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Bora - Stein der Winde

von

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Die neue Welt

Justin schaute in den Himmel. Schwere Regenwolken verdunkelten ihn und breiteten eine kühle Dämmerung über den Wald aus, obwohl es noch Stunden dauerte, bis es Abend werden würde.

Justin hatte einen ganzen Tag gebraucht, um hierher zu kommen, die Nacht hatte er in seinem Schlafsack unter einem Baum verbracht. Jetzt suchte er schon seit Stunden dieses vermaledeite Tor von dem Falko erzählt hatte. Doch gleich, was er auch tat, er fand es nicht.

Vielleicht war es nicht menschenleer genug, überlegte er und bis von seinem Brot ab. Er überlegte, ob er vielleicht zurückfahren sollte, um dort das Tor zu suchen. Irgendwoher musste der Mann auf seinem schwarzen Pferd ja hergekommen sein. Doch andererseits würde ihn dann Ginny auf Schritt und Tritt bewachen, dessen war er sich sicher.

Und so seufzte er nur, verfluchte den Regen und knabberte weiter lustlos an seinem Brot herum. Da hörte er ein Geräusch. Er lauschte, hörte Schritte, wie jemand durch das Unterholz brach. Dann fluchte jemand lautstark und Justin stutzte.

Diese Stimme kannte er, doch warum hörte er sie hier?

Neugierig wandte er sich in die Richtung, aus der sie gekommen war, und lief los. Und er hatte sich nicht getäuscht, bald schon hörte er, dass sich zwei bekannte Stimmen miteinander unterhielten. Oder vielmehr alle erdenklichen Verwünschungen auf ihn äußerten.

Er brauchte einen Moment um Timo und Sally zu finden, doch dann stolperte er zwischen zwei Bäumen hindurch und dort standen sie. Genauso nass wie er, müde und scheinbar stinksauer. Und das konnte er ihnen nicht einmal verdenken.

»Wie kommt ihr zwei denn hierher?«, fragte er, wusste nicht, ob er erschrocken oder glücklich sein sollte.

»Dich suchen, damit wir dir in den Allerwertesten treten können«, knurrte Timo und machte einen Schritt auf ihn zu, als wollte er seine Drohung gleich in die Tat umsetzen, doch Justin wich vor ihm zurück.

»Ich gehe nicht nach Hause. Vorher muss ich noch wissen, was es mit dieser ganzen Geschichte auf sich hat, vorher habe ich keine ruhige Minute mehr«, erklärte er und wich noch weiter zurück.

»Jetzt willst du mir auch noch erzählen, dass du an diesen Quatsch glaubst, oder wie?«, fauchte Sally. »Timo wollte mir das auch schon weiß machen. Engel, so ein Blödsinn!«

Justin wusste, dass er sagen konnte, was er wollte, sie hätte ihm nicht geglaubt, so lächelte er nur und holte Bora aus der Tasche. Der Stein schien heftig zu flattern, etwas, das er sonst nicht tat. Er registrierte es mit einem Stirnrunzeln, ignorierte es aber, warf ihn stattdessen Timo zu. Der fing ihn zwar, ließ ihn aber sofort wieder erschrocken fallen. Er hatte scheinbar nicht mit diesem flatternden Gefühl gerechnet.

»Was ist das?«, fragte der Schwarzhaarige und hob den Stein staunend wieder auf.

»Bora. Melody, also Anura, sie hat ihn mir gegeben, ich soll für sie darauf aufpassen und der fremde Mann, der mich verfolgt hat, ist zwar ihr Verbündete, fand aber trotzdem, ich soll ihn in den tiefsten See schmeißen, den ich finden kann«, erzählte der Rothaarige.

»Du hast die beiden getroffen und mir ihnen gesprochen?«, fragte Timo und drehte den Stein in den Händen.

»Ja. Mit Melody in meinem Traum, mit dem Mann in Wirklichkeit. Ich traf ihm im Wald und er sagte eine Menge seltsamer Dinge, dann ging er wieder.«

Timo schaute ihn mit gerunzelter Stirn an.

»Wieso nennst du sie Melody?«, fragte er und gab den Stein an Sally weiter. Die zuckte im ersten Augenblick zurück, als sie das Leben spürte, das dem Stein innewohnte, doch dann nahm sie ihn staunend entgegen.

»Scheinbar bekommen Elben einen neuen Namen, wenn sie erwachsen sind. Sie hieß lange Anura, jetzt heißt sie Melody. Ich will sie suchen und wissen, was immer sie mir erzählen kann.«

»Was ist das für ein Stein«, fragte Sally, die ihn streichelte, als wäre es ein zahmes Tier.

»Das ist Bora«, begann Justin und erklärte schnell, was es mit den Steinen und den Schwertern auf sich hatte. Daraufhin warf Sally ihm Bora wieder zu und der Rotschopf fing ihn geschickt.

»Es klingt aber, als wenn es wirklich gefährlich wäre, Justin. Du weißt ja nicht einmal, wer die Feinde genau sind, wie willst du dich ihnen ausweichen? Gegen sie kämpfen kannst du nicht, du verlierst in jedem Fall«, fand Timo.

»Ich weiß, aber ich muss einfach gehen. Kannst du es denn nicht verstehen?«

»Nein verdammt, nein!«, antwortete Timo. »Ich kann nicht verstehen, warum du unbedingt allen Sorgen machen musst und dich wissentlich in Gefahr begibst! Ich verstehe es nicht! Also erkläre es mir!«

»Das kann ich aber nicht! Kennst du nicht dieses Gefühl, dass das, was du tust, richtig ist? Ich weiß nicht, warum es richtig ist, aber es ist richtig. Ich muss in diese andere Welt und tun, was auch immer das Schicksal oder sonst wer mir auferlegt hat.«

Timo starrte ihn schweigend an, hinter seiner Stirn arbeitete es sichtlich. Dann ging er zu Justin und der Rothaarige ließ es zu. Sie schauten einander lange in den Augen, dann gab Timo seinen Freund so eine schallende Ohrfeige, dass Justin einige Schritte zurücktaumelte.

»Ich möchte gerne lebend aus dieser Sache wieder rauskommen«, knurrte er.

»Wouh, wartet mal Jungs, was war das denn?«, mischte sich Sally erschrocken ein und kam zu ihnen gelaufen. »Warum schlägst du ihn?«

»Ist schon okay, Sally.« Der Rothaarige lächelte sacht. »Die hab ich verdient.«

»Völlig egal, man schlägt keine Leute«, fand sie und blitzte Timo wütend an.

Justin schüttelte langsam den Kopf.

»Sollen wir dich zurück zum Bahnhof bringen?«, fragte er das Mädchen.

Sie runzelte vielsagend die Stirn.

»Ich hoffe, du glaubst nicht wirklich, dass ich euch beiden alleine durch die Wildnis irren lasse. Du hast bis heute Abend Zeit deine seltsame Welt zu finden, wenn du es nicht schaffst, ruf ich Ginny an und erzähle ihr alles.«

»Und wenn ich sie finde?« Justin schob sich das regennasse Haar aus dem Gesicht.

»Dann komm ich selbstverständlich mit. Oder glaubst du, ich lasse mir einen Engel entgehen?«

»Elbe«, korrigierte Timo.

»Sie hat Flügel, oder? Also ist sie ein Engel«, antwortete das blonde Mädchen bissig.

Justin wandte sich von seinen Freunden ab, die zankten, was Melody nun war. Er wusste, dass sie es taten, um ihre Anspannung zu überspielen. Er aber musste dieses Tor finden. Es war zum Verrücktwerden, er kam immer bei derselben Stelle an, aber er fand es nicht.

Er ging wieder in die Richtung, lief zu der Felswand zurück und seine Freunde folgen ihm. Sie sagten irgendetwas, doch er hörte nicht zu. Schließlich standen sie vor dem fast senkrechten Felsen und er wusste, dass er da war, doch noch immer war nichts Spannendes zu erkennen.

»Warum bleibst du stehen?«, fragte Timo.

»Weil ich das Gefühl habe, das wir hier richtig sind, aber ich war heute schon dreimal hier, ich habe nichts gefunden. Ich habe gehofft, das wir jetzt zu dritt irgendwie … na ja, so eine Art Mechanismus auslösen, wie in einem Videospiel. Aber leider sind auch magische Welten keine Spiele«, seufzte Justin.

»Hast du schon alles abgesucht?«, fragte Sally.

»Vielleicht ist es ja im Felsen, dann kommst du da sowieso nicht dran«, überlegte Timo.

»Ich fürchte, so etwas könnte es durchaus sein.« Justin wirkte nicht begeistert über diese Option. Doch irgendetwas störte ihn auch an dem Gedanken.

Sally ging an die Felswand und kratze ein wenig an dem Stein herum, während Timo sich suchend umblickte.

»Schon komisch, was bringt einem ein Tor, das nicht frei zugänglich ist?«, fragte das Mädchen.

»Vielleicht war es vor Jahrhunderten frei zugänglich und vor Millionen von Jahren ist etwas passiert, das es verschlossen hat«, überlegte Justin und strich ebenfalls über den Stein.

»Oder die Erde ist einfach ein ganzes Stück abgesackt«, meinte Timo.

»Was meinst du?« Sally und Justin wandten sich um und schauten ihn an. Der Schwarzhaarige deutete nach oben, und als sie der Geste folgten, verschlug es ihnen die Sprache.

Das Tor, das Justin schon seit Stunden suchte, schwebte einige Meter über ihnen mitten in der Luft. Der einzige Weg durch dieses Tor war ein Sprung von den Felsen, direkt hindurch.

»Gut, was tun wir?«, wollte Sally wissen.

»Lasst uns erst einmal einen Weg hinauf suchen«, fand Timo und Justin nickte zustimmend.

So liefen sie die Wand entlang, die fast senkrecht neben ihnen hinaufragte, bis sie endlich an eine Stelle kamen, an der sie hinaufklettern konnten. Sie liefen die Strecke zurück, nun einen zehn Meter tiefen Abgrund neben sich, bis sie endlich auf der Höhe des Tores waren.

»Was schätzt ihr, wie weit ist es?«, fragte Timo unruhig.

»Zwei Meter? Ist schwierig zu schätzen«, fand Justin. Er betrachtete seine Freunde nachdenklich. Er war sich ziemlich sicher, den Sprung zu schaffen. Auch Timo traute er es zu, doch um Sally machte er sich sorgen.

»Wollt ihr wirklich gehen?«, wollte die Blondine wissen.

»Ich muss. Was werdet ihr tun?« Der Rotschopf schaute sie forschend an.

Sally trat an den Abgrund heran, schaute zum Tor hinüber, kam dann zurück.

»Glaubst du, dass ich es schaffe?«, fragte sie leise und schaute Justin ängstlich an.

Der Rotschopf wusste, dass es keine Frage war. Sally tat das immer, wenn sie Angst vor etwas hatte. Sie stellte zwar eine Frage, aber eigentlich wollte sie bloß, dass ihr jemand Mut zusprach. Doch Justin war sich nicht sicher, ob er ihr den Sprung wirklich zutraute. Er konnte seine Freundin nicht in den Tod springen lassen, soviel stand fest. Doch dann sah er in ihre blauen Augen und er sah ihre Entschlossenheit. Da nickte er.

»Ich springe als Erstes. Ich fang dich auf«, versprach er ihr und hoffe, dass er sein Versprechen würde halten können.

»Justin, wir sollten das lassen. Fahren wir nach Hause und suchen uns dort ein einfacheres Tor, wenn es dir so wichtig ist. Das ist zu gefährlich.« Timo wirkte so gar nicht begeistert. Doch Justin ging nur ein paar Schritte in den Wald. Er versuchte sich zu beruhigen, redete sich ein, dass er es schaffen würde. Hinter dem Tor war es einfach nur weiß. Als wenn die Sonne auf Schnee schien, nur das es keine Schattierung gab. Er wusste nicht, ob das gut oder schlecht war, doch es spielte keine Rolle.

Er nahm Anlauf und sprang. Es schien ihm, als hing er ewig in der Luft. Unter ihm war zehn Meter weit nichts und er wusste zu jeder Sekunde, dass ein Sturz aus dieser Höhe tödlich war. Sein Herz schien einfach auszusetzen und für den Bruchteil einer Sekunde war er sich sicher, dass er es nicht schaffen würde.

Und dann landete er auf festen Untergrund. Er warf sich nach vorn, damit er nicht rückwärts wieder zurück und letztlich doch in den Abgrund fiel. Er stolperte ein paar Schritte und fiel hin, aber er war auf sicheren Boden gelandet.

Für einige Sekunden blieb er einfach liegen und genoss das unbeschreibliche Gefühl, einfach nur zur atmen. Er hörte das Blut in den Ohren rauschen und sein Herz schlug hart gegen seine Brust, doch in diesen Sekunden genoss er das Gefühl, denn es sagte ihm, das er noch lebte. Doch schließlich rappelte er sich auf und schaute sich um.

Um ihn herum war es einfach nur hell, bis auf die drei Risse, die in dreieckiger Anordnung um ihn herum waren. Von der anderen Seite war das Tor wirklich ein Tor gewesen, ein steinerner Rundbogen mit Runen verziert und von Efeu bewachsen, doch auf dieser Seite waren es einfach nur Risse in der Wirklichkeit. Auf dieser Seite stand er aber auch zwischen drei Welten.

Er schaute zurück in die Welt, in der er geboren und aufgewachsen war. Timo und Sally standen da und schauten erleichtert zu ihm hinüber. Dann sprachen sie beide etwas miteinander, dann wandte sich Timo an ihn, doch kein Geräusch drang zu Justin.

Er schüttelte den Kopf und deutete auf seine Ohren, um deutlich zu machen, dass er nichts hörte und Timo schien zu verstehen. Er runzelte die Stirn und sagte noch etwas zu Sally. Die wandte sich daraufhin ab und lief ebenfalls etwas vom Abgrund fort, um Anlauf zu nehmen.

Justin trat etwas weiter vom Riss weg, damit sie auch Platz hatte, aber er noch die Möglichkeit besaß, sie zu erreichen, sollte es nötig sein.

Dann lief Sally auf ihn zu und sprang, schloss dabei ihre Augen. Dann landete sie, taumelte etwas und sofort griff Justin zu und zog sie in seine Arme. Langsam schaute sie zu ihm auf, Tränen in den Augen, Angst und Erleichterung im Blick, während ihr der Regen aus den Haaren tropfte. Sie öffnete den Mund um etwas zu sagen, dann errötete sie und stieß ihn fort, machte ein paar Schritte an ihm vorbei.

»Ich hätte das auch ganz alleine geschafft«, meinte sie.

»Ich weiß«, antwortete er mit gerunzelter Stirn und fragte sich, was das eben gewesen war.

Doch er hatte keine Zeit genauer darüber nachzudenken, denn auf Timo war schon bereit und lief auf ihm zu. Auch hier stellte sich Justin so, dass er im Notfall zugreifen konnte, wenngleich er glaubte, dass es nicht nötig sein würde. Timo gehörte in der Schule immer zu den Besten, wenn sie Weitsprung trainierten.

Dieses Mal, getrieben von der Angst, sprang er sogar an Justin vorbei, sodass Justin sich nicht die Mühe machte zuzugreifen, als sein Freund ausrutschte und unsanft auf dem Hosenboden landete. Er war dennoch noch einen guten halben Meter vom Abgrund entfernt und somit nicht in Gefahr.

Justin ließ auch Timo einige Augenblicke Zeit, sich zu erholen. Indes trat er in die Mitte und betrachtete die anderen beiden Risse. Jetzt verstand er nur zu gut, warum es Falko so wichtig war, dass er nicht blind einfach irgendeinen Weg wählte. Als er in die eine Welt blickte, erwartete ihn ein Wald, der golden von einer tief stehenden Herbstsonne erhellt wurde. Alles wirkte ruhig, friedlich, wie an einem schönen Frühherbstabend.

In der anderen Welt erwartete ihn ein Fluss, dunkel vor Blut. Am Ufer lagen Leichen, Vögel und Ratten fraßen schon an ihnen und der Boden wirkte sumpfig, ob vor Blut oder Wasser war nicht auszumachen. Justin war dankbar, dass die Dämmerung die meisten Details verschluckte und er hoffte inständig, dass nicht genau das hinter dem Riss auf ihn wartete, was er jetzt sah. Denn er wusste sofort, dass sein Weg ihn auf das vermeintliche Schlachtfeld führen würde.

»Der Weg ist glaub ich ziemlich eindeutig«, bemerkte Timo, der sich langsam von seinem Sprung erholt hatte.

Justin nickte und war durch den Riss gegangen, bevor einer der anderen beiden reagieren konnte. Er wusste genau, dass sie ihm folgen würden, hätte er ihnen aber erst gesagt, wohin ihr Weg führen würde, hätte es nur wieder in endlosen Diskussionen geendet. So sparte er sich allen Wortwechsel.

Seine Hoffnung wurde nicht enttäuscht, es erwartete ihn nicht der Fluss und die Leichen, sondern eine Waldlichtung, wie er sie aus seiner Welt kannte. Auch hier war es Abend, doch es regnete nicht. Nur Sekunden später kamen auch Timo und Sally durch das Tor und blitzten ihn böse an, doch bevor einer von ihnen ein Wort sagen konnte, machte Justin eine Geste, die alles um sich herum einschloss.

»Wir sind in Läivia, wir sind zu Hause«, sprach er und wusste, dass es die Wahrheit war. Dies hier war seine wirkliche Heimat.

Seine Freunde blickten sich um, und auch wenn Sally merklich unbeeindruckt wirkte, war etwas in Timos Blick der Justin sagte, dass es seinem Freund ebenso erging, wie ihm, wenngleich er nichts sagte.

»Wohin wollen wir jetzt gehen?«, fragte er stattdessen leise, doch jemand anderes war schneller als Justin.

»Zum Teufel mit euch«, fluchte jemand, und als sie sich umblickten, machte Justin unwillkürlich einen Schritt zurück. Niemand anderes als der fremde Mann persönlich stand da auf seinem schwarzen Pferd und starrte sie so fassungslos und zornig an, dass der Rotschopf unwillkürlich das Bedürfnis hatte, freiwillig noch einmal über den Abgrund in seine eigene Welt zurückzuspringen.

»Nicht einmal eine Woche? Ist das dein ernst?«, fluchte der Fremde ganz unverhohlen weiter und schwang sich aus dem Sattel. »Und du wärst jetzt schon in der Luft zerrissen, wenn ich nicht zufällig hier gewesen wäre!«

»Ich musste herkommen«, verteidigte sich Justin.

»Du musst nichts! Verdammt noch mal, du hättest bleiben sollen, wo du warst!« fuhr der Mann ihn an und kam zu ihnen. »Dreht um, fahrt nach Hause und bleibt da! Ihr habt hier nichts verloren, alle drei nicht!«

»Sie sind hier, Jason und der Weg zurück ist ihnen verwehrt«, warf daraufhin ein Mädchen ein. Justin hatte sie zuvor nicht bemerkt. Es war ein Kind, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Sie saß auf einem Pony und wirkte eindeutig belustigt.

Der Mann, Jason, fuhr herum und blitzte sie wütend an.

»Janne, das ist nicht lustig«, knurrte er.

»Ich weiß. Ich lache auch nicht über diese Situation, sondern über dich«, erklärte sie ruhig und ein Lächeln, das so gar nicht zu dem Alter des Mädchens passen mochte, umspielte ihre Lippen.

»Wie meinst du das?«, fragte er misstrauisch, aber schon ruhiger als zuvor.

»Du benimmst dich kindisch. Du solltest doch mit am besten wissen, dass sie nicht einfach so umkehren können. Sie sind jetzt Teil des Schicksals dieser Welt und daran wird alles Fluchen und Toben nichts ändern. Mal ganz davon abgesehen, dass es nie in deiner Macht lag, irgendetwas daran zu ändern.«

Hinter Jasons Stirn arbeitete es, dann knurrte er leise, doch scheinbar hatte er eingesehen, dass das kleine Mädchen recht hatte.

»Dann sollten wir sie auf dem schnellsten Weg irgendwohin bringen, wo sie in Sicherheit sind«, fand Jason und sie nickte zustimmend.

»Wisst ihr, worüber sie sprechen?«, flüstere Sally leise den beiden Jungen zu.

Erst jetzt viel Justin auf, das Jason und das Mädchen in einer fremden Sprache gesprochen hatten und es war nicht die Sprache der Unsterblichen gewesen. Dennoch hatte er jedes Wort verstanden.

»Keine Ahnung. Aber er scheint sich zu beruhigen«, antwortete Timo, schaute dabei jedoch unverwandt das Mädchen an.

»Gut«, wandte sich Jason jetzt wieder ihnen zu und musterte sie alles andere als erfreut. »Janne hat recht, ihr könnt nicht einfach wieder gehen. Ihr werdet zu Melody gebracht, die wird sich dann um euch kümmern. Und sie wird nicht gerade erfreut sein, das du ihr Bora so schnell wieder zurückbringst.«

Der Blick des Mannes war mehr als finster, als er Justin anschaute, doch der zeigte sich denkbar unbeeindruckt. Er wusste, dass dieser Jason ihm nichts tun würde, in dem Moment, als er in der anderen Welt den Dolch weggesteckt hatte, hatte er es gewusst.

»Damit wird sie leben müssen, denn mein Platz ist hier. Das war er schon immer.«

»Das stimmt, aber manchmal ist es besser, wenn man nicht an seinem Platz verweilt. Man kann nur allzu leicht sterben, wenn man blind und nur seinem Bauch folgend durch die Welten irrt«, knurrte der Mann.

»Wenn ich erfahren würde, was hier überhaupt vor sich geht, könnte uns das eventuell helfen, am Leben zu bleiben«, fand der Rotschopf.

»Klugscheißer«, kommentierte Jason.

»Ich find ihn sympathisch«, bemerkte Janne grinsend, erhielt daraufhin einen eisigen Blick von dem Mann.

»Ich erzähle euch mehr, wenn wir uns bei Melody wiedertreffen.«

»Kommst du nicht mit uns?« Damit hatte Justin nicht gerechnet und auch seine Freunde wirkten erstaunt.

»Ich habe Besseres zu tun, als für drei Kinder den Babysitter zu machen. Aber ihr werdet in guten Händen sein«, knurrte Jason und wandte sich ab.

»Janne, es wird Zeit, dass wir uns von unserem Meister verabschieden. Du hast das Kommando, bring die Männer so weit weg wie möglich. Faiver!« Der Mann schaute um sich, schien den, den er suchte, nicht zu entdecken. Auch Justin blickte sich um, doch außer Wald war nichts zu erkennen.

Und dann trat es hervor. Keiner von ihnen hat je zuvor solch ein Wesen gesehen. Es lief aufrecht, aber das war wohl das Einzige, was es mit einem Menschen gemein hatte. Das Gesicht hatte etwas Hündisches, wenngleich die Schnauze eher einer großen Raubkatze glich.

Es hatte Arme, die mehr an junge Bäume erinnerten und die Beine eines sehr großen, kräftigen Hundes oder Wolfes. Sein Schwanz war lang und buschig und auch die Ohren erinnerten an die eines Wolfes, wenngleich sie länger schienen.

Der ganze Körper des Wesens war mit wuscheligen, orange, schwarz und weißem Fell bedeckt, dennoch konnte man darunter gut das Spiel der gewaltigen Muskeln erkennen. Was Justin jedoch am Meisten beunruhigte, waren andere Dinge. Die riesigen Pranken, die in scharfen, sehr gefährlich aussehenden Krallen endeten beispielsweise.

Oder die beiden Säbelzähne, die in etwa so lang waren, wie die flache Hand eines erwachsenen Mannes.

Justin wollte erst gar nicht wissen, was es damit alles tun konnte und schon gar nicht wollte er, dass er es am eigenen Leib erfahren musste. Er schluckte schwer und hoffte inständig, dass Jason genau wusste, was er tat.

»Faiver, du musst die Drei zu Melody bringen. Sie bekommen Pferde, dann kommt ihr schneller voran. Es ist wichtig, dass ihr unentdeckt bleibt, vor allem Theo und seine Kreaturen dürfen nicht wissen, dass sie hier sind.« Jason schaute Janne auffordernd an, die nickte und verschwand.

»Ihr werdet reiten müssen«, erklärte der Mann und auch dieses Mal viel Justin erst jetzt auf, das er zuvor in einer fremden Sprache seine Anweisungen gegeben hatte.

»Warum verstehe ich ihn?«, fragte er so leise, dass nicht einmal seine Freunde ihn verstanden.

»Wir können alle drei reiten«, antwortete Timo unsicher.

»Seit ihr auch schon einmal einen ganzen Tag im Galopp über unwegsames Gelände geritten? Glaubt mir, morgen werdet ihr mich dafür hassen, aber das ist das schnellste Fortbewegungsmittel hier.«

In dem Augenblick kam Janne wieder mit drei Pferden im Schlepptau. Sie gab die Zügel an Jason, während sie ganz bequem im Sattel sitzen blieb.

Die zierliche Fuchsstute gab der wiederum an Sally, der Falbe ging an Timo und den Schimmel erhielt Justin. Doch keiner von ihnen machte Anstalten, aufzusitzen.

»Wenn ihr auf eine Einladung wartet, die wird nicht kommen«, bemerkte Jason und saß auf seinem eigenen Pferd auf.

»Ich habe Fragen. Eine Menge Fragen. Warum beantwortest du sie mir nicht hier und jetzt, Jason?«, erkundigte sich Justin.

»Weil es durchaus möglich ist, das wir hier in absehbarer Zeit von einem Drachen geröstet werden. Ich hänge am Leben. Bei Melody werde ich euch eure Fragen beantworten, aber erst dort. Steigt auf und reitet mit oder lasst es bleiben, mir ist es gleich«, antwortete Jason schulterzuckend und ließ sein Pferd einen Zirkel laufen, da das Tier unruhig zu tänzeln begonnen hatte.

Justin schaute den Mann nachdenklich an, dann schaute er auf das Mädchen, das noch immer auf ihrem Pony saß und die Szene neugierig beobachtete. Sie nickte sacht, fast nicht zu sehen, doch der Rotschopf verstand, was sie sagen wollte. Es brachte nichts, jetzt zu diskutieren.

So prüfte er den Sitz des Sattels und schwang sich dann gekonnt auf den weißen Pferderücken. Sally und Timo taten es ihm nach einigem Zögern gleich. Dann ließ Jason sein Pferd vorschnellen und das schwarze Tier flog regelrecht davon.

Faiver schaute die anderen drei an. Während Sally und Timo leicht verunsichert wirkten und erst einmal versuchten, sich mit ihren Pferden anzufreunden, spürte Justin sofort das unbändige Verlangen des Schimmels, dem Rappen zu folgen. Und der Rotschopf ließ den Hengst gewährend. Der Weiße stob davon, wie ein Pfeil von einer Bogensehne schnellte und die anderen beiden Pferde folgten, ohne dass ihre Reiter eine Wahl gehabt hätten.

Faiver folgte zum Schluss. Sie hatten Jason schnell eingeholt und galoppierten schon bald in einer kleinen Gruppe erst durch Wald, dann über ein weites Hügelland. Hätte Justin je geglaubt, er kannte menschenleere, natürliche Umgebungen, so hätte er jetzt einsehen müssen, dass alles nur schein war, denn hier erst sah er, wie freie, ungebundene Natur, in die nie ein humanoides Wesen gesiedelt hatte, wirklich aussah.

Sie waren schon einige Zeit unterwegs, die Dämmerung war feuerrot über sie hereingebrochen, als Jason sein schwarzes Pferd ganz nah an das Justins heranritt.

»Ich werde euch nun verlassen. Ich habe noch andere Dinge zu erledigen«, erklärte er.

»Ich hab mich schon gefragt, warum du noch immer da bist, immerhin hast du uns ja vorhin so schön erklärt, dass du gar keine Zeit zum Babysitten hast.«

»Wir hatten nur zufällig denselben Weg. Für eine Weile. Wir sehen uns.« Damit ritt er eine Kurve und bog im rechten Winkel ab. Faiver schaute ihm noch kurz nach, grunzte dann vernehmlich und legte noch einmal an Tempo zu, was die Pferde dazu veranlasste, ebenfalls ihre Geschwindigkeit zu erhöhen.

Darauf folgten ungezählte Stunden in einer sternenbeleuchteten Dunkelheit. Es war Neumond in Läivia und da es hier keine Städte zu geben schien, gab es auch keinerlei Beleuchtung, die den Himmel in einem schmutzigen Orange erstrahlen lassen konnte, wie es Justin von zu Hause gewohnt war. Hier gab es nur Sonne, Mond und Sterne.

Es musste schon spät in der Nacht sein, die Drei waren schon kurz davor, in ihren Sätteln zu schlafen, als Faiver endlich langsamer wurde und schließlich anhielt. Abermals passten sich die Pferde seinem Tempo ohne das Zutun ihrer Reiter an, sodass sie bald in stockfinsterer Nacht standen.

»Pause?«, krächzte Sally und man hörte die Müdigkeit in ihrer Stimme.

Ihr Anführer grunzte darauf nur und Justin begann zu überlegen, ob Faiver vielleicht gar nicht sprechen konnte.

Da gewahr er eine Bewegung in der Dunkelheit. Etwas an dieser Bewegung war ihm vertraut, das nahm ihm alle Angst. Doch erkannte er Jasone erst, als dieser sein schwarzes Pferd direkt vor ihnen schlitternd zum Stehen kommen ließ.

»Da bin ich wieder«, erklärte der Mann und wirkte, als hätte er eben lange und gut geschlafen, obwohl auch er die ganze Nacht geritten sein musste.

»Sehen wir. Dürfen wir schlafen?«, fragte Timo und legte sich auf den Pferdehals.

»Wenn ihr aus den Sätteln kommt«, antwortete Jason grinsend und schwang sich scheinbar frisch und ausgeruht vom Pferderücken und begann damit, sein Pferd abzusatteln.

»Wenn ihr reiten könnt, dann könnt ihr euch auch um euer Pferd kümmern, das erledigt Hier niemand für euch«, bemerkte er, während er den Sattel sorgsam auf dem Boden ausbreitete.

Justin indes warf ihm einen bösen Blick zu, denn die Bemerkung zuvor, hatte Jason nicht grundlos gemacht. Er hatte wirklich Schwierigkeiten, seine verkrampften, wunden Beine davon zu überzeugen das zu tun, was sie tun sollten.

Schließlich fiel er mehr hinab, als das er abstieg und auch Sally und Timo erging es nicht besser. Doch während Sally einfach liegen blieb, wo sie war und schon schlief, kümmerten sich die beiden Jungen ebenfalls noch darum, dass ihre Pferde nicht mit Sätteln und Zaumzeug ruhen mussten.

»Laufen sie nicht weg?«, fragte Timo, doch eigentlich war es ihm schon egal.

»Nein, keine Sorge«, antwortete Jason und hatte ein Einsehen. Er ließ Sally schlafen und kümmerte sich an ihrer statt um die Fuchsstute. »Sie sind darauf trainiert, dass sie bei Pfiff kommen.«

Timo nickte, dann ließ er sich regelrecht zu Boden fallen und den Sattel als Kissen nutzend, war er ebenfalls binnen Augenblicken eingeschlafen. Justin zögerte als Einziger, schaute sich unsicher um.

»Keine Sorge, Faiver und ich übernehmen die Wache. Schlaf ruhig, die Pause ist auch so schon nicht lang«, erklärte Jason, der seine Geste richtig verstand. Da nickte auch Justin, rollte sich auf dem nackten Boden zusammen und schlief.

Jason betrachtete sie eine Weile, lächelte dabei.

»Morgen hassen sie mich«, erklärte er dem Wesen, das an seiner Seite saß und aufmerksam in die Nacht spähte.

»Das tun sie auch jetzt schon. Jetzt sind sie nur zu Müde, um es zu zeigen«, antwortete Faiver mit einer tiefen, fast schnurrenden Stimme.

Jason zuckte mit den Schultern.

»Von mir aus auch das. Die Tage werden nicht einfach mein Freund. Nicht für sie, nicht für uns.«

Und Faiver nickte. Das wusste er. Seit Langem schon. Dann schauten sie beide in die Nacht und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Sorgenvoll und Düster und doch mit einem kleinen Lichtblick in Gestalt, drei einfacher junger Menschen.



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