ich ziemlich aus der Puste.

Aber ich freute mich so auf Herrn Branner.

Seine Wohnungstür war weiß und wirkte irgendwie steril.

Es gab keine Fußmatte, keinen komischen, hässlichen Kranz, keine Schuhe vor der Tür, einfach nichts, was darauf hinwies, dass hier jemand wohnte.

Nicht einmal ein Namensschild hing irgendwo, aber ich wusste, dass er hier lebte.

Gleich hinter dieser Tür war er.

Mein großer Freund mit den unvergleichbaren, blauen Augen und dem perfekt sitzendem, braunglänzendem Haar, der verdammt charmant und sexy grinsen konnte.

Ich strich mit die blonden Strähnen aus dem Gesicht und drückt dann auf den Klingelknopf.

Ich musste nicht lang warten, bis er die Tür öffnete.

Er wirkte anders.

Er war nicht so ruhig, wie sonst.

Er erinnerte mich ein wenig an Aachen, als er den Mezcal getrunken hatte.

„Alles klar?“ fragte ich ihn, als ich mich ihn vorbei in die Wohnung schob und die Schuhe auszog.

Er seufzte: „Tim, das ist gerade irgendwie ungünstig.“

Verwirrt hob ich eine Augenbraue und ließ die Jacke neben der Garderobe auf den Boden fallen.

„Ich, ähm“, nuschelte er, kam auf mich zu und packte meine Schultern.

Dann hörte ich ein komisch entrüstetes Räuspern hinter uns.

Verstört drehte ich mich um und erblickte Zac Efron im Wohnzimmertürrahmen stehen „Noch ein Zac?“

Herr M.Ed. Marc Branner

„Marc!“ sagte Zac entsetzt.

„Marc?“ sagte ich verwirrt.

„Das ist doch nicht dein Ernst?“ sagte Zac.

„Was ist nicht dein Ernst?“ fragte ich.

„Ich fass es nicht!“ Zac schlug die Hände über den Kopf zusammen, seufzte genervt auf und drehte sich wieder um, um zurück ins Wohnzimmer zu gehen.
 

Herr Branner schwieg.

Er sah mich an, aber ich verstand seinen Blick nicht, dann schob er mich zur Seite und folgte Zac.

„Du hast mir versprochen, dass du damit aufhörst.“ hörte ich ihn sagen.
 

Ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich wusste ja nicht mal, was hier los war und ich wusste nicht, wer dieser mysteriöse Mensch war, der Zac Efron ungefähr achtzehn Mal mehr ähnlicher sah, als Herr Branner, und das, wo Herr Branner ja schon ziemlich gut als Zac durch ging.

Der hier hatte aber, anders als Herr Branner, dieselbe Körperstatur und Größe.

Vorsichtig schaute ich ins Wohnzimmer.

Sie standen sich gegenüber, und Zac sah wirklich böse aus. Enttäuscht und wütend sagte er: „Marc, du hast es mir versprochen!“

Und Herr Branner fasste seine wild fuchtelnden Hände, sah ihn eindringlich an und sagte ziemlich verkrampft: „Bitte nicht vor ihm, tu mir den Gefallen!“
 

Das verstand ich nicht, aber mich kümmerte im Moment sowieso viel mehr ihre ekltatante Ähnlickeit.

Sie sahen so verboten gleich aus, das ergab irgendwie keinen Sinn.
 

Außer natürlich, sie waren Geschwister.
 

„Brüder!“ sagte dann meine Stimme, ehe ich bemerkte, dass sie sich wieder verselbstständigt hatte.
 

Die beiden unterbrachen ihren Streit und sahen mich entsetzt an.

„Ihr seid Brüder“, erklärte ich. Ihre Blicke trafen mich so hart, dass ich alles Selbstwertgefühl mit einem Schlag verlor.

Beschämt sah ich zur Seite, sank schnell den Blick und ging einige Schritte zurück.

„Ja“, bestätigte Herr Branner, er kam zu mir, legte seinen Arm um meine Schulter und schaute Zac triumphierend an „das ist Tim und Tim und ich sind glücklich zusammen.“
 

Ich schluckte hart. Mein Herz raste. Mein Puls überschlug sich fast.

Eine ganze Fuhre von Glückshormonen flutete meine Adern und mein Gesicht grinste. Ganz von allein.

Das war sowas von eine Liebeserklärung gewesen.
 

„Ja sicher“, seufzte Zac und verdrehte die Augen.
 

„Tim, das ist Nils.“ Herr Branner ließ mich los und nickte zu Zac rüber.

„Mein kleiner Bruder.“
 

„K..kleiner Bruder?“ fragte ich verunsichert.

„hm?“ machte Herr Branner und sah mich fragend an.

„Ich.. ich dachte, ihr seid... seid Zwillinge?“

„Ah“, Herr Branner nickte, dann schüttelte er den Kopf und ging in die Küche „garantiert nicht. Er ist jünger als ich. Biologisch und im Kopf.“

Dann war Herr Branner weg, hatte den Raum verlassen und ich war allein hier mit... Nils.

Schüchtern lächelte ich ihn an.
 

Nils lächelte auch. Aber freundlich.

„Sorry“, machte er und verdrehte die Augen „wegen vorhin, Tut mir Leid. Das... das war nichts, wirklich.“

„Äh“, entgegnete ich.

„Du bist mit Marc zusammen? So richtig?“
 

Ich nickte.

Nils ließ sich auf die Couch nieder und seufzte noch mal auf.
 

„Ich... ich hab nicht gewusst, dass Herr... ähm“, ich räusperte mich „dass Marc einen Bruder hat.“

„Mich hätte es gewundert, wenn!“ erklärte Nils.

„Ach?“ Das klang durchaus interessant und ich beschloss, dass Nils umgänglich war und ich mich neben ihn auf die Couch setzten konnte.

„Marc erzählt nichts, was nicht lebensnotwndig ist.“ Er verdrehte genervt die Augen.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du nichts weißt von ihm.“

Ich überlegte kurz, nickte unbewusst, dann sagte ich: „Na ja, er ist Lehrer.“

Nils lachte auf „ja klar, deiner, ne?“

Ich wurde rot.

Das bestätigte ihn wohl irgendwie.
 

Und ich kam zumindest in diesem Moment nicht auf die Idee, was das eigentlich bedeutete.
 

Aber was mir klar wurde, war, dass hier vor mir die Offenbarung saß.

Nils war Herr Branners Bruder.

Und er schien nicht so merkwürdig mysteriös verschlossen zu sein, wie Herr Branner selbst.

Nils war das Tor.

Ich musste es nur auf machen.

„Nils“, sagte ich dann und sein Bruder sah auf „hm?“

Ich hielt ihm meine Hand hin „ich bin Tim.“
 

Er sah meine Hand an, dann lächelte er, nahm sie, schüttelte sie und sagte: „Nils. Freut mich!“
 

Nils Branner war einundzwanzig Jahre jung, studierte Freie Kunst an der Kunstakademie in Münster und kam seinen Bruder seit acht Jahren jedes Jahr zu Weihnachten besuchen.

Sie sahen sich mindestens und meistens auch höchstens einmal im Jahr und dennoch, oder trotzdem, so sagte Nils, war ihre Beziehung zueinander ungewöhnlich stark und ich musste unwillkürlich  an meinen Bruder denken, und daran, dass der schwul war und ganz kurz überkam mich der Gedanke, dass sie sich wirklich ungewöhnlich nah standen.

Doch ich verwarf das, denn das war irgendwie absurd und wäre auch viel zu viel Zufall gewesen.
 

Wir hatten uns gut unterhalten und sogar Herr Branner hatte sich am Gespräch beteiligt und irgendwie schien er sich darüber zu freuen, dass sein Bruder und sein Freund so gut miteinander klar kamen.

Und das freute mich.

Denn mein Bruder und mein Freund hatten wohl kleine Differenzen miteinander.

Wir konnten uns auch in Nils Gegenwart wie ein richtiges Paar verhalten, Herr Branner hatte seinen Arm um meine Schultern gelegt; wenn er in die Küche ging, um sich um das Essen zu kümmern, dann küsste er mich kurz auf die Stirn und er sah mich ganz offen und verliebt an.
 

Am Abend trank Nils den letzten Schluck aus seiner Flasche Bier, stellte sie auf den Wohnzimmertisch ab und sah uns dann erwartend an „und du bleibst jetzt bis morgen, oder...?“

Herr Branner und ich lächelten ihn an, dann antworteten wir gleichzeitig.

Er sagte: „Nein.“

Ich sagte: „Jap.“
 

Dann schauten wir uns verwirrt an.

„Ähm“, machte ich und er zog die Schultern an: „Also, ähm, natürlich, doch. Wenn...“

„Ja“, nickte ich „kein Problem.“

„Okay“, antwortete er, leicht verwirrt, komisch lächelnd.
 

„Stör ich dann?“ kam es von Nils.

Herr Branner und ich ließen (die Blicke) von einander ab und schauten wieder zu ihm.

Ich wurde  leicht rot und griff nach einem Lebkruchenherz, an dem ich nervös rummümmelte, Herr Branner schüttelte den Kopf. Er griff nach seiner Bierflasche, trank sehr lange und wir sahen ihn sehr gespannt an.

Dann überkam es mich so plötzlich, dass ich mich am Lebkuchenherz (verdammt ja, die waren so lecker.) verschluckte und keuchend aufhustete.

„Äh“, machte Nils und Herr Branner stellte schnell die Flasche ab, um mich näher zu sich zu ziehen und mir etwas schmerzhaft auf den Rücken zuklopfen.

Ich sah Nils entsetzt an, er starrte verwirrt zurück und ich schüttelte den Kopf: „Gar nicht!“

„Ähm!“

„Niemand stört hier!“

„Ähm...“ Nils war weiterhin verwirrt, Herr Branner lächelte schelmisch und wissend.

Er legte seinen Arm um meine Schulter, zog meinen Körper zu seinem und strich sanft über meinen Ärmel.
 

Es überraschte mich, dass Herr Branner ein Gästezimmer hatte.

Es war nur kein Gästezimmer, sagte er, es war Nils' Zimmer (überraschte mich dann, dass Herr Branner ein Zimmer für seinen kleinen Bruder hatte).

Es war klein und mehr als ein Bett und eine sehr kleine Kommode standen nicht drinnen, und Herr Branner selbst nutzte es wohl als eine Art Schrank für seinen Kram, den er nicht mehr brauchte; aber zu Weihnachten schlief Nils da.
 

Er zeigte mir sein Schlafzimmer.

Das erste Mal, dass ich es sehen würde.

Ich war aufgeregt, wieso?
 

Der Raum war auch nicht besonders groß.

Das ziemlich große Bett war bespannt mit komplett schwarzen Laken, was mich schon verwunderte, immerhin erschien er mir nicht unbedingt als jemand, der schwarze Bettlaken hatte.

Vor dem großen Fenster über dem Bett hing ein dunkles Rollo, das garantiert kein ungewolltes Licht durch ließ, und auf einem kleinen Schrank neben dem Bett stand ein digitaler Wecker, der in roten LED-Lichtern 00:34 anzeigte.

„Tja, du wirst dir wohl ein Bett teilen müssen“, sagte er anzüglich, dann küsste er meinen Nacken und ging ins Bad, nachdem er mir erlaubte, es mir bequem zu machen.
 

Ich fragte mich, ob es nur einen Tag, nachdem ich mich als gesittete Nonne deklariert hatte, soweit war.
 

Ich ging in den Raum, ließ mich auf das Bett fallen, das hart entgegen federte und betrachtete den kleinen, schwarzen Schrank neben mir.

Ich fragte mich, ob er gewisse Utensilien darinnen aufbewahrte.

Vorsichtig beugte ich mich vor, griff nach dem kleinen Knauf und wog nochmal kurz ab, ob es okay oder zu intim war, in den Schrank zu gucken; entschloss mich dann aber dafür, dass ich zu jung und zu neugierig war, um Folgen abzuschätzen und zog die Tür auf. Außerdem war ich ja auch noch total aufgeregt.

Meine Augen glänzten nahezu, als ich die Kondome entdeckte, und irgendwie musste ich mich dann kurz fremdschämen.

Aber das hatte ich ja alles schon gedacht, es gab keinen Grund, eifersüchtig zu sein, der Mann war siebenundzwanzig Jahre alt.

Niemand hatte mit siebenundzwanzig keinen Sex. Außer die Nonnen eben.
 

Neben den Kondomen lag ein Notizblock, sonst war nichts weiteres, interessantes zu finden.

Ziemlich privatsphärendverletzend griff ich den Block und blätterte. Hatte er sich selbst zuzuschreiben, wenn ich sonst nichts über ihn raus finden konnte. Oder? Ja, doch.

Ich konnte absolut nichts mit den Notizen anfangen.

Verschiedene Namen, Nummern und Farben, einiges durchgestrichen, ziemlich viel Gekritzel.

Ganz hinten standen die Namen Laura Berger, Dominik Sauer, Manuel Groß und Miriam-Anna Koke.

Hatte ich noch nie gesehen oder gelesen.

Als ich hörte, wie er zurück kam (er presste ein ziemlich nachdrückliches „Man

Nils ist okay!“ hervor), legte ich den Block schnell weg, schloss die Schranktür und ließ mich schnell in die Laken fallen.
 

Er schloss die Zimmertür, lächelte mich lieb an und setzte sich zu mich aufs Bett, beugte sich vor und gab mir einen kleinen Kuss auf die Lippen.
 

„Marc“, sagte ich dann in dem Ton, der ihn wissen ließ, dass ich ein klitzekleines bisschen sauer war.

„Hm?“ machte er, sah mich nicht an, starrte nur auf seine Hände.

„Wieso habe ich nichts von Nils gewusst?“

„Hm“, er zuckte nur die Schultern.

„Marc“, sagte ich dann wieder, ziemlich streng. Ich kniete mich hinter ihn, legte meine Hände auf seine Schultern, genoss die warme Berührung zwischen uns, und legte meinen Kopf auf seine linke Schulter.

„Erzähl mir doch mehr von dir. Bitte.“

„hm“, machte er wieder und verspannte sich ein wenig.

„Hast du noch mehr Geschwister?“

„hm“, entgegnete er, dann drehte er sich zu mir um, sah mich komisch an, griff meine Schultern und drückte mich zurück ins Bett.

Er beugte sich über mich, musterte mein Gesicht ganz genau, dann küsste er meine Lippen, dann küsste  er mein Kinn, dann küsste er mein Schlüsselbein.

Und dann legte er seinen Kopf auf meine Schulter, ließ seinen Körper auf meinen sinken und ich spürte sein Herz auf meiner Brust und sein Bein, dass sich zwischen meine legte.

Marc seufzte einmal schwer, dann sagte er: „Ich bin in Münster geboren und aufgewachsen, meine Eltern hatten da ein ziemlich großes Grundstück und ein sehr schönes Haus. Mein Opa war Leiter der Christoph-Dornier-Klinik. Er ist vor acht Jahren gestorben und hat mir sein gesamtes Vermögen hinterlassen. Ich bin ziemlich reich, theoretisch gesehen brauche ich den Job nicht. Als ich siebzehn war, ist mein Vater bei einem Einsatz gestorben. Er war Feuerwehrmann. Das hat uns irgendwie auseinander gerissen, meine Familie. Hab seit sieben Jahren nicht mehr mit meiner Mutter gesprochen. Als ich mein Abi hatte, Leistungskurse Mathe und Bio, bin ich sofort von zu Hause weg. Hatte ja Geld. Bin hier her gekommen, hab alles mögliche gemacht. Hab eine Ausbildung zur Fachkraft im Fahrbetrieb angefangen, das war mir aber zu langweilig. Hab bisschen gejobbt, viel Party gemacht, nichts getan. Dann hab ich mich an der Ruhruni hier für Mathe auf Lehramt eingetragen und dann ging irgendwie alles total schnell und jetzt... hab ich den Master of Education und versuche, solchen Vollnasen wie dir zu erklären, was Orthogonalität bedeutet. Wenn du mir einen Brief schreibst, müsstest du vor dem Marc Branner eigentlich noch ein M.Ed. Setzten. Formal gesehen. Eigentlich. Aber ich bin da nicht so penibel.“
 

Als er dann zuende erzählt hatte, war es irgendwie unangenehm still im Raum.

Ich schluckte hart, dann spürte ich sein Bein, welches zwischen meinen lag, und wie er es höher schob.

Er richtete sich auf und sah mich frivol an.

Ich schluckte nochmal hart.

Er biss sich nervös auf die Unterlippe, dann zog er sein Knie noch höher und berührte mich zwischen den Beinen.

Ich fixierte sein Blick. Und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
 

Dann grinste er keck, ich wurde leicht rot und er beugte sich zu mir runter, damit wir uns küssen konnten.

Sehr leidenschaftlich und innig, fast etwas zu gierig und alles, was gestern noch so fern war, stand jetzt direkt vor mir.

Oder lag über mir.

Ich wurde irgendwie nervös.

Erst recht, als ich seine Hand spürte, die vorsichtig meine Seite hinunter strich, etwas zögerlich den Saum des Pullovers griff und dann langsam über meinen Bauch fuhr.

Ganz zart und vorsichtig.

Ich bekam eine Gänsehaut. Vor Erregung.
 

Dann lösten sich unsere Lippen.

Er sah mich vorsichtig an, schaute mir in die Augen und versuchte, heraus zu lesen.

Wie weit er gehen durfte.

Was ich zulassen würde.
 

Mit seiner Hand fuhr er mir über den Bauch hoch zum Brustbein.

Seine Augen achteten genau auf meine Reaktion.

Er sah in meine Augen, auf meine geöffneten Lippen, auf die roten Wangen und den vor Erregung bebenden Kiefer.
 

Ich erlaubte es ihm.

Seiner Hand, über meine Brust zu streichen.

Das war verdammt aufregend, und ich hielt mich so gut ich konnte mit jeglicher Reaktion zurück. Bis sein Knie etwas begehrender gegen mich drückte.

Es war so verdammt scharf, dass ich ziemlich lüstern aufseufzte. Und daraufhin ziemlich schnell rot anlief und mir die Hände vor den Mund schlug.

War so gesehen doch irgendwie peinlich.

Immerhin war er so viel älter.

Und erfahrener.

Er hatte sogar Kondome im Schrank neben dem Bett.

Und ich hatte noch nicht mal einen Schrank neben dem Bett.

Und außerdem war er mein Mathelehrer.
 

Beschämt kniff ich die Augen zusammen und wünschte mich ganz weit weg und gleichzeitig viel mehr solcher Berührungen von ihm.

Dann spürte ich seine Hand, die unter meinem Pullover hervor kam, meine Hände von meinem Gesicht schob, sich auf meinen Kopf legte und mit dem Daumen meine Stirn massierte.

Und dann seine Lippen, die mich vorsichtig auf den Mund küssten, dann über meine Wange zu meinem Ohr flogen und flüsterten: „Ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht als deinen Lehrer betrachten.“

Etwas verspannt nickte ich, dann spürte ich seine Zunge am Ohr.

Eine Gänsehaut überkam mich, mit der sich die Befangenheit verflüchtigte.

Marc lehnte sich ganz auf mich, sodass seine andere Hand ebenfalls frei war, mit der er den Saum von meinem Pullover griff und mit hoch zu meiner Brust zog.
 

Es war so weit.

Sex

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  Male
2017-07-15T01:04:04+00:00 15.07.2017 03:04
Hy schöne Geschichte!
Ich hoffe du schreibst bald weiter, will unbedingt wissen wen der Mathematik Lehrer noch neben bei hat... Jetzt wird es bestimmt richtig interessant auch mit Josh!?
LG Male
Von:  Ixtli
2015-12-17T23:20:00+00:00 18.12.2015 00:20
Warum ging diese Story nur so lange an mir vorüber?
Du schreibst so erfrischend heiter, locker, mit genau dem richtige Maß an Tempo (je nach Situation), die Charaktere sind witzig, facettenreich und nie vorhersehbar. Kurz: ich liebe diese Story - und wenn ich weiter gelesen habe, kommt sicher auch ein anständiger Kommentar. *g*
Von:  -ladylike-
2011-03-16T19:30:29+00:00 16.03.2011 20:30
hey!
jetzt muss ich doch dringendst was schreiben, oder?
na ja, finde ich jedenfalls.
ein schönes kapitel!
im prinzip find ich die ganz geschichte schön und interessant erzählt ... frag mich nciht, warum ausgerechnet "interessant", aber es ist so. *hehe*
frau mich auf weiteres und lese jetzt erst mal kapitel 11. ;)

lg,
lady
Von:  IsshiShiohara
2011-03-02T11:54:57+00:00 02.03.2011 12:54
Erste XD

Ui die Frucht des verbotenen...ob Joe noch eine Chance bekommt? er tut mir ja schon ein wenig leid.

Freue mich auf das nächste kapitel!

LG
isshi


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