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Odoroki High

Ein Magical Girl-Fantasy-Mix
von

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Neue Wege

Willkommen an der Odoroki High! Du wirst bald merken, dass diese Schule anders ist als andere. Doch keine Sorge, man gewöhnt sich recht schnell daran.

Direktor Toki
 

Kapitel 1 - Neue Wege
 

Es gab keine Farben und es gab kein wirkliches Licht. Nur die Welt der ewigen Dämmerung und darin nicht einmal die Hoffnung auf einen neuen Tag. Geräusche fehlten, ebenso wie jegliche Form von Leben. Im Zwielicht lag das Nichts, eine Art von Einsamkeit, die das Herz zerreißen wollte. Man konnte weit blicken, auf das Land oder auch in die eigene Seele, aber es gab nicht wirklich etwas zu sehen. Der Wahnsinn folgte einem in dieser Welt auf dem Fuße, er ging mit der Einsamkeit Hand in Hand. Wollte man ihm ein Schnippchen schlagen, musste man eine starke Seele besitzen.

Sie schien solche eine Seele zu haben. Nicht umsonst war sie seit Jahren sie selbst geblieben, geprägt von dieser Welt, in die sie dauernd floh, ob gewollt oder nicht. Wenn sie die Augen schloß, dann sah sie nur selten Dunkelheit, wie andere es tun mochten. Und wenn sie schlief, dann war es ein Geschenk, nicht zu träumen. Denn diese öde Welt war in ihr und irgendwie in ihren Gedanken. Fast jede Nacht träumte sie davon, warum, das wusste sie nicht. Früher hatte ihr das Angst gemacht, sie hatte nicht mehr schlafen wollen, doch inzwischen, so absurd es ihr vorkam, fühlte sie sich in ihren Träumen beinahe daheim. Das hieß nicht, dass sie gerne dorthin ging. Ab und zu brauchte sie eine Pause. Ansonsten würde es ihr eines Tages nicht mehr gelingen, mit ihrem ganzen Bewusstsein in die Realität zurückzukehren. Es war reine Gewohnheit, dass sie allein durch ihre Träume wandelte. Es war nie anders gewesen.

Bis zu der Nacht, in der sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Es war ein Schock gewesen, als sie ihn dort hatte sitzen sehen, ganz allein auf dem Felsen. Er hatte ins Tal geblickt und eine Melodie gesummt. Und auch das war neu gewesen: Etwas in der ewigen Stille zu hören. Mit klopfendem Herzen hatte sie dagestanden und ihn angestarrt - sein dunkles Haar, den weiten Umhang, den er trug, seine Hände, die ruhig in seinem Schoß lagen. Lange hatte sie dort gestanden und ihn angesehen. Bis sie aufgewacht war und selbst dann hatte sie nicht gewagt, die Augen zu öffnen, aus Angst, seinen Anblick zu vergessen und wieder allein zu sein in ihrer Welt.

Ihre Angst war unbegründet gewesen. Von da an war sie ihm öfter begegnet. Nicht immer, aber das war auch gar nicht nötig. Sie folgte ihm durch die Ödnis, wann immer er einen seiner zahlreichen wirren Wege beschritt, und lauschte seinen Liedern, die er meist nur in kurzen Andeutungen summte. Jede seiner Bewegungen nahm sie begierig in sich auf, ahmte sie mitunter nach, wenn er geschickt einen felsigen Hang hinunter stieg und sie hinter ihm her stolperte. Sie war sich nicht sicher, ob er überhaupt von ihrer Existenz wusste, obwohl sie ständig bei ihm war. Nie hatte er sie angesehen oder gar mit ihr gesprochen. Und sie fand nicht den Mut, auch nur ein Wort an ihn zu richten.

So wurde es für sie normal, von ihm zu träumen und ihn zu begleiten. Er blieb ein Rätsel für sie und wenn sie an ihn dachte, dann seufzte sie nicht seinen Namen, den sie nicht kannte, sondern sie sah seine Augen vor sich, die so hell, kalt und klar wie Wasser waren. Sie teilte ihn mit niemandem, so wie niemand von ihren Träumen wusste, und ihre Freundinnen, die eine heimliche Liebe vermuteten, versuchten vergeblich, das Geheimnis zu lüften, das sie so beharrlich hütete. Und es auch weiterhin hüten würde, das hatte sie sich geschworen. So lange wären ihre Lippen versiegelt, bis er eines Tages wahrhaftig vor ihr stehen sollte...
 

Der Tag hatte scheußlich begonnen. Aya hatte schlecht geschlafen und war viel zu spät aufgestanden, so dass ihr die Bahn vor der Nase weggefahren war. Also hatte sie laufen müssen, den ganzen Weg bis zur Schule, und unterwegs hätte sie beinahe Bekanntschaft mit dem Kühlergrill eines Jeeps gemacht. Ihr Frühstück hatte sie gleich ganz vergessen können und auch die Hoffnung, in der Schule schnell noch einen Happen zu essen, hatte sich zerschlagen, als sie zwei Minuten vor Unterrichtsbeginn in die Klasse gestürmt kam. Völlig außer Atem ließ sie sich auf ihren Platz fallen, schloß die Augen und wünschte sich, der Tag möge schon vorbei sein. Er war es nicht, als sie die Augen wieder öffnete und in Ikukos Gesicht sah.

"Guten Morgen, Aya!" Ikuko grinste und lehnte sich auf Ayas Pult. Sie saß einen Platz weiter vorn und hatte ihren Stuhl herumgedreht. "Du siehst ganz schön fertig aus. Hast du einen schlimmen Morgen gehabt?"

"Frag besser nicht danach", seufzte Aya. "Ich wette, ich sehe genau so aus, wie ich mich fühle: fix und fertig."

"Tut mir leid, wenn ich dir da nicht widersprechen kann. Paß auf, ich hab was für dich." Ikuko drehte sich um, bückte sich nach ihrer Tasche und zog eine weiße Feder heraus, die sie Aya hinhielt. "Hier."

"Was soll ich damit?"

"Die lag heute morgen auf deinem Pult. Ich weiß nicht, wer sie dort hingelegt hat, die Fenster waren geschlossen, also muß sie schon jemand mit hereingebracht haben. Satoshi wollte sie nehmen und zerrupfen, aber ich hab gedacht, dass sie vielleicht eine Bedeutung hat und für dich bestimmt ist." Ikukos Grinsen wurde noch breiter. "Vielleicht von einem heimlichen Verehrer?"

Aya spürte, wie sie rot anlief. "Quatsch nicht!" Ihr wurde ganz schwindlig bei dem Gedanken daran, dass diese Feder von jemandem stammen könnte, der in sie verliebt war. Der sie nun vielleicht gerade beobachtete, ihre Reaktion abschätzte. Sie wagte es gar nicht, auf etwas anderes zu sehen, als auf die Feder. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, obwohl sie mit aller Macht dagegen ankämpfte.

"Ich wüsste jetzt ja zu gerne, wen du denn nun schon so lange vor deinen Freunden verheimlichst. Nicht, dass dieser mysteriöse Junge der Täter ist und sich da ohne mein Wissen was entwickelt. Immerhin bin ich deine beste Freundin - oder etwa nicht?" Der schräge Blick, den Ikuko Aya zuwarf, sprach Bände. Entweder würde sie ihr jetzt etwas von dem Mann aus ihren Träumen erzählen oder Ikuko wäre so tödlich beleidigt, dass sie tagelang kein Wort mehr mit ihr reden würde.

"Ich ... Also, Iku-chan, weißt du, die Sache ist die ..." Während Aya noch nach Worten suchte, um sich herauszureden, ging die Tür auf und der Lehrer kam herein. Aya griff nach der Feder und Ikuko drehte sich blitzschnell um. Das war das erste Mal, dass Aya einen Lehrer hätte umarmen mögen.

Während der Lehrer den Unterricht begann, beschäftigte Aya sich mit der Feder. Sie fühlte sich merkwürdig warm an in ihrer Hand und wog eigenartig schwer, dabei hätte sie eigentlich kaum Gewicht besitzen dürfen. Aya hatte keine Ahnung, wer ihr dieses Geschenk hätte machen können. Eine Feder von einem heimlichen Verehrer? Sie glaubte nicht daran. Das war einfach zu ungewöhnlich. Was sollte sie damit verbinden? Wer wollte ihr etwas sagen?

Verstohlen sah Aya sich in der Klasse um. Das konnte doch nicht sein, dass einer von denen... Schon allein bei der Vorstellung, einen heimlichen Verehrer in ihrer Klasse zu haben, in dieser Klasse, in der es von Idioten nur so wimmelte, bekam Aya eine Gänsehaut. Nein, unmöglich! Und selbst wenn es so wäre, hätte niemand von denen so viel Phantasie, ihr ein derart eigenartiges Geschenk zu machen. Es war ja auch nicht so, dass sie sich darüber freute. Sie wunderte sich. Doch mehr nicht. Höchstens Ärger war da noch. Ärger darüber, dass Ikuko neugierig geworden war. Daß sie wieder einmal von Ayas angeblicher Schwärmerei für irgendeinen Jungen angefangen hatte... Sie würde weiterbohren. Und dabei war es doch gar nicht so einfach, sonst hätte sie es ihr sicher schon gesagt. Ikuko würde es nicht verstehen. Niemand würde das verstehen. Außerdem sollte es vielleicht auch niemand erfahren. Aya hatte da so ein Gefühl.

"Fräulein Ichiyanagi, wären Sie bitte so freundlich, meinem Unterricht zu folgen? Oder möchten Sie den Rest der Stunde im Zimmer der Rektorin verbringen?"

"Äh..." Aya sah erschrocken auf, schloß die rechte Hand um die Feder und lief knallrot an. "Nein, Herr Kusanagi. Es tut mir leid, ich war nur..." Sie suchte verzweifelt nach Worten, wich dem Blick des Lehrers aus und sah aus dem Fenster, in der Hoffnung, es gäbe einen Knall und sie würde im Boden versinken - oder zumindest aus dem Klassenzimmer verschwinden.

Und da stand er.

Aya hielt die Luft an. Das war er, ohne Zweifel! Der Junge aus ihrem Traum. Drüben bei den Kirschbäumen, gleich neben dem Schultor. Er trug die gleichen Sachen wie in ihren Träumen: das Hemd, die Hose, die Stiefel - ja, sogar den Umhang! Und zum ersten Mal sah sie das alles nicht nur in den merkwürdig farblosen Schattierungen ihrer Traumwelt, sondern so, wie es sein sollte. Seine Kleidung war hell, ein helles Braun oder Beige. Der Umhang dunkel, blau vielleicht, aber nicht schwarz. Und seine Haare. Seine tiefschwarzen Haare.

Sie begann zu zittern. Herr Kusanagi redete auf sie ein, aber sie war nicht in der Lage seine Worte aufzunehmen und zu verstehen. Unverwandt blieb ihr Blick auf den Jungen dort unten gerichtet. Eigentlich stand er schon an der Schwelle zum Mann. Das fiel ihr auf. Dabei sollte sie doch daran denken, dass es absolut unmöglich war! Das konnte nicht passieren. Er lebte nur in ihren Träumen. Er konnte nicht dort stehen und -

Er sah sie an. Er blickte nicht nur hoch zu den Klassenräumen, das spürte sie. Er sah sie an, hinter dem Fensterglas, das doch eigentlich spiegeln musste, er konnte sie nicht sehen, konnte er nicht, und doch... Langsam begann sie, an ihrem Verstand zu zweifeln. Vor allem, da sie seine Augen so genau sehen konnte. Diese hellen, klaren Augen. Aus der Entfernung?

Sie stand auf und stürzte ans Fenster. Entweder hatte sie Halluzinationen oder es ging etwas vor, was höchst merkwürdig war. Mehr noch als das. Nicht nur merkwürdig. Unheimlich. Aya musste unwillkürlich an einen dieser Groschenromane denken, in denen es um Geister und Vampire und andere mysteriöse Dinge geht. Allerdings war das hier die Wirklichkeit. Hoffentlich. Sie riß das Fenster auf. Er sah sie noch immer an. Mit einem Blick, den sie nicht deuten konnte. Traurig?

"He!" Sie lehnte sich weit aus dem Fenster und wunderte sich noch, dass sie sich nicht lächerlich vorkam. Er verzog keine Miene und für eine oder zwei Sekunden sahen sich das Mädchen oben am Fenster und der Junge unten im Hof einfach nur an. Dann löste er den Blick von ihr, sah über ihre rechte Schulter und sie folgte dem Blick.

Herr Kusanagi hatte sich hinter ihr aufgebaut. Sein Gesicht war puterrot, an der Stirn trat eine Ader hervor. Er schrie, das bemerkte Aya erst jetzt. Alle Schüler ihrer Klasse starrten sie an, als wäre sie verrückt geworden. Sie drehte sich um und sah wieder zum Hof, doch der Junge war fort.

Als Herr Kusanagi sie mit sich zum Zimmer der Direktorin schleifte, fragte Aya sich ernsthaft, ob sich das fehlende Frühstück durch Unzurechnungsfähigkeit bemerkbar machte. Oder schlichen sich ihre Träume jetzt etwa schon in das, was sie als Realität ansah?

Sie öffnete die rechte Hand und betrachtete die Feder. Sie hatte die Farbe gewechselt.
 

"Ich glaube, du brauchst dringend einen Arzt."

Ikuko schüttelte bestimmt zum hundertsten Mal den Kopf und seufzte. Sie hatte auf Aya gewartet, die nach Schulschluß noch einmal zur Rektorin bestellt worden war. Nun gingen sie zusammen nach Hause - Aya still und nachdenklich, Ikuko entnervt und gereizt.

"Was ist denn in letzter Zeit bloß mit dir los? Ich meine, okay, du warst schon immer etwas eigenartig, aber gut... Damit lernt man umzugehen. Womit ich allerdings nicht umgehen kann, das ist deine Heimlichtuerei. Und heute dieser Anfall im Unterricht... Ich verstehe gar nichts mehr!"

Aya schwieg. Sie fühlte sie merkwürdig ruhig und das, obwohl ihr die Rektorin mit einem Verweis gedroht hatte. Ein Verweis... Vermutlich hatte sie nur keinen erhalten, weil sie ansonsten eine gute Schülerin war und sich niemals etwas derartiges geleistet hatte. Bis heute. Eigentlich lächerlich.

Im Nachhinein war sich Aya auch gar nicht mehr so sicher, ob sie den Jungen wirklich gesehen hatte oder nicht. Es war so real gewesen und doch... Sie öffnete die rechte Faust und betrachtete die Feder. Den ganzen Tag hatte sie das zarte Ding nicht mehr losgelassen. Irgendetwas hatte es mit ihr auf sich. Wenn sie doch nur herausfinden könnte, was!

"Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?" Ikuko war stehen geblieben und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich rede mir den Mund fusselig und das Fräulein träumt vor sich hin. Mir reicht es. Ich gehe. Solltest du irgendwann den Weg zurück in die Normalität gefunden haben, kannst du mich ja informieren."

Ikuko wollte schnurstracks an Aya vorbeilaufen. Doch als sie mit ihr auf gleicher Höhe war, packte Aya sie am Arm und hielt ihr die Feder unter die Nase. Ikuko runzelte die Stirn. "Was soll das?" fragte sie verärgert.

"Das ist die Feder von heute morgen." Aya ließ Ikuko los und schloß die Hand wieder zur Faust. "Ich hab sie den ganzen Tag mit mir herumgeschleppt."

"Aber die Feder auf deinem Tisch war weiß und ich hab dir auch eine weiße gegeben. Was hat das denn jetzt überhaupt mit all dem anderen Unfug zu tun? Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich warne dich, treib es nicht zu weit. Ich bin gerade überhaupt nicht zu Späßen aufgelegt!"

"Iku-chan..." Aya seufzte. Einerseits konnte sie Ikukos Reaktion auf ihr Verhalten in der letzten Zeit ziemlich gut nachvollziehen. Schließlich hatten sie immer alles miteinander geteilt und sie musste sich ausgeschlossen fühlen. Als dürfe sie nicht mehr an Ayas Leben teilhaben. Andererseits war ihr Ausbruch dann doch wohl etwas zu heftig. Schließlich hatte Aya ja niemanden verletzt oder so etwas.

"Hast du mir was zu sagen oder nicht? Wenn nicht, dann würde ich jetzt ganz gern nach Hause gehen und meine Zeit mit etwas Sinnvollerem verbringen, als hier mit dir herumzuhängen."

Aya zögerte. Sie konnte Ikuko unmöglich etwas von ihren Träumen erzählen. Schon gar nicht von dem Jungen. Sie hätte sich ihr gerne anvertraut, aber alles konnte sie ihr nicht erzählen. Das klang einfach zu verrückt.

"Es ist die Feder von heute morgen. Nach dem Vorfall im Klassenzimmer, als Herr Kusanagi mit mir zur Rektorin gegangen ist, da habe ich die Hand geöffnet und die Feder angesehen. Und da war sie schwarz. Sie hat einfach die Farbe gewechselt."

Ikuko starrte Aya verwirrt an. "Was? Willst du mir erzählen, dass du diese Feder in der Hand hattest, die ganze Zeit im Unterricht, und als du aus der Klasse gekommen bist, war sie schwarz? Verfärbt? Wie durch Zauberhand? Ist das dein Ernst?"

Aya nickte.

"Okay." Ikuko fasste sich an die Stirn. "Ich habe nicht die geringste Ahnung, was da im Unterricht passiert ist. Ich habe nicht mal eine Ahnung, was mit dir passiert ist. Ich wollte es herausfinden. Ich wollte dir helfen. Aber weißt du, wenn du mir jetzt mit solchen Schauermärchen kommst, dann habe ich dazu keine Lust mehr. Für heute reicht es mir."

Aya sah der Freundin nach, die mit schnellem Schritt davonging. Sie hatte es verpatzt. Ikuko war wütend. Das war sie schnell und das war sie oft, sicher. Aber dieses Mal... Aya hatte irgendwie das unbestimmte Gefühl, dass es dieses Mal anders war. Schlimmer. Aber nun konnte sie nichts mehr tun. Vielleicht war es auch ganz gut, dass Ikuko gegangen war. Nicht die Stimmung, in der sie Aya verlassen hatte, aber... Aya musste nachdenken. Sie wusste nicht recht, was sie von all dem halten sollte. Unentschlossen betrachtete sie wieder die Feder. Seit sie schwarz war, fühlte sie sich kalt an.

Einem plötzlichen Impuls folgend drehte Aya sich um und lief die Straße zurück zur Schule. Wenn sie einen Hinweis auf den Jungen finden konnte, dann dort.

Der Schulhof war verlassen. Von den Sportplätzen waren Rufe und Lachen zu hören, doch zu sehen war niemand. Aya schluckte. Sie wusste nicht, warum es ihr so schwer fiel, dort zu den Bäumen hinüber zu gehen, wo sie ihn gesehen hatte. Ihr Herz schlug wie wild. Endlich riß sie sich zusammen und ging hinüber. Suchend wanderte ihr Blick über den Boden, in der Hoffnung, einen Hinweis zu finden. Irgendeinen Hinweis. Aber da war nichts.

"Wäre auch zu schön gewesen", seufzte Aya, setzte sich und lehnte sich an einen Baumstamm. "Ich bin wahrscheinlich wirklich verrückt." Sie öffnete die rechte Hand. Die schwarze Feder lag auf ihrer Handfläche und schien das Licht der Sonne zu schlucken. Aya holte Luft und blies die Feder davon. Sie schwebte durch die Luft, drehte sich, taumelte und sank schließlich - vom Wind getragen - ein paar Meter weiter zu Boden. Genau vor den Füßen des Jungen.

Aya erschrak fast zu Tode, als sie ihn da stehen sah. Es war anders als am Morgen, denn er trug nun andere Sachen, eine fremde Schuluniform, aber er war es auf jeden Fall! In der rechten Hand hielt er eine Schultasche, seine klaren Augen blickten auf die Feder vor seinen Füßen...

"Oh..." Aya wurde blaß. Ihre Hände begannen zu zittern.

Der Junge löste nun den Blick von der Feder und sah das Mädchen an. Er runzelte die Stirn. "Geht es dir nicht gut?"

Seine Stimme... Er musste es sein! Sicher, Aya hatte ihn in ihren Träumen noch nie sprechen gehört, aber es passte. Es passte alles so genau. Das Aussehen, die Körperhaltung, einfach alles, was sie in ihren Träumen von ihm kennen gelernt hatte. Und was sollte sie nun tun?

"Bist du stumm oder so was?"

Aya öffnete den Mund. Was sollte sie sagen? Ihr war plötzlich hundeelend. Das konnte doch alles gar nicht möglich sein! Vermutlich träumte sie gerade oder sie war nun wirklich vollends verrückt geworden. Menschen konnten nicht einfach aus Träumen herauskommen. Das war unmöglich. Völlig absurd.

Und was sollte sie sagen? Es gab nichts, was sie in ihrer Vorstellung nicht schon zu ihm gesagt hatte, aber natürlich war das etwas ganz anderes gewesen. Was nun? Und wenn sie...

"Kneif mich."

"Hä??" Der Junge wich einen Schritt zurück. "Was bist du denn für eine?" Er warf ihr einen irritierten Blick zu und wollte sich umdrehen, als Aya - plötzlich voller Energie - aufsprang.

"Oh, nein! Nein, nein", stammelte sie und schüttelte heftig den Kopf. Sie kam sich ungeheuer dämlich vor. "Ich bin nur... Ach, vergiß es!"

Der Junge zuckte mit den Achseln und deutete auf die Feder. "Was treibst du hier denn für merkwürdige Spielchen? Hast du nicht schon längst Schulschluß?"

Aya machte eine unbestimmte Geste. "Ich habe eigentlich... auf jemanden gewartet." Es klang nicht besonders überzeugend, obwohl es nicht einmal eine richtige Lüge war. "Und du? Du gehörst nicht einmal an diese Schule."

Der Junge grinste. "Wie aufmerksam." Er sah zu den Sportanlagen hinüber. "Ich wollte einen Freund abholen. Aber er ist wohl schon weg."

Aya nickte. Sie fragte sich, ob sie nicht etwas sagen sollte. Wegen der Träume. Aber das wäre wohl zu lächerlich. Es kostete sie ohnehin schon all ihre Kraft, diese paar Sätze mit ihm zu wechseln und dabei nicht in hysterisches Gekreische zu verfallen. Ihre zitternden Hände hielt sie hinter ihrem Rücken versteckt.

"Ich werd dann mal." Der Junge hob die rechte Hand und ging dann in Richtung Schultor davon.

Aya stand wie angewurzelt da und sah ihm nach. Er war es. Er musste es sein. Aber warum hatte er nichts gesagt? Und wenn er doch eine Schuluniform trug, weshalb hatte er dann am Morgen diese merkwürdigen Sachen angehabt. Hatte ihre Phantasie ihr einen Streich gespielt? Und was am Wichtigesten war: Wer war er?

Plötzlich hatte Aya es sehr eilig. Sie bückte sich, hob ihre Tasche auf und lief zum Schultor. Vorsichtig sah sie sich um. Da war er. Er ging ganz ruhig die Straße hinunter. Und glücklicherweise genau in die Richtung, in die sie auch musste. Nun, das war die perfekte Gelegenheit, um ihm zu folgen. Schließlich musste sie auch irgendwann einmal nach Hause.

So entfernten sie sich gemeinsam von der Schule. Zwischen ihnen lag eine Entfernung von etwa fünfzig Metern. Und diesen Abstand versuchte Aya auch einzuhalten. Sie wollte nicht unbedingt riskieren, dass sie ihm auffiel. Was sie dann aber doch tat. Und zwar kurz vor der U-Bahn-Station.

Er drehte sich um. Aya blieb erschrocken stehen. Im gleichen Moment schon wurde ihr klar, dass das falsch gewesen war. Nun wirkte es wohl tatsächlich so, als wäre sie ihm gefolgt. Einige Sekunden lang sahen die beiden sich an und es war fast wie am Morgen in der Schule. Dann kam er zu ihr herüber.

"Verfolgst du mich?"

Jetzt wurde Aya rot. Sie blickte zu Boden. "Nein", log sie. Sie wünschte sich, der Erdboden würde sich auftun und sie verschlucken.

Er sagte erst einmal gar nichts. Sah sie nur an und sie spürte seinen Blick wie tausend Nadelstiche. Als sie aufsah, rechnete sie damit, ein breites Grinsen auf seinem Gesicht zu sehen. Doch da war er wieder, der traurige Blick, der sie so gefesselt hatte. Ihre Knie wurden weich. Und sie wusste immer noch nicht, wer er war.

"Wo wohnst du denn? Wenn wir sowieso in die gleiche Richtung müssen, können wir doch auch zusammen gehen." Nun lächelte er wieder. "Ich kann dich auch nach Hause bringen. So hübsche Gesellschaft habe ich selten."

"Wa...?" Aya wollte schon Widerworte geben, doch dann nickte sie. Das war eine gute Gelegenheit, um mehr herauszufinden. "Also, wenn du meinst..."

"Mein Name ist übrigens Taro. Taro Hontani." Er verbeugte sich und sah Aya erwartungsvoll an.

"Äh... Aya." Ihre Stimme klang brüchig. "Aya Ichiyanagi." Irgendwie hatte sie angenommen, er würde ihren Namen kennen.

Gemeinsam gingen sie zur U-Bahn-Station hinüber. Aya fühlte sich komisch. Sie kannte diesen Jungen überhaupt nicht und er wollte sie schon nach Hause bringen. Was würde ihre Mutter dazu sagen? Und hatte er es überhaupt ernst gemeint? Sie warf Taro einen Seitenblick zu und bemerkte, dass er zu Boden sah. Er wirkte irgendwie bedrückt. Und noch bevor Aya es verhindern konnte, sprach sie ihn darauf an.

"Hast du irgendwas? Wenn ich dich störe, dann gehe ich. Wir müssen nicht zusammen fahren, ich meine, wir kennen uns ja auch gar nicht, und -"

"Ich will es aber." Er sah auf und ihr direkt in die Augen. Sie schluckte. "Ich möchte dich gerne begleiten. Das hast du..."

Der Rest seines Satzes ging im Lärm der ankommenden Bahn unter. Sie stiegen ein und setzten sich. Keiner von beiden sprach. Erst, als sie an der nächsten Haltestelle ausstiegen, ergriff Taro wieder das Wort.

"Habe ich dich eigentlich erschreckt?"

"Was?"

"Vorhin. Bei der Schule. Habe ich dich da erschreckt? Du hast so abwesend auf die Feder geschaut, so als würdest du an jemanden denken. Und dann, als du mich gesehen hast, da bist du ganz blaß geworden." Er sah sie nicht an, als er das sagte.

"Nun..." Was sollte sie ihm denn sagen? Daß sie an ihn gedacht hatte? Daß sie ihn kannte, aus ihren Träumen, und ihn am Morgen dort gesehen hatte? Daß sie ihn hatte wiedersehen wollen, so viele Fragen an ihn hatte und nicht wusste, was sie von der ganzen Situation halten sollte? Er würde sie für komplett wahnsinnig halten. Er würde sie auslachen oder sie einfach auf der Straße stehen lassen. Dann würde sie ihn nie wieder sehen und das Rätsel niemals lösen können. "Ich habe vielleicht... geträumt."

Nun richtete er seinen Blick auf sie. Und zwar mit solcher Intensität, dass ihr ganz schwindelig wurde. "Geträumt?"

Aya wich seinem Blick aus. Hatte er die Anspielung verstanden? Sie konnte nichts sagen, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Schließlich zwang sie sich, ihn wieder anzusehen und sie glaubte beinahe, etwas wie Entsetzen in seinen Augen zu sehen. Er trat einen Schritt auf sie zu, hob die rechte Hand und legte sie auf Ayas Schulter. Bei der Berührung bekam sie eine Gänsehaut. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, zögerte dann aber. Sein Blick fiel auf etwas hinter Aya, zum zweiten Mal an diesem Tag, und er zuckte zusammen.

"Hallo, Taro."

Aya fuhr herum, als sie die Stimme hörte. Hinter ihr stand ein junges Mädchen. Sie war in Ayas Alter und hatte lange braune Haare, die zu einem Zopf gebunden waren. Sie trug eine Schuluniform: eine weiße Bluse mit roter Krawatte, einen schwarzen Rock und schwarze Schuhe, so wie rote Strümpfe. Aya schluckte. Diese Uniform kannte sie. Wer etwas auf seine Gesundheit gab, hielt sich fern von den Schülern dieses Internats.

Das Mädchen fixierte erst Aya, dann Taro mit dunklen Augen. "Du scheinst dich ja prächtig zu amüsieren", sagte sie in einem abfälligen Ton, der Aya gar nicht gefiel. Sie spürte, dass Taro ihren Arm ergriff und sie zu sich zog.

"Was willst du, Mado?" fragte er mit einer Stimme, die so eiskalt klang, dass es Aya im Herzen weh tat.

"Was ich will?" Das Mädchen tippte sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand gegen die Schläfe. "Laß mich überlegen... Ach ja! Ich soll dir schöne Grüße von Katsumi ausrichten. Sie ist wieder bei Bewusstsein. Die Wunden werden heilen, vielleicht schneller, als dir lieb sein kann. Sie ist wirklich sehr, sehr wütend."

"Soll das eine Drohung sein?" Taro packte Ayas Arm fester und beugte sich ein wenig vor. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr und sie nickte.

"Keine Drohung, Taro. Nur ein Hinweis. Wir haben euch den Krieg erklärt, sag das deinem Ältesten." Das Mädchen drehte sich um und wollte gehen, blieb aber noch einen Moment länger stehen, als nötig gewesen wäre. "Noch etwas", sagte sie mit gesenkter Stimme. "Mit unserer Zukunft hast du nichts zu schaffen."

Aya fühlte, wie sich etwas in ihrem Inneren zu regen begann. Sie wusste nicht genau, was es war. Aber es fühlte sich warm an. Sie dachte an Taros Worte, die er ihr ins Ohr geflüstert hatte. Wenn sie kommt, lauf weg. Taro ließ ihren Arm los.

"Eure Zukunft ist mein Schicksal", entgegnete er und wieder klang seine Stimme kalt. "Ich werde sie niemals aufgeben."

"Schicksal?" Mado drehte sich wieder um. In ihren Augen flammte Zorn. "Was redest du da für einen Schwachsinn? Vergiß nicht, wer du bist! Und was du bist."

"Daran denke ich ununterbrochen. Das macht mich ja so sicher."

Mado schrie auf. Sie klang wie ein verwundetes Tier. Sie sprang auf Taro zu, der ihr gerade noch ausweichen konnte. Aya wollte laufen, so wie er es ihr gesagt hatte, aber sie konnte nicht. Dieses Mädchen machte ihr Angst, sie verstand nicht, was sie wollte und worum es eigentlich ging. Aber die Wärme in Ayas Innerem wurde stärker und stärker und drohte sie zu verbrennen. Sie hatte Angst. Furchtbare Angst. Mado versuchte, Taro zu verletzen. Er wich ihr immer wieder aus, doch sie war schnell - schnell und sehr stark. Und plötzlich hielt sie zwei Dolche in der Hand, mit denen sie so geschickt umzugehen wusste, dass Aya ernsthaft Angst um Taros Leben bekam.

Sie schrie auf und wollte sich zwischen die beiden werfen, doch Taro schaffte es, Mado geschickt zu Boden zu werfen und sie zu entwaffnen. Er hielt sie fest und drückte sie nieder.

"Tu das nicht, Mado. Wecke keine schlafenden Hunde. Laß mich in Ruhe. Und halte dich von dem fern, was mir lieb ist."

Von irgendwoher waren Sirenen zu hören. Jemand musste die Polizei gerufen haben. Aya fiel erst jetzt auf, dass sich um sie herum eine gaffende Menge versammelt hatte. Taro sprang auf, schnappte seine Tasche und griff nach Ayas Hand. "Komm mit, wir müssen weg hier."

Sie drängelten sich durch die Menge und liefen so schnell sie konnten, davon. Erst, als sie die Sirenen nicht mehr hören konnten, hielten sie an und setzten sich auf einem Spielplatz auf eine Bank, um wieder zu Atem zu kommen. Lange Zeit konnte keiner von ihnen reden, dazu waren sie einfach zu erschöpft. So saßen sie nur nebeneinander und rangen nach Luft. Schließlich konnte Aya es nicht mehr aushalten. Sie musste einfach wissen, was da eben geschehen war und aus welchem Grund.

"Taro, was... was war das? Diese Irre wollte dich umbringen!"

"Ja." Er nickte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Das versucht sie öfter. Sie und ihre Freunde. Bisher hat sie es nicht geschafft, wie du siehst."

"Aber..." Aya machte den Mund ein paar Mal auf und zu, ohne etwas zu sagen. "Das ist doch... Das ist doch Wahnsinn! Warum denn das alles? Steht ihr irgendwie unter Drogen oder so was? Ich verstehe das alles nicht. Sie hätte dich töten können und du bleibst so ruhig!" Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Das war vielleicht alles etwas viel gewesen an diesem Tag.

"Aya." Taro rutschte näher, aber sie wich zurück. Sie hatte nicht wirklich Angst vor ihm, aber plötzlich war da etwas Fremdes. Konnte es sein, dass er nicht normal war? "Du musst dich nicht fürchten."

"Das tue ich nicht."

"Doch." Er griff nach ihrer Hand. "Ich wünschte, das wäre nicht passiert. Aber ich kann es nun nicht mehr ändern und darum möchte ich, dass du mir etwas versprichst."

"Und was soll das sein?"

"Daß du dich von dieser Person fernhältst. Von ihr und allen Schülern ihrer Schule. Bitte. Das ist wichtig. Du weißt noch nicht, wie wichtig, und ich hoffe inständig, dass du es auch nie erfährst."

Aya schüttelte den Kopf. "Wie kann ich dir so was versprechen, wenn ich nicht mal weiß, worum es überhaut geht? Ich habe doch gar nichts zu tun mit der ganzen Sache." Sein Blick traf sie wie ein Schlag. "Das habe ich doch nicht, oder?"

"Halt dich einfach nur fern von ihnen, okay?"

"Aber, ich..."

"Vertrau mir." Er zog sie zu sich und küsste sie. Aya war entsetzt, dass er das tat, aber nur einen Augenblick lang. Dann schloß sie die Augen und wünschte sich, dieser Moment würde ewig dauern. Als er sich schließlich von ihr löste, wollte sie die Augen am liebsten gar nicht mehr öffnen. Und als sie es dann tat, war Taro nicht mehr da.
 

Als Aya nach Hause kam, fühlte sie sich, als hätte sie seit Tagen nicht mehr geschlafen. Sie hatte noch lange auf dem Spielplatz gesessen und versucht, die Dinge zu verstehen, die ihr heute widerfahren waren. Irgendwann hatte sie zu weinen begonnen. Erst, als es langsam dunkel wurde, hatte sie sich beruhigt und war schließlich aufgestanden, um nach Hause zu gehen. Ihre Mutter würde sicher noch nicht von der Arbeit zurück sein und Aya wollte noch etwas Zeit haben, um sich zu beruhigen.

Doch als Aya in ihre Straße einbog und auf das Haus zuging, in dem sie aufgewachsen war, fiel ihr auf, dass im Wohnzimmer Licht brannte. War ihre Mutter doch schon daheim? Sie sollte heute doch Spätschicht haben. War etwas passiert? Mit einem unguten Gefühl im Magen kramte Aya ihren Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Haustür.

Es war erstaunlich still. Normalerweise lief irgendwo Musik oder es waren Geräusche aus der Küche oder einem anderen Raum zu hören. Nicht so an diesem Abend. Die Stille senkte sich schwer auf Ayas Herz. Sie schloß die Tür hinter sich und zog ihre Schuhe aus.

"Mama?"

Aya stellte ihre Schuhe beiseite und hielt dann verwundert inne. Da stand das Paar ihrer Mutter und noch eins. Eines, das Aya nicht kannte. Mädchenschuhe.

"Mama?"

Aus dem Wohnzimmer hörte sie nun leise Stimmen, aber keine Antwort. Das ungute Gefühl in Ayas Magen wurde drängender. Eine leichte Übelkeit begann in ihr aufzusteigen. Sie ging auf den Flur und um die Ecke zum Wohnzimmer.

Ihre Mutter saß am Tisch, das Gesicht Aya zugewandt. Ihr gegenüber und mit dem Rücken zu Aya saß ein Mädchen mit langen braunen Haaren und einer Schuluniform mit schwarzem Rock und roten Strümpfen. Es sah aus wie...

"Aya!" Ihre Mutter lächelte und winkte ihre Tochter zu sich. "Komm her, ich möchte, dass du deine Cousine begrüßt."

Das Mädchen drehte sich um. Es lächelte und stand auf, um sich zu verbeugen. Ayas Übelkeit verstärkte sich.

"Mado", hauchte sie und hatte das Gefühl, in einen unsinnigen Traum abgeglitten zu sein, aus dem sie nicht mehr erwachen konnte. Sollte dies alles denn nie ein Ende haben? Was hatte sie bloß verbrochen?

"Ihr kennt euch schon?" Ayas Mutter sah die beiden Mädchen erstaunt an. "Na, um so besser. Aya, setz dich doch. Möchtest du einen Tee?"

Sie schüttelte den Kopf. Von ihr fernhalten sollte sie sich. Sie hatte es versprochen. Hatte es Taro versprochen. Sie war ihr nur einmal begegnet. Sie hatte versucht, Taro umzubringen. Und nun stand sie in ihrem Haus, redete mit ihrer Mutter und sollte ihre Cousine sein. Was war das für ein Spiel? Was passierte mit ihr? Ihr Kopf schmerzte. Etwas hämmerte mit voller Wucht gegen ihre Schläfen.

"Was willst du hier?"

Mados Lächeln gefror. "Ich wollte euch besuchen, Cousine."

"Cousine? Du bist nicht meine Cousine. Ich kenne dich nicht, ich habe dich erst einmal in meinem Leben gesehen und das war vor ein paar Stunden auf der Straße. Als du versucht hast, Taro zu töten." Plötzlich setzte etwas in Aya aus. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie begann zu schreien. "Warum hast du das getan? Warum wolltest du ihn töten? Warum wolltest du Taro töten?"

Mado stand wie versteinert da und sagte nichts. Sie sah sehr ernst aus und hatte die Hände zu Fäusten geballt, als wolle sie auf Aya losgehen. Soll sie nur, dachte Aya, soll sie mich nur schlagen. Meine Mutter wird sie rauswerfen und dann wird sie nie wiederkommen. Soll sie doch sehen, was sie davon hat. Doch Mado tat nichts dergleichen. Ganz im Gegenteil: Sie setzte sich ruhig wieder an ihren Platz und trank ihren Tee.

Aya konnte es nicht fassen. Hier stand sie, völlig aufgelöst, wütend und verzweifelt und alles, was sie als Antwort bekam, war das? Sie schluchzte und wollte auf Mado losgehen, wollte - wenn nötig - alles aus ihr herausprügeln. Aber mitten in der Bewegung stockte sie. Sie sah das Gesicht ihrer Mutter. Und dann hörte sie ihre Worte.

"Taro ist hier?" fragte sie und in ihre Augen trat ein Ausdruck, der zwischen Entsetzen und unbändigem Zorn lag.

"Ja. Schon seit einiger Zeit." Mado nahm wieder einen Schluck von ihrem Tee. "Wir haben schon öfter versucht, ihn zu stellen, aber er ist stark. Vielleicht etwas zu stark. Beinahe hätte er Katsumi auf dem Gewissen gehabt."

"Aber sie beherrscht die Alte Macht!"

"Ja. Es hat ihr nichts gebracht. Er hat sie so übel zugerichtet, dass sie ins Koma gefallen ist. Gestern hat sie die Augen wieder geöffnet, aber es wird noch lange dauern, bis sie sich wieder erholt hat." Mado warf einen flüchtigen Blick auf Aya. "Es ist nun an der Zeit."

Ayas Mutter nickte. Und plötzlich war sie nicht mehr die Frau, die Aya an ihrem ersten Schultag fast zur Schule hatte schleifen müssen, die an ihrem Bett gesessen hatte, wenn sie krank war. Sie war nicht mehr die, die Ayas Ehrgeiz angestachelt hatte, wenn wichtige Prüfungen anstanden, die abends spät nach Hause kam und noch in das Zimmer ihrer Tochter geschlichen kam, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei. Von einer Sekunde auf die andere hatte sich die fürsorgliche Frau in eine völlig Fremde verwandelt. Es lag eine Kälte in ihrem Blick, die zuvor niemals da gewesen war.

"Dann muß es so sein." Sie stand auf und ging auf Aya zu. "Du wirst morgen dieses Haus verlassen. Mado wird hier bleiben und dich morgen früh mitnehmen."

"Was?" Aya blickte verwirrt zwischen ihrer Mutter und Mado hin und her. Das konnte doch alles nicht wahr sein! War das zu fassen? "Das ist doch ein Scherz?"

"Hör zu, Aya. Dein ganzes Leben bis zu diesem Augenblick ist unbedeutend. Vergiß die unwichtigen Dinge. Vergiß deine Schule, deine Freunde, dein Heim, deine Gewohnheiten. Ab morgen wirst du für deine Bestimmung leben. Und nur noch dafür. Alles andere zählt nicht mehr. Mado wird dich zur Odoroki High mitnehmen, ihrer Schule. Dort wirst du leben und tun, was zu tun ist." Ihre Mutter drehte sich um und ging zu der kleinen Kommode neben dem Fenster zum Garten.

Aya wollte etwas sagen, sie wollte schreien und weinen und diskutieren. Aber sie konnte keinen Ton herausbringen. Ihre Kehle war zugeschnürt, in ihrem Mund hatte sie einen bitteren Geschmack. Was geschah, verfolgte sie nach außen mit albtraumhafter Gleichgültigkeit, nach innen zerrissen sie Fragen und Erkenntnisse, ohnmächtige Wut und hilflose Trauer. Sie konnte gar nichts tun. Alles war ihrer Kontrolle entglitten.

"Das hier gebe ich Mado mit." Ihre Mutter nahm ein schwarzes Bündel aus der obersten Schublade der Kommode. "Sie wird es dir geben, wenn du bereit dafür bist. Alle Fragen, die du hast, werden dir beantwortet werden. Aber nicht von mir. Es gibt jemanden, der die alleinige Pflicht hat, dich über alles zu unterrichten."

Aya schluckte. Noch immer konnte sie nichts sagen. Sie starrte ihre Mutter an, die nun nicht mehr ihre Mutter zu sein schien. So schnell. Warum ging das alles bloß so schnell?

"Erfülle deine Aufgabe, Aya."

Das waren die letzten Worte, die Aya vor ihrem Abschied von ihrem alten Leben von ihrer Mutter hörte. Und ihre Augen, diese kalten Augen, begleiteten sie in die schwarze Stille, in die sie nun fiel. So erschöpft war sie, dass sie das Dunkel mit offenen Armen empfing. Geborgenheit fand sie nur noch in der Einsamkeit der Ohnmacht.
 

Die Ödnis. Irgendwann war Aya aus der Dunkelheit in das Land ihrer Träume gezogen worden. Und dort saß sie nun am Rand eines gewaltigen Felsplateaus, ließ die Beine von dem Stein baumeln, auf dem sie saß, und starrte in den leeren Himmel. Die Stille um sie herum war bedrückend, aber immer noch leichter zu ertragen, als alles, was in den letzten Stunden um sie herum geschehen war. Wie ein Häufchen Elend kam sie sich vor, machtlos gegen ihre Umwelt und nur sicher in sich selbst. Sicher in ihren Träumen, wo alles so vertraut und ewig gleich war.

Ewig gleich...

Aya runzelte die Stirn und sah in das Tal hinunter, das sich unter ihr erstreckte. Sie wusste nicht, was ihren Blick so anzog, denn dort unten gab es nichts als Geröll. Steine über Steine, an denen absolut nichts interessantes war. Und trotzdem...

Langsam stand sie von ihrem Platz auf und trat ein paar Schritte vor. Sie kam dem Rand des Plateaus, das gefährlich steil abfiel, nun beunruhigend nah, aber das kümmerte sie im Moment eher wenig. Sie wollte wissen, was es war, das ihren Blick auf sich zog. Was verbarg sich dort unten im Tal?

Noch einen Schritt nach vorn und noch einen... Immer noch war nichts zu erkennen. Aya wurde nun langsam schwindelig. Sie musste nach unten, um des Rätsels Lösung zu finden. Ihr Blick wanderte am Rand des Felsplateaus entlang. Keine Möglichkeit, um nach unten zu kommen. Also musste sie klettern. Das war gefährlich, sicher. Aber wozu war dies ein Traum?

Aya ließ sich auf die Knie hinunter und schwang ein Bein in die Leere hinter dem Abgrund. Das andere folgte nach kurzem Zögern. Sie suchte mit der rechten Hand nach Halt. Ihr linker Fuß rutschte ab. Aya schrie auf, klammerte sich mit beiden Händen verzweifelt am Fels fest. Nun wurde ihr klar, was für eine dumme Idee das alles gewesen war. Sie würde abstürzen und sterben. Wenn die Dinge aus ihren Träumen Wirklichkeit werden konnten, dann war sie selbst vielleicht auch ein bizarres Stück Realität in ihren Träumen. Und wenn dem so war, konnte diese fatale Lage sie umbringen.

Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, versuchte Aya, sich wieder nach oben zu ziehen. Es gelang ihr nicht. Sie suchte mit den Füßen nach Halt, um ihre Arme zu entlasten, aber sie fand nur Leere. Sie verrenkte sich beinahe den Hals, um unter sich vielleicht einen Felsvorsprung oder etwas ähnliches zu finden, auf dem sie stehen konnte. Doch das einzige, was sie sah, war ein Kreis aus schwarzen Monolithen unten im Tal. In der Mitte des Tals.

Für einige Sekunden vergaß Aya ihre missliche Lage und starrte den Steinkreis an. Der war zuvor nicht da gewesen. Sie war sich hundertprozentig sicher. Sieben Monolithen, in einem perfekten Kreis angeordnet... Das wäre ihr doch aufgefallen.

Ein stechender Schmerz durchfuhr ihre linke Hand. Aya blickte wieder nach oben und sah Blut von ihren Händen die Arme hinabfließen. Es musste etwas geschehen, sonst wäre sie verloren. Sie versuchte weiter, einen Halt zu finden, irgendeinen Halt, der zumindest fürs erste Sicherheit versprach. Aber nichts dergleichen fand sich. Ihre Kräfte schwanden. Und als sie schon loslassen wollte und hoffte, noch vor dem Aufprall aufzuwachen, packte jemand ihre Handgelenke und zog sie nach oben. Ihre Knie schlugen sich am Gestein blutig und auch ihre Ellbogen waren aufgeplatzt. Doch als sie über den Rand des Abgrunds gezogen wurde und wieder festen Boden unter sich spürte, waren die Schmerzen plötzlich gar nicht mehr so schlimm.

Sie holte ein paar Mal tief Luft und versuchte, die Scham über ihre eigene Dummheit und ihren Leichtsinn zu verdrängen. Und dann fiel ihr ein, dass der einzige, der außer ihr in dieser Welt existierte, Taro war. Sie unterdrückte ein Lächeln und hinter geschlossenen Lidern sah sie sein Gesicht. Wenn sie ihn wenigstens sehen konnte... Wenn sie ihn fragen konnte, was eigentlich geschah, was bloß los war mit ihr und der Welt... Vielleicht würde sie einiges besser verstehen.

Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Augen.
 

"Mado?"

Aya erwachte in ihrem Zimmer und das erste, was sie sah, war das Gesicht des braunhaarigen Mädchens über sich. Es hatte fast nachtschwarze Augen.

"Bist du endlich aufgewacht?" Mado nahm Aya einen kalten Lappen vom Kopf und legte die Hand auf ihre Stirn. "Zumindest scheinst du kein Fieber mehr zu haben. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, dass ich dich zur Schule tragen muß."

"Schule?" Aya setzte sich auf und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie lag in ihrem Zimmer und Mado war bei ihr. Zuvor hatte sie geträumt, einen schrecklichen Traum, den sie lieber so schnell wie möglich wieder vergessen wollte. Und davor...

Aya hatte das Gefühl, als würde sie in eiskaltes Wasser geworfen. Ihr schlaftrunkenes Hirn hatte einige Zeit gebraucht, um die Ereignisse des gestrigen Tages wieder abzurufen. Wahrscheinlich hatte es schon damit angefangen, all das Schreckliche zu verdrängen. Und nun war auf einen Schlag alles wieder da.

"Was ist?" Mado runzelte die Stirn. "Du bist so blaß. Geht es dir noch nicht wieder besser?"

"Besser?" Aya lachte höhnisch auf und schob sich rückwärts über das Bett von Mado weg. Plötzlich bekam sie Angst. Dieses Mädchen war wie ein Dämon, den sie nicht los wurde. "Mir ging es noch nie so schlecht!" Es war, als müsse sie diese Worte hervorwürgen. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Schule... Diese Verrückte hatte etwas von Schule gesagt. Und Aya nahm an, dass sie damit dieses verfluchte Internat meinte, vor dem Taro sie gewarnt hatte.

Mado lächelte. Sie stand auf und ging zu einem Stuhl hinüber, der am Fenster stand. Über der Lehne hing eine Schuluniform. Die der Odoroki High. Neben dem Stuhl stand eine gepackte Reisetasche. "Glaub mir, das legt sich." Sie sprach ganz ruhig, als sie die Uniform von der Lehne nahm und sie Aya brachte. "Jedem von uns ging es am Anfang so. Du wirst bald unter deinesgleichen sein. Und du wirst dich besser fühlen als je zuvor."

"Meinesgleichen?" Aya rutschte noch ein Stück zurück. Sie musste aufpassen, denn nun hatte sie die Bettkante erreicht. "Was redest du denn da? Geh einfach weg und laß mich in Ruhe! Damit wäre ich schon mehr als zufrieden."

Mado schüttelte den Kopf. "Tut mir leid, aber das kann ich nicht. Du wirst es bald verstehen."

"Ich will gar nichts verstehen, hörst du? Das... das ist doch alles völlig absurd!" Nun sprang Aya aus dem Bett. "Geh weg und komm nicht wieder! Ich will meine Ruhe haben. Und zwar ab sofort!" Sie ging mit energischen Schritten um das Bett herum und öffnete ihre Zimmertür. Mado sah ihr beinahe gleichgültig hinterher und machte auch keinerlei Anstalten, sie aufhalten zu wollen. Das verdutzte Aya, befriedigte sie aber auch gleichzeitig ungemein. Sie musste sich beherrschen, nicht laut loszulachen. Wahrscheinlich hätte Mado sie dann für völlig verrückt und unzurechnungsfähig erklärt. Und gerade das wollte Aya vermeiden. Nein, ihr klarer Verstand war jetzt alles, was sie noch hatte.

Mit einem selbstzufriedenen Lächeln warf Aya die Tür hinter sich ins Schloß, zögerte und öffnete sie dann noch einmal einen Spalt. "Ich gehe jetzt ins Badezimmer. Und wenn ich zurückkomme, will ich dich hier nicht mehr sehen!" Rumms - die Tür war wieder zu und Aya rannte ins Bad, wo sie als erstes die Tür hinter sich abschloß.

"Mein Gott", hauchte sie und lehte sich gegen die kühlen Fliesen an der Wand. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie ballte sie zu Fäusten und atete ein paar Mal tief durch, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Eigentlich war ihre Situation lächerlich. Lächerlich, weil so etwas gar nicht passieren konnte! Das geschah in schlechten Filmen, in Büchern, in Träumen - überall, aber doch nicht in der Wirklichkeit! Und doch lief dieses Mädchen in ihrem Haus herum, wollte sie mitnehmen auf eine fremde Schule und hatte augenscheinlich auch schon Ayas Sachen eingepackt.

Ich glaube, ich werde wirklich verrückt. Aya stieß sich von der Wand ab und ging zum Waschbecken hinüber. Bestimmt ist das alles nur ein Traum. Einer, aus dem ich nicht wieder erwacht bin. Wie diese andere Welt, die mir auch so wirklich erscheint, wenn ich sie im Traum sehe. Eine andere Stimme meldete sich aus dem Dunkel ihres Geistes. Aber wenn du in dieser fremden Welt bist, dann weißt du immer, daß es nur ein Traum ist. Und jetzt...

Aya drehte den Kaltwasserhahn am Waschbecken auf und hielt ihre Hände in den Wasserstrahl. Die Kälte betäubte ihre Finger und ließ sie erschaudern. Entschlossen spritzte sie sich das Wasser ins Gesicht.

Ich muß aufwachen! Ich träume! Ich träume!

Das Wasser prickelte auf Ayas Haut und vertrieb die Schwere aus den Lidern. Sie keuchte, als sie die Kälte nicht mehr ertragen konnte, stellte das Wasser ab und griff nach einem Handtuch. Als sie sich abgetrocknet hatte, blickte sie in den Spiegel und stöhnte leise. Das ist kein Traum. In einem Traum würdest du niemals so schrecklich aussehen.

Die nächste halbe Stunde verbrachte Aya damit, sich zu waschen. Als sie sich anziehen wollte, fiel ihr Blick auf die Tür. Dort hing - an einem Haken - ihre Schuluniform. Und in diesem Moment beschloß sie, sich nicht unterkriegen zu lassen. Gut, es waren eine Menge Dinge geschehen und nun stand eine Verrückte in ihrem Zimmer, die sich sehr penetrant in ihr Leben einmischte. Aber das war noch lange kein Grund, sich unterkriegen zu lassen. Sie würde ihr altes Leben weiterleben und irgendwann wäre alles wieder in Ordnung. Und wenn nicht... Aya pustete sich eine Strähne ihres rotbraunen Haares aus dem Gesicht. Und wenn nicht, dann würde sie zumindest herauszufinden versuchen, was in aller Welt hier vorging!

Entschlossen nickte Aya und zog sich an.
 

Mado war natürlich nicht gegangen. Sie saß auf Ayas Bett, als diese in ihr Zimmer zurückkam, und warf ihr einen erstaunten Blick zu. "Wieso hast du deine alte Schuluniform angezogen? Ich hab dir doch gesagt, daß du mit mir kommst."

Aya reagierte nicht auf ihre Worte. Sie nahm sie sehr wohl wahr und sie versetzten ihr auch einen kleinen Stich, aber nach außen hin blieb sie völlig ruhig. Sie nahm ihre Schultasche und verließ das Zimmer. Mado folgte ihr - mit der Reisetasche in der Hand. "Du hast das hier vergessen."

Wortlos verschwand Aya in der Küche, um sich ihr Essen für die Schule zu machen. Sie war schon etwas zu spät dran, um selber noch frühstücken zu können. Aber ansonsten würde es noch reichen, um nicht zu spät zum Unterricht zu kommen. Sie bereitete sich ein paar Sandwiches und vermied es tunlichst, in Mados Richtung zu sehen, die mit verschränkten Armen in der Küchentür lehnte.

"Ist das eine neue Taktik?" Sie klang beinahe gelangweilt. "Willst du mich ignorieren? Ich habe dir doch schon gesagt, daß alles nicht so schlimm ist. Es wird bald alles in Ordnung sein."

Aya beschäftigte sich ausführlich mit dem Käse. Nein, sie würde nicht reagieren. Sollte Mado reden, so lange sie wollte. Irgendwann würde sie es leid sein und gehen. Zumindest hoffte Aya das.

"Was versprichst du dir denn davon?" Mado warf genervt die Arme in die Luft, als Aya sich an ihr vorbei aus der Küche drängte. Sie lief ihr bis ins Obergeschoß hinterher, wo sich das Schlafzimmer ihrer Mutter befand. Aya blieb vor der Tür stehen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und wieder zitterten ihre Hände. Was gestern abend geschehen war, das kam nun wieder in ihr hoch. Ihre Mutter, die sie so kalt angesehen hatte, die mit so distanzierter Stimme gesprochen hatte. Sie hatte sich verstoßen gefühlt. Aber es war doch sicher nicht so gemeint gewesen. Sicher nicht. Oder?

Zitternd streckte sie die Hand nach der Klinke aus. Jeden Morgen verabschiedete Aya sich von ihrer Mutter. Es würde sicher alles sein wie immer. Bestimmt... Sie würde im Bett liegen, die ersten Sonnenstrahlen würden wie Finger aus Licht in das Zimmer reichen, der Duft nach Lavendel würde im Raum hängen wie ein zarter Schleier. Als sie die Klinke berührte, kroch ihr die Angst die Kehle hinauf. Und was, wenn nicht?

"Tu es nicht." Mado legte Aya sanft eine Hand auf die rechte Schulter. "Sie wird nicht da sein. Nichts wird mehr so sein, wie es war."

Aya, immer noch fest entschlossen, ihren Schatten zu ignorieren, drückte die Klinke hinunter. Mado verstärkte den Druck ihrer Hand. "Bitte nicht." Beinahe flehend klang ihre Stime. Aya war versucht, auf sie zu hören, schüttelte sie dann aber doch ab und öffnete die Tür.

Eine eiskalte Hand schien nach ihrem Herzen zu greifen, als Aya in das Zimmer blicket. Ihre Mutter war nicht da. Es war gar nichts mehr da. Der Raum war leergeräumt, das Fenster so schmutzig, daß kaum noch Licht hindurchfiel und von der Wand blätterten Farbe und Putz ab. Aya schlug die Tür zu und stolperte zurück. Sie wäre gefallen, hätte Mado sie nicht festgehalten. Wimmernd stand sie auf dem Flur, starrte auf die Tür, hinter der sich ihr dieses grauenhafte Bild gezeigt hatte, und verstand nicht, was das bedeuten sollte. Nichts von all dem hier verstand sie.

"Es tut mir leid." Mado strich Aya übers Haar und lächelte traurig. "Ich wünschte, ich hätte das verhindern können."

Aya starrte Mado an, als würde sie das Mädchen zum ersten Mal in ihrem Leben sehen. Ihr Herz schlug schwer in ihrer Brust und die Angst legte sich wie tausend Ketten um ihren Körper. Sie war nicht fähig, sich zu bewegen oder auch nur ein Wort zu sprechen. Grauenhaft war das. Zu grauenhaft, um es wahr sein zu lassen. Sie wollte es nicht akzeptieren. Konnte es nicht. Doch anscheinend...

"Komm mit mir." Mado sah Aya in die Augen. Tränen standen darin und ein Ausdruck von tiefem Entsetzen. "Hier hast du kein Heim mehr. Aber bei uns wirst du ein neues finden."

Aya sah wieder zur Tür. Hatte sie wirklich alles verloren? Alles, was einmal wichtig gewesen war - war das alles weg? Auf einmal begann sie zu weinen. Hemmungslos und wie irr. Sie ließ alles heraus, was sich seit dem gestrigen Tag in ihr angestaut hatte. All die Wut, die Verzweiflung und die Angst. Es konnte nicht alles vorbei sein, das durfte es nicht!

Mado wollte Aya in die Arme nehmen, doch die schrie auf, riß sich los und stürzte die Treppe hinunter. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal, schnappte sich im Laufen ihre Schultasche, schlüpfte in ihre Schuhe und rannte wie von Furien gehetzt auf die Straße.

Sie lief so lange, bis ihre Lunge wie Feuer brannte, ihre Beine schmerzten und schwarze Punkte vor ihren Augen zu tanzen begannen. Erst dann verlangsamte sie ihren Lauf und lehnte sich erschöpft an eine Straßenlaterne.

Nein. Nein! Die Stimme in ihrem Kopf klang verzweifelt. Das kann nicht sein. Es kann sich doch nicht einfach alles in Luft auflösen!

Sie ging weiter. Sehr viel langsamer diesmal. Ihr Kopf schmerzte.

Und was willst du jetzt tun, kleines Mädchen? Aya runzelte die Stirn. Sie wußte es nicht genau. Sie wollte irgendwo hin, wo sie sich wohl und sicher fühlen konnte. Das Bild des verlassenen Zimmers erschien vor ihrem inneren Auge. Es hatte beinahe gewirkt, als ob noch nie jemand darin gewohnt hätte. Noch nie... Aber wenn das so war, wieso hatte sie das in all den Jahren, die sie in diesem Haus lebte, nie bemerkt? Und was hatte es dann mit ihrer Mutter auf sich? Vielleicht hatte Mado ihr ja auch Drogen verabreicht? Aya schüttelte den Kopf. Es war seltsam, aber das konnte sie sich nicht vorstellen.

Irgendwann erwachte sie aus ihren wirren Gedanken und begann, ihre Umgebung wieder bewußt wahrzunehmen. Sie erschrak beinahe, als sie sah, wohin sie ihr Weg geführt hatte. Ihre Schule erhob sich vor ihr - groß und hell im Licht des frühen Morgens. Rings um Aya herum strömten Schüler dem Tor zu. Sie redeten und lachten und plötzlich fühlte Aya sich ganz klein und unwichtig. Sie trat ein paar unsichere Schritte auf das Schulgelände zu und hielt dann inne. Ein paar Meter von ihr entfernt stand Ikuko bei einigen Mädchen und unterhielt sich angeregt mit ihnen. Sie wirkte sehr fröhlich und schien den gestrigen Streit mit ihrer Freundin schon vergessen zu haben.

Aya wollte auf sie zugehen. Sie wollte es wirklich, aber ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie konnte es nicht. Stand nur da und starrte die fröhlichen Mädchen an.

Warum bewegst du dich nicht? Aya beobachtete, wie Ikuko laut zu lachen begann. Sie ist deine beste Freundin. Du wirst bei ihr in Sicherheit sein.

Irgendetwas in Aya bewegte sich. Emotionen, die sie sehr lange tief in sich versteckt hatte und von denen sie nicht wußte, was sie eigentlich bedeuteten.

Ikuko sah in ihre Richtung. Ayas Herz blieb beinahe stehen, als sich ihre Blicke trafen. Und plötzlich war die Barriere weg. Sie ging zu ihr hinüber und lächelte verhalten. "Iku-chan... Hallo. Ich... Kann ich mit dir reden?"

Ikuko runzelte verwirrt die Stirn. Nein, sie wirkte nicht böse, nicht wütend oder beleidigt, sondern einfach nur zutiefst irritiert. Das Gespräch der anderen verstummte. Aya hatte das Gefühl, im Auge eines Wirbelsturms zu stehen. Die Stille legte sich schwer auf ihr Herz.

"Und worüber sollten wir zu reden haben?"

Was war das nur für eine Distanz in Ikukos Stimme? Sie war wohl immer noch wütend. Aber da war mehr. In ihrem Blick, in der Art, wie sie den Mund verzog...

"Über gestern. Es tut mir leid. Bitte, können wir darüber nicht... in Ruhe reden?" Aya beobachtete die anderen Mädchen aus den Augenwinkeln. Nanami, ein schüchternes Mädchen, das mit Aya in eine Klasse ging, starrte sie mit offenem Mund an. Und auch die anderen glotzten, als wäre sie verrückt geworden.

"Und was war gestern?" Ikuko sah das Mädchen neben sich an. Das zog die Schultern hoch und schüttelte den kopf.

"Sei doch nicht so nachtragend, Iku-chan." Aya fühlte sich immer unwohler. Was war denn bloß los?

"Entschuldige, aber ich glaube, du hast da ein kleines Problem. Ich kenne dich nicht. Keine Ahnung, woher du meinen Namen weißt. Tu mir einen Gefallen und geh zurück in die Anstalt, aus der du ausgebrochen bist." Sie und die Mädchen begannen schallend zu lachen und entfernten sich Richtung Schulgebäude.

Aya hatte das Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Sie sah den anderen hinterher und wußte, daß Ikuko es ernst meinte. Sie würde niemals solche Dinge sagen, nicht einmal im größten Zorn. Sie meinte es ernst. Sie kannte Aya nicht. Erschüttert und hilfos starrte sie nach oben zu den Fenstern, hinter denen ihr Klassenzimmer lag. Sie waren geschlossen und die Morgensonne spiegelte sich in ihnen. Und doch glaubte Aya, ein Dutzend neugieriger Gesichter zu sehen, die zu ihr hinunter starrten. Und plötzlich wußte sie, daß sie hier keinen Platz mehr hatte. Jedes bißchen Wut, das sie noch vor kurzem zu empfinden fähig gewesen war, verflog von eienr Sekunde auf die andere, alle Angst wurde hinfortgespült von einer Welle der Hilflosigkeit, die Aya in ihrem Leben noch nie so verspürt hatte.

Sie senkte den Kopf und vergoß die letzten Tränen, die noch übrig waren, für ihr vergangenes Leben. Dann drehte sie sich um und wunderte sich eigentlich kaum, daß Mado am Schultor stand. Sie hielt Ayas Reisetasche in der Hand. Wie ein Geist bewegte Aya sich auf sie zu, wissend, daß sie nun eigentlich der einzige Halt für sie war. Vielleicht das einzige Wesen auf dieser Welt, für das sie noch real war.

"Das hätte nicht geschehen müssen." Mado empfing Aya mit einem traurigen Lächeln. Da lag kein Hohn in ihrer Stimme, kein Tadel - nichts, außer Mitgefühl. "Es wäre vielleicht einfacher gewesen, wenn du das hier nicht erlebt hättest."

Aya verstärkte den Griff um ihre Schultasche. "Warum?" Die Frage kam leise, beinahe war sie nur ein Flüstern, das vom Wind fortgetragen wurde.

"Es ist dein Schicksal." Mado seufzte. "Unser aller Schicksal. Würdest du noch etwas von Wert auf dieser Welt besitzen, würde man dir außer bei uns noch Liebe und Freundschaft entgegenbringen, wärst du wahrscheinlich nicht bereit, zu uns zu kommen. Das wäre niemand und das ist kein Vorwurf. Jemand hat es so geregelt, daß alle vergessen. Und daß es dir auch leichter fällt, zu vergessen. Du mußt frei sein. Frei für deine Aufgabe."

"Ich habe keine Aufgabe." Ayas Kopf war so leer von jeglichen Gedanken, daß sie das Gefühl hatte, leicht wie eine Feder zu sein. "Bestimmt keine, die du meinen könntest." Sie seufzte. "Ich habe doch nicht einmal mehr ein Leben."

"Doch. Du hast alles in deinem Herzen. Aber alles, was war, ist nun unwiderbringlich verloren und du solltest nicht mehr daran hängen. Ich weiß, daß es sich unmöglich anhört. Aber..." Mado zögerte, so als würden ihr die nächsten Worte sehr schwer fallen. "Es geht, Aya. Du kannst es schaffen. Ich weiß, wovon ich rede."

"Hast du das auch erlebt?"

"Ja. Vor langer Zeit. Ich weiß, wie es ist."

Aya nickte. "Bring mich bitte weg von hier." Sie fühlte, wie Mado sie am Arm nahm und mit ihr die Straße hinunterging. Ihre Füße bewegten sich, ohne daß sie groß etwas dazu tun mußte. Es kostete sie keine Anstrengung mehr, von all dem Abschied zu nehmen, was sie bisher gekannt hatte. Ihr Herz war leer und sie warf keinen Blick mehr zurück.
 

Als die Bahn anhielt und Mado mit Aya nach draußen trat, begann es zu regnen. Mado flüchtete unter ein Vordach und winkte Aya, ihr zu folgen. Auf einer Bank stellte sie die Reisetasche ab und zog eine Jacke heraus, die sie Aya reichte. Es war die gleiche, die Mado auch trug.

"Zieh sie an. Ich möchte nicht, daß du krank wirst."

Aya wollte etwas erwidern, wollte sagen, daß sie kein kleines Kind war, nickte aber nur und zog die Jacke an. Sie paßte ihr genau. Ein merkwürdiges Kribbeln überlief ihren Rücken. In was für ein Spiel war sie da bloß hineingeraten? Plötzlich tauchte Taros Gesicht vor ihr auf. Es schien schon so lange her zu sein, daß sie ihn getroffen hatte, und doch war es erst gestern gewesen. Er hatte sie gewarnt. Ein bitteres Lächeln huschte über Ayas Gesicht. Es hätte alles anders kommen können. Wenn sie nur verstehen würde, was hier vorging...

"Ist alles in Ordnung?" Mado hatte sich die Tasche wieder über die Schulter geworfen und sah Aya besorgt an. Sie wirkte sehr erwachsen.

"Alles klar."

Seite an Seite gingen sie weiter. Keines der beiden Mädchen sprach ein Wort und das Schweigen lag wie eine schwere Last auf ihnen. Ein paar Mal setzte Mado dazu an, etwas zu sagen, doch immer wieder ließ sie es sein, nachdem sie einen Blick auf Ayas verschlossenes Gesicht geworfen hatte. So setzten sie ihren Weg fort - durch einen Stadtteil, den Aya nicht kannte.

In diesem Straßengewirr finde ich niemals mehr allein zurück, dachte Aya einmal. Im nächsten Moment fiel ihr dann ein, daß es ja gar keinen Ort gab, an den gehen konnte. Warum habe ich keine Angst?

Irgendwann blieb Mado stehen. Aya bemerkte es zu spät und ging noch einige Schritte weiter, ehe auch sie anhielt. Müde blickte sie sich um.

Sie befanden sich nun weit außerhalb des Stadtzentrums. Um sie herum gab es überall Grünanlagen und nur wenige Häuser waren in der Straße zu finden. Vögel zwitscherten in Bäumen und Büschen, auf dem Gehweg standen zwei alte Frauen und unterhielten sich leise. Wo die Straße einen scharfen Knick nach rechts machte, lag ein gewaltiges Anwesen. Es war ein riesiges Landhaus, ja, beinahe ein kleines Schloß. Im mittelalterlichen Stil - wie Burgen aus Europa - erbaut, stand es mächtig und imposant auf der Kuppe eines kleinen Hügels. Obwohl sämtliche Wände weiß waren, lag eine merkwürdige Dunkelheit über dem Haus. Wie der Schatten eines Riesen. Das Gelände um den Bau herum war wie ein Park gestaltet - ein wunderschönes Fleckchen Erde, wie Aya eingestehen mußte. Allerdings eingezäunt. Geschützt von schwarzem Stahl, der vorn an der Einfahrt ein riesiges Flügeltor bildete. Dahinter lag eine lange Auffahrt aus weißem Kies. In der Ferne sah Aya Jugendliche. Sie trugen die Schuluniformen der Odoroki High.

"Das ist...?" Aya war seltsam gefesselt von dem Anblick. Eine ihr unerklärliche Erregung begann sie zu erfassen und sie bemerkte, wie sie von einem Fuß auf den anderen trat. Es war, als würde sie etwas rufen. Etwas, das sich in diesen Mauern befand.

Mado ging an ihr vorbei auf das große Tor zu. "Ja", sagte sie und schob den rechten Flügel auf. "Das ist die Odoroki High, deine neue Schule und... dein neues Zuhause." Die letzten Worte hatte sie sehr leise gesprochen.

"Es ist wunderschön." Immer noch gebannt von dem Anblick setzte Aya sich wieder in Bewegung und folgte Mado durch das Tor. Sie schritten die Auffahrt hinauf. Leise knirschte der Kies unter ihren Schritten.

"Wie lange steht dieses Haus schon?"

Mado runzelte die Stirn. "Ich glaube, das weiß niemand so genau. Auf jeden Fall sehr lange. Es gibt Gewölbe unter der Schule, die schon sehr alt und verfallen sind. Niemand geht dort freiwillig hinein. Es soll sogar schon vorgekommen sein, daß Schüler nicht mehr aus dem Dunkel zurückgekehrt sind." Sie winkte abwertend mit der rechten Hand. "Aber das Haus über den Gängen ist bestimmt schon ein Dutzend Mal teilweise neu aufgebaut und renoviert worden. Ich glaube nicht, daß es in den oberen Gemäuern noch sehr viel Altes gibt." Ein verschwörerisches Zwinkern folgte diesen Worten. "Außer den Lehrern natürlich."

Aya sah zu den Türmen hinauf, die links und rechts vom Eingang erbaut waren. Sie wirkten wirklich nicht besonders alt.

Mado schien froh zu sein, daß das Schweigen beendet war. Sie erzählte Aya eine Menge Dinge über das Haus und seine Vergangenheit, auch über die Anlage, die das Gebäude umgab. Aya hörte ihr nicht richtig zu. Zwar quittierte sie die Erklärungen gelegentlich mit einem leichten Nicken, doch keins von Mados Worten drang wirklich in ihr Ohr. Zu sehr beschäftigte sie dieses Kribbeln in ihr, das immer stärker wurde, je näher sie der Schule kamen.

Als sie den Eingang ereichten, versiegte Mados Redefluß plötzlich. Aus der hohen Tür, die wie das Tor an der Einfahrt über zwei gewaltige Flügel verfügte, schob sich eine junge Frau. Ihr Haar hatte sie streng nach hinten gekämmt und ihre Kleidung - ein eng anliegendes graues Kleid - verstärkte den Eindruck von Strenge noch mehr. Die Arme waren vor der Brust gekreuzt. Die Mundwinkel hatte sie leicht nach unten gezogen und ihr Blick war nicht besonders freundlich.

"Mado Hiramatsu." Die Stimme der Frau war eiskalt. Sie bedachte Aya nur mit einem kurzen Seitenblick, doch der allein reichte schon aus, um ihren Nacken prickeln zu lassen. "Wirklich schön, daß du auch wieder auftauchst."

"Yoshida-sensei..." Mado wurde blaß. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. "Es tut mir leid, daß ich mich so verspätet habe."

"Das sollte es auch." Frau Yoshidas Gesicht glich einer wächsernen Maske. "Du kennst die Regeln dieser Schule. Und gerade von dir hätte ich am wenigsten erwartet, daß du sie verletzt."

Mado sah zu Boden. "Es war ganz bestimmt keine Absicht. Direktor Toki hat mich beauftragt, die neue Schülerin zu bringen. Und es war... etwas umständlich, sie hierher zu bringen."

Frau Yoshidas Blick zuckte zu Aya. Diese hatte das Gefühl, als wären die Augen dieser Frau eisige Nadeln, mit denen sie ihr Gehirn durchbohren konnte. "So." Sie nickte. "Du bist also die Neue. Ein eigenes Köpfchen hast du, was? Keine Sorge, das wird sich schnell ändern." Sie schwieg eine Weile und drehte sich dann um. "Folgt mir. Ich bringe euch zum Direktor."

Als Frau Yoshida in den Schatten der Eingangshalle verschwunden war, warf Aya einen langen Blick auf Mado. Die brauchte eine Weile, ehe sie sich wieder so weit gefaßt hatte, daß sie den Blick erwidern konnte.

"Vor ihr mußt du dich in acht nehmen", sagte sie leise. "Sie kennt keine Gnade. Wenn du die Regeln verletzt, verletzt sie dich."

Aya glaubte Mado aufs Wort.
 

Der Direktor, ein schlanker Mann in mittleren Jahren mit sorgfältig gestutztem Schnauzer, saß an seinem Schreibtisch und kratzte sich nachdenklich am Kinn, als Frau Yoshida und die beiden Mädchen eintraten. Er schien über etwas sehr Wichtigem zu brüten und die Ankömmlinge gar nicht zu bemerken. Aya sah sich aufmerksam um.

Das Zimmer, in dem das Büro lag, war nicht gerade ein Muster an Geschmack. Ein riesiger Schreibtisch stand in der Mitte des Raumes und auf ihm lag stapelweise Papier. Rechts von der Tür befand sich ein Kamin und darüber hing ein Porträt des Direktors. Der Rest des Raumes war gefüllt mit Kartons, in denen sich Ordner befanden. In der hintersten Ecke, halb vesteckt hinter einem Wandteppich, konnte Aya eine alte Holztruhe entdecken, die mit einem schweren Schloß gesichert war. Alles in allem machte der Raum einen recht freundlichen, wenn auch äußerst unordentlichen Eindruck.

Frau Yoshida räusperte sich umständlich. Als der Direktor immer noch nicht reagierte, zog sie verärgert die Brauen zusammen, sagte aber nichts weiter. Ein paar Minuten verstrichen in drückendem Schweigen, bis der Direktor endlich seufzte, den Kopf schüttelte und das Papier, über dem er gebrütet hatte, zur Seite schob.

Aya zuckte zusammen, als sein Blick sie traf. Etwas in ihr bäumte sich auf, als würde ein gewaltiges Sehnen sich regen, als würde sie auf diesen Mann zugezogen. Ihr wurde schwindlig und sie mußte sich beherrschen, sich nichts anmerken zu lassen. Für einen Moment fühlte sie sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Sie spürte, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht zu weichen begann. Ihre Hände zitterten.

Der Direktor wandte seinen Blick den anderen beiden Besuchern zu. Aya spürte, wie sich ihr Inneres entkrampfte und sie wieder normal zu atmen begann. Die anderen schienen nichts bemerkt zu haben.

"Direktor Toki", begann Frau Yoshida mit eisiger Stimme, "ich habe diese beiden hier gerade auf dem Schulgelände angetroffen." Ihre Augen funkelten kalt. "Sie haben nicht nur den Unterricht geschwänzt, nein, sie sind auch gerade erst eingetroffen!" Als wäre diese Tatsache allein schon Grund genug für eine mittlere Katastrophe, fletschte sie leicht die Zähne. Wie ein Raubtier.

Mado hatte die Hände zu Fäusten geballt, ließ sich aber ansonsten nichts von ihrer Erregung anmerken. Sie sah den Direktor an, der zu lächeln begonnen hatte.

"Ist schon gut, Frau Yoshida." Seine Stimme war sehr sanft und freundlich, doch es lag trotzdem eine unbestimmbare Distanz darin. "Es gab einen Grund dafür."

"Trotzdem darf ein Schüler nicht den Unterricht versäumen." Frau Yoshida schien nicht hinnehmen zu wollen, daß sie im Unrecht war. Sie erinnerte Aya an eine Spinne, die ihre Beute bereits im Netz zappeln sieht.

"Wenn man auf meinen Auftrag hin handelt, schon." Direktor Toki winkte nun ungeduldig mit der rechten Hand. "Ich habe einiges mit den beiden Damen zu bereden. Vielen Dank, daß Sie sie hergebracht haben, aber nun würde ich es doch vorziehen, mit ihnen allein zu sein."

Frau Yoshida zögerte und schien noch etwas sagen zu wollen, drehte sich dann aber lautlos um und verließ den Raum. Die Tür ließ sie lauter als nötig hinter sich ins Schloß fallen.

"Verzeiht." Der Direktor deutete auf zwei Stühle, die links neben der Tür in einer Nische standen. Mado und Aya zogen sie an den Schreibtisch und setzten sich. "Frau Yoshida ist ein wenig unwirsch, was solche Sachen anbelangt. Sie mag es nicht, wenn man ihre Autorität untergräbt." Er lehnte sich zurück. "Aber manchmal übersieht sie einfach, daß ich hier das Sagen habe."

Aya fühlte sich unwohl. Ihr Herz schlug etwas schneller, als es eigentlich gesollt hätte. Der Direktor musterte sie interessiert. "Du hast sie also gefunden, Hiramatsu."

Mado nickte. Jetzt, wo Frau Yoshida fort war, wirkte sie vollkommen ruhig und entspannt. "Ja. Es war nicht ganz so leicht, wie ich gehofft hatte. Aber doch nicht so schwierig, wie Sie befürchtet hatten." Sie zögerte einen Moment. "Ich denke, er hat sie noch nicht beeinflussen können."

"Gut. Dann sind wir ja noch rechtzeitig gekommen. Ich bin zufrieden mit dir, Hiramatsu."

Mado nickte und sah Aya an. Auf ihrem Gesicht lag ein leichtes Lächeln, aber in ihren Augen stand Besorgnis. Aya konnte sich gut vorstellen, warum. Die beiden redeten hier über sie, als wäre sie gar nicht anwesend. Oder als wäre sie zu dumm, um zu begreifen. Vielleicht bist du das sogar. Die Stimme in ihrem Kopf sprach leise, aber eindringlich. Die Fragen, die Aya sich stellte, verwirrten und verunsicherten sie. Was hatte Mado gemeint, als sie gesagt hatte, sie wäre noch nicht beeinflußt worden? Und von wem hatte sie da geredet? Weshalb war diese Sache geplant gewesen? War sie eine Trophäe, die man in irgendeinem kranken Spiel gewonnen hatte? Verlange nach Antworten. Wer sind sie, daß sie mit dir machen können, was sie wollen? Du bist Mado bis hierher gefolgt, du bist zu ihnen gekommen. Jetzt sind sie an der Reihe. Wut. Das war es, was in ihre aufzusteigen begann. Ihre Hände schlossen sich fest um die Sitzfläche des Stuhls, auf dem sie saß.

"Was geht hier vor?" Ihre Stimme zitterte. Sie begann, die Kontrolle über sich zu verliren. Etwas, das sie doch so unbedingt hatte vermeiden wollen.

Direktor Toki sah sie an, als hätte eine Puppe, die jahrelang leblos im Regal gesessen hatte, plötzlich angefangen zu sprechen. Einen winzigen Moment lang wurde sein Blick hart, dann entspannten sich seine Züge und er lächelte.

"Das ist eine gute Frage. Und eine, die zu Recht gestellt wird." Er hob den rechten Zeigefinger, als wolle er Aya ermahnen. "Aber es gibt keine leichte Antwort darauf."

Aya zog die Brauen zusammen. Man verwehrte ihr ständig Antworten. Das, was sie am meisten begehrte, was sie brauchte, um verstehen zu können, um nicht den Verstand zu verlieren, lag außerhalb ihrer Reichweite. Noch. Sie würde sich darum kümmern. "Es ist mir egal, ob die Antwort leicht ist oder nicht. Ich möchte nur endlich einmal eine hören!" Ihre Stime war schärfer geworden, als sie beabsichtigt hatte.

Mado und der Direktor tauschten einen besorgten Blick. Nach einem kurzen, aber intensiven Schweigen seufzte der Leiter der Odoroki High schließlich tief. "Aya. So ist doch dein Name, oder?"

Ein Nicken als Antwort.

"Aya, es gibt so vieles, was ich dir erklären müßte. Und sicher ebenso vieles, das du nicht begreifen würdest. Ich meine damit nicht, daß du dumm wärst, nein, ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil. Du bist sicher sehr intelligent und nicht zuletzt darum bist du unsere Hoffnung für die Zukunft. Eine von vielen, doch sicher die wertvollste."

Aya verstand nun gar nichts mehr. Verstrickte sich denn jeder in dieser Sache immer nur in merkwürdigen Geschichten, die für sie überhaupt keinen Sinn ergaben?

"Ich werde dir sicher beizeiten einiges erklären. Aber ich denke, für heute wird es erst einmal genug sein. Außerdem gehe ich davon aus, daß sich deine Zimmergenossin und deine Klassenkameraden um dich kümmern werden. Von ihnen wirst du einiges erfahren. Dinge, die ich dir nicht besser erklären könnte."

Aya wolte den Mund aufmachen, doch der Direktor hob die rechte Hand. "Ich bin ein beschäftigter Mann. Morgen werde ich mir Zeit für dich nehmen, falls du das möchtest. Heute jedoch solltest du erst einmal deine Fragen zurückstellen und dich in deinem neuen Zuhause umsehen. Es wird dir sicher gefallen."

Mit diesen Worten beugte sich Direktor Toki wieder über seinen Schreibtisch und schien nicht gewillt zu sein, seinem Besuch noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Aya fühlte sich plötzlich sehr schwach. Als Mado aufstand und den Stuhl an seinen Platz zurückstellte, tat Aya es ihr gleich und ging mit müden Schritten zur Tür. In was war sie da bloß hineingeraten?

"Ach ja." Direktor Toki sah nicht auf, als Aya gerade hinausgehen wollte, richtete seine Worte aber dennoch an sie. "Da wäre noch etwas. Willkommen an der Odoroki High! Du wirst bald merken, dass diese Schule anders ist als andere. Doch keine Sorge, man gewöhnt sich recht schnell daran."

Aya schloß die Tür und sah den langen Gang hinunter, der tiefer ins Gebäude führte. Er wirkte alt und irgendwie... falsch.

Mado warf Aya einen traurigen Blick zu, faßte sie dann am Arm und zog sie hinter sich her, die verschiedenen Gänge und Treppen des Gebäudes hinauf.

Verwirrung

Aber laß mich dich warnen: Manch einer hier läßt sich nicht einfach von seinem schwer erkämpften Platz verdrängen. Wir haben alle eine schwere Zeit hinter uns. Doch wenn du nicht aufpaßt, dann wirst du mehr leiden müssen als jeder andere an dieser Schule.
 

Megumi Nagai
 

Kapitel 2 - Verwirrung
 

Sie waren durch ein dunkles Gewirr aus Gängen gewandert, in dem Aya die Orientierung verloren hatte. Das war vermutlich nicht einmal Mados Absicht gewesen - die Flure und Treppen waren einfach so zahlreich, daß es ganz und gar unmöglich schien, sich überhaupt jemals den Weg irgendwohin merken zu können. Auf den Geländern, welche die Galerien abschlossen, hockten alte Statuen, deren steinerne Augen die beiden Mädchen auf Schritt und Tritt zu verfolgen schienen. In der Stille des riesigen Hauses fühlte Aya sich mehr als unwohl, obwohl ihre neue Umgebung auch einen gewissen Reiz auf sie ausübte. Schon immer war sie fasziniert gewesen von solch unheimlichen alten Bauten. Sie war einmal mit ihrer Mutter in irgendeinem fernen Land im Urlaub gewesen. Damals war sie noch sehr klein gewesen und hatte sich bei einer Besichtungstour durch ein sehr altes Gebäude hoffnungslos verlaufen. Ihre Mutter hatte stundenlang mit Unterstützung der gesamten Reisegruppe nach ihr gesucht, bis ihre Tochter endlich wieder aufgefunden wurde.

Der Gedanke an ihre Mutter versetzte Aya einen schmerzhaften Stich. Sie konnte immer noch nicht fassen, was ihr angetan worden war. Ein Teil von ihr glaubte an einen schlechten Scherz, aber die Wahrheit war nun einmal sehr viel bitterer.

Aya seufzte. Sie bemerkte, daß Mado sie mitfühlend ansah, richtete den Blick aber stur geradeaus. Sie war nicht wirklich wütend auf Mado. Aber es konnte auch nicht schaden, diesen Eindruck zu erwecken.

Vor einer großen Eichentür blieb die andere schließlich stehen. Aya, die noch ganz mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt war, bemerkte es zunächst nicht. Erst, als sie schon ein paar Schritte ohne Mado gegangen war, blieb sie stehen und sah sich um.

"Wir sind da." Mado deutete auf die Tür. Sie drückte sie mit ihrem Körpergewicht auf, ohne die Reisetasche abzustellen. "Das hier ist dein Zimmer. Naja, zumindest die eine Hälfte davon gehört dir." Sie trat in den großen, erstaunlich hellen Raum. Aya folgte ihr zögernd.

Das Zimmer war völlig anders, als Aya erwartet hatte. Sie hatte mit einem düsteren, unheimlichen Raum gerechnet, in dem die dunkle Atmosphäre schwer auf ihrer Seele lasten würde. Stattdessen betrat sie ein freundliches Zimmer, dessen Einrichtung weitgehend in hellem Blau und Gelb gehalten war. Leichte Vorhänge flatterten vor einem offenen Erkerfenster, Kissen waren auf den breiten Fensterbänken verteilt worden. Auf der linken Seite des Zimmers standen ein großes Bett, auf dem sich haufenweise Kuscheltiere tummelten, ein Schreibtisch, ordentlich aufgeräumt, ein Stuhl und ein großer Kleiderschrank. Ein kleiner Durchgang führte in ein winziges Badezimmer. Zwischen Schrank und Durchgang lehnte ein langer schlanker Kasten an der Wand. Er war tiefschwarz und sein Anblick jagte Aya einen Schauer über den Rücken, ohne daß sie wußte, warum. Ihr Blick glitt über die Wände. Überall hingen Poster von Pop-Idolen.

Völlig identisch zur bewohnten Seite war die rechte Hälfte des Raumes. Nur mit dem Unterschied, daß diese völlig kahl war und sämtliches Mobiliar unbenutzt.

"Die rechte Seite ist deine." Mado stellte Ayas Tasche auf dem Bett ab. "Du kannst dich so einrichten, wie du willst. Chika ist da eigentlich sehr tolerant. Und schließlich mußt du auch mit ihren extremen Groupie-Launen auskommen." Mado wackelte mit dem Kopf. "Du wirst sie erst später kennenlernen. Jetzt ist sie noch im Unterricht. Genieß die Zeit der Ruhe."

Aya sah zum Fenster hinaus. Man konnte auf den wunderschönen Park blicken, der das Haus umgab. "Muß ich denn nicht zum Unterricht?"

Mado schüttelte den Kopf. "Nein. Heute noch nicht. Morgen. Bis dahin laß dir etwas Zeit, um zur Ruhe zu kommen und deine Sachen auszupacken." Sie runzelte die Stirn, als dächte sie angetrengt nach. "Oh. Und das hier", fiel ihr ein, "ist noch nicht für dich bestimmt." Sie bückte sich und holte aus der Tasche das längliche, in schwarzes Tuch gehüllte Paket heraus, das Ayas Mutter ihr gegeben hatte. "Du wirst es später bekommen."

Aya zog die Schultern hoch. Im Moment war ihr ziemlich egal, ob sie dieses Paket erhalten sollte oder nicht. Es würde ganz sicher nur wieder ein weiteres Rätsel bilden, zu dessen Lösung sie nicht fähig war.

"Dann lasse ich dich jetzt alleine." Mado schien sich nur ungern von Ayas Seite entfernen zu wollen. "Richte dich etwas häuslich ein und verdaue das Geschehene, so weit es dir möglich ist. Falls du dich umschauen möchtest, kannst du das tun. Keine Angst, hier wird dich niemand beißen. Sie wissen alle, wie das ist." Ein Anflug von Traurigkeit schlich sich in Mados Züge. "Ich werde nach dem Unterricht zu dir kommen, falls du das möchtest."

Aya gab keine Antwort. Von draußen war Lachen zu hören.

"Möchtest du das?" Mado hakte noch einmal nach. "Ich will dir nicht auf die Nerven fallen und sicher wirst du genug damit zu tun haben, dich mit Chika anzufreunden. Sie ist sehr lebhaft, weißt du?" Als sie wieder keine Antwort erhielt, seufzte sie einmal tief. "Na gut. Falls du reden möchtest: Mein Zimmer ist nur ein paar Türen den Gang hinunter. Chika weiß, wo es ist. Frag sie einfach nach dem Weg." Sie wandte sich zum Gehen. Schon beinahe aus dem Zimmer hinaus, blieb sie noch einmal kurz stehen. "Es tut mir leid", sagte sie leise und schloß dann die Tür hinter sich. Aya blieb allein zurück.
 

Es war ein merkwürdiges Gefühl für sie, so ganz allein in diesem Zimmer zu sein, das fortan nun ihr Zuhause sein sollte und in dem sie doch eigentlich gar nichts verloren hatte. Sie fühlte sich so fremd und allein, daß ihr das Herz weh tat. Die Geräusche von draußen schienen so fern und unwirklich, als würde die ganze Welt nur Theater spielen. Und irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, daß ihre Nebenrolle gestrichen worden war und sie sich jetzt mit dem Text der Hauptrolle vertraut machen mußte.

Sie wußte nicht, wie lange sie einfach nur vor sich hingestarrt hatte. Irgendwann brannten ihre Augen und in ihrem Inneren breitete sich eine leichte Unruhe aus. Sie drehte sich um, so daß sie die Tür nicht mehr sehen konnte, und ging langsam auf das Bett zu, auf dem ihre Tasche stand. Wenn sie ohnehin schon nichts ändern konnte, nicht jetzt, dann war es vielleicht klug, sich hier einmal etwas genauer umzusehen. Allerdings erst, wenn sie ihre Sachen ausgepackt hatte. Es würde eine Weile dauern, ehe sie wirklich den Mut finden würde, dieses Zimmer völlig allein zu verlassen.

Gut eine Stunde lang beschäftigte Aya sich mit dem Inhalt der Reisetasche. Sie hatte keine Ahnung gehabt, was Mado für sie mitgenommen hatte, und insgeheim war es ihre Befürchtung gewesen, daß sich nur ältesten und häßlichsten Kleider aus Ayas altem Schrank aus dem Innern der Tasche ans Licht zerren lassen würden. Aber Mado hatte treffsicher all ihre Lieblingssachen mitgenommen. Ob das nun ein Zufall war oder nicht... Aya wollte lieber nicht darüber nachdenken.

Als sie ihre Kleider im Schrank verstaut hatte, erkannte sie, daß es nun nichts mehr für sie zu tun gab. Ihre Zimmerhälfte wirkte immer noch leer und unbewohnt, aber es gab ja auch nichts, was Aya an die Wand hätte heften können, oder etwas, das sie auf den Schreibtisch hätte stellen können. Sie besaß nichts mehr. Im Grunde war da nur noch sie selbst.

Langsam und beinahe ängstlich schritt sie zum Fenster hinüber und sah hinaus. Im Park regte sich nichts. Alles war ruhig. Die Schüler schienen allesamt im Unterricht zu sein. Eigentlich die Gelegenheit, um sich umzuschauen. Es würden ihr nur wenige Menschen über den Weg laufen. Das hoffte Aya zumindest.

Die Zimmertür öffnete sich ohne den geringsten Laut. Noch einmal atmete Aya tief durch, ehe sie aus dem hellen Raum in den dunklen Korridor trat und die Tür hinter sich schloß. Ihr Blick fiel auf die dreistellige Zahl, die in Silberlettern an die Tür geschlagen war. 136. Nun, die Zimmernummer kannte sie jetzt. Das Schwierigste an diesem Ausflug würde wohl sein, sich den Weg hierher merken zu wollen. Aber darüber konnte sie sich später noch Gedanken machen. Im Moment überwog ihre Neugier und drängte die Angst ein Stück weit zurück.

Ayas Schritte hallten laut in den dunklen Gängen wider. Auf dem Hinweg war ihr das ganze Gebäude schon unheimlich erschienen, jetzt aber schien ein schwerer Schatten über das Haus gefallen zu sein, der das Böse erwachen lassen würde, sobald Ayas Wachsamkeit nachließ. Aus den dunklen Nischen tasteten sich schwarze Finger hervor, die sofort wieder verschwanden, wenn Ayas genauer hinsah. Doch in den Augenwinkeln konnte sie Bewegungen erkennen, die ihr das Herz in der Brust schwer werden ließen.

Sei nicht albern, ermahnte sie sich selbst. Es gibt keine Geister. Und es gibt nichts Böses in diesem Haus. Du bist nur fremd hier und es ist dunkel, das macht dir angst. Wenn du dich beruhigst, brauchst du dich vor nichts zu fürchten.

Während sie so im Geiste mit sich selber sprach und langsam etwas ruhiger wurde, begannen auch die Gänge heller und freundlicher zu wirken. Die Schatten verschwanden, die schwarzen Finger waren fort und es gab keine unheimlichen Bewegungen mehr, die Aya nicht zuordnen konnte.

Nach einer ganzen Weile, in der sie etliche Treppen hinabgestiegen war und sich inzwischen völlig verloren vorkam, weil sie den Weg zu ihrem Zimmer wohl niemals wiederfinden würde, gelangte sie an ein kleines Tor. Es trennte den dunklen Gang, in dem sie sich jetzt befand, vom Licht der Außenwelt. Aya blinzelte, als sie ins Sonnenlicht trat. Mit der Zeit hatten sich ihre Augen an das Halbdunkel im Inneren gewöhnt, doch nun stand sie draußen. Im Park der Odoroki High.

Die Sonne schien hell auf die gepflegten Anlagen. Ein Meer von Blumen ergoß sich zu Ayas Rechten, zu ihrer Linken breitete sich ein aus Hecken geformtes Labyrinth aus. Dahinter war ein junger Wald zu erkennen - die Baumkronen ragten noch nicht sehr weit über die Hecken hinaus. Weit und breit war kein Mensch zu sehen.

Aya wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte. Sie drehte sich unschlüssig um und sah zu dem Gang, aus dem sie gekommen war. Im Gegensatz zum Licht des Tages wirkte er so finster und bedrohlich, daß sie keinerlei Lust verspürte, ihn wieder zu betreten. Nein. Sie würde sich etwas in diesem Park umsehen. Vielleicht gab es einen Platz, an den sie sich zurückziehen konnte, um ungestört nachdenken zu können.

So betrat Aya das Labyrinth und wanderte durch ein Wirrwarr aus Gängen, das ein geschickter Gärtner vor langer Zeit geformt haben mußte. Die Hecken waren alt und hoch gewachsen, so daß es nicht möglich war, einfach hochzuspringen, über sie hinweg zu blicken und sich so seinen Weg zu suchen. In Ermangelung dieser Möglichkeit mußte Aya auf ihren Orientierungssinn zurückgreifen, den sie in den letzten Jahren stark vernachlässigt hatte. Es dauerte lange, ehe sie wieder aus dem Labyrinth heraustrat. Mit klopfendem Herzen und ziemlich erhitzt, stand sie am Rande des kleinen Wäldchens, das sie von der anderen Seite bereits entdeckt hatte. Ein schmaler Pfad führte in den Wald hinein und Aya folgte ihm nach einigem Zögern.

Unter den Bäumen war es angenehm kühl. Feines Gras bedeckte den lichten Waldboden und das Zwitschern der Vögel über ihr beruhigte Aya schnell wieder. Sie fühlte sich beinahe wie in einem Traum - in dem Traum, den sie sich insgeheim immer gewünscht hatte, seit diese düstere Welt in ihrem Kopf entstanden war.

Sie kam an eine Lichtung, in deren Mitte sich ein See befand. Zwei Mädchen saßen in einiger Entfernung zu Aya und lachten leise. Sie trugen die Uniform der Odoroki High. Instinktiv versteifte sich Aya und huschte hinter eine kleine Gruppe von Bäumen. Angestrengt sah sie zu den Mädchen hinüber.

Sie mochten nicht älter als dreizehn Jahre sein. Beide waren sehr hübsch - das eine dunkelhaarig und mit Brille, das andere rotblond mit einem Gesicht voller Sommersprossen. Sie unterhielten sich so leise, daß Aya ihre Worte nicht verstehen konnte, doch ab und zu drang helles Lachen an ihr Ohr. Erst nach einigen Minuten fiel Aya auf, daß die beiden doch sehr beschäftigt waren. Sie hielten etwas in den Händen und schienen es mit Feuereifer zu reinigen. Und das, was sie so sorgfältig putzten, waren... Schwerter!

Unwillkürlich prallte Aya zurück. Sie rieb sich die Augen, blinzelte und sah noch einmal hin. Kein Zweifel, das waren Schwerter. Und zwar keine Pappschwerter oder sonstiges Spielzeug, das es überall zu kaufen gab... Nein, diese Waffen waren echt. Sie reflektierten das Sonnenlicht auf ihre ganz eigene Art und Weise und schienen außerdem sehr schwer zu sein. Eins der Mädchen hielt sein Schwert prüfend hoch und seine Muskeln spannten sich sichtbar an.

Das ist völlig verrückt! Tausend Gedanken schossen Aya durch den Kopf, die meisten davon totaler Unsinn. Sie bemerkte, wie sie die Angst wieder zu übermannen drohte. Hör auf, hör auf! Das sind doch nur zwei kleine Mädchen. Sie werden dir nichts tun. Und wer weiß, vielleicht gibt es eine ganz einfache Erkärung für das alles hier? Die Stimme der Vernunft sprach leise in Ayas Hinterkopf.

Die Stimme der Angst brüllte laut in ihrer Stirn. Mach, daß du hier weg kommst! Siehst du denn nicht, wie alle um dich herum verrückt zu sein scheinen? Am Ende kriegen sie dich auch noch. Und wer weiß, was dich hier alles erwartet?

Aya schlug sich ein paar Mal gegen den Kopf, bis die Stimmen verstummten. Dann huschte sie schwer atmend durch die Bäume davon, durchquerte das Labyrinth und lief, so schnell sie konnte, in ihr Zimmer zurück.
 

Irgendwo im Gebäude erklang ein dunkler Glockenton. Aya blinzelte und richtete sich schwerfällig auf. Nachdem sie sich wieder auf ihr Zimmer begeben hatte, hatte sie lange Zeit aus dem Fenster gestarrt - so lange, bis ihr die Augen wehgetan hatten. Dann hatte sie sich aufs Bett gelegt und die Augen geschlossen... Und war wohl eingeschlafen.

Sie hatte einen Traum gehabt. Einen von diesem öden Land, doch dieses Mal war es anders gewesen. Es war wirklich nur ein Traum gewesen, etwas, an das sie sich nicht mehr ganz deutlich erinnern konnte. Einem Schatten gleich huschte eine Erinnerung durch ihren Kopf, war aber nicht greifbar. Verwirrt runzelte sie die Stirn.

"Du siehst ganz schön fertig aus."

Als die Stimme erklang, blieb Ayas Herz beinahe stehen. Ihr Körper versteifte sich, die Hände ballten sich zu Fäusten, krallten sich in die Bettdecke unter ihnen...

Im Durchgang zum Badezimmer stand ein Mädchen. Es mochte etwa in Ayas Alter sein, wirkte aber durch sein kindliches Gesicht sehr viel jünger. Die blonden Haare hatte das Mädchen zu zwei Zöpfen gebunden - je einen links und rechts von seinem Kopf. Ein breites Grinsen zog sich über das hübsche Gesicht.

"Entschuldige. Hab ich dich erschreckt?"

Aya starrte das Mädchen lange an, ehe sie mühsam nickte. Sie hatte nicht bemerkt, daß jemand das Zimmer betreten hatte. Sie mußte sehr tief geschlafen haben, auch wenn das ansonsten noch nie vorgekommen war. Eigentlich war sie sehr schreckhaft und wachte bei dem leistesten Mucks auf. Augenscheinlich waren die Ereignisse der letzten beiden Tage doch etwas viel für sie gewesen.

"Ich bin Chika Katsuragi", stellte sich das Mädchen vor, verschwand aber sogleich wieder im Bad.

Mit klopfendem Herzen schwang Aya die Beine über die Bettkante. Das war also ihre Mitbewohnerin. Irgendwie hatte sie sich dieses Mädchen anders vorgestellt. Ayas Blick wanderte über die Starposter an der Wand. Flippiger. Ausgefallener. Irgendwie...

"Wie gefällt es dir hier?" Chikas Stimme klang etwas verzerrt aus dem Nebenraum herüber. "Hast du dich schon umgesehen?"

Schwerter... Zwei Schwerter, die in der Sonne blitzten. Zwei Mädchen, die ihre Waffen putzten...

Aya schüttelte den Kopf.

"Wir haben hier wirklich sehr viele schöne Anlagen. Okay, das Haus ist etwas düster, aber draußen im Park gibt es so viel Luft zum Atmen und so viel Sonne, wie du willst! Allerdings nur, wenn die Sonne scheint..." Chika kicherte.

Der Park... Schwerter...

Es gibt eine logische Erklärung dafür!

"Du bist nicht sehr gesprächig, hm?" Chika trat aus dem Bad, ihre Schuluniform über dem Arm und in Jeans und ein blaues T-Shirt gekleidet. "Mado hat mich schon vorgewarnt. Naja, ich denke, du wirst noch auftauen. Ist ja erst dein erster Tag hier." Sie ging zu ihrem Bett hinüber und warf die Sachen achtlos darauf. Dann trat sie an ihren Schreibtisch, zog eine der Schubladen auf und nahm ein kleines, in Leder gebundenes Buch heraus.

"Hier." Sie hielt es Aya hin und grinste. "Das sind meine Notizen über Schüler und Lehrer. Alle, die hier etwas zu sagen haben oder sonstwie wichtig sind, habe ich darin festgehalten. Damit hab ich angefangen, als ich neu an diese Schule kam. Es hat mir geholfen, mich zurecht zu finden und meinen Platz hier einzunehmen. Vielleicht kann es dir auch helfen."

Aya griff nach dem Buch und wog es in den Händen. Chika beobachtete sie aufmerksam dabei.

"Das ist wirklich sehr nett von dir", sagte Aya schließlich und seufzte. "Aber ich denke, du solltest das Buch lieber selbst behalten."

"Hm." Chika ließ sich aufs Bett fallen und starrte an die Decke. "Wenn du meinst... Ich wollte dir nur helfen."

"Es ist nicht böse gemeint." Aya spürte, daß ihr Herz schmerzhaft zu schlagen begann. Hatte sie es sich bereits mit ihrer Zimmergenossin verdorben? "Ich denke nur, daß ich lieber selbst alles herausfinde."

Chika dreht sich um und sah Aya an. "Gut so!" Sie winkte mit der rechten Hand und Aya warf ihr das Buch hinüber. "Ich bin froh, daß du doch sprechen kannst." Grinsend richtete sie sich auf. "Und was machen wir jetzt?"

Beinahe gegen ihren Willen mußte Aya lächeln. Chika schien kein übler Mensch zu sein. Vielleicht... Vielleicht würde es ja doch nicht so schlimm werden an dieser Schule.
 

"Guten Morgen, Aya-san!"

Chika zog Aya die Decke weg und warf sie zu sich aufs Bett. Stöhnend wälzte Aya sich herum und versuchte, ihre Mitbewohnerin zu ignorieren, doch vergebens. Chika begann in hektische Aktivität auszubrechen und Aya, die noch nicht so ganz in die Realität zurückgefunden hatte, fragte sich, warum.

In der vergangenen Nacht hatten die beiden Mädchen viel miteinander geredet. Chika hatte Aya über die Schule aufklären wollen, doch diese hatte dankend abgelehnt. Das war irgendwie das letzte, worauf sie Lust gehabt hatte. Da gab es schon genügend Dinge, die sie nicht verstand. Also hatten sie sich gegenseitig Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählt, dabei einigen Spaß gehabt und waren erst weit nach Mitternacht eingeschlafen.

Und nun...

"Aya, steh auf, sonst kommst du noch zu spät zum Unterricht!"

Plötzlich war Aya hellwach. Ihr erster Schultag! Ein ungutes Gefühl begann sich in ihr breit zu machen. Ihre Hände zitterten und ein Bienenschwarm schien sich in ihrem Kopf breit gemacht zu haben. Was würde da auf sie zukommen?

Sie schwang ihre Beine über den Rand des Bettes und atmete tief durch. Chika wühlte in ihrem Kleiderschrank und war anscheinend hektisch auf der Suche nach etwas.

"Wie... Wie wird es sein, Chika?" fragte Aya besorgt, als sie sich endlich dazu zwingen konnte, aufzustehen. Ihre Beine fühlten sich an wie aus Gummi gemacht.

Chika stöhnte und zog einen Strumpf aus ihrem Schrank, in den sie sogleich schlüpfte. "Mach dir darüber jetzt nicht so viele Gedanken. Es wird alles halb so schlimm werden. Zieh dich besser an! Ich möchte dich nicht allein zum Frühstück gehen lassen."

Aya seufzte und verschwand im Bad, um sich zu waschen und anzuziehen. Als sie wieder herauskam, drückte Chika ihr eine Schultasche in die Hand und packte sie am Arm, um sie mit sich auf den Flur zu zerren.

"Wir haben keine Zeit mehr!" keuchte Chika und schleifte Aya im Laufschritt mit sich. Sie durchquerten den schummrigen Hauptgang und liefen ungefähr ein Dutzend Treppen hinunter, bis sie endlich auf die ersten anderen Schüler trafen.

In Ayas Brust breitete sich Eiseskälte aus. Sie wußte, daß dieser Zeitpunkt hatte kommen müssen. Die anderen zu treffen hatte sie sich aber irgendwie anders vorgestellt. In eine Klasse zu kommen, vor allen vorgestellt zu werden und sich dann in dieser Gruppe zurechtfinden zu müssen... Damit konnte sie umgehen. Das hier war allerdings wie ein Spießrutenlauf für sie. Während sie mit Chika durch die immer dichter werdende Menge lief, hatte sie das Gefühl, von jedem unverhohlen angestarrt und bewertet zu werden. Diese Empfindung war so intensiv, daß ihr beinahe schlecht wurde. Bald war es nicht mehr so, daß Chika Aya hinter sich her zog, sondern daß Aya Chika vor sich her schob, um möglichst schnell an all diesen Menschen vorbeizukommen.

Nach einer kleinen Ewigkeit erreichten Chika und Aya die gtroße Halle, in der das Essen an die Schüler ausgeteilt wurde. Sie glich einem mittleren Kirchenschiff, erleuchtet von einer Unmenge kleiner Lampen, die in die Decke und die Wände eingelassen waren... So als wäre man von Sternen umgeben... Völlig fasziniert von diesem Anblick bemerkte Aya nicht, daß sich ihr bei ihrem Eintreten sämtliche Gesichter zuwandten und es plötzlich totenstill in der Halle wurde, die zuvor noch vom Gemurmel einiger hundert Schüler erfüllt gewesen war. Erst als sie hörte, wie Chika sich neben ihr räusperte, senkte sie den Blick und erstarrte sogleich. Das Lächeln, das auf ihren Lippen gelegen hatte, wich aus ihrem Gesicht und machte einem besorgten Ausdruck Platz.

"Komm einfach mit", raunte Chika neben ihr und zog Aya mit sich durch die Reihen der schweigenden Schüler. Aya versuchte, möglichst nicht auf die Gesichter der Menschen zu schauen, die sie so kühl so empfangen schienen. Doch dann entdeckte sie eins der Mädchen, die sie am Vortag im Wald beobachtet hatte, an einem Tisch und sah es an. Und was sie entdeckte, das verwirrte sie mehr als alles andere in den letzten beiden Tagen.

Das Mädchen - es war das rothaarige, sommersprossige - starrte mit offenem Mund zu Aya herüber, die Hände vor der Brust gefaltet. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck wie... Sehnsucht. Und in ihren Augen sammelten sich Tränen.

Aya sah all dies nur für den Bruchteil einer Sekunde, doch in dieser Zeit schien sich das Bild des Mädchens in ihr Herz einzubrennen. Und in ihren Ohren rauschte das Blut. Was in aller Welt...?

"Setz dich hier hin." Chika drückte Aya auf einen Stuhl, den sie zuvor zurechtgerückt hatte und wandte sich dann der Menge zu. Aya konnte nicht sehen, was sie dann tat, doch innerhalb weniger Sekunden wandetn sich alle von Aya ab und die Atmosphäre in der Halle wurde wieder entspannter.

"Was war das?" fragte Aya, noch etwas gelähmt von diesem Erlebnis, als Chika sich neben sie setzte. Plötzlich schien sie niemand mehr zu beachten.

"Ach...." entgegnete Chika lahm und sah sehr ernst zu jemandem auf der anderen Seite des Tisches hinüber. Aya hob den Kopf und erkannte Mado, die ihr gegenüber saß.

"Die übliche Begrüßung", erwiderte Mado an Chikas Stelle. Allerdings paßte ihr Gesichtsausdruck nicht zu den Worten, die sie sprach. Sie sah besorgt aus. Und auch ein wenig wütend.

Neben Mado hob ein junges Mädchen den Kopf. Sie hatte zuvor still vor sich hin gegessen, doch nun schenkte sie Mado einen Blick, der in Aya ein unangenehmes Prickeln im Magen auslöste. Das Mädchen war sehr blaß und ihre langen schwarzen Haare schienen das zarte Gesicht wie ein Bilderrahmen zu umschließen. Doch in ihren dunklen Augen lag so viel Leben und Kraft, daß Aya scharf die Luft einsog und sich dann abwandte.
 

Später, als Aya in ihrem Klassenzimmer saß, all die neuen Gesichter um sich herum, war sie von den Geschehnissen am Morgen immer noch so verwirrt, daß sie keinen klaren Gedanken zu fassen vermochte. Als der Lehrer sie der Klasse vorgestellt hatte, hatte sie nur ein paar helle, verschwommene Flecken vor sich wahrgenommen. Den Namen des Lehrers hatte sie sich nicht merken können. Seine Worte hatten für sie sowieso keinen Sinn ergeben. Wie betäubt und mit letzter Kraft, wie ihr schien, hatte sie ihren Platz erreicht.

Und dort saß sie nun seit geraumer Zeit und starrte nach vorn. Der Lehrer erklärte ihnen irgendetwas, dem Aya keinerlei Sinn abgewinnen konnte. Sie hing viel zu sehr ihren eigenen Gedanken nach.

Und so zog sich das auch bis zum Mittagessen hin.
 

"Wenn ich noch einmal eine so langweilige Unterrichtsstunde erleben muß, dann geh ich freiwillig von der Schule ab." Chika seufzte und stellte ihr Tablett auf dem Tisch ab. Rücksichtsvoll machte sie Platz, damit Aya an ihr vorbei zu dem ihr zugewiesenen Platz gehen konnte, ohne sich dabei verrenken zu müssen.

"Wenn du mehr Ahnung von dem Stoff hättest, würdest du dem Ganzen auch mehr Aufmerksamkeit schenken. Immerhin ist das ein sehr interessantes Thema." Mado begann lautstark ihre Nudeln zu schlürfen.

"Oh ja, du großes Genie", brummte Chika mißmutig und begann ihrerseits zu essen.

Aya folgte der Unterhaltung mit eher geringem Interesse. Sie stocherte in ihren Nudeln herum und verspürte nicht die geringste Lust, hier zu sitzen und mit den anderen zu essen. Abgesehen davon, daß sie keinen Hunger hatte, hatte sie einen Knoten im Hals, der größer und größer wurde. Obwohl sie wußte, daß keiner in diesem Raum sie beachtete, fühlte sie sich unwohl. Als würde sie von unsichtbaren Augen beobachtet werden, als würde hinter vorgehaltener Hand über sie gesprochen werden...

Ein Summen erhob sich in Ayas Ohren. Vermutlich war es nur das Rauschen ihres Blutes, vielleicht aber auch etwas anderes. Sie schob die Nudeln von sich fort und hob das Glas neben ihrem Teller, um einen Schluck Wasser zu trinken. Jedoch zitterte ihre Hand so stark, daß sie das Wasser über ihren halben Platz verteilte, statt es zu trinken. Schnell stellte sie das Glas wieder ab und atmete tief durch.

Das Summen in ihren Ohren wurde lauter. Langsam wurde Aya klar, daß ihre unmittelbaren Tischnachbarn ihr Gespräch unterbrochen hatten und sie besorgt ansahen. Sie versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. Das schwarzhaarige Mädchen, das schon am Morgen neben Mado gesessen hatte und dessen Namen Aya immer noch nicht kannte, runzelte die Stirn.

"Geht es dir nicht gut?" fragte es in einem Ton, der eher scharf statt freundlich klang.

Aya sah auf und blickte in die so dunklen Augen des Mädchens. Plötzlich hielt sie es nicht mehr länger aus. Sie sprang auf, warf dabei fast ihren Stuhl um und lief durch die Reihen der Schüler zur Halle hinaus. Sie hörte noch, wie Chika ihr etwas hinterher rief, doch sie war viel zu verwirrt, um es zu verstehen.

Sie lief durch die Gänge des Schulgebäudes, kam in Bereiche, die sie nicht kannte, aber es war ihr egal, ob sie sich verlaufen würde oder nicht. Im Moment wollte sie nur weg. Weg von all dem, was ihr hier Angst machte und was sie bedrückte. Sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. Ihr Herz raste, alles um sie herum verschwamm... Doch es wollten ihr keine Tränen kommen.

Wie im Rausch bewegte Aya sich durch die Schule... Bis sie endlich durch eine große Flügeltür in den Garten hinaustrat. Auch wenn zur Zeit kein Unterricht stattfand, war keine Menschenseele zu sehen. Vermutlich aßen sie alle noch.

Aya sog die frische Luft tief in ihre Lungen ein und schloß die Augen. Die Wärme der Sonne auf ihrer Haut zu spüren, tat unendlich gut. Erst jetzt wurde ihr bewußt, wie kalt und unwirklich ihr das Innere der Odoroki High vorkam. Und wie unwohl sie sich dort fühlte. Bei dem Gedanken an den Vormittag und die Gefühle, welche sie die ganze Zeit verfolgt hatten, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Nein, sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Nun war sie hier und wollte für ein paar Minuten die Ruhe und die Sonne genießen.

"Wirklich ein sehr dramatischer Abgang."

Aya riß die Augen auf und sah sich erschrocken um. Im Schatten der Flügeltür, aus der sie selbst vor einigen Minuten getreten war, stand das Mädchen mit den schwarzen Haaren. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf schief gelegt. Ihr Blick war hart und kalt wie Eis.

"Bitte?" Aya war verwirrt.

Das Mädchen trat aus dem Schatten und im Licht der Sonne wirkte sie noch zerbrechlicher als zuvor. Ihre Haut schien beinahe durchsichtig zu sein. Nur ihre Augen... Die veränderten sich nicht.

"Du hast dir die Aufmerksamkeit aller zugezogen. Und das einem einzigen Tag. Glückwunsch."

Aya wußte nicht, was das Mädchen damit meinte. Sie fühlte sich, als würde sie auf einem Ozean treiben und immer, wenn sie die Hoffnung hatte, an Land gespült zu werden, kam eine große Welle und riß sie wieder in die offene See hinaus.

"Vermutlich brauchst du das. So als Neue. Und bei deinem Status", fuhr das Mädchen fort. "Aber laß mich dich warnen: Manch einer hier läßt sich nicht einfach von seinem schwer erkämpften Platz verdrängen. Wir haben alle eine schwere Zeit hinter uns. Doch wenn du nicht aufpaßt, dann wirst du mehr leiden müssen als jeder andere an dieser Schule."

Aya schnappte nach Luft. So sehr sie diese Worte verwirrten und verletzten: Sie spürte eindeutig Zorn in sich aufsteigen. Was kam ein Mädchen, das sie überhaupt nicht kannte, dazu, ihr solche Dinge an den Kopf zu werfen? Gerade wollte sie den Mund aufmachen und ihrer Wut Ausdruck verleihen, da warf das Mädchen den Kopf zurück und lachte.

Verdutzt vergaß Aya, was sie hatte sagen wollen. Das Mädchen lachte noch immer und es klang so hell und fröhlich, daß alle Boshaftigkeit vergessen zu sein schien. Als sie den Kopf wieder senkte, zwinkerte das Mädchen Aya zu und sagte: "Ich bin Megumi. Ich sage dir das als Freundin."

Damit drehte sie sich um und ging zurück ins Haus.

Teile des Puzzles

Hast du jemals Träume gehabt? Sind Dinge geschehen, die du dir nicht erklären konntest? Hast du etwas in dir gespürt, das vorher nie da war?
 

Chika Katsuragi
 

Kapitel 3 - Teile des Puzzles
 

Der Regen klatschte trommelnd gegen die Fenster der Odoroki High. Seit Tagen schon hingen die Wolken tief und bedrohlich über Tokyo, so dass die Schüler missmutige Mienen aufgesetzt hatten und sich lernend in ihren Zimmern verkrochen. Niemand hatte so rechte Lust, am Leben teilzunehmen, wenn die Welt draußen so trist und grau war.

Auch Aya bildete da keine Ausnahme. Seit vier Wochen war sie nun schon auf der Schule und so schlecht ihre Laune seitdem auch war - nun hatte sie ihren Tiefpunkt erreicht. Der Regen und die damit einhergehende Dunkelheit verdarben ihr jeden Tag und wenn sie aus dem Unterricht kam, versank sie oft stundenlang in Grübeleien. Sie wusste nicht einmal, worüber sie genau nachdachte. Einfach nur aus dem Fenster starrend beobachtete sie den Regen und ließ sich treiben. Manchmal hatte sie dann das Gefühl, in einem Gefängnis zu sitzen, aus dem die Flucht unmöglich war. Es hielten sie keine Ketten, niemand verbot ihr, das Gelände zu verlassen. Und trotzdem konnte sie nicht fort, denn wohin hätte sie gehen sollen? Es gab dort draußen niemanden mehr, der sich an sie erinnerte. Sie hatte kein Heim, keine Freunde... Keine Zuflucht.

An diesem Nachmittag hatte sie sich vorgenommen, für die Klassenarbeit in der nächsten Woche zu lernen. Normalerweise musste sie den Stoff des Chemieunterrichts nicht noch einmal durchgehen, doch seit ihrem unfreiwilligen Schulwechsel hatte sie sich auf nichts mehr richtig konzentrieren können. Zu viel war an ihr vorbeigegangen. Sie war einfach nicht mehr sie selbst gewesen.

Im Zimmer lief leise Musik aus Chikas Stereoanlage. Sie selbst lag ausgestreckt auf ihrem Bett und brütete murmelnd über ihrem Chemiebuch. Aya saß vor ihrem Schreibtisch und stellte einige Formeln auf, um sie dann kopfschüttelnd wieder zu verwerfen.

"Ach, Mist!"

Chika klappte ihr Buch zu, drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Nur kurz drehte Aya sich zu ihr um, dann widmete sie sich wieder ihrer Formel. Es wurde still im Zimmer.

"Ich verstehe überhaupt nicht, was du an diesem Zeug finden kannst." Chika war aufgestanden und beugte sich nun neugierig über Ayas Schulter, um zu sehen, was sie dort machte. "Normalerweise haben Mädchen gar keine Begabung für so was."

Seufzend legte Aya den Stift zur Seite. "Ich habe keine Begabung. Ich versuche nur, mich anzustrengen, um einen guten Abschluss zu erhalten. Wenn man immer aufpasst, dann ist der Stoff gar nicht so schwierig zu lernen," Sie deutete auf die erste Hälfte der Formel. "Das hier ist zum Beispiel gar nicht so kompliziert, wie es aussieht. Die Verbindungen ergeben Reaktionen und -"

"Ja, ja!" Chika winkte ab und ließ sich wieder auf ihr Bett fallen. "Ich habe gar keine Lust auf diesen Kram. Das geht sowieso nicht in meinen Schädel. Meine Stärken liegen ganz woanders."

"Du hast Stärken?" erwiderte Aya sarkastisch.

"Na, vielen Dank! Du musst deine schlechte Laune wirklich nicht an mir auslassen. Ich kann nichts dafür."

Aya sagte nichts. Ihr Stift flog schon wieder übers Papier und ergänzte die angefangene Formel. Sie hatte keine Lust, sich mit jemandem zu unterhalten. Das machte sie nur noch aggressiver. Und sie wusste ja, dass es nicht fair von ihr war, sich denjenigen gegenüber gemein zu verhalten, die nichts für ihre Situation konnten. Es war wie eine Sucht, auf die wenigen Menschen loszugehen, mit denen sie noch Kontakt hatte. Als könnte sie damit all den Frust, der sich in ihr angestaut hatte, auf einmal abladen. Das half natürlich nur wenige Augenblicke, doch das Gefühl der Erleichterung nach solch einem Ausbruch war es jedes Mal wert. Grübelnd stützte sie den Kopf in die Hände. Ab und zu machte es ihr Angst, was aus ihr geworden war. Und dann fragte sie sich, wie es mit ihr weitergehen würde. Wie weit sie das alles noch treiben könnte.

"Erzähl mir davon."

"Was?" Verwirrt blickte Chika auf. Sie hatte sich wieder in ihr Chemiebuch vertieft. "Was meinst du?"

"Von deinen Stärken. Was glaubst du, kannst du besonders gut?"

Für einen Moment schien Chika zu zögern, doch dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, sie legte das Buch zur Seite und setzte sich auf. "Du darfst nicht lachen. Und den anderen nichts davon sagen", verlangte sie leise.

Aya nickte und zog ihren Stuhl näher an Chikas Bett. Ein Gefühl von längst verlorener Wärme breitete sich in ihrem Innersten aus. Es war, als säße sie Ikuko gegenüber, die ihr ein Geheimnis anvertrauen wollte. So stark war dieses Empfinden, dass es ihr fast die Tränen in die Augen trieb. Sie schluckte, nickte noch einmal und erwiderte leise: "Versprochen."

Einen Herzschlag lang schien es, als würde Chika es sich wieder anders überlegen. Schließlich jedoch stand sie auf, bückte sich und zog einen dunkelblauen Karton unter ihrem Bett hervor. Sie zwinkerte Aya verschwörerisch zu und öffnete ihn langsam. Vorsichtig griff sie hinein und förderte eine hellblaue Mappe zutage, die durch ein gelbes Band verschlossen gehalten wurde. "Hier."

Sie reichte die Mappe an Aya weiter. Gespannt löste diese die Schleife und öffnete die Mappe. Stirnrunzelnd betrachtete sie die Blätter. Es waren bestimmt zwei Dutzend, voll mit Texten und Gedichten, Gedanken und Zitaten. Auf einigen losen Zetteln fanden sich Noten und Wörter, die für Aya keinen erkennbaren Sinn ergaben. Vielleicht waren es Titelvorschläge oder einfach nur Notizen... Bestimmte Wörter, die einen außergewöhnlichen Klang besaßen.

"Chika..." hauchte Aya und betrachtete das vor ihr liegende Werk ehrfürchtig. "Sind das...? Ist das...?"

"Ja." Mit einem breiten Grinsen setzte Chika sich im Schneidersitz aufs Bett, den Karton vor sich, und zog eine Kassette heraus. "Alles Lieder, von mir selbst geschrieben. Die meisten davon habe ich schon aufgenommen, aber einige sind noch nicht fertig und ich lasse sie liegen, bis mir etwas Besonderes dazu einfällt."

Staunend ließ Aya ihren Blick über Chikas Arbeit schweifen. Sie hätte niemals damit gerechnet, dass sich Chika mit Musik beschäftigte. Und vor allem nicht so ausführlich. Sie studierte einige der Texte und wunderte sich, wie tiefsinnig sie doch waren. Sie selbst besaß überhaupt kein Talent für so etwas und mit Unbehagen registrierte sie, dass ein leichter Anflug von Neid in ihr aufkeimte.

"Das ist wirklich unglaublich", sagte sie schließlich und starrte Chika über die zahlreichen Blätter hinweg an. "Weiß irgendwer davon? Und wirst du etwas aus diesem Talent machen?"

Chika zog die Schultern hoch. "Ich hab es niemandem erzählt. Du bist die erste. Selbst als ich noch bei meinen Eltern gelebt habe..." Ihre Stimme brach und sie atmete einmal tief ein, bevor sie weitersprach. "Ich weiß nicht, ob ich talentiert genug bin, um etwas daraus zu machen. Ich will es versuchen. Nächsten Monat findet ein Talent-Wettbewerb statt und ich habe mich dort angemeldet. Ich weiß zwar noch nicht, ob ich wirklich hingehen werde, aber..." Chika stockte und zog die Schultern hoch. "Immerhin ist es ein Versuch und vielleicht trau ich mich ja sogar." Grinsend verpackte sie ihre Texte wieder im Karton und schob ihn zurück unters Bett.

Für eine Weile war es still im Zimmer. Die beiden Mädchen hingen ihren eigenen Gedanken nach und keine der beiden wollte die andere daran teilhaben lassen. Schließlich richtete Aya sich auf und ging wieder hinüber auf ihre Seite des Zimmers.

"Du hast Glück", sagte sie leise.

"Glück? Warum? Womit?"

Aya warf die Hände in die Luft. "Na, du hast einen Traum und ein Ziel, das du verfolgst. Das ist mehr als andere haben. Ich finde das toll."

Chika legte den Kopf schief. "Du meinst, das ist mehr als du hast?" Als Aya nicht antwortete, sondern ihrem Blick auswich, hakte Chika nach. "Aber du hast doch sicher Träume? Jeder Mensch hat welche!"

Schweigend drehte Aya sich zur Seite. Natürlich. Sie hatte Träume gehabt. Und sie waren auch irgendwo in ihrem Inneren vergraben. Es war nur so schwer, sie wieder hervorzuholen, da alles so anders geworden war. Sie war nicht der Typ Mensch, der verzweifelt an seinen Träumen festhielt, weil alles andere um sie herum zusammengefallen war. Nein. In solchen Situationen gab sie einfach alles auf. Aber das Schlimmste war eigentlich, dass ihr Schlaf ruhiger geworden war. Seit sie auf der Schule war, hatte sie Taro nicht mehr gesehen. Er war nicht mehr in ihrem Kopf. Diese ganze fremde Welt, die sie jahrelang besucht hatte, war einfach wie ausgelöscht. Das verwirrte und verletzte sie. Früher hatte sie sich das gewünscht. Mehr als alles andere. Aber nun...

Ein Kribbeln breitete sich in Ayas Körper aus. Es zog von ihrem Magen aus in ihre Glieder und sie konnte nicht mehr still sitzen. Plötzlich war eine solche Unruhe in ihr, dass sie befürchtete, zu zerspringen, wenn sie sich nicht bewegte. Abrupt stand sie auf und zog sich ihre Schuhe an.

"He!" Verdutzt sah Chika ihr zu. "Habe ich was Falsches gesagt? Wo willst du denn hin?"

"Nein. Ist schon okay. Es liegt nicht an dir. Ich brauche... einfach mal etwas frische Luft." Beinahe panisch schnappte Aya sich ihre Jacke und verließ das Zimmer. Draußen auf dem Gang fühlte sie sich schon etwas besser. Aber sie wusste, dass sie dringend etwas tun musste. Sie konnte nicht wieder dort hinein gehen. Es würde nur schlimmer werden. Nein. Vielleicht war es ein Wink? Vielleicht sollte sie endlich etwas unternehmen, um diese ganze verrückte Situation aufzuklären? Und wo könnte sie das besser als bei Direktor Toki?

Entschlossen marschierte Aya los. Die Lösung ihrer Probleme lag darin, selbst etwas zu unternehmen. Wie hatte sie nur wochenlang auf ihrem Hintern sitzen und erwarten können, dass die Antworten zu ihr kamen, wenn sie keine Fragen stellte? Natürlich war das unmöglich! Und natürlich war sie gefrustet!

Inzwischen ziemlich aufgebracht und wütend marschierte Aya durch die dunklen Gänge. Nur wenige Schüler kamen ihr entgegen, manche wollten sie sogar grüßen, wandten jedoch gleich den Blick ab, als sie Aya ins Gesicht sahen. Besonders freundlich wirkte sie in diesem Moment nicht. Ihre Brauen waren zusammengezogen, ihr Mund ein dünner Strich.

Schließlich erreichte sie die große Halle, von der aus man zum Büro des Direktors gelangte. Ein kalter Hauch schlug ihr entgegen und trotz der Tatsache, dass sie eine Jacke trug, begann sie zu zittern. Als sie einen Blick vom oberen Treppenabsatz nach unten warf, verdrehte sie die Augen. Mitten in der Halle stand Frau Yoshida und war damit beschäftigt, zwei Schüler aus den unteren Klassen zurechtzuweisen. Aya konnte nicht verstehen, was sie sagte, denn sie sprach leise und mit eisiger Stimme. Sie wollte es aber auch nicht wissen und so zog sie sich ein Stück zurück und wartete ab, dass die Schüler - und vor allem Frau Yoshida - verschwanden.

Eigentlich störte es sie gewaltig, dass sie sich nicht traute, an der Lehrerin vorbei zum Büro des Direktors zu gehen. Etwas in ihr wünschte sich den Mut, einfach die Treppe hinunter zu gehen und sich durch nichts aufhalten zu lassen. Doch natürlich würde Frau Yoshida sie nicht einfach so davonkommen lassen. Aya wusste das. Sie hatte bisher zwar erst wenige Konfrontationen mit ihr gehabt, doch die hatten ihr bereits klar gemacht, dass die Yoshida persönlich etwas gegen sie hatte. Und so wartete sie.

Es dauerte eine ganze Weile, bis die Luft rein war. Aya war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie das Verstummen der Stimmen erst bemerkte, als die beiden Schüler die Treppe hinauf kamen und mit blassen Gesichtern im dunklen Gang verschwanden. Anscheinend hatte Frau Yoshida wieder mal ganze Arbeit geleistet. Vorsichtig trat Aya ans Treppengeländer heran und sah nach unten. Sie hatte gehofft, dass die Lehrerin gegangen wäre. Aber das war sie nicht. Im Gegenteil: Sie stand mitten in der Halle und schien auf etwas zu warten. Ständig sah sie auf die Uhr und ihr Blick war auf die riesige Tür geheftet, die in den Park hinaus führte.

So hieß es also wieder warten. Dieses Mal aber nicht allzu lang, denn schon nach wenigen Minuten öffnete sich die Tür und eine schmale Gestalt betrat die Schule. Sie trug einen schwarzen Regenmantel und die Kapuze bedeckte ihr Gesicht. Ayas Herz begann aufgeregt zu schlagen. Angestrengt lauschte sie nach unten.

"Du bist spät." Frau Yoshida klang zwar ungehalten, aber ihre Stimme war nicht ganz so kalt wie sonst.

"Es tut mir leid", entgegnete die tropfnasse Person ihr gegenüber. "Diese Stadt treibt mich noch mal in den Wahnsinn!"

Aya schluckte. Diese Stimme. Das... konnte nicht sein!

"Es dauert nicht mehr lange. Sie ist jetzt hier und kann das Tor öffnen. Ich befürchte nur, dass sie noch etwas... Hilfe braucht."

"Hilfe... Sie braucht eine Tracht Prügel, das ist alles. Früher oder später muss sie es tun."

Frau Yoshida lachte leise. Es war ein merkwürdiger Laut aus ihrem Mund. Noch dazu, da das Lachen echt und wirklich amüsiert klang. "Wir reden hier über deine Tochter, Natsuko."

Für einen Augenblick wollte Aya einfach nur sterben. Natsuko... Die Stimme... Ja, sie hatte sie erkannt. Aber was tat sie hier? Und wie redete sie? So kannte Aya ihre Mutter nicht. Was war nur aus ihr geworden? Hatten diese merkwürdigen Ereignisse damit zu tun?

"Du weißt genau, dass wir uns in der Hinsicht keine Gefühle erlauben dürfen, Eri. Und du weißt auch, dass ich immer noch dafür bin, die nächste Generation vollkommen anders auf das alles vorzubereiten."

"Wenn es eine nächste Generation gibt."

Ayas Mutter lachte. "Natürlich wird es das. Sie wird uns nicht enttäuschen. Sie hat immer das getan, was man von ihr erwartet hat."

Frau Yoshida zog die Schultern hoch. "Wir werden sehen. Komm, Natsuko, Direktor Toki erwartet uns bereits."

Die beiden Frauen wandten sich zum Gehen und kurze Zeit später herrschte Stille in der Halle. Aya war zu Boden gesunken und hatte die Hände vor den Mund geschlagen. Was hatte sie da gehört? Hatten die beiden über sie geredet? Nein. Nein, es konnte doch nicht sein, dass ihre Mutter so lieblos über sie sprach!? Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte nach ihr gerufen. Sich in ihre Arme gestürzt und dem Albtraum ein Ende gemacht. Aber da war eine Stimme in ihr, die ihr sagte, dass das nicht der Weg war. Dass sie ihre Mutter verloren hatte. Und dass noch nicht der Zeitpunkt gekommen war, um sich mit ihr auseinander zu setzen.

Sie waren also zum Direktor gegangen. Nun war ihr der Weg gänzlich versperrt. Wohin sollte sie? Ihr Herz raste noch immer und plötzlich wurde ihr übel. Sie musste raus. Egal, wohin. Einfach nur raus aus diesem Gemäuer, aus der Dunkelheit und der Gefangenschaft. Wie von der Tarantel gestochen raste Aya die Treppe hinunter, stieß die Tür zum Park auf und rannte durch den Regen. Sie merkte nicht, wohin sie lief. Es war egal. Wichtig war nur das Laufen, denn das zeigte ihr, dass sie fort konnte. Dass sie noch am Leben war.

Schließlich war sie so außer Atem, dass sie stehen blieb. Langsam drehte sie sich um und sah zum Haus zurück. In einiger Entfernung ragte es dem grauen Himmel entgegen. Ihr neues Zuhause. Diese Enttäuschung. Erschöpft sank Aya zu Boden. Was spielte sich nur alles hier ab? Sie hatte immer noch keine Ahnung, welche Rolle sie spielte, was mit ihr geschehen sollte und was eigentlich der Sinn des Ganzen war. Sie musste es erfahren - sie musste! Wenn selbst ihre Mutter...

Und dann kamen die Tränen. Unvermittelt und heftig brach alles aus Aya hervor. Die ganzen Wochen hatte sie ihre Gefühle nicht zeigen können, doch nun, hier, entfernt von all dem, was ihr Herz so umklammert hatte, suchte sich ihr Leid einen Weg in die Welt. Sie weinte um alles, was geschehen war. Und wegen ihrer unermesslichen Angst. Mitten im Regen saß sie im Schlamm und fühlte sich, als könne sie nie wieder die Kraft aufbringen, dorthin zurückzukehren, wo ihr Leben nun stattfand.

"Aya? Alles in Ordnung?"

Die Stimme war so leise, dass Aya sie fast überhört hätte. Zuerst dachte sie, sie wäre nur in ihrem Kopf existent und der Zeitpunkt, an dem sie völlig durchdrehte, wäre gekommen. Doch dann blickte sie auf und erkannte Megumi, die mit besorgtem Gesichtsausdruck vor hier kniete.

"Wie lange sitzt du denn hier schon? Was ist denn nur passiert?"

Aya schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht reden. Und sie wollte es auch nicht. Warum durfte sie nicht einmal in Ruhe weinen?

Megumi seufzte. "Komm, lass uns reingehen. Du holst dir hier draußen ja noch den Tod."

"Das... ist mir egal", schluchzte Aya. Ihre Stimme hörte sich kratzig und uralt an.

"Hör auf! Komm jetzt mit." Megumi zog an Ayas rechten Arm und hörte nicht eher auf, bis diese aufgestanden war und ihr langsam Richtung Schule folgte.

"Möchtest du darüber reden?"

"Was gibt es da schon zu reden?"

Wieder seufzte Megumi. "Sieh mal, ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht bereit bist, auch etwas dafür zu tun."

Zornig machte Aya sich los und sah ihre Mitschülerin aus geschwollenen Augen an. Ihr war klar, wie lächerlich sie wirken musste, aber im Moment war ihr das herzlich egal. "Ach ja? Du willst mir helfen? Dann lass mich einfach in Ruhe. Lasst mich alle einfach in Ruhe!"

Für einen Moment sah Megumi regelrecht geschockt aus, dann jedoch zog sie die Schultern hoch und ging davon. Ein dicker Kloß steckte in Ayas Hals. Sie hatte ihr doch nur helfen wollen. Und sie fuhr sie so dermaßen an. Das war nicht fair. Keineswegs. Schließlich konnte Megumi doch auch nichts für all das hier.

"Warte!"

Megumi drehte sich um und sah Aya erwartungsvoll an.

"Ich... Sie war hier. Meine Mutter. Und jetzt... Ich weiß einfach nicht mehr, was ich tun soll. Bitte. Ich brauche Klarheit. Ich brauche Antworten!"

Den letzten Satz hatte Aya fast geschrieen und sie erwartete schon, dass Megumi einfach gehen würde. Doch stattdessen nickte sie nur und streckte Aya die Hand entgegen.

"Dann lass uns gehen und wir reden."
 

Nach Ayas Rückkehr hatte es etwa zwei Minuten gedauert, bis sie alle in Ayas und Chikas Zimmer versammelt waren. Zwei Minuten, in denen Megumi hinausgeeilt war, um Mado zu holen. Zwei Minuten, in denen Chika beharrlich geschwiegen hatte. Zwei Minuten, in denen Aya sich vorgekommen war wie am Rande eines unendlich tiefen Abgrunds. Sie fühlte sich unsicher, denn sie wusste nicht, ob sie wirklich erfahren wollte, was die Mädchen ihr zu sagen hatten. Vielleicht war es doch besser, unwissend zu sein. Doch nun war es wohl zu spät. Denn kaum hatte Mado den Raum betreten und sich zu Megumi auf Ayas Bett gesetzt, wandte sie sich schon an Chika.

"Was ist passiert?"

Chika zog die Schultern hoch und deutete auf Aya, die sich gerade die Haare trocken rubbelte. "Frag nicht mich. Frag sie." Sie seufzte. "Sie saß völlig durchnässt draußen vor der Schule. Ich glaube..." Sie zögerte und warf Aya einen schnellen Seitenblick zu. "Ich glaube, es ist wohl an der Zeit, ihr einige Dinge zu erklären."

Als hätten Chikas Worte einen Bann gebrochen - so wie ein Damm einreißt -, sprudelte es aus Aya hervor. All die Fragen, all die Ängste und Vermutungen, die sie seit ihrer Ankunft an der Odoroki High gequält hatten, überfielen ihr Herz nun mit einer unerwarteten Intensität. Sie bemerkte, wie ihr Herz zu rasen begann und ihr Atem heftiger wurde.

"Bitte..." stammelte sie. "Bitte sagt mir doch, was das alles hier zu bedeuten hat. Ich habe alles verloren, es wird nie wieder so sein, wie es war. Und darum muss ich wissen, was hier vorgeht. Ich muss wissen, weshalb ich Schüler mit Schwertern gesehen habe, warum meine Mutter mich hasst, warum mich manche der Menschen hier ansehen, als wäre ich eine Erscheinung. Ihr wisst es doch, nicht wahr?"

Eine Weile herrschte Schweigen im Raum. Die Mädchen sahen sich unbehaglich an, bis Megumi endlich das Wort ergriff.

"Eigentlich hätte dir Direktor Toki alles erklären müssen. Jede von uns hat ihre Einführung in die Geschichte dieser Schule von ihm erhalten. Bis auf dich. Wir wissen nicht, warum das so ist. Nur eins ist klar: Du bist etwas Besonderes."

Mado legte Megumi die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. "Wir sollten von vorn beginnen. Bei dem, was wir wissen."

Aya seufzte. "Wenn ihr glaubt, dass ich mich mit irgendwelchen Ausreden abspeisen lasse..."

"Keine Ausreden." Megumi erhob sich und ging ans Fenster. Der Regen fiel mit unverminderter Heftigkeit. "Irgendwann kommt einmal die Zeit für die Wahrheit. Und ich denke, wenn wir dich nicht bald aufklären, wirst du noch wahnsinnig."

"Gut erkannt", murmelte Aya und spannte sich. Sie war gespannt auf das, was sie hören würde. Vor Aufregung begannen ihre Hände zu zittern und sie setzte sich darauf, um den anderen nicht zu viel von ihrer Gemütslage zu verraten.

"In unserem Universum gibt es viele verschiedene Dimensionen mit unterschiedlichen Welten. Sie alle sind miteinander verbunden und man kann sie bereisen, wenn man die Wege kennt." Megumi tat eine kompliziert wirkende Handbewegung und die Luft vor ihr begann zu wabern. Flirrende Bilder formten sich - Welten, die aus Feuer zu bestehen schienen, andere aus Wasser und wieder andere, von denen nur schwache Umrisse zu sehen waren.

Aya blieb der Mund offen stehen. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Wo war sie hier nur hineingeraten?

"Wer die Alten Mächte beherrscht, der ist in der Lage, jede Welt zu bereisen. Oder die, in der man lebt, zu beschützen." Die Bilder der Welten verschwammen. Megumis dunkle Augen richteten sich nun direkt auf Aya. "Wir beschützen diese Welt. Unsere Eltern sind die Nachkommen von mächtigen Priestern, denen die Aufgabe zuteil wurde, unsere Welt vor allen Gefahren zu bewahren. Wir, die Kinder, sind die Armee, die den Kampf ausfechten wird. Nur wir haben die Kraft, die Alten Mächte im Kampf zu benutzen. Wir sind die Auserwählten, die das Leben auf diesem Planeten erhalten sollen."

Aya starrte Megumi an. Irgendwie konnte das doch nur ein Witz sein. Sie versuchte ein halbherziges Lächeln, aber Megumi reagierte überhaupt nicht darauf. Sie sah todernst drein. Auch die anderen beiden Mädchen schienen nicht geneigt, die Geschichte als Witz anzusehen.

"Ähm..." Aya sah von einem zum anderen. "Und das glaubt ihr wirklich?"

Megumi runzelte die Stirn. "Ja. Weil es die Wahrheit ist. Auch wir wollten es zuerst nicht glauben, doch dann wurde uns allen langsam klar, dass sich niemand diese Geschichte ausgedacht hat. Sie ist real, auch wenn sich das alles anhört wie aus einem Fantasy-Roman."

"Es tut mir leid", entgegnete Aya und begann nun ernsthaft an ihrem Verstand zu zweifeln. "Aber ich kann das einfach nicht glauben. Das ist einfach unmöglich."

"Hast du jemals Träume gehabt?" Chika, die bisher ganz ruhig neben Aya gesessen hatte, griff nun nach ihrer Hand. "Sind Dinge geschehen, die du dir nicht erklären konntest? Hast du etwas in dir gespürt, das vorher nie da war?"

Aya sah Chika mit großen Augen an. Ihre Träume... Taros Erscheinen... Das Sehnen, das sie dann und wann in sich spürte... Sie nickte langsam und dann kamen ihr auch schon die Tränen. Denn plötzlich wurde ihr klar, dass dies ihre Freunde waren. Und dass sie sie nicht belügen würden. Sie hatten miterlebt, wie sehr sie sich quälte und wie schlecht es ihr ging. Sie würden das durch Lügen nicht noch verstärken. Und alles, was geschah, war ja auch merkwürdig genug. Weshalb also durch Zweifel alles noch schlimmer machen?

Chika nahm sie sanft in den Arm. "Ich weiß, dass es nicht leicht ist. Wir alle haben am Anfang so empfunden. Aber wenn du erst mal beginnst, die Kraft in dir zu spüren, und wenn du lernst, sie zu benutzen, dann denkst du über diese schmerzhaften Erfahrungen nicht mehr so oft nach."

"Wieso?" Es kostete Aya beinahe all ihre Kraft, diese Frage zu stellen. Ihre Brust schmerzte, als hätten sich starke Eisenketten darum geschlungen, die sich nun immer enger zusammen zogen. Es war ein Gefühl, als würde sie nie wieder frei sein können. "Wieso hast du gesagt, ich wäre etwas Besonderes?"

Aya sah Megumi an, schüttelte den Kopf und befreite sich aus Chikas Umarmung. Mit zitternden Händen wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. "An meinem ersten Tag hier haben mich alle so merkwürdig angesehen. Als wäre ich ein Geist oder... Ich weiß nicht, irgendwas. Aber das stimmt nicht. Ich bin nicht so, ich will das nicht! Was bedeutet das?"

Megumi schloß die Augen. "Das hätte nicht passieren dürfen."

"Was?" Wieder rollten Tränen über Ayas Wangen. Sie fühlte sich innerlich so zerrissen und verzweifelt, dass sie ihrer Gefühle nicht mehr Herr werden konnte. Ihr Herz schien in einen Sturm geraten zu sein, aus dem sie es nicht mehr befreien konnte. Unkontrolliert wirbelte es herum und ließ sich nicht mehr bändigen.

"Als du hierher gekommen bist, hat sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet. Sie alle hofften, mit deiner Ankunft würde sich das Ende des Kampfes abzeichnen. Wir haben sie gewarnt, dich nichts spüren zu lassen von deiner Wichtigkeit. Doch sie waren viel zu aufgeregt, einen Blick auf dich werfen zu dürfen - zu sehen, wer du bist und wie du bist..."

Mit einer schnellen Bewegung ihrer rechten Hand brachte Aya Megumi zum Schweigen. Ihre Augen brannten, als sie den Blick auf das schwarzhaarige Mädchen heftete. "Willst du mir damit sagen, dass ihr auf mich gewartet habt?"

Megumi nickte. Die anderen beiden sahen betreten zu Boden, so als würden sie überall lieber sein als hier.

"Das ist nicht dein Ernst." Halb rechnete Aya damit, dass Megumi zu lachen beginnen würde, um ihr zu sagen, dass alles nur ein Scherz war. Doch sie schwieg und ihre dunklen Augen strahlten tiefen Ernst aus.

"Du bist unsere Führerin", sagte sie mit ruhiger Stimme.
 

Sie hatte so lange gewartet. Auf eine Erklärung. Auf irgendetwas, das ihr helfen konnte, ihre Situation zu verstehen. Sie hatte gehofft, dass jemand sie aufklären würde. Dass sie die ganze Wahrheit erfassen könnte. Doch nun, da sie alles gehört hatte, war es ihr beinahe lieber, in Unwissenheit zu leben.

Es war Nacht geworden und die Schatten im Zimmer bewegten sich wie dunkle Geister. Letztendlich hatte es doch aufgehört zu regnen und durch die eilig dahinziehenden Wolkenfetzen bahnte sich das Mondlicht einen Weg in die Schule. Stille hatte sich über das Gebäude gesenkt. Neben Aya schlief Chika tief und fest. Ab und zu schnarchte sie und drehte sich unruhig herum.

Aya hingegen konnte nicht schlafen. Den ganzen Abend hatte sie auf ihrem Bett gesessen und nachgedacht. Hatte sich das Hirn zermartert über alles, was in der letzten Zeit geschehen war. Was ihr einen Hinweis hätte geben können auf das, was vor sich ging. Doch immer wieder ertappte sie sich dabei, wie ihr Kopf frei von allen Gedanken war und sie nur dumpf vor sich hin starrte.

Die anderen waren noch eine Weile geblieben. Mado war sehr erschüttert über Ayas Reaktion gewesen. Sie hatte Chika zugemurmelt, dass sie der Führerin mehr Kraft zugetraut hätte. Vermutlich dachte sie, Aya hätte die Bemerkung nicht gehört. Doch das hatte sie sehr wohl und es überraschte sie selbst etwas, dass sie es als so unwichtig empfand. Nach Megumis Offenbarung kam ihr alles unwichtig vor. Es war nicht mehr von Bedeutung, was man über sie dachte. Verstehen war alles, was noch zählte. Doch wie sollte sie das, wenn ihr Leben wie ein Kartenhaus eingestürzt war und das neue, das sie nun führte, einem Irrgarten glich, der keinen Ausgang besaß?

Seufzend hob sie die Hände in die Luft und betrachtete sie im fahlen Mondlicht. Sie konnte so wenig tun. Wie verschwindend gering war ihre eigene Größe um Vergleich zu diesem Heer, dieser Verbindung um sie herum. Wie wenig sie wert war...

Chika begann zu schnarchen. Aya warf ihr einen eindringlichen Blick zu, so als könnte dieser das störende Geräusch beenden. Doch natürlich brachte es überhaupt nichts. Lautlos ließ sie ihre Hände zurück auf die Bettdecke fallen. Was würde der morgige Tag bringen? Wenn sie alles wieder bei Tageslicht betrachten konnte - würde es an Realität gewinnen oder verlieren? Wenigstens war dann Sonntag und sie musste sich nicht in den Unterricht setzen. Sie wusste nicht, ob sie das durchstehen könnte.

Das Schnarchen wurde intensiver. Stöhnend drehte Aya sich herum, presste sich das Kopfkissen aus linke Ohr und warf es wieder weit von sich, als der Lärm einfach nicht leiser werden wollte. Sie hätte Chika wecken können. Aber vielleicht wurde sie dann so wach, dass sie sich unterhalten wollte und darauf hatte Aya nun wirklich keine Lust. Nicht im Augenblick. Also schwang sie die Beine aus dem Bett, griff nach dem Morgenmantel, den sie erst vor wenigen Tagen in ihrem Schrank entdeckt hatte, und trat ans Fenster. So friedlich und still wirkte der Garten rund um die Schule. So voller Ruhe. Und doch... Dort unten wandelte jeden Tag ein Herr. Ein Herr, das einen sehr realen Krieg führte, auch wenn Aya ihn noch nicht begriff. Kämpfer, deren Anführerin sie war.

Unwillig schüttelte sie den Kopf. Das war etwas, das einfach nicht in ihren Kopf wollte. Wie konnte sie ein Heer führen, von dessen Existenz sie bis vor wenigen Stunden noch nicht einmal gewusste hatte? Sie war da nicht hinein geboren worden, da waren keine Traditionen, denen sie folgen musste. Oder etwa doch?

Das stundenlange Nachdenken begann ihr langsam Kopfschmerzen zu machen. Wie gern hätte sie sich abgelenkt. Doch es gelang ihr einfach nicht. Womit auch? Ihr ganzes Leben war nun schließlich hier und alles, woran sie sich mühsam gewöhnt hatte, war wieder umgestoßen worden. Wenn sie nicht so entsetzt gewesen wäre, hätte sie geweint. Aber in ihrem Inneren schien irgendwie alles tot zu sein.

Gerade als Aya sich umdrehen wollte, um wieder ins Bett zu gehen, bemerkte sie eine Bewegung auf dem Rasen. Irritiert wandte sie sich wieder dem Fenster zu. Wer außer ihr konnte um diese Uhrzeit noch wach sein? Mit zusammengekniffenen Augen suchte sie den Park ab, konnte aber nichts entdecken. Vermutlich leidest du schon unter Halluzinationen, murmelte die Stimme in ihrem Kopf und Aya konnte ihr da gar nicht großartig widersprechen. Immerhin war sie durch die Geschehnisse und die Umgebung schon vorbelastet. Es würde sie gar nicht wundern, wenn sie plötzlich tanzende weiße Mäuse unter ihrem Bett finden würde.

Ein Schatten huschte zwischen den Bäumen entlang. Aufgeregt presste Aya die Anse ans Fenster. Sie war also doch nicht verrückt! Wieder bewegte sich der Schatten. Jetzt riss Aya das Fenster auf und lehnte sich hinaus. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit im Garten, in der die Schatten miteinander zu verschmelzen schienen. Sie erkannte Einzelheiten, die großen Pflanzen in den Beeten... Wo war der nächtliche Ausreißer geblieben? Hinter den Bäumen beim Brunnen hatte sie ihn das letzte Mal gesehen. Sie verfluchte sich, dass sie den weißen Morgenmantel trug. Natürlich war sie so sehr leicht zu erkennen wie sie da am Fenster stand. Und wer immer durch den Garten schlich, würde sich jetzt nicht mehr aus seinem Versteck bewegen.

Einige Minuten lang starrte Aya noch in den Park hinunter, dann schloss sie das Fenster wieder und legte sich ins Bett. Chika war inzwischen wieder ruhiger geworden und endlich fand auch Aya den Schlaf, den sie so lange ersehnt hatte.
 

"Lass sie doch schlafen."

"Aber es ist schon fast Mittag und sie sollte das Training mitmachen."

"Wir haben sie erst gestern eingeweiht und du willst sie heute schon zum Training schleifen? Bist du verrückt? Das wird sie doch niemals verstehen!"

"Es ist egal, ob sie es versteht oder nicht. Wir brauchen sie jetzt und es kann keinen weiteren Aufschub mehr geben. Wer auch immer gestern Nacht hier herumgeschlichen ist... Er wird wiederkommen und andere mitbringen. Die Barriere wird nicht ewig halten."

"Gib ihr doch noch ein oder zwei Tage Zeit. Das wird die Sache doch nicht schlimmer machen, oder?"

Die Stimmen schienen aus einer anderen Welt zu kommen. Aya fühlte sich wie in Watte gepackt. Als würde sie durch eine andere Dimension driften, in der das Leben viel einfacher, viel angenehmer war. Es gab keine Schmerzen, keine Ängste, keine enttäuschten Hoffnungen. Die Dunkelheit war ihr Schutz, ihr Schild und bewahrte sie vor allem Bösen von außen.

Was wollten die Stimmen von ihr? Versuchten sie eine Welt zu öffnen, in die sie einfach nicht gehörte? In die sie auch gar nicht gezogen werden wollte? Oder waren sie wie ein Leuchtfeuer, das ihr den richtigen Weg weisen sollte? Auf jeden Fall waren sie verführerisch. Der Klang der Sirenen, dem man nicht lauschen darf, wenn man leben wollte.

Langsam fand Aya in die Wirklichkeit zurück. Sie öffnete die Augen und blickte in helles Tageslicht. Chika und Mado standen neben ihrem Bett und diskutierten heftig miteinander. Anscheinend hatten sie noch gar nicht bemerkt, dass Aya aufgewacht war. Sie setzte sich auf, ordnete ihre Gedanken und stand dann langsam auf.

"Aya!" Chika wirbelte herum und lächelte ihre Freundin an. Sie wirkte beunruhigt, warum auch immer. "Gut geschlafen? Es ist schon ziemlich spät, aber ich wollte dich nicht wecken."

"Ja. Na ja..." Schlaftrunken wankte Aya auf ihren Schrank zu und zog ein paar Sachen heraus, die ihr für den heutigen Tag passend erschienen. Sie hatte vor, sich den Tag über draußen aufzuhalten, um einen klaren Kopf zu bekommen. "Ihr müsst euch um mich nicht streiten", sagte sie leise, wahrend sie zum Badezimmer ging. "Ich habe nicht vor, heute irgendwas zu tun, was mich vom Nachdenken abhält."

Mit diesen Worten verschwand sie im Bad und ließ Chika und Mado verdutzt zurück.

Das warme Wasser der Dusche belebte Ayas Körper und sie fühlte sich fast wieder fit, als sie das Bad verließ. Sie hatte damit gerechnet, dass sich jemand außer ihr im Zimmer aufhalten würde, doch sie war allein. Fast enttäuscht schlüpfte sie in ihre Schuhe, schnappte sich eine Jacke und verließ das Zimmer.
 

Die Luft außerhalb der Schule war noch frisch vom Regen der letzten Tage. Aya atmete tief durch und fühlte sich sofort etwas freier. Die dicken Mauern der Odoroki High ließen von Zeit zu Zeit das Gefühl aufkommen, eine Gefangene zu sein. Vermutlich war sie das auch. Vielleicht auch, ohne dass die anderen es wollten. Nun... Immerhin konnte sie nicht von hier fort, weil es keinen Ort mehr gab, an den sie hätte gehen können. Was war sie also, wenn keine Gefangene?

Der Spaziergang durch den Park tat Aya gut. Schon nach kurzer Zeit fühlte sie, wie ihr Kopf langsam zu brummen aufhörte und dass sie wieder klare Gedanken fassen konnte. Es war beinahe ein erholsames Gefühl, das sie durchströmte. Am späten Nachmittag erreichte sie das Wäldchen, in dem sie an ihrem ersten Tag hier schon gewesen war. Damals war sie mit Furcht im Herzen daraus verschwunden, doch nun verspürte sie nichts mehr davon.

Als sie an den kleinen See kam, hatte sie beschlossen, ihren Freundinnen die Geschichte zu glauben. Und außerdem wollte sie versuchen, mit den Dingen umzugehen, die ihr eröffnet worden waren. Nur dadurch würde sie ergründen, was es mit all dem auf sich hatte.

"Ganz allein unterwegs?"

Aya fuhr herum und entdeckte Megumi, die ein Stück hinter ihr auf dem Weg stand. Sie trug dunkelrote Handschuhe, welche die Finger frei ließen und hatte ihre schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden.

"Ich habe dich schon vermisst. Du hast noch nichts gegessen."

Achselzuckend ging Aya auf Megumi zu. Sie hatte nicht vor, sich zu rechtfertigen, denn sie spürte, dass Megumis Worte nicht böse gemeint waren. "Hast du dich etwa zu meiner Aufpasserin ernannt?"

Leise lachend setzte Megumi ihren Weg fort. "Nein, keine Aufpasserin. Es ist mir nur aufgefallen. Und besonders gesund ist das ja nicht."

"Du willst damit sagen, dass ihr mich noch braucht."

Der scharfe Blick, den Megumi Aya zuwarf, zeigte Betroffenheit und Ärger zu gleichen Teilen. "Glaubst du, dass wir so sind? Meinst du wirklich, wir würden dich so benutzen?" Eine Pause entstand, in der sich Aya fragte, ob sie zu weit gegangen war. Die konnte das ernsthafte Mädchen neben sich immer noch nicht richtig einschätzen. "Wir sind nicht deine Feinde", fuhr Megumi leise und bedächtig fort. "Du musst lernen, uns zu vertrauen. Wir arbeiten schließlich für ein Ziel."

"Auch wenn mir dieses Ziel nichts sagt und nichts bedeutet." Aya kickte einen Stein vor sich her, während sie Megumi durch den Wald folgte. Es überraschte sie etwas, dass sie sich so wohl fühlte in ihrer Nähe. Bisher war sie ihr immer etwas aus dem Weg gegangen. "Warum eigentlich?" fragte sie sich nun und fand keine wirklich zufriedenstellende Antwort. Vielleicht lag es an der seltsamen Art ihrer ersten Begegnung.

"Ich habe mitbekommen, dass Mado für heute etwas geplant hatte."

"Du meinst das Training?"

Megumi sah überrascht auf. "Du weißt davon?"

Aya zog die Schultern hoch. "Chika und Mado haben darüber geredet, als ich gerade aufgewacht bin. Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt hören durfte. Ich habe mich bis jetzt nicht gefragt, was sie meinten, doch wo du es gerade ansprichst..."

"Ich bin auf dem Weg dahin."

Sie traten aus dem Wäldchen hinaus und kamen an den Übungsplatz, den Aya schon einmal gesehen hatte. Wieder trainierten viele der Schüler auf dem großen Platz - einige mit Schwertern, andere mit Pfeil und Bogen... So viele verschiedene Typen, wie es unter ihnen gab, so viele verschiedene Arten von Waffen waren auch vertreten. Ein Schauder lief Aya über den Rücken, doch sie war bereits auf den Anblick vorbereitet gewesen. Immerhin... Dies war ein Heer.

"Also das Training meinte sie." Die Worte waren eher an sie selbst gerichtet als an Megumi, doch diese antwortete trotzdem.

"Sie dachte, du solltest langsam lernen, mit einer Waffe umzugehen. Es sollte dir im Blut liegen, immerhin bist du die... Du weißt schon. Niemand sollte unvorbereitet in den Kampf ziehen." Sie seufzte. "Es war eigentlich nicht so früh eingeplant, aber es sind Dinge geschehen, die es wohl nötig machen, so eilig zu handeln."

"Der Eindringling", stellte Aya ruhig fest.

"Du weißt...?"

"Mado hat es erwähnt", winkte Aya ab. Sie ließ ihren Blick über den Platz gleiten. Alle schienen mit Feuereifer bei der Sache zu sein und sich zumeist auch gut anzustellen. Wie würde sie dort hinein passen? Welche Gefühle mussten in einem vorgehen, wenn man lernte, jemanden zu töten? Es war schließlich das Ziel, das sie verfolgten. Und wer von ihnen hatte wohl schon jemanden auf dem Gewissen?

Inzwischen schickte Megumi sich an, den Hang hinunter zu gehen. Sie winkte ein paar jüngeren Schülern zu, die sie entdeckt hatten und aufgeregt zu tuscheln begannen, als sie Aya erkanten. Sie stießen ihre Nachbarn an und auch die schienen plötzlich sehr nervös zu werden.

Was soll denn das bloß, dachte Aya. Sie benehmen sich, als wäre ich ein Superstar.

"Megumi..."

Das Mädchen hielt mitten im Schritt inne und drehte sich um. Ihre dunklen Augen blickten fragend.

"Warum bin ich so etwas Besonderes? Weshalb verhalten sich die anderen so?"

"Weil du die Führerin bist", erwiderte Megumi schlicht. Dann zögerte sie und fügte schließlich hinzu: "Führer sind die Kriege mit der größten Macht. Je größer die Macht der Führer, desto erfolgreicher kämpft die Armee. Nicht in jedem unserer Kriege hatten wir einen Führer. Sie sind selten, werden nicht oft geboren. Die Mächte brauchen Zeit, um sich in einem Menschen zu konzentrieren. Du bist der erste Führer seit Jahrzehnten. Und der erste weibliche überhaupt."

Aya runzelte die Stirn. "Und was macht euch so sicher, dass ich für diese Aufgabe bestimmt bin?"

Megumi lächelte, doch es wirkte nicht ehrlich. "Du bist die Tochter der Hohepriesterin."

"Der... Was?" Ein hysterisches Kichern bahnte sich seinen Weg aus Ayas Kehle. "Hör mal, ich habe beschlossen, dieses Zeug von einer Armee und all dem zu glauben. Nicht, weil es mir besonders logisch erscheint, sondern weil ich im Moment einfach keine andere Erklärung für das hier finde." Sie hob die Arme in einer verzweifelten Geste. "Aber jetzt erzählst du mir auch noch, meine Mutter wäre... Sie ist Krankenschwester, Megumi. Mehr nicht."

Megumi schenkte Aya einen Blick, der mehr sagte als jedes Wort, das sie hätte erwidern können. Ihre Augen waren so dunkel und unergründlich, so ernst und gleichzeitig traurig... Sie wirkte mehr wie ein Wesen aus einer alten Fabel, einer längst vergessenen Geschichte, als wie ein Mensch. Und obwohl alles in Aya danach schrie, dass es nicht sein konnte, dass ihre Mutter nichts anderes war als das, was sie immer in ihre gesehen hatte... Sie glaubte Megumi. Sie glaubte diesem Blick, der sich in ihr Innerstes zu bohren schien, in ihre Seele drang und ihr Trost und Mut zu gleichen Teilen zu versprechen schien.

Wortlos drehte Megumi sich um und setzte ihren Weg fort. Die Schüler auf dem Platz hatten nun fast alle ihr Training unterbrochen und starrten Aya an. Einige von ihnen schienen sie sogar fast ehrfürchtig zu betrachten. Was erwarten sie sich bloß von dir? wisperte die Stimme in Ayas Kopf. Was für eine Kraft kannst du ihnen geben, damit sie diesen Krieg gewinnen und den Planeten schützen können? Was ist es, das tief in dir schlummert?

"Wie läuft's?" Megumi wandte sich an ein sommersprossiges Mädchen, das neben ihr stand, einen Bogen in der rechten Hand und einen Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken. Ihre großen braunen Augen versteckten sich hinter dicken Brillengläsern.

"Ich schaffe es immer noch nicht", erwiderte das Mädchen beschämt und senkte den Blick. "Ich kann so viel üben, wie ich will. Es geht einfach nicht."

Megumi griff nach dem Bogen und wog ihn prüfend in den Händen. Dann nahm sie einen Pfeil aus dem Köcher des Mädchens und legte ihn auf die Sehne. Aya blinzelte. Als Megumi sich auf diese Waffe konzentrierte, schien sie ein komplett anderer Mensch zu werden. Sie konnte diesen Eindruck nicht in Worte fassen, sie wusste nur, dass Megumi und der Bogen eins geworden waren. Sie waren Mensch und Waffe gleichzeitig, verbunden durch den Pfeil, der nur durch ihre gemeinsame Kraft fliegen konnte.

"Bemüh dich nicht zu sehr", wisperte Megumi und sah das Mädchen mit den Sommersprossen lächelnd an. "Es geht nicht nur um die Technik. Du musst ein Gefühl für deine Waffe entwickeln. Lass dich auf sie ein und versuche, sie nicht als bloßes Objekt zu sehen, sondern als in eine Form gefasste Seele." Ihre Finger glitten von der Sehne und der Pfeil traf mitten ins Herz der Zielscheibe, an der die Schüler übten.

Ehrfürchtig nahm das Mädchen den Bogen wieder entgegen und mischte sich unter die Gruppe ihrer Altersgenossen.

"Bist du ihre Lehrerin?" Aya runzelte die Stirn und beobachtete, wie das Mädchen versuchte, eine Beziehung zu ihrer Waffe herzustellen.

Megumi schüttelte den Kopf. "Eigentlich nicht. Aber ich komme gut mit den Kindern klar und weshalb sollten sie den Bogen nicht um Rat fragen dürfen?"

"Den Bogen?" fragte Aya verwirrt.

Doch Megumi antwortete nicht. Wortlos setzte sie ihren Weg durch die Reihen der Schüler fort. Unbehaglich folgte Aya ihr und wünschte sich mitunter, es gäbe irgendwo ein kleines Loch, in das sie schlüpfen könnte. Die meisten Schüler, an denen ihre Weg sie vorbei führte, stießen sich flüsternd an und steckten die Köpfe zusammen. Wenigstens wusste sie, worüber geredet wurde und das machte sie etwas selbstsicherer. Auch wenn sie es immer noch nicht verstand.

"Wohin gehen wir?" wollte Aya nach einer Weile wissen.

Megumi deutete auf die andere Seite der Lichtung, wo Aya einen kleinen Haufen Schüler ausmachen konnte, die Schwerter gegeneinander führten. Etwas abseits dieser Gruppe standen Mado und Chika, die das Training ganz genau beobachteten und sich dabei unterhielten.

"Hallo, ihr beiden", begrüßte Megumi ihre Freundinnen im Näherkommen. Sie winkte ihnen kurz zu und deutete dann auf die Kämpfenden. "Wie läuft es?"

Chika legte den Kopf schief. "Sie machen Fortschritte." Dann warf sie Aya ein strahlendes Lächeln zu. "Du bist ja doch noch gekommen! Cool!"

"Ähm... Ja..." Aya zog die Augenbrauen hoch. "Sagt mal, was läuft hier eigentlich?"

Mado bedachte Aya mit einem durchdringenden Blick. Sie schien zu überlegen, was sie ihr erzählen sollte. Doch dann fing sie Megumis Blick auf und der schien zu sagen, dass sie ihre die Wahrheit erzählen sollte.

"Nur das Training. Hast du doch heute morgen mitbekommen, oder? Die Schüler werden an den Waffen geschult." Sie deutete auf die Schwertschwinger. "Es gibt tägliche Trainingseinheiten. Und am Wochenende wird mehr gearbeitet."

Stillschweigend beobachtete Aya die Übenden. Was sie sah, ließ sie schaudern, doch andererseits wirkte das Training trotz der offensichtlichen Kampfhandlungen und der Vorbereitungen auf einen Krieg wie... ein bizarrer, eleganter Tanz. Die Klingen der Waffen glänzten im Licht der Sonne, die synchronen Bewegungen den Schüler wirkten einlullend...

"Möchtest du es auch mal versuchen?"

Chikas Stimme riß Aya aus ihren Gedanken. Plötzlich war ihr wieder klar, wo sie hier war und in welcher Situation sie sich befand. Sie starrte Chika an, als hätte sie ihr eben angeboten, ihr die Hand abzuhacken. "Bitte?"

Chika grinste. "Keine Angst, es liegt dir im Blut."

Mado stieß sie an und schüttelte den Kopf. Anscheinend hatte dieses Gespräch später oder anders stattfinden sollen. Aber Chika konnte mit solchen Dingen schlecht hinter dem Berg halten, so viel hatte Aya schon gelernt. Und eigentlich war sie auch sehr froh darüber. Das machte Chika ja gerade so sympathisch.

"Was meinSt du damit, dass es mir im Blut liegt?" fragte sie leise. Aus den Augenwinkeln registrierte sie, wie Megumi die Gruppe verließ.

"Nichts", beeilte sich Mado zu sagen. "Sie übertreibt mal wieder."
 

Später am Abend, als das Training beendet war und die Schüler wieder in das alte Haus auf dem Hügel zurückkehrten, war Chika an Ayas Seite ungewöhnlich schweigsam. Sie gingen hinter allen anderen her, um ein Auge auf die Nachzügler zu haben. Aya war das ganz recht, denn so hatte sie wenigstens ihre Ruhe vor Mado, die ihr den gesamten Nachmittag über viel zu nah gekommen war.

"Hey", sagte Aya schließlich leise und stieß Chika sanft an. "Was ist los mit dir?"

"Mit mir? Gar nichts." Stur nach vorn blickend schritt Chika weiter voran. Die Schüler weiter vorn lachten und alberten miteinander herum. Wie konnten sie sich nur so normal verhalten? Immer noch begriff Aya das alles nicht. Sie alle mussten das Gleiche mitgemacht haben wie sie und doch schienen sie sich hier wohl zu fühlen. Ob es daran lag, dass sie schon länger hier waren? Oder hatten sie sich einfach mit ihrem Leben abgefunden?

"Es ist Mado."

Aya sah überrascht auf. "Mado?"

"Ja." Chika ballte die Hände wütend zu Fäusten und schüttelte den Kopf. "Sie muss mich einfach immer bevormunden, egal, was ich sage oder tue. Es ist immer falsch. Das geht mir so auf die Nerven!"

"Du meinst wegen vorhin? Wegen der Bemerkung, dass es mir im Blut liegen würde?"

"Auch", nickte Chika. "Wenn etwas nicht nach ihrer Nase geht, dann zickt sie einfach rum. Und ich kann mich einfach nicht gegen sie durchsetzen."

"Wenn du schon weißt, woran es liegt, dann versuch dich das nächste Mal einfach zu überwinden. Sag ihr ins Gesicht, was du von ihrem Verhalten denkst. Glaub mir, das hilft."

Chika grinste. "Bist du Psychologin oder so was?"

Leise lachend schüttelte Aya den Kopf. "Nein. Bestimmt nicht. Aber wenn ich in den letzten Tagen und Wochen hier etwas gelernt habe, dann ist es, über Probleme zu reden. Ich muss in der Hinsicht noch viel lernen, aber ich merke, dass es gut tut, nicht alles in sich hinein zu fressen. Sieh mal... Sonst wäre ich doch gar nicht da, wo ich jetzt bin."

"Du meinst hier?"

"Ich meine, ich wüsste immer noch nichts über diese Schule und dieses... Heer..." Es fiel ihr immer noch schwer, die Tatsachen auszusprechen, aber langsam gewöhnte sie sich zumindest an den Gedanken. "Ich will versuchen, in Zukunft gleich über die Dinge zu reden, die mir zu schaffen machen. Oder Fragen zu stellen."

Einen Augenblick lang dachte Chika nach. "Ja. Vielleicht hast du recht. Vielleicht sollte ich mir das zu Herzen nehmen."

Sie hatten die Schule erreicht und die Meute zerstreute sich langsam im Haus und in den Gängen. Chika und Aya erreichten die Treppe.

"Glaubst du, dass ich das alles hier irgendwann wirklich verstehen werde?" Aya sah zu Chika auf, die einige Stufen höher stand als sie.

Lächelnd antwortete ihr die Freundin. "Bestimmt. Wir sind ja da, um dir zu helfen, oder nicht?"

Aya nickte und wollte Chika folgen, als sie plötzlich angerempelt wurde. Sie hielt sich am Geländer fest und stolperte zum Glück nur zwei Stufen tiefer. Erschrocken sah sie sich um.

"Kannst du denn nicht aufpassen? Mein Gott..." Die zeternde Frau, die Aya angestoßen hatte, strich wütend ihren Rock glatt. "Man sollte meinen, die Jugend hätte noch etwas Respekt vor den Älteren."

Aya schluckte. Es war so ein schöner Tag gewesen. Sie bemerkte, dass Chika zu ihr herunter kam und ihre Hand nahm. Aber das war unwichtig. Wichtig war nur das Schlagen ihres Herzens, ihr Atem und...

"Hallo, Mama."

Rückkehr eines Engels

Du musst lernen, dich zu beherrschen. Du wirst den Kampf nicht bestehen können, wenn du dich selbst nicht unter Kontrolle hast.
 

Direktor Toki
 

Kapitel 4 - Rückkehr eines Engels
 

"Sieh an."

Aya starrte ihre Mutter an, als würde sie diese Frau zum ersten Mal in ihrem Leben sehen. Und in gewisser Weise war es auch so. Wo sie einst Freundlichkeit und Liebe im Gesicht ihrer Mutter gesehen hatte, gab es jetzt nur noch Kälte und ein Gefühl von Fremde, das Ayas Herz zusammen presste. Dieser Moment, nach dem sie sich so sehr gesehnt und ihn auch gleichzeitig so gefürchtet hatte, schien im Universum gerade das bedeutendste Ereignis zu sein.

Es war Aya nicht möglich, sich zu bewegen. In ihr stritten die Gefühle. Am liebsten hätte sie sich ihrer Mutter in die Arme geworfen. Fast hoffte sie, dass sich dadurch vielleicht alles als böser Traum herausstellen würde. Aber ein anderer Teil von ihr wollte einfach nur davonlaufen und diesen Menschen nie wieder sehen. Etwas in ihr sagte Aya, dass ihre Mutter nicht unschuldig an all dem war. Dass sie es so gewollt hatte. Und noch immer wollte.

"Was ist?" Ayas Mutter zog zornig die Brauen zusammen. "Hat es dir plötzlich die Sprache verschlagen? Wenn du etwas von mir willst, dann sag es. Ansonsten lass mich in Ruhe."

In Ayas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was sollte sie tun? Sie war jetzt hier. Und vielleicht war es ihre letzte Chance.

"Ich... Ich möchte nur wissen...", begann sie und stockte. Ja, was wollte sie wissen? Nun stand sie ihrer Mutter gegenüber und fühlte sich, als wäre alles, was zwischen ihnen einmal gewesen war, aus und vorbei. Eine Fremde stand vor ihr und sie wusste nicht, was sie zu ihr sagen sollte. Wann war das alles geschehen? Wann hatte sie sich so verändert?

"Ich, ich, ich!" platzte ihre Mutter plötzlich heraus und Aya zuckte zusammen. Sie spürte, wie Chikas Hand sich noch etwas fester um ihre eigene legte. "Immer denkst du nur an dich. Wie mich das anwidert! Hast du dir jemals Gedanken darum gemacht, was andere Menschen wollen könnten? Hast du jemals danach gefragt? Nie! Und jetzt kommst du her und stotterst mir hier einen vor. Was erwartest du? Dass ich dich in die Arme nehme und alles wieder so wird wie früher?"

Tatsächlich. Sie hatte es irgendwie erwartet. Aber wenn da noch ein Funken Hoffnung in Aya gewesen war, so hatte ihre Mutter ihn gerade erstickt.

"Du bringst nicht mal den Mut auf, mir in die Augen zu sehen. Oder mit mir zu reden. Ich schäme mich dafür, so einen Schwächling aufgezogen zu haben. Vergeude deine Zeit nicht damit, an die Vergangenheit zu denken. Fang endlich an, für unsere Zukunft zu sorgen!"

Immer noch starrte Aya ihre Mutter an. Kein Laut kam aus ihrem Mund. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie merkte, wie das Entsetzen und die Lähmung in ihrem Inneren einer Welle der Wut wichen. Wut auf ihre Mutter, auf diese Schule und auf ihr Leben im Allgemeinen. Aber sie konnte diesen Zorn nicht zum Ausdruck bringen. Er schwelte in ihr, doch sie war damit allein.

Nach einer halben Ewigkeit endlich drehte ihre Mutter sich um und ging ruhigen Schrittes und erhobenen Kopfes durch die Halle und verließ die Schule. Kein Wort des Abschieds. Kein Zeichen der Zuneigung. Am liebsten wäre Aya auf der Stelle tot umgefallen. Aber ihr Körper tat ihr diesen Gefallen nicht. Noch eine ganze Weile stand sie einfach nur so da und starrte ins Nichts, bis sie endlich wieder ihre Umgebung wahrnahm. Chika stand immer noch neben ihr und hielt ihre Hand. In der Halle tuschelten einige Schüler miteinander und sahen dann und wann zur Treppe hinüber.

"Ich wollte nur wissen, ob sie mich vergessen hat", murmelte Aya schließlich und drehte sich zu Chika um. "Warum konnte ich ihr das nicht sagen?"

"Sie ist jetzt ein anderer Mensch", erwiderte Chika leise und zog Aya sanft mit sich die Treppe hinauf. "Sie werden alle so, wenn sie ihre Kinder hierher schicken. Ich weiß nicht, warum. Es tut uns allen weh."

Aya seufzte. "Dann bin ich nicht die Einzige?"

"Nein. Direktor Toki sagt, dass es nur zu unserem Besten geschieht. Dass wir uns nur auf unsere Aufgabe konzentrieren sollen. Wenn der Kampf vorbei ist, wird alles wieder gut."

Das Strahlen in Chikas Augen sagte Aya, dass ihre Freundin wirklich daran glaubte. Doch Aya war klar, dass es nie wieder gut werden würde. Egal, was noch alles auf sie zukommen würde: Solch ein Bruch konnte niemals verheilen.
 

Die nächsten Tage durchlebte Aya wie im Traum. Sie besuchte den Unterricht, gab sich alle Mühe bei anstehenden Arbeiten, aß, schlief und verbrachte viel Zeit mit Chika. Doch irgendwie konnte das alles nicht wirklich bis zu ihr vordringen. Sie kam sich vor als wäre sie in Watte gepackt. Und auch wenn sie nach außen hin gelöst und locker wirkte - und sie wusste, dass sie das tat -, sah es in ihrem Kopf und in ihrem Herzen ganz anders aus.

Die Begegnung mit ihrer Mutter hatte sie geschockt. In ihrem Herzen hatte sie noch daran geglaubt, dass ein Wiedersehen vielleicht die Wende bringen könnte. Dass ihre Mutter sie doch noch liebte und dass vielleicht alles nur eine Verkettung unglücklicher Umstände war. Aber nun wusste sie es besser. Und damit fertig zu werden erforderte mehr Kraft von ihr, als sie gedacht hätte.

Durch den Schleier an Erinnerungen und Gedanken, der sie stets umhüllte, nahm Aya wahr, dass Mado oft in ihrer Nähe weilte. Zuerst maß sie diesem Umstand keine besondere Bedeutung zu, doch schließlich fiel sogar ihr auf, dass da etwas nicht stimmen konnte. Entweder wollte Mado etwas von ihr und traute sich nicht, sie zu fragen - was Aya nicht glaubte -, oder sie wollte sie beobachten. Das war sehr viel wahrscheinlicher. Und seltsamerweise erweckte diese Erkenntnis Zorn in Aya, wo alles andere sie nicht hatte berühren können.

Es war im Sportunterricht als Aya schließlich der Kragen platzte. Die Klasse sollte auf dem Trainingsplatz ihre Runden laufen. Keine besonderen Anforderungen an Schnelligkeit oder Geschick. Einfach nur laufen und die Ausdauer trainieren. Chika und Aya hielten sich im Mittelfeld der Gruppe und bewegten sich schweigend nebeneinander her. Nach einer Weile fiel Aya auf, dass Mado sich ebenfalls auf einer Höhe mit ihnen bewegte. Stirnrunzelnd sah sie zu ihr hinüber. Normalerweise hielt sie sich immer an der Spitze des Feldes, denn sie war eine sehr schnelle und gute Läuferin und stolz darauf. Warum also hing sie nun bei den eher langsamen Leuten herum? Langsam verringerte Aya ihr Tempo und fiel zurück. Mado tat das gleiche. Als Aya wieder schneller wurde, erhöhte auch Mado ihr Tempo.

Der Druck, der die letzten Tage auf Ayas Herzen gelastet hatte, verschwand auf einen Schlag. Sie bahnte sich einen Weg durch die anderen Läufer und fand schließlich direkt neben Mado wieder in ihren Lauf.

"Was soll das eigentlich?" fragte sie ihre Cousine keuchend.

Mado sah sie mit gespieltem Erstaunen an. Erschrecken war in ihrem Gesicht zu lesen und Aya tat es gut, sie so aus der Fassung gebracht zu haben. "Was meinst du?" erwiderte sie mit erstaunlich ruhigem Atem.

"Du weichst mir seit Tagen nicht mehr von der Seite. Kannst du mir mal sagen, was das soll?"

Mado lief nun etwas schneller. Willst mich wohl los werden, hm? Aya grinste in sich hinein. So leicht mache ich es dir nicht. Sie zog mit Mado mit und blieb auf gleicher Höhe.

"Ich weiß nicht, was du meinst."

Langsam begann Aya ungeduldig zu werden. Was hatte sie eigentlich verbrochen, dass kein einziger Mensch mehr vernünftig mit ihr reden konnte? Blitzschnell fuhr sie herum und riss Mado am Ärmel. Das brachte das Mädchen so aus dem Tritt, dass es stolperte und zu Boden ging. Und Aya mit ihr. Doch statt erschrocken auf dem Boden liegen zu bleiben, rappelte Aya sich blitzschnell auf, rollte sich über Mado und packte sie am Kragen. Sie spürte so eine unbändige Wut in sich, dass sie am liebsten zugeschlagen hätte. Sie wusste selbst nicht, was sie eigentlich davon abhielt.

"Hör zu", fauchte sie Mado an, die nun ganz still und erschrocken unter ihr lag. "Ich hab gerade wirklich Lust, mich mit dir anzulegen. Verwandtschaft oder nicht, du nervst mich! Wenn du weiter so eine Show abziehen willst, dann rate ich dir, mir lieber aus dem Weg zu gehen."

"Bist du verrückt geworden?" schrie Mado sie an und versuchte, Aya von sich herunter zu stoßen. Doch die klammerte sich mit ihren Knien so stark an Mados Hüfte fest, dass sie keinen Zentimeter wich.

"Vielleicht bin ich das", entgegnete Aya leise und schüttelte Mado leicht. "Würde dir das gefallen, ja? Wenn ich total durchdrehen würde? Wäre vielleicht nicht schlecht, dann könnte ich endlich von hier verschwinden und wäre euch alle hier für immer los! Dafür nehme ich auch gern eine Gummizelle in Kauf."

Mados Augen weiteten sich. Aya erkannte die Angst darin und fragte sich, ob sie nicht ein wenig zu weit gegangen war, doch immer noch pulsierte die Wut in ihr und unterdrückte das logische Denken. Plötzlich spürte sie, wie sie von hinten gepackt und von Mado herunter gerissen wurde. Urplötzlich verrauchte ihr Zorn und sie ließ sich widerstandslos aufrichten. Zwei Mitschüler hielten sie fest und einige andere halfen Mado, wieder auf die Beine zu kommen. Die Lehrerin tauchte neben Aya auf und starrte sie entsetzt an.

"Was ist denn nur in dich gefahren?" keifte sie Aya an und riss sie am rechten Arm hinter sich her vom Sportplatz weg. "Komm mit! Das wird noch Folgen für dich haben!"

Aya drehte sich noch einmal zu ihrer Klasse um. Jeder sah ihr bestürzt hinterher, anscheinend konnte niemand von ihnen so recht verstehen, was soeben geschehen war. Chika stand bei Mado und redete leise mit ihr. Doch die schien der Jüngeren gar nicht zuzuhören. Ihr Blick ruhte auf Aya. Und der Ausdruck in ihren Augen verwirrte Aya zutiefst.
 

Das Büro des Direktors hatte sich überhaupt nicht verändert, seit Aya das letzte Mal hier gewesen war. Sogar die Atmosphäre war die gleiche - beruhigend, aber doch von einer unterdrückten Anspannung durchzogen. Aya saß auf einem Stuhl vor dem großen Schreibtisch. Sie trug noch immer ihre Sportsachen, denn die Lehrerin hatte sie direkt vom Sportplatz hierher geschleift. Bevor Aya ins Büro zitiert wurde, hatte sie allerdings unter vier Augen mit dem Direktor gesprochen. Erst danach wurde Aya erlaubt, das Büro zu betreten.

Der Direktor saß hinter seinem Schreibtisch und bedachte Aya mit einem Blick, den sie beim besten Willen nicht deuten konnte. Neben ihm stand mit vor der Brust verschränkten Armen die Sportlehrerin. Sie wirkte unzufrieden und murmelte leise etwas vor sich hin. Unschlüssig, was sie nun tun sollte, blieb Aya vor dem Schreibtisch stehen.

"Setz dich", gebot ihr der Direktor und deutete auf den freien Stuhl. Aya tat, wie ihr geheißen. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus.

"Du hast also eine Mitschülerin im Sportunterricht angegriffen?"

Die Lehrerin schüttelte den Kopf und riss die Arme nach vorn. "Angefallen hat sie sie! Wie ein wildes Tier! Ich wusste gar nicht, wie mir geschieht. Gemeingefährlich ist so etwas!" Jammernd verbarg sie das Gesicht in den Händen.

Der Direktor schüttelte missbilligend den Kopf. "Na, na, Frau Asahara. Es ist doch nichts passiert. Am besten beruhigen Sie sich erst mal wieder und lassen mich mit Fräulein Ichiyanagi allein."

"Aber..." Die Lehrerin warf dem Direktor einen flehenden Blick zu.

"Bitte."

Nicht gerade begeistert verließ Frau Asahara den Raum. Die Tür schloss sie lauter hinter sich, als es nötig gewesen wäre.

"Nun, was hast du denn dazu zu sagen?" Direktor Toki beugte sich ein wenig vor und lächelte liebenswürdig.

Während sie den Direktor ansah, fragte sich Aya, weshalb sie innerlich schon wieder so ruhig war. Noch vor einer halben Stunde hatte sie getobt wie eine Wahnsinnige, doch das Gefühl dieser alles verzehrenden Hitze in ihr war vollkommen verschwunden. Beinahe wünschte sie sich, ihren Ausbruch wiederholen zu können und dem Direktor eines seiner schweren Bücher über den Kopf zu ziehen. Doch so sehr sie in sich auch nach der Wut tastete - sie konnte sie nicht finden.

"Wir haben uns eben gestritten", erklärte sie mit ruhiger Stimme und vermied es, den Direktor direkt anzusehen. Sie wusste genau, dass er sie fragen würde, warum das geschehen war. Und sie war sich nicht sicher, was sie ihm antworten sollte.

"Mit Mado, hm?" Der Direktor nickte und lehnte sich seufzend zurück. "Ich weiß, es ist oft nicht gerade leicht, mit ihr auszukommen."

Erstaunt sah Aya auf. Hatte sie sich verhört? "Ich verstehe nicht ganz....", entgegnete sie vorsichtig, als der Direktor eine Weile geschwiegen hatte.

"Nun..." Direktor Toki machte eine vage Bewegung mit der rechten Hand und heftete seinen Blick auf die Zimmerdecke. "Ihre Erziehung ist wohl nicht ganz so gut verlaufen, wie man sich das hätte wünschen sollen. Sie hat sehr früh einen sehr eigenwilligen Weg gefunden, mit den Dingen umzugehen."

Aya runzelte die Stirn. Eigentlich wollte sie dazu nichts sagen, denn es erschien ihr vermessen, den Direktor zu kritisieren. Doch die Worte kamen aus ihr heraus, ehe sie etwas dagegen tun konnte. "Glauben Sie nicht, dass man die Erziehung eines Kindes nur dann wirklich kritisieren kann, wenn man selbst Einfluss darauf hatte?"

Erstaunlicherweise lächelte der Direktor bei diesen Worten. "In diesem Fall ist das wohl gerechtfertigt, Fräulein Ichiyanagi. Ich hätte schon viel früher merken müssen, dass Mado mir entgleitet."

Für einen Moment herrschte Stille im Büro. Ayas Gedanken überschlugen sich. Hatte sie das nun falsch verstanden oder war Direktor Toki...? "Sie... Sie sind Mados Vater?" presste sie schließlich ungläubig hervor.

"Ihr Onkel", entgegnete der Direktor. Mehr schien er zu diesem Umstand nicht sagen zu wollen, denn er schwieg beharrlich und auch Aya wusste nicht, was sie sagen sollte. Eine unangenehm lange Pause entstand, in der Aya versuchte, den Direktor bloß nicht anzustarren. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, dass er mit Mado verwandt sein könnte! Natürlich... Wenn man genau darüber nachdachte, erledigte Mado eine Menge verantwortungsvolle Aufgaben. Und wem sollte Direktor Toki eher vertrauen als jemandem aus seiner eigenen Familie? Aber... Wenn Mado Ayas Cousine war, wie sie und ihre Mutter bereits behauptet hatten, dann war...

"Ich kann mir vorstellen, dass ihr beide unter einem gewaltigen Druck steht", unterbrach der Direktor Ayas Gedankengänge. Verwirrt blickte sie auf. "Mado versucht stets, unserer Sache zu dienen und die Dinge... am Laufen zu halten. Ich glaube, insgeheim hat sie stets gehofft, dass sie eines Tages diejenige sein würde, zu der alle aufschauen. Nun... Vielleicht habe ich es einfach versäumt, ihr klar zu machen, dass dem nicht so sein wird."

"Sie meinen, Mado wollte die Führerin werden?"

Nun war es an der Reihe des Direktors, verwirrt drein zu schauen. Doch er hatte sich schnell wieder in der Gewalt. "So... Du weißt also bereits davon?"

"Ich habe einiges mitbekommen. Die anderen haben mich aufgeklärt. Ich weiß von meiner Bestimmung und ich weiß von der Armee. Und auch von dem Kampf, den wir ausfechten. Nebenbei bemerkt... Ich hätte das alles angeblich von jemand anderem erfahren sollen."

Der Direktor seufzte. "Ja. Es stimmt, die anderen Schüler haben ihre Einführung in unsere Geschichte stets von mir erhalten. Nun... Es sind einige Dinge geschehen, die mir nicht erlaubt haben, dich ebenso zu behandeln. Ganz abgesehen davon, dass ich gar nicht die Zeit dafür gehabt hätte." Er sah Aya an und winkte dann ab. "Aber das ist hier nicht das Thema. Da du bereits alles zu wissen scheinst, muss ich ja keine Reden mehr schwingen."

"Sie machen sich das alles sehr leicht." Plötzlich kehrte die Wut zurück und Aya konnte fühlen, dass dieses Gefühl sie überrollen würde, wenn sich das Gespräch in die vorgezeichnete Richtung entwickelte. "Sicher, ich habe vieles erfahren, aber immer noch ist so vieles unklar und ich weiß nicht, was von mir erwartet wird. Welchen Sinn das alles macht. Jetzt bin ich hier und sie haben die Gelegenheit, mit mir darüber zu sprechen. Aber stattdessen werde ich wieder nur abgespeist. Jemand anderes hat diese Aufgabe übernommen und das ist bequem. Aber... Ich kann das nicht einfach so hinnehmen! Ich bin in ein völlig neues Leben geworfen worden, in dem ich mich einfach nicht zurecht finde. Ich finde, ich habe das Recht auf etwas -"

"Ist das der Grund, aus dem du dich mit Mado geprügelt hast?" Die Stimme des Direktors war nun nicht länger freundlich, sondern hinterlistig und fragend.

"Wie bitte?" fragte Aya verdutzt und konnte nicht recht zuordnen, was Tokis Frage zu diesem Zeitpunkt sollte.

"Du bist wütend und frustriert und du lässt deine Aggressionen an deinen Mitschülern aus." Als hätte er einen besonders komplizierten Fall gelöst, lehnte der Direktor sich entspannt zurück.

"Aber... so ist es nicht!" Aya ballte wütend die Fäuste. "Sie beschattet mich und lässt mich keinen Moment aus den Augen, sie folgt mir auf Schritt und Tritt, immer giftet sie mich an oder reißt dumme Sprüche. Das hat doch nichts mit Wut oder Frustration von mir zu tun!"

"Ist das so?" Toki lachte trocken. "Nun, ich sehe das ein bisschen anders."

Aya blieb der Mund offen stehen. Er hatte sie in eine Sackgasse gelockt. Freundlich und fürsorglich getan, um sie dann hinterrücks zu erdolchen. Erdolcht... Genau so fühlte sie sich gerade.

"Du musst lernen, dich zu beherrschen", fuhr der Direktor kühl fort. "Du wirst den Kampf nicht bestehen können, wenn du dich selbst nicht unter Kontrolle hast."

"Ich..."

"Denk darüber nach. Und wenn ich noch einmal höre, dass sich ein Vorfall wie heute ereignet hat, werden wir über Konsequenzen nachdenken müssen. Für heute ist es genug. Ich denke, du hast verstanden."
 

Völlig verwirrt und enttäuscht verließ Aya das Büro des Direktors. Sie fühlte sich, als hätte er ihr eine schallende Ohrfeige verpasst, die sie nicht verdient hatte. Irgendwie hatte sie das Gefühl gehabt, dass sie ihm trotz allem ein wenig vertrauen konnte. Und dummerweise hatte sie tief in sich daran geglaubt, dass er sie brauchen würde. Schließlich war sie...

Abrupt blieb Aya stehen und lehnte sich an die kühle Wand des Flures. Ja, was war sie denn? War das Amt der Führerin denn etwas so Besonderes, dass Mado sie deswegen schikanierte? Aber wenn es so war, wieso taten dann alle so, als würde sie nur eine unter vielen sein und keine besondere Behandlung verdienen? Falls sie sie wirklich brauchten, mussten sie dann nicht darum bemüht sein, ihr das Leben leichter zu machen?

"Du bist eine Närrin", schalt Aya sich selbst und setzte ihren Weg fort. Als sie die Eingangshalle erreichte, kamen ihr einige Schüler entgegen, die sie neugierig anstarrten, doch sie kümmerte sich nicht darum. Es war ihr auf einmal ganz egal, ob man sie ansah oder über sie redete, wenn sie nur zwei Schritte entfernt stand und jedes Wort mit anhören konnte. Es machte doch keinen Sinn, sich darüber aufzuregen. Sie war eine Gefangene in dieser Schule und eine Gefangene in ihrem eigenen Leben.

Das nennt man dann wohl Resignation, lachte die Stimme in Ayas Kopf ganz leise.

Als sie den Fuß der Treppe erreichte, die zu den Schlafsälen führte, bemerkte sie aus den Augenwinkeln, dass Mado an der Eingangstür stand. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah mit schmalen Augen zu ihr herüber, sagte aber nichts. Aya seufzte und begann, die Treppe hinaufzugehen. Sie hatte keine Lust auf eine Diskussion und sie hatte keine Lust mehr auf Streit. Eigentlich wollte sie gerade allem aus dem Weg gehen, was mit dieser verflixten Schule und ihrer Armee zu tun hatte. Und Mado war die letzte, die sie treffen wollte. Doch als sie schon fast die letzte Stufe erreicht hatte, hörte sich hinter sich Schritte und sie wusste aus einem unerfindlichen Grund, dass es sich um Mado handelte.

Schweigend ging Aya weiter. Sie bog in den dunklen Gang ein, der zu ihrem Zimmer führte und kümmerte sich nicht darum, ob ihre Cousine ihr folgte oder nicht. Und Mado ihrerseits schien auch keine Unterhaltung zu suchen. Bis sie nur noch wenige Meter von Ayas Ziel entfernt waren.

"Warst du beim Direktor?" fragte Mado leise.

Aya blieb stehen, drehte sich aber nicht um. Die Schritte hinter ihr verstummten. "Du hast mich doch von seinem Büro kommen sehen, oder?"

Mado lachte leise. "Stimmt. Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte."

"Ich glaube nicht, dass es viel zu sagen gibt. Es ist wohl besser, wenn wir uns in Zukunft aus dem Weg gehen." Langsam schritt Aya weiter voran. Mado folgte ihr nicht. Als sie eine Hand auf die Klinke ihrer Zimmertür legte, rief Mado sie allerdings zurück.

"Glaubst du wirklich, dass das besser ist?"

Das ist wie in einem schlechten Film, zwitscherte die leise Stimme. Du willst ihr doch wohl nicht nachgeben?

"Der Direktor hat angedeutet, dass du die Führerin werden wolltest." Noch immer konnte Aya sich nicht umsehen. Im Moment war sie innerlich sehr ruhig, doch sie fürchtete sich davor, wieder diese unbändige Wut in sich zu spüren.

"Nichts könnte mich jemals dazu bringen!" rief Mado empört und nun drehte sich Ayqa doch um. Damit hatte sie nicht gerechnet. "Er hat doch keine Ahnung. Er hat mich nie verstanden! Mich in diese Schule zu schleppen und als seine persönliche Spionin zu benutzen. Und dann auch noch Lügen erzählen! Aya, du darfst ihm nicht glauben!"

"Wem soll ich denn noch glauben?" erwiderte Aya aufgebracht. "Ich weiß kaum noch, wer ich selbst bin. Und wenn du nicht meine Position einnehmen willst - die ich dir im Übrigen gern überlassen würde -, dann erklär mir doch mal, warum du mich seit Tagen verfolgst und belauschst und so gemein zu mir bist."

Einen Herzschlag lang starrten sich die beiden Mädchen einfach nur wortlos an, dann öffnete sich die Tür, deren Klinke Aya immer noch festhielt, und Chika streckte ihren Kopf auf den Flur.

"Was ist denn hier los?" fragte sie erschrocken.

"Nichts", antwortete Aya knapp, stieß die Tür weiter auf und ging an Chika vorbei ins Zimmer. Mado folgte ihr.

"Das gefällt mir selbst nicht", nahm sie die Unterhaltung wieder auf. "Zuerst wollte ich nur wissen, ob wir dir trauen können. Dann bekam er Wind von meinem Interesse und hat mir aufgetragen, dich zu beobachten und ihm zu berichten, was ich herausfinde."

"Herausfinden?" Aya wirbelte herum und gestikulierte wild mit den Händen. "Was willst du denn herausfinden? Ob ich meine Schularbeiten regelmäßig mache, wie schnell ich im Sportunterricht laufen kann oder wann und wie oft ich aufs Klo gehe?"

"Äh..." meldete sich Chika vorsichtig zu Wort. "Ihr schlagt euch aber nicht wieder, oder?"

"Darum ging es doch gar nicht", winkte Mado ab. "So was interessiert ihn nicht."

"Ach ja? Wenn ihn das nicht interessiert, was dann? Du hast wie eine Klette an mir geklebt - was hast du denn gehofft, herauszufinden?"

Chika fuchtelte nun wild mit den Armen. "Auszeit!" rief sie verzweifelt, weil die beiden Mädchen immer lauter wurden. "Nicht wieder streiten!"

"Ach, sei ruhig!" fauchte Mado und sofort verkrümelte Chika sich auf ihr Bett, wo sie sich ein Kissen schnappte und es an sich drückte, als könne sie sich dahinter verstecken. "Hör zu", fuhr sie nun wesentlich ruhiger fort. "Ich weiß, dass ich dir sehr auf die Pelle gerückt bin. Aber wie kann ich besser dafür sorgen, dass du deine Geheimnisse hütest, wenn du merkst, dass du beobachtet wirst?"

Das verschlug Aya die Sprache. Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und öffnete ihn abermals. "Bitte... was?"

"Ich halte nichts davon, andere Menschen auszuspionieren." Mados Stimme war nun sehr ruhig, beinahe traurig. "Ich weiß gerne, wie ich jemanden einzuschätzen habe und ob ich ihm vertrauen kann. Aber alles andere geht mich nichts an. Jeder Mensch hat seine geheimen Träume und Wünsche und ich habe nicht das Recht, sie ihm zu entlocken."

"Und... und deshalb hast du...?"

Mado nickte. "Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du schlecht von mir denkst. Vielleicht hätte ich es dir erzählen sollen, aber das wollte ich nicht, weil... Er kann ziemlich wütend werden. Und ich habe eine gewisse Verpflichtung ihm gegenüber. Es gab nichts, was ich ihm hätte erzählen können. Nichts, was ich ihm überhaupt hätte sagen wollen."

Von Chikas Bett kam ein Seufzer der Erleichterung. "Das war ja eine schwere Geburt."

"Also wolltest du nur den Schein wahren, damit er nicht glaubt, du würdest dich ihm widersetzen?" Aya fühlte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel, doch so ganz konnte sie immer noch nicht glauben, dass sich die Situation so leicht geklärt haben sollte. "Warum traut er mir nicht?"

Chika krabbelte ein Stück auf ihre beiden Mitschülerinnen zu. "Weil du mit ihm geredet hast", flüsterte sie.

Erstaunt sah Aya zu ihr hinüber. Sie wusste überhaupt nicht, was Chika damit meinte. Und vor allem nicht, wen. "Hä?" brachte sie nicht gerade intelligent hervor.

"Der Junge mit den schwarzen Haaren", ergänzte die Blonde noch leiser.

Wie ein Messerstich durchfuhr der Schmerz Ayas Herz. Taro! Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass Mado sie mit ihm gesehen hatte. Das war ihre erste Begegnung gewesen. Mit Taro und auch mit Mado. Dieser denkwürdige Tag, an dem alles so anders geworden war. Sie spürte, dass sie bei der bloßen Erinnerung blass um die Nasenspitze wurde. Seitdem hatte sie nichts mehr von dem Jungen gehört, der sie so lange Zeit durch ihre Träume begleitet hatte. Warum eigentlich nicht?

"Es interessiert den Direktor, was du mit ihm zu schaffen hast. Er möchte wissen, ob ihr noch in Kontakt steht und warum und woher ihr euch überhaupt kennt." Mado zog die Schultern hoch. "Das kann ich ihm natürlich nicht sagen."

Ayas Mund war sehr trocken geworden. "Wieso nicht?" keuchte sie.

"Weil ich es nicht weiß. Ich werde ein Auge darauf haben, aber er muss davon nichts wissen. Glaub mir, wenn es so wäre, dass ihr in Verbindung steht und er wüsste davon... Du würdest das nicht wollen."

Erschrocken sah Aya von Mado zu Chika. War das gerade eine Warnung gewesen? Wo war sie hier nur hinein geraten?
 

Bis tief in die Nacht hatte Aya über der Strafarbeit gesessen, die Frau Asahara ihr aufgebrummt hatte. Es machte ihr nichts aus, einen fünfseitigen Aufsatz über Gewalt unter Jugendlichen zu schreiben, aber es kam ihr derart widersinnig vor, dass sie mit den Gedanken nicht dabei war. Solch ein Thema an einer Schule, die eine Armee beherbergte und ausbildete! Welch ein Hohn.

Chika hatte sich schon früh schlafen gelegt. Gelegentlich war ein kurzes Stöhnen von ihr zu hören, doch ansonsten war alles still. Aya war sehr dankbar dafür, denn so konnte sie jetzt endlich, wo sie im Bett lag und an die mondbeschienene Decke starrte, in Ruhe nachdenken. Mado hatte sie also beschatten sollen. War sie denn so wenig vertrauenswürdig, dass man schon Spitzel auf sie ansetzen musste? Der Direktor schien in der Hinsicht ein komischer Kauz zu sein, der alles über die Führerin wissen wollte. Aber warum hatte er dann nicht selbst zugegeben, dass er Mado auf sie angesetzt hatte? Er hatte doch wissen müssen, dass sie sich darüber unterhalten würde und dass Aya es früher oder später doch herausfinden würde. Das ergab doch alles keinen Sinn. Und konnte man Mado wirklich trauen? Hatte sie die Wahrheit gesagt? Im Moment glaubte Aya das, doch wer wusste, wie sich später noch alles entwickeln würde? Und überhaupt... wann war eigentlich später? Zu welchem Zeitpunkt? Was würde sie noch erwarten in dieser merkwürdigen Schule?

Seufzend wälzte Aya sich herum und schloss die Augen. Taro... Der Direktor wollte also wissen, ob sie noch mit ihm in Verbindung stand. Zum Glück ahnte niemand hier, dass das Treffen zwischen ihr und Taro an jenem Tag nicht das erste und einzige gewesen war. Wer wusste schon, was dann los gewesen wäre? Vermutlich hätte man sie in Einzelhaft gesteckt oder gefoltert. Unter ihrer Decke lächelte Aya ein wenig. Beinahe war es eine tröstliche Vorstellung, ein Geheimnis vor allen zu haben. Etwas, das nur sie wusste und das sie allein in ihrem Herzen bewahrte. Auch wenn es nun keine Rolle mehr zu spielen schien. Sie hatte ihn nicht wieder gesehen. Ob er je wieder auftauchen würde? Er hatte doch sonst immer auf sie gewartet, hier zwischen den Felsen hoch über dem Tal.

Erschrocken riss Aya die Augen auf und unterdrückte einen Schrei. Sie stand hoch oben am Rand eines Felsplateaus und sah hinunter auf eine weite Ebene, in der grünes saftiges Gras wogte. Ein leichter Wind fuhr ihr durchs Haar und ließ sie schaudern. Hoch über ihr flogen riesige Vögel, die an Adler erinnerten, aber etwas an ihnen war anders, sie wusste nur nicht, was. Dann und wann stießen sie einen klagenden Laut im Wind aus, der von den Felsen rundum widerhallte.

"Ich... bin zurück..." murmelte Aya und drehte sich einmal um die eigene Achse. Sie konnte es nicht fassen. Wochenlang nichts, keine Träume, und dann das! Ein seltsames Gefühl der Erleichterung ergriff von ihrem Herzen Besitz. So trostlos diese Gegend doch war, so sehr sie all die Jahre unter den Träumen gelitten hatte... Sie hatten etwas an sich, das ihr ein Gefühl von Heimat vermittelte. War das zuvor schon so gewesen? Sie konnte sich nicht erinnern.

Ein Geräusch hinter ihr ließ Aya zusammenzucken. Ihr Herz begann heftig zu schlagen und sie wusste nicht, ob sie sich umdrehen sollte oder nicht. Was, wenn sich ihre Hoffnungen nicht erfüllen würden? Und dann ihr letztes Treffen... der Kuss...

"Möchtest du mich gar nicht begrüßen?" erklang eine belustigte Stimme hinter ihr. Aya schloss kurz die Augen, atmete tief ein und drehte sich nun doch um.

Einige Schritte hinter ihr stand Taro und sah sie lächelnd an. Er trug eine Jeans und ein weites T-Shirt, was so gar nicht zu dieser wilden Umgebung passte. Er hatte sich nicht verändert und Aya fragte sich unwillkürlich, ob ihr überhaupt in der ganzen Zeit, in der sie ihn nun schon kannte, jemals eine Veränderung an ihm aufgefallen war.

"Hallo", brachte sie leise hervor und wagte nicht, sich zu bewegen. Sein Blick war so fordernd, dass er irgendetwas von ihr zu erwarten schien, doch sie wusste nicht, was.

Schließlich trat er auf sie zu und legte seine Hände auf ihre Schultern. Seine dunklen Augen ruhten auf ihrem Gesicht. "Schön, dass du hier bist. Ich hatte schon Angst, dass ich dich gar nicht mehr würde erreichen können."

Aya nickte verlegen. "Ich bin in dieser Schule... Bei den Leuten, vor denen du mich gewarnt hast."

"Ich weiß", antwortete Taro sanft und strich ihr über die rechte Wange, was ein nicht unangenehmes Brennen hinterließ. "Darum war es ja so schwer für mich, dich zu finden. Ich habe einmal versucht, außerhalb deiner Träume zu dir zu kommen, aber sie haben mich entdeckt und ich musste fliehen."

Überrascht griff Aya nach Taros Hand. "Der Eindringling! Im Garten! Das warst... du?"

"Oh ja. Das war wirklich eine dumme Sache. Ich habe ganz schön Ärger bekommen. Mein Bruder war so wütend auf mich, dass er eine Woche lang nicht mit mir geredet hat. Erholsam, aber äußerst ungewohnt."

"Du hast einen Bruder?" fragte Aya blödsinnigerweise.

Taro lachte. "Ja und stell dir vor, ich hab sogar Eltern."

Beschämt blickte Aya zu Boden. "Tut mir leid, das war dumm von mir. Es ist nur... Ich weiß eigentlich gar nichts von dir und irgendwie... erschien mir das bisher so unwirklich."

Taro nickte, sagte aber nichts dazu. Er nahm Aya an der Hand und führte sie ein Stück am Rand des Plateaus entlang. Schweigend genoss sie die Wärme der Berührung und die Stille an diesem Ort. Sie wünschte sich einen Moment lang, nie wieder erwachen zu müssen, damit sie einfach immer hier bleiben konnte, fern von allen Problemen und Missverständnissen. Natürlich ging das nicht, aber es war eine wunderbare Vorstellung.

"Setz dich", sagte Taro schließlich, als sie einen kleinen Felsvorsprung erreicht hatten, der etwas über die Ebene hinaus ragte. "Wir haben etwas zu besprechen."

Aya tat wie ihr geheißen, doch ein ungutes Gefühl beschlich sie. Etwas sagte ihr, dass ihr nicht gefallen würde, was sie nun zu hören bekommen sollte. Und das behagte ihr so ganz und gar nicht. Am liebsten hätte sie einfach in Taros Gesellschaft den Frieden genossen.

"Du bist also nun an der Odoroki High", begann der junge Mann leise. "Wie gefällt es dir dort?"

Aya schnaubte abfällig. "Ich bin nicht freiwillig dort. Meine Mutter hat mich verstoßen, die Schüler halten mich für eine Art Kriegsherren und der Direktor lässt mich beschatten. Keine gute Grundlage für ein ruhiges Leben."

"Ich wünschte, das wäre nicht passiert."

Aya schüttelte den Kopf. "Du kannst doch nichts dafür. Nach allem, was ich bisher mitbekommen habe, hätten sich mich so oder so geholt. Ob nun früher oder später... Das macht doch eigentlich keinen Unterschied."

"Für mich macht es den. Hätten sie dich nicht mit mir gesehen, dann hättest du vielleicht noch eine Chance gehabt. Und ich die Zeit, um dir zur Flucht zu verhelfen."

Nachdenklich runzelte Aya die Stirn. "Taro... Was hast du eigentlich mit der Sache zu tun?"

Er blickte auf und sah sie aus seinen dunklen Augen an. Sie wirkten schmerzvoll, aber auch sehr gütig. "Bevor ich dir das sagen kann, muss ich wissen, was du weißt."

"Was ich weiß? Nun..." Aya überlegte kurz. "Es gibt eine Armee in dieser Schule, die für den Schutz der Welt kämpft. Ich bin die Führerin, die der Armee vorsteht. Irgendwie hat das etwas mit parallelen Welten zu tun, aber ich weiß davon nichts Genaues. Dann ist da noch die Tatsache, dass ich keinen Kontakt zu dir haben darf. Das habe ich heute erfahren. Aber ich weiß nicht so wirklich, warum. Tja... In der Kurzfassung ist das alles."

Taro nickte. "Und was wollen die Feinde?"

"Ähm... Es hat etwas damit zu tun, dass unsere Eltern Priester sind, die diesen Planeten seit langer Zeit beschützen. Ihre Kinder werden zur Armee und beschützen die Erde im Kampf gegen Feinde von außen. Es gibt... parallele Welten und wer die Wege kennt, der kann alle Welten bereisen und Kriege beginnen oder die anderen Welten ausbeuten und manipulieren. Um das zu verhindern, sind wir da."

"Weißt du von den Alten Mächten? Oder besser gesagt... von Magie?" Taros Stimme war sehr leise und sehr sanft.

"Ich weiß nur, dass es sie gibt und einige können sie gebrauchen."

"Magie existiert in allen Welten. Es ist die Grundlage, auf der jede Welt aufgebaut ist. Sie verbindet das Leben mit dem Leblosen. Sie hält das Gleichgewicht, formt und beschützt. Sie kann gebraucht werden, aber nur in einem geringen Maße. Und wer sich ihrer im Überfluss bedient, der wird unweigerlich die Welt zerstören."

Aya hob die rechte Hand vor den Mund. "Ist so etwas schon einmal passiert?"

"Schon sehr oft", erwiderte Taro traurig. "Viele Welten sind so zugrunde gegangen."

"Aber wer tut denn so etwas? Es kann doch nicht wirklich Leute geben, die sich so lange an der Magie bedienen, bis nichts mehr übrig ist und dann einfach zur nächsten Welt weiterreisen." Aya fuhr ein Schauder über den Rücken. Plötzlich verstand sie, wovor ihre Welt beschützt werden musste.

Taro wandte den Blick ab und sah nun über die weite Ebene. "Es gibt eine Vereinigung... einen Orden, wenn du so willst, der seinen Mitgliedern ewiges Leben schenken kann. Sie zehren von der Energie eines Planeten und das so lange, bis sie aufgebraucht ist. Dann reisen sie weiter und erkämpfen sich den Einlass in eine andere Welt, deren Magie noch vorhanden ist. Die Welt, die sie zurücklassen, ist ein trauriger Ort voller Angst, Hass und Neid. Furchtbare Kriege toben dort und über kurz oder lang wird sich alles Leben selbst zerstören. Zu dieser Zeit aber wird der Orden längst weitergezogen sein und eine andere Welt ins Verderben führen."

Ayas Herz begann wild in ihrer Brust zu hämmern. Irgendwo in ihrem Herzen spürte sie etwas - ein Ziehen, das stärker geworden war, je mehr Taro erzählt hatte. Doch sie konnte es nicht einordnen und versuchte, dieses ungewohnte Gefühl zu verdrängen.

"So weit darf es nie kommen", hauchte sie erschrocken. "Ich werde dafür sorgen, dass diese Wesen niemals zu uns vordringen. Egal, was ich tun muss, um -"

"Sie sind bereits da." Langsam und bedächtig hatte sich Taro wieder zu ihr umgedreht. Seine Augen waren sehr dunkel geworden.

"Was?"

"Aya, ich..." Er verstummte und sah zum Himmel hinauf. Neugierig folgte Aya seinem Blick und entdeckte einen der großen Vögel, der sich langsam zu ihnen hinab sinken ließ. Unwillkürlich nahm Aya an, dass es sich um einen Adler handelte, doch je tiefer der Vogel sank, desto größer wurde er und bald erkannte sie, dass er einem Adler nur entfernt ähnelte. Seine Klauen waren sehr viel größer, sein Schnabel hingegen klein und spitz. Doch die Flügel hatten eine gewaltige Spannweite und das schwarze Gefieder glänzte in der Sonne.

Keuchend ließ sich Aya zurückfallen, doch Taro schlang seinen rechten Arm um sie und drückte sie an sich. "Keine Angst. Er wird dir nichts tun."

Der Vogel landete trotz seiner beachtlichen Größe beinahe lautlos neben Taro. Der streckte seine linke Hand aus und kraulte das Tier kurz am Kopf. Ein Geräusch, das einem Schnurren ähnelte, folgte dieser Geste. "Was ist los, Ragnar?"

Der Vogel breitete seine Flügel aus - woraufhin Aya sich noch dichter an Taro schmiegte - und klapperte mit seinem Schnabel. Taro nickte kurz. "Ist gut. Wir haben noch ein wenig Zeit. Die anderen sollen sich schon auf den Weg machen."

Ragnar schien zu nicken, stieß sich vom Rand des Felsvorsprungs ab und schlug heftig mit den Schwingen, um wieder an Höhe zu gewinnen. Aya sah ihm nach und wusste nicht, was sie von dieser merkwürdigen Begegnung halten sollte.

"Was...? Wie..?" brachte sie immer noch in den Himmel starrend hervor, doch Taro drückte sie ein Stück von sich weg und drehte ihr Gesicht dem seinen zu. Er wirkte nun sehr erregt. So als ob er unter großem Druck stünde.

"Hör zu", sagte er mit eindringlicher Stimme, "wir haben nicht mehr viel Zeit. Ich wollte dir so viel sagen bei diesem Treffen, doch sie dürfen mich hier nicht finden. Nicht zusammen mit dir."

"Wer?" wollte Aya wissen, aber Taro schüttelte den Kopf.

"Das braucht dich jetzt nicht zu kümmern. Ich werde versuchen, dich öfter zu sehen, aber versprechen kann ich nichts. Es gibt so vieles, das du noch wissen musst." Beinahe zärtlich strich er ihr übers Haar. An Ayas Unterarmen richteten sich sämtliche Härchen auf. "Ich möchte dich bitten, folgendes zu tun: Sprich mit Yuri Sakamoto. Sie kann dir vieles erzählen, wofür mir heute die Zeit fehlt. Du wirst sicher verstehen, weshalb ich dich zu ihr geschickt habe, wenn du ihre Geschichte gehört hast."

Aus großen Augen starrte Aya den Jungen vor sich an. Sie verstand nicht, wer auf dem Weg hierher war. Wer konnte diesen Ort kennen? Er existierte doch nur innerhalb ihrer Träume - oder nicht?

"Es ist sehr viel von mir verlangt, dich um dein Vertrauen zu bitten. Wenn es nicht wirklich wichtig wäre... für uns beide..." Taro rang verzweifelt die Hände. "Ich würde dir diese Dinge so gern selbst erklären."

Und mit einer Stimme, die Aya kaum als ihre eigene empfand, antwortete sie ihm: "Ich weiß. Und ich vertraue dir."

Ein zaghaftes Lächeln breitete sich auf Taros Gesicht aus. Er erhob sich, zog Aya auf die Füße und sah sich suchend um. Dann steckte er Daumen und Zeigefinger der rechten Hand in den Mund und ließ einen lauten Pfiff ertönen. Sofort schwang sich Ragnar, der seit einigen Minuten allein am Himmel kreiste, aus der Höhe herab und flog auf Taro zu.

"Vergiss nicht: Yuri Sakamoto. Es ist sehr wichtig, dass du sie findest." Beherzt nahm er ihr Gesicht in beide Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. "Bis wir uns wiedersehen", murmelte er an ihrem Gesicht und Aya fühlte seinen Atem in ihren Haaren.

Dann trat er zwei Schritte zurück und hob den rechten Arm. Ayas Traumbild begann langsam zu verblassen. Durch immer dichter werdende nebelgraue Schlieren erkannte sie noch immer Taros Gesicht und seine Augen, die sie durchdringend anblickten. Und schließlich sah sie auch Ragnar, der auf Taros ausgestrecktem Arm landete und... mit ihm verschmolz. Der riesige Vogel löste sich immer mehr auf, bis schließlich zuletzt seine Schwingen verschwanden, als wären sie nur ein Trugbild aus schwarzem Dunst. Und in diesem Moment drehte Taro sich um, breitete ein Paar gewaltige schwarze Schwingen aus, das aus seinen Schulterblättern wuchs, und stieß sich vom Boden ab.
 

Als sie erwachte, hatte Aya schreckliche Kopfschmerzen. Ihr war zumute, als hätte jemand ihr Gehirn mit einem Hammer bearbeitet. Vorsichtig drehte sie sich auf den Rücken und hielt die Augen geschlossen für den Fall, dass bereits das helle Licht des Tages ins Zimmer scheinen würde. Sicher wäre ihr in diesem Fall schlecht geworden.

Die Erinnerung an die vergangene Nacht kam nicht schleichend, sondern mit einem Mal zurück. Als würde eine gewaltige Flutwelle sie innerlich überrollen. Leise stöhnend hob Aya die Hände und presste sie wie zum Schutz vor ihr Gesicht. Eigentlich hatte sie nicht mehr daran geglaubt, je wieder von Taro zu träumen. Oder besser gesagt, ihn in ihren Träumen zu treffen. Sie hatte das sehr vermisst, weil es ihr ein Gefühl von Geborgenheit gab, in ihre gewohnten Traumlandschaften zu reisen. Doch dieses Mal war sie sehr verwirrt daraus zurück gekehrt. Es waren Informationen an sie herangetragen worden, die alle nur halb vollständig zu sein schienen und ihr Denken in noch kompliziertere Bahnen geworfen hatten. Was hatte Taro damit gemeint, dass die Feinde schon da waren? Müsste die Armee dann nicht längst in den Kampf gezogen sein? Oder bemerkte man vielleicht gar nicht, dass die Gefahr sozusagen schon vor der Tür stand? Und wer wurde überhaupt darauf aufmerksam? Je mehr Fragen auftauchten, desto schlimmer wurden Ayas Kopfschmerzen. Erneut stöhnte sie auf, wagte es aber nicht, sich zu bewegen.

Yuri Sakamoto... Aya hatte gar nicht daran gedacht, Taro zu fragen, wo sie diese Frau finden konnte. Wer sie wohl war und was sie ihr wohl sagen würden? Auf der einen Seite verspürte Aya eine brennende Neugierde, doch auf der anderen... Vielleicht würde ihr ja gar nicht gefallen, was sie herausfinden würde? Nein. Selbst wenn, das waren alles Probleme, mit denen sie sich später beschäftigen würde. Im Moment galt es erst einmal, diese grässlichen Kopfschmerzen loszuwerden.

Vorsichtig öffnete Aya die Augen und blinzelte. Die Sonne schien noch gar nicht aufgegangen zu sein. Im Zimmer herrschte ein fahles Licht. Als Aya sich quälend langsam aufsetzte und zum Fenster schielte, erkannte sie, dass es tatsächlich erst kurz vor Sonnenaufgang sein konnte. Also noch gut zwei Stunden bis zum Frühstück. Doch an Schlaf war für sie nicht mehr zu denken.

Die nächste Stunde verbrachte sie damit, sich so heiß wie nur irgend möglich zu duschen, um die Schmerzen, die nun nicht mehr nur in ihrem Kopf saßen, sondern sich langsam durch ihren gesamten Körper zogen, loszuwerden. Gleichzeitig überlegte sie, wie sie es nur schaffen konnte, etwas über diese Frau zu erfahren, die Taro erwähnt hatte. Und immer wieder kam ihr der Gedanke, wer sie wohl sein mochte. Und welche Beziehung Taro zu ihr hatte.

Irgendwann hörte sie nebenan Chikas Wecker klingeln. Sorgsam verschloss sie den Bund ihres Rockes, raffte ihre Schlafsachen zusammen und öffnete die Badezimmertür. Aus dem Bett gleich neben der Tür blinzelte Chika sie verschlafen an.

"Morgen", nuschelte sie.

"Guten Morgen."

Immer noch tief in Gedanken versunken, richtete Aya ihr Bett her, zog ihren Stundenplan aus dem Schreibtisch und räumte ein wenig in ihrer Schultasche herum. Hinter ihr strampelte Chika sich seufzend von ihrer Decke frei.

"Warum bist du denn schon so früh wach?" fragte sie und gähnte herzhaft. "Ich glaube, du hast schon Stunden im Bad verbracht."

"Ich konnte einfach nicht mehr schlafen", antwortete Aya. Gewaltsam stopfte sie ihr Mathematikbuch in die Tasche und verschloss sie mit einiger Mühe. "Außerdem hast du geschnarcht wie ein Bär."

"Stimmt doch gar nicht!" rief Chika entrüstet und warf ein Kissen nach Aya, unter dem diese sich geschickt hinweg duckte.

Lachend warf Aya das Kissen zurück und setzte sich auf ihr Bett. Ihre Kopfschmerzen waren verschwunden und sie fühlte sich gut, wenn sie an die letzte Nacht zurück dachte. Sie hatte ihn wiedersehen können. Und vielleicht war es ihr möglich, mit seiner Hilfe etwas mehr über all das hier zu erfahren.
 

"Megumi!"

Das schwarzhaarige Mädchen drehte sich um, als es seinen Namen hörte und winkte den beiden Schülerinnen zu, die auf sie zugelaufen kamen.

"Guten Morgen! Ihr seid nicht zu spät dran, es ist nicht nötig, sich zu beeilen. Ich warte noch auf Mado."

Chika schüttelte keuchend den Kopf. "Nein, nein, ausnahmsweise haben wir es doch geschafft, pünktlich aufzustehen. Aya wird noch zur Streberin. Sie war heute morgen so früh dran, dass ich fast einen Herzinfarkt bekommen hätte, als sie aus dem Bad stolperte."

"Lügnerin!" zischte Aya und stieß Chika ihren Ellbogen in die Rippen. Ächzend hielt sich die Kleinere den Bauch, ließ die Zunge aus dem Mund hängen und verdrehte die Augen. Während sie noch röchelte und Aya und Megumi über sie lachten, kam Mado auf die drei zu.

"Na, stirbst du wieder mal?" fragte sie Chika zwinkernd.

"Hilf mir!" verlangte Chika und streckte flehend eine Hand aus.

Mado warf ihr einen Blick zu, der wohl vernichtend wirken sollte, allerdings nur Belustigung ausdrückte. "Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner. Wollen wir frühstücken gehen?" wandte sie sich an die anderen und ging einfach schon mal vor.

Der Rest beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten.

"Sie ist so fies!" nölte Chika.

"Ach was, das bildest du dir nur ein."

"Weißt du was? Du wirst schon genau wie sie, Aya."

Der Speisesaal war schon voll besetzt, als die vier ankamen. Sie schienen zu den letzten zu gehören und so machten sie sich hastig daran, ihr Frühstück einzunehmen.

"Mir kam es noch gar nicht so spät vor", murmelte Chika zwischen zwei Bissen. "Haben wir getrödelt?"

Megumi schüttelte den Kopf. "Nein. Jetzt iss und rede nicht so viel."

Aya löffelte gerade an einem Joghurt, als ihr eine Idee kam. Sie hatte überlegt, wie sie diese Yuri Sakamoto finden sollte und gerade war ihr eine Möglichkeit eingefallen. Wieso hatte sie nicht schon vorher daran gedacht?

"Sagt mal", begann sie so gleichmütig wie möglich, obwohl sie innerlich sehr aufgeregt war, "wie ist das eigentlich? Dürfen wir die Schule verlassen?"

Als die anderen drei sie verständnislos anstarrten, lächelte sie entschuldigend. "Nicht falsch verstehen! Ich meine, nachmittags. Dürfen wir raus? Oder müssen wir uns immer hier aufhalten?"

Mado legte den Kopf schief und sah etwas misstrauisch aus, doch sie sagte nichts. Megumi hingegen nickte langsam. "Doch, wir dürfen schon raus. Allerdings immer mindestens zu zweit."

"Hm." Mit gerunzelter Stirn starrte Aya auf ihren Löffel.

"Warum?" fragte Megumi nach einer Weile.

"Ich wollte mal wieder raus." Seufzend lehnte Aya sich zurück. "Mal wieder was anderes sehen, versteht ihr?"

Chika nickte aufgeregt. "Das ist eine tolle Idee! Hey, wir haben heute kein Training. Wir wär's, wenn wir den Nachmittag in der Stadt verbringen?"

"Ich weiß nicht..."

"Ach, komm schon, Mado, das wird sicher lustig. Sei nicht so ein Spielverderber."

Auch Megumi schien an der Idee Gefallen zu finden. "Vielleicht würde uns das mal ganz gut tun?" meinte sie hoffnungsvoll.

Aya schielte zu Mado hinüber. Es war ihr nicht recht, das merkte sie. Aber selbst, wenn sie dagegen war, würden die anderen Aya sicher begleiten. Und das würde ihr die Gelegenheit geben, sich nach dieser Frau zu erkundigen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von:  _-Runa-_
2005-11-17T13:49:14+00:00 17.11.2005 14:49
Huhu, Yumichan!!!^-^

dieses Kapitel ist soo spannend!!!Ich finde, du kannst sehr gut Spannung aufbauen. Man erfährt immer nur portionsweise, was alles zu bedeuten hat und kann sich so richtig gut in Ayas Lage versetzen. Ich freu mich schon auf die Fortsetzung!!! ^-^
Von:  Satoshi-kun
2004-09-28T13:21:04+00:00 28.09.2004 15:21
Dafür, das dieses Kapitel verflucht ist *g* ist es einfach super geworden *knuddel*
Und du hattest recht: Aya kann einem echt leid tun bei dem, was du ihr alles antust *gg*
HDL *drück*
Von:  Ho-chan
2004-06-23T12:03:34+00:00 23.06.2004 14:03
Warum hab ich das hier nie kommentiert? o.O
Dabei gefällt mir die Story bisher so gut, wirklich ich möchte auch mal so gut schreiben können wie du.. *lächel*
Von: abgemeldet
2002-09-14T16:05:30+00:00 14.09.2002 18:05
einfach grossartig, schreib schnell weiter
Von: abgemeldet
2002-07-22T08:49:48+00:00 22.07.2002 10:49
Yo, ich schließe mich der Deed an: der Anfang ist so was von Klasse!!! Muß aber gestehen, daß ich bis jetzt nur die 1 Seite gelesen habe, ich komme nämlich gerade aus dem Bett, meine Brille liegr wer weiß wo und irgendwie wollen meine Augen sich noch nicht so ganz an das grelle Licht des PC's gewöhnen. ^ ^;
Werde aber auf jeden Fall so schnell wie möglich weiterlesen!
Und wenn du mal Lust hast, schau mal bei meiner Fanfic vorbei.
Gruß, Annica
Von: abgemeldet
2002-04-22T19:32:00+00:00 22.04.2002 21:32
Also meine Süße,

ich fühle mich äußerst geehrt, für diese Glanzleistung den ersten Kommentar abgeben zu dürfen! Die anderen sind doch alle blöde, wenn sie das gelesen haben und es nicht mal für nötig halten, so einen guten Anfang zu honorieren! Ich finde, er ist echt klasse geworden! Ich habe Dir das zwar schon im Brief geschrieben, aber ich habe eine richtige Gänsehaut beim Lesen bekommen und habe mich das eine oder andere Mal dabei ertappt, wie ich mich leicht nervös umgesehen habe. Wer weiß, wer plötzlich so vor einem steht :-) Also mein Yumimon, weiter so, ich zähl auf Dich!

Deine Deedo


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