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Das triste Leben des Jesse Wyatt

von

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Ein verregneter Tag

Es gibt manchmal Tage, an denen man wirklich besser im Bett geblieben wäre. Normalerweise war Charity eine Optimistin und versuchte, jeden Tag mit einem Lächeln zu beginnen, aber ausgerechnet an diesem einen Tag musste wirklich alles schief laufen. Zuerst hatte sie beim Backen ein totales Chaos in der Küche angerichtet, dann waren ihr die Kekse angebrannt und in der Hektik hatte sie zwei Gläser zerbrochen. Außerdem fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren und auch ihre Frisur wollte nicht sitzen. Die Ursache war schnell erklärt: Ein Wetterumschwung bahnte sich an. Die letzten Tage war es trocken und warm für den Frühherbst gewesen, aber die rapide ansteigende Luftfeuchtigkeit und der fallende Luftdruck machten sich bereits bemerkbar. An Tagen wie diesen war Charity immer fürchterlich schusselig und vergaß so viele Dinge. Außerdem hatte sie leichte Kopfschmerzen. Insgeheim machte sie sich auch Sorgen um ihre Großmutter, denn die war auch nicht mehr die Jüngste und vertrug so etwas nicht sehr gut. Deshalb wollte die 22-jährige auch gleich los, um mit dem Rezept zur Apotheke zu gehen und die blutverdünnenden Medikamente zu holen. Das Auto wollte sie nicht nehmen, sie würde in der Innenstadt sowieso keinen Parkplatz finden und bis jetzt war es noch trocken. Dennoch packte sie sicherheitshalber einen kleinen Regenschirm ein, falls es doch zu regnen beginnen sollte. Fehlte noch ihre Geldbörse, aber sie hatte keine Ahnung, wo sie sie hingelegt hatte. Charity seufzte und ärgerte sich, dass sie heute so dermaßen verpeilt war und nicht mal mehr ihre Sachen fand. „Oma“, rief sie, während sie ihren Schreibtisch durchwühlte. „Hast du mein Portemonnaie gesehen? Ich finde es nicht mehr!“ „Hast du schon in deiner Handtasche nachgesehen?“ Zuerst wollte Charity antworten, dass sie es doch gar nicht eingepackt hatte, aber sie sah trotzdem nach. Sie verdrehte die Augen und ärgerte sich selbst dafür, dass sie so blöd war und total vergessen hatte, dass sie es bereits eingesteckt hatte. „Hab’s gefunden!“ rief sie, und steckte noch Handy und Haustürschlüssel ein. Damit verließ sie ihr Zimmer und ging hinaus auf den Flur, wo ihre Großmutter entgegen kam. Grace Witherfield war eine rüstige Pensionärin von gut 76 Jahren, die zuvor lange Zeit als Lehrerin an einer Grundschule gearbeitet hatte und trotz ihres fortgeschrittenen Alters eine sehr lebhafte Dame sein konnte. Seit Charitys Eltern vor 15 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren, hatte sich ihre Großmutter um sie gekümmert, da sie die einzige Verwandte in der Stadt war. Außerdem war Charitys Tante Audrey selbst vierfache Mutter und wäre mit noch einem Kind völlig überfordert gewesen. Und ihr Onkel Michael, der ein sehr aktives promiskuitives Leben führte, war nicht der richtige Umgang für die damals erst sieben Jahre alte Charity. Also war beschlossen, dass Grace sie adoptierte und über ihre Kindheit konnte sich die Collegestudentin nicht beschweren. Sie liebte ihre Großmutter und diese war nicht nur ihre Ersatzmutter, sondern auch ihre beste Freundin. Sie hatte sie nie betüddelt oder sie in irgendeine Laufbahn gedrängt, die sie nicht wollte. Nun gut, sie war in vielerlei Hinsicht streng gewesen und in manchen Sachen in klein wenig altmodisch, aber da Charity schon von Geburt an eine Frohnatur war, machte ihr das wenig aus. Sie liebte und achtete ihre Großmutter sehr und teilte nicht nur ihre Backleidenschaft, sondern auch die Devise, dass man für gute Taten irgendwann belohnt wurde. Egal ob in diesem oder im nächsten Leben. Aber heute war definitiv nicht ihr Tag und als sie inmitten eines Küchenschlachtfeldes stand und gänzlich den Überblick verloren hatte, da hatte Grace ihr eine Hand auf die Schulter gelegt und gesagt „Cherry“ (sie nannte sie nur Charity, wenn sie verärgert war), „lass es gut sein, du richtest nur Chaos an und das führt zu nichts. Ich räume schon auf, bevor du noch mehr Gläser zerbrichst. Sei du so lieb, geh bitte zur Apotheke und hol dort meine Medikamente ab.“ Und da Charity selbst eingesehen hatte, dass sie nur weiteres Unheil in der Küche anrichten würde, hatte sie das Rezept entgegengenommen und ihre Handtasche gepackt. Es ärgerte sie selbst, dass sie so schusselig sein musste. Nun gut, sie war auch sonst nicht gerade die Geschickteste und stellte sich manchmal etwas dumm an, aber heute hörte es einfach nicht auf. In solchen Momenten war sie froh, dass sie Grace hatte.

Ihre Großmutter war in den letzten Jahren um mindestens zehn Zentimeter kleiner geworden und hatte ihr ergrautes Haar zu einem Knoten zusammengebunden. Und auch die Fältchen in ihrem Gesicht, die sie mit Würde hinnahm und nicht die geringsten Anstalten machte, sie zu verbergen, waren auch größer geworden. Aber Charity liebte sie mit diesen Falten. Für sie waren es „Charakterfalten“, ohne die sie bei weitem nicht so herzlich aussehen würde. Die alte Dame sah zu ihr hoch, richtete ihrer Enkelin noch eine Strähne und fragte „Hast du auch an einen Regenschirm gedacht? Es soll heute nämlich noch gewittern.“

„Ja, den habe ich gerade eingepackt. Und mein Handy habe ich auch mit. Falls du also noch etwas aus der Drogerie brauchst, ruf mich kurz an. Bis gleich, Oma. Ich hab dich lieb.“ Damit ging die Studentin zur Tür und machte sich auf den Weg zur Apotheke. Inzwischen war es düster geworden und in der Luft lag eine seltsame Spannung, als wäre sie elektrisch geladen. Sie bekam eine Gänsehaut und befürchtete, dass es noch ein schweres Gewitter geben und ihr kleiner Regenschirm wahrscheinlich auch nicht ausreichen würde. Hoffentlich hatte sie wenigstens ein bisschen Glück! Charity beeilte sich und schaffte es noch rechtzeitig über die Ampel bevor es rot wurde, dann bog sie die Straße nach rechts ab. Heute war nicht viel auf den Straßen los, was aber wahrscheinlich auch daran lag, dass die Leute sich schon mal vorsorglich in Sicherheit gebracht hatten. Die Gewitter in Annatown konnten teilweise wirklich verheerend sein. Nicht nur Sturmböen, sondern auch Hagelkörner mit der Größe von Wachteleiern waren keine Seltenheit. In dem Falle würde sie in einem der Geschäfte solange Zuflucht suchen, sollte es wirklich wieder dermaßen hageln. Ihr kleiner Regenschirm würde ihr jedenfalls keinen großen Schutz bieten, das wusste sie jetzt schon. Bis zur Apotheke brauchte sie zu Fuß knapp zehn Minuten. Plus noch mal zehn Minuten Rückweg… das würde echt knapp werden und die Chancen standen nicht zum Besten. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, zu Fuß zu gehen, anstatt mit dem Fahrrad oder mit dem Auto zu fahren. In solchen Fällen dachte Charity nicht gerade weit und hatte dann immer das Nachsehen. Sie gab es offen zu, dass sie manchmal etwas durch den Wind und verpeilt war und das durfte sie sich auch immer wieder von ihrer Großmutter anhören. In solchen Momenten pflegte sie immer zu sagen „Cherry, wenn dir der Herrgott keinen Hals gegeben hätte, dann wäre dir der Kopf schon längst davongeflogen!“ Im Grunde hatte sie ja Recht. Charity wusste, dass sie schnell in Hektik geriet und dann den Faden verlor und wenn sie ihren Gedanken nachging, wurde sie oft unaufmerksam. Wenn man sie nicht so oft rechtzeitig gewarnt hätte, dann wäre sie mindestens sieben Mal unter die Räder gekommen. Und sie musste sich auch oft anhören, wie gutgläubig sie manchmal war. Hätten ihre Großmutter und ihre Freunde sie nicht oft genug abgehalten, hätte sich Charity mindestens hundert Male auf irgendwelche dubiosen Versicherungsvertreter oder Hausierer eingelassen. Aber sie konnte einfach nicht grundsätzlich schlecht über alle Menschen denken, sondern glaubte an ihre guten Absichten. Natürlich war das eine positive Charakterstärke von ihr, aber sie fiel häufig auf die Nase damit und hätte sich oft genug in Schwierigkeiten gebracht, wenn sie nicht eines Besseren belehrt worden wäre. Dann durfte sie sich auch jedes Mal anhören, dass sie genauso unvernünftig war, wie so ein kleines Kind. Auch auf der Schule wurde sie von einigen Mitschülern ausgelacht, weil sie so gutgläubig war, weshalb sie oft treudoof genannt wurde. Besonders aber wurde sie auch auf dem College ausgelacht, weil sie sich ihren kindlichen Gottesglauben bewahrt hatte. Wirklich jeden Tag trug sie ihren Rosenkranz mit Rosenquarzperlen, der ein Erbstück ihrer verstorbenen Mutter war. Er war ihr Glücksbringer und ein Andenken an ihre Eltern, die sie verloren hatte. Sie konnte sich kaum noch an ihre Mutter oder ihren Vater erinnern, besuchte aber trotzdem jeden Sonntag ihr Grab, wobei sie dann immer von ihrer Großmutter begleitet wurde. Indem sie fest daran glaubte, dass es ihren Eltern gut ging, wo sie jetzt waren, konnte sie relativ unbeschwert leben und verlor so gut wie nie ihr Lächeln. Sollten die Leute sie doch für eine treudoofe Gottesanbeterin halten, davon ließ sie sich auch nicht unterkriegen.

Charity kam an einer Boutique vorbei und blieb kurz stehen, um sich die Handtaschen im Schaufenster anzusehen. Und als sie diese so betrachtete, fiel ihr wieder ein, dass sie dringend eine neue brauchte. Ihre war schon ziemlich abgenutzt und den Schulterriemen hatte sie auch schon geflickt, nachdem er ihr gerissen war. Eigentlich hätte sie sich schon längst die neue Tasche gekauft, aber sie wollte warten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war. Und das war ein Tag wie dieser, wo sie so einen Kauf als Stimmungsaufheller brauchte. Danach konnten ihr gerne noch weitere fünf Gläser zu Bruch gehen, eine neue Handtasche würde sie für diesen absolut beschissenen Tag entschädigen. Und heute war so ein Tag! In ihrem Hinterkopf hörte sie „Worst Day Ever“ von Simple Plan spielen und begann sogleich mitzusingen. Nun gut, der Text war eigentlich viel zu pessimistisch für sie, aber sie liebte die Melodie und bekam dadurch gleich wieder gute Laune. Und das passte wieder zu ihr: Gute Laune. Während sie das Lied weiter sang, ging sie zur nächsten Boutique, um sich die anderen Taschen anzusehen. Dabei sah sie nicht mal nach vorne, wodurch es schließlich so kam, wie es kommen musste: Ein Mann, der gerade um die Ecke kam und telefonierte, lief ihr entgegen und sah sie gar nicht und sie hatte ihre Augen ganz woanders. Sie prallten zusammen und Charity verlor das Gleichgewicht, wodurch sie nach hinten taumelte und stürzte. „Oh entschuldige“, hörte sie den Mann sagen, der das Handy vom Ohr nahm und sich ihr zuwandte. „Ich hatte dich nicht gesehen. Alles in Ordnung?“ Charity sah auf um zu sehen, mit wem sie da eigentlich zusammengeprallt war und bekam erst mal einen gehörigen Schrecken. Vor ihr stand ein muskulöser zwei Meter großer Riese, braun gebrannt und mit düsteren Gesichtszügen. Sein Gesicht war voller Piercings und seine Arme, die gut und gerne einen dicken Ast mühelos brechen konnten, waren mit Totenköpfen und anderen unheimlichen Motiven tätowiert. Die schwarze Lederkluft und auch der Rest seines Looks ergab ein eindeutiges Bild. Das war ein Rocker. Charitys Herz rutschte in die Hose, als sie diesen wandelnden Schrank vor ihr sah, der den Eindruck machte, als würde er keine Späße machen. Warum nur musste das ausgerechnet ihr passieren? Er reichte ihr die Hand, um ihr hochzuhelfen und die war in Charitys Augen so groß wie eine Baggerschaufel. Nun, zumindest war er hilfsbereit und höflich und sein Aussehen musste ja nicht unbedingt von einem schlechten Charakter zeugen. Und noch etwas fiel ihr auf: Um seinen Hals trug er ebenfalls einen Rosenkranz. In dem Moment musste sie eher unfreiwillig an den Roman „The Machine Gun Preacher“ denken. Womöglich war dieser so bedrohlich aussehende Kerl ja auch kein schlechter Mensch. Dankend nahm sie seine Hand und ließ sich wieder auf die Beine helfen. Sie entschuldigte sich für den Zwischenfall und verabschiedete sich dann, woraufhin sie weiterging. Womöglich hat Oma wirklich Recht und ich hab meinen Hals nur, damit mir der Kopf nicht davonfliegt, dachte sie und ging schnell weiter. Sie sah noch kurz zurück, um zu sehen, ob der tätowierte Rocker immer noch da war. Er war stehen geblieben und telefonierte noch. Oh Mann, heute ist tatsächlich so ein absoluter „Worst Day“. Charity betrat schließlich ein Geschäft und kaufte sich dort schließlich eine neue Handtasche. Diese war aus grünem Leder und bei weitem schöner als die letzte Tasche, die sie gesehen hatte. Und glücklicherweise war sie sogar heruntergesetzt, da gerade Sommerschlussverkauf war. Diese Chance wollte die Studentin unbedingt nutzen und so bezahlte sie mit Karte, dann begann sie ihre alte Handtasche auszuräumen. Dieses alte Ding hatte seine Pflicht getan und konnte getrost in den Müll wandern. Und hoffentlich wurde mit dieser alten Tasche auch ihre Pechsträhne gleich mitentsorgt. Nach und nach wanderten Geldbörse, Handy, Taschentücher und alle anderen Utensilien von einer Tasche in die nächste und zu guter Letzt kontrollierte sie noch, ob sie auch nichts vergessen hatte. Nein, sie hatte sie komplett ausgeräumt! Mit einem zufriedenen Lächeln schulterte sie ihre neue grüne Tasche und verabschiedete sich von der Verkäuferin. Ihr Weg führte zu einem Mülleimer in der Nähe, wo sie das kaputte alte Ding kurz und schmerzlos entsorgte. Leid tat es ihr nicht, sie hatte sie auch lange genug gehabt und wirklich teuer war sie auch nicht gewesen. Und sie war sich sicher, dass sie gerade eine gute Investition gemacht hatte. Schließlich ging sie weiter und erreichte nach einer Weile die Apotheke. Sie kannte den Apotheker sehr gut, da dieser ein alter Freund ihrer Großmutter war. Harold war ein netter Kerl, der inzwischen seinem Sohn die Apotheke überschrieben hatte. Trotzdem arbeitete er noch mit und war immer für einen kleinen Plausch zu haben. Gleich schon als sie die Apotheke betrat, wurde sie herzlich von dem Mittsiebziger begrüßt. Da er sie schon von klein auf kannte, duzten sie sich und Harold war schon fast eine Art Großvaterersatz für sie, da ihr eigener Großvater bereits recht früh an Lungenkrebs verstorben war. „Hallo Cherry!“ grüßte er sie und umarmte sie zur Begrüßung auf eine sehr herzliche Art und Weise. Genauso wie fast alle ihre Freunde und Verwandten nannte er sie bei ihrem Spitznamen Cherry, den sie schon von klein auf hatte. Grund für diesen Spitznamen war zum einen, dass es eine Abkürzung ihres Vornamens war und zum anderen war er auf ihre Kindheit zurückzuführen. Damals hatte sie ein rosafarbenes Kleid mit Kirschmuster getragen. Es war ihr absolutes Lieblingskleid gewesen und sie hatte es im Sommer fast immer getragen, weshalb ihre Mutter sie zum Scherz immer Cherry nannte. Und schließlich war es ihr offizieller Spitzname geworden und Charity liebte ihn. Denn sie liebte auch für ihr Leben gern Kirschen. „Wie geht es Grace denn so? Ich hoffe doch, das Wetter macht ihr nicht allzu große Probleme.“

„Sie steckt es ganz gut weg und ich glaube, sie wird uns noch eine ganze Weile erhalten bleiben. Du hör mal Harry, ich hab da ein Rezept für sie. Oma braucht wieder ihre Blutverdünner.“ Sie reichte ihm den Zettel und sogleich setzte Harold seine Lesebrille auf. Er überflog die Verordnung kurz und nickte. „Das haben wir gleich. Moment, ich geh sie eben kurz holen.“ Damit verschwand der Apotheker nach hinten und suchte die Schubladen durch, die alle nach einem bestimmten System geordnet waren. Kurz darauf öffnete er eine von ihnen und holte eine kleine Packung heraus und ging damit nach vorne. Er schaute aber selbst noch mal drauf, um auch ganz sicherzugehen, dass er die richtigen Medikamente in den Händen hielt. „Ich brauche ja nicht zu erklären, wie Grace sie nehmen muss. Sei aber so nett und pass heute trotzdem ein bisschen auf sie auf. Du weißt ja, dass sie so einen Wetterumschwung nicht mehr so gut verträgt wie vor zwanzig Jahren.“ Charity versicherte, dass sie gut auf ihre Großmutter aufpassen würde. Sie bezahlte die Medikamente, wünschte Harold und seinem Sohn noch einen schönen Tag und verabschiedete sich. Kaum, dass sie die Apotheke wieder verlassen hatte, begann es zu donnern und so holte die 22-jährige sicherheitshalber schon mal ihren kleinen Regenschirm heraus. Trotzdem hoffte sie insgeheim, dass sie es noch rechtzeitig nach Hause schaffen konnte, bevor das Gewitter hereinbrach. Sie beeilte sich also und verließ schließlich die Innenstadt und pfiff dabei ein Lied, welches sie irgendwo mal gehört hatte und welches ihr ganz gut gefiel. Ihre gute Laune war vollständig wiederhergestellt und sie hatte grinste über beide Ohren, denn sie war trotz allem ein Mädchen und freute sich jedes Mal wie ein kleines Kind am Weihnachtsabend, wenn sie eine neue Tasche oder neue Klamotten gekauft hatte. Schließlich aber bemerkte sie, dass ein schwarzer Van mit getönten Scheiben neben ihr herfuhr und die Beifahrerseite heruntergekurbelt wurde. Offenbar wollte da jemand nach dem Weg fragen und so blieb die Studentin stehen. „Entschuldigen Sie bitte“, rief der Fahrer ihr zu und schon kam Charity näher, um ihn besser zu verstehen. „Können Sie mir vielleicht weiterhelfen?“

„Klar doch, wo wollen Sie hin?“ Sie beugte sich noch etwas vor, um den Mann besser sehen zu können, da rempelte sie jemand an und im selben Moment wurde ihr die Tasche von der Schulter gerissen. „Hey!“ rief sie und sah, wie ein junger Mann mit rotbraunem längerem Haar und einem zerschlissenen, khakifarbenen Mantel mit ihrer Handtasche davonrannte. Sofort nahm sie die Verfolgung auf und lief ihm hinterher. Das konnte doch nicht wahr sein. Zu allem erdenklichen Unglück an diesem eh schon so beschissenen Tag musste ihr jetzt auch noch jemand die Handtasche klauen, die sie gerade erst gekauft hatte. Der reinste Alptraum… „Bleib stehen und gib mir die Tasche wieder!!“ rief sie und spurtete los. Nun gut, in diesen Schuhen war Rennen eigentlich keine gute Idee, aber so schnell wollte sie sich nicht geschlagen geben. Der Kerl würde noch sein blaues Wunder erleben, wenn sie ihn zu fassen bekam. Zwar war sie ein friedliebender Mensch, aber sie würde sich das nicht gefallen lassen, wenn ihr jemand die Handtasche klaute. Sie holte langsam auf, musste aber feststellen, dass der Räuber ziemlich gut zu Fuß war. Er bog nach rechts ab und lief damit in Richtung Wohnsiedlung und Charity merkte, dass sie es in ihren Absatzschuhen nicht mehr lange schaffen würde. Ihre Fußsohlen taten weh, ebenso wie ihr rechter Knöchel. Verdammt noch mal, das konnte doch nicht wahr sein. Jetzt verlor sie auch noch ihre Handtasche und dazu noch ihre Geldbörse und all ihre anderen Sachen. Warum nur war sie an diesem Tag nicht einfach im Bett geblieben? Dann wäre ihr dieser ganze Mist wenigstens erspart geblieben und sie müsste jetzt nicht diesem Handtaschenräuber hinterherlaufen. Sie wurde langsamer, als ihre Füße immer mehr schmerzten und bemerkte zu ihrer Überraschung, dass auch der Räuber langsamer wurde. Schließlich blieb er kurz stehen und drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht sah etwas jung aus und besaß feine Züge ungeachtet der Tatsache, dass er mehrere Piercings hatte, vor allem an den Ohren. Seine Augen machten einen finsteren und mürrischen Eindruck, überhaupt besaß seine Miene etwas Zynisches und Abweisendes. Ihre Blicke trafen sich kurz, dann holte er aus und warf ihr die Tasche zu. Charity fing sie verdutzt auf und verstand in diesem Moment die Welt nicht mehr. Ohne ein Wort zu sagen drehte sich der Junge, der ungefähr ihr Alter haben musste, wieder um und lief davon. Was zum Teufel war das gerade gewesen und wieso hatte er ihr einfach so die Tasche wieder zurückgegeben? Hätte er sie ihr klauen wollen, dann hätte er locker abhauen können. „Hey warte!“ rief sie und versuchte ihm zu folgen, aber sie merkte schnell, dass es keine gute Idee war und tatsächlich gab ihr Knöchel nach und sie fiel der Länge nach hin, wobei sie sich das Knie aufschlug. Autsch verdammt, das tat weh. Etwas wankend kam sie wieder auf die Beine und durchsuchte ihre Handtasche um festzustellen, ob noch alles drin war. Die Medikamente, das Handy, ihr Make-up und ihre anderen Sachen waren noch da, nicht einmal ihre Geldbörse fehlte. Was zum Teufel war das bloß gerade gewesen und wieso klaute ihr jemand erst die Handtasche und gab sie ihr dann nach einer kurzen Verfolgungsjagd einfach wieder? Sollte das alles etwa eine Art schlechter Scherz gewesen sein? Nein, er hatte nicht wirklich den Eindruck gemacht, als wollte er sich einen Spaß mit ihr erlauben, sonst hätte er nicht so ernst und finster geguckt. Hatte ihn vielleicht das schlechte Gewissen geplagt oder hatte er nicht damit gerechnet, dass sie ihn verfolgen würde? Dabei hätte er doch sofort sehen müssen, dass sie es sowieso nicht schaffen würde. Ob es doch das schlechte Gewissen war? Womöglich tatsächlich eines dieser Wunder, von denen man doch immer wieder erzählte. Ganz ausschließen wollte sie diese Möglichkeit jedenfalls nicht. Aber zumindest hatte sie ihre Tasche wieder. Womöglich war der ganze Tag ja doch nicht so schlecht, wie sie dachte. Bevor aber noch ein weiteres Unglück passieren konnte, ging sie lieber zurück nach Hause. Auf dem Weg aber brach das Unwetter herein. Es regnete in Strömen und obwohl Charity in weiser Voraussicht ihren Regenschirm mitgenommen hatte, wurde sie dennoch nass und begann in ihren Schuhen gefährlich zu rutschen, da diese leider nicht wasserfest waren. Um zu vermeiden, dass sie noch mal stürzte und dann komplett nass und schmutzig wurde, zog sie diese kurzerhand aus und lief den restlichen Weg barfuß. Der Regen wurde immer stärker und flutete schließlich Teile der Straße, sodass sie zwischendurch wortwörtlich im Wasser stand. Sie erreichte schließlich das Einfamilienhaus, in welchem sie mit ihrer Großmutter wohnte und klingelte. Es dauerte aber eine Weile, bis Grace kam, um ihr zu öffnen. Da sie ihre Enkelin nicht mit nassen Füßen durch das Haus laufen lassen wollte, brachte sie ihr erst einmal ein Handtuch und nahm den Regenschirm entgegen. „Oma, du glaubst mir nie, was mir gerade passiert ist.“ „Nun, ich sehe zumindest, dass du dir diese neue Handtasche gekauft hast. Hat es damit zu tun?“

„Nein… ja… nicht direkt… Also, ich bin ganz normal von der Apotheke zurück und hatte mir vorher diese Handtasche gekauft. Als ich auf dem halben Weg zurück war, hat ein Wagen angehalten und der Fahrer wollte mich nach dem Weg fragen. In dem Moment klaut mir jemand die Handtasche!“ Grace runzelte ein wenig verwirrt die Stirn, denn sie sah wohl, dass ihre Enkelin die Tasche noch hatte. Und sie wusste selbst, dass man in Absatzschuhen keine wilde Verfolgungsjagd schaffen konnte. „Was ist dann passiert?“

„Er hat sich nach einer kurzen Weile umgedreht und sie mir wortlos zurückgegeben, dann ist er abgehauen. Dabei hat er nicht einmal den Eindruck gemacht, als wollte er sich einen Scherz erlauben.“

„Das ist wirklich seltsam“, murmelte die Pensionärin und brachte ihre Enkelin ins Haus, denn draußen begann sich das Wetter deutlich zu verschlechtern. Es blitzte und donnerte und es begann auch kurz darauf tatsächlich zu hageln. Sie zogen sich ins Wohnzimmer zurück, wo Charity ihrer Großmutter die Medikamente gab und ihr noch mal erzählte, was passiert war. Insgeheim hoffte sie ja, dass Grace vielleicht eine Erklärung hatte, aber auch sie war sich nicht sicher, was das zu bedeuten hatte. „Solange du ihn nicht selbst gefragt hast, gibt es nur folgende Erklärungen: Er hat es sich anders überlegt, es war Teil einer dieser kindischen Mutproben oder aber er hatte einen anderen ganz bestimmten Grund, den wir nicht kennen. Wie wir beide manchmal zu sagen pflegen: Hin und wieder geschehen tatsächlich Wunder und manche Dinge geschehen aus einem bestimmten Grund.“ Na ob das wirklich die Antwort war? So finster, wie der Junge geguckt hatte, machte er nicht den Eindruck, als würde er seine Tat bereuen oder als hätte er es mit der Angst zu tun bekommen. Irgendwie kam ihr diese Sache seltsam vor. Als wäre das alles irgendwie geplant gewesen, dass er ihr erst die Tasche klaut und sie ihr dann wieder zurückgibt. Aber wahrscheinlich würde sie nie herausfinden, ob es wirklich nur Zufall, oder aber tatsächlich Schicksal war.
 

Die Neonröhren gaben ein blassgelbes Licht von sich und einige von ihnen flackerten leicht. Eine bedrückende Atmosphäre herrschte hier und die kalten sterilen Gänge und die grauen Wände verstärkten das ganze noch zusätzlich. Für einen kurzen Moment fragte sich Jesse, warum er noch mal hier war und erinnerte sich wieder, wieso er sich das hier immer wieder aufs Neue antat. Freiwillig würde er hier eigentlich nicht hingehen, oder zumindest nicht ohne Grund. Aber heute war ein besonderer Tag und deshalb wollte er sie besuchen gehen in der Hoffnung, nun endlich Frieden mit ihr schließen zu können. Ein Wachmann kam zu ihm und fragte „Jesse Wyatt?“ Er erhob sich und nickte wortlos. „Kommen Sie mit.“ Ohne ein Wort zu sagen, folgte er dem Wachmann durch den Gang und wartete, bis dieser die schwere Tür geöffnet hatte. Schon von der Tür aus konnte er sie sehen und innerlich fühlte er die innere Anspannung und Nervosität. Sie sah furchtbar aus. Ihr blondes Haar war kurz geschnitten und ungepflegt, auch ihr Gesicht war eingefallen und blass. Auch ihre Augenringe verstärkten den Eindruck, als würde er zu einem Totenschädel blicken. Um es ungeschönt zu sagen, war sie völlig abgemagert und erinnerte mehr an eine Mumie, als an einen lebenden Menschen. Jesse ging zu ihr und setzte sich ihr gegenüber hin. „Hallo Mum“, grüßte er murmelnd und versuchte, in ihre staubgrauen und trüben Augen zu sehen, doch sie sah ihn nicht an. Sie nahm die Hände vom Tisch, die mit Handschellen gefesselt waren und ihr Blick hatte etwas Kaltes und Abweisendes. „Was willst du hier?“ fragte sie unwirsch und lehnte sich zurück, wobei sie immer noch keinen Augenkontakt zu ihrem Sohn aufnahm. Jesse sagte nichts. Er schaffte es nicht, zu antworten und er spürte, wie sich seine Brust zusammenschnürte. Schließlich aber unterbrach seine Mutter die Stille. „Bist du hier, um mir die Ohren vollzujammern, oder weil du Absolution willst?“ Wieder sagte er nichts. Zwar wollte er etwas darauf antworten, aber ihm fehlten einfach die Worte dafür und er wusste auch nicht, wie er am Besten antworten sollte. Sein Magen begann sich zu verkrampfen. „Weißt du Mum… heute ist dieser eine Tag und ich dachte…“ „Na und?“ fragte sie und nun sah sie ihn direkt an. Und in ihren Augen war nichts als Hass zu sehen. „Glaubst du etwa, ich würde dir jemals verzeihen, was passiert ist? Du hattest gewusst, was passieren würde und hast es nicht geschafft, auf deinen kleinen Bruder aufzupassen. Du hattest die Aufgabe, ihn zu beschützen und nicht einmal das hast du auf die Reihe gekriegt, genauso wie du nichts in deinem Leben auf die Reihe kriegst. Allein deinetwegen ist Luca tot und wegen dir sitze ich im Gefängnis. Weißt du was? Ich wünschte du wärst damals gestorben und nicht Luca. Du hast mir mein Leben ruiniert und ich werde dir erst verzeihen, wenn du irgendwo tot in der Ecke liegst! Soll sich doch mein Bruder mit dir herumärgern, ich will dich erst wieder sehen, wenn du endlich tot bist. Warum kommst du überhaupt jeden Monat hierher? Hast du sonst nichts Besseres zu tun, oder tust du das, weil du glaubst, du müsstest das unbedingt für mich tun, weil ich deine Mutter bin?“ Nun schnürte sich seine Brust schmerzhaft zusammen, dass er kaum Luft bekam und er spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. Er hatte gedacht, dass er gegen derlei schon abgestumpft war und dass der abgrundtiefe Hass seiner Mutter oder die rücksichtslose Ausbeuterei seines Onkels ihn eigentlich nicht mehr so im Herzen wehtun könnte. Aber er hatte sich geirrt. Es tat immer noch weh und er biss sich auf die Unterlippe, wobei seine Zähne dabei einen seiner Piercings berührten. „Du… du bist doch meine Mutter…“ Das war die einzige Antwort, die er halbwegs formulieren konnte, aber er wusste, dass er gleich gar nichts mehr sagen konnte. Er senkte den Blick und faltete die Hände. „Es tut mir wirklich Leid…“

„Ach spar dir doch diese Entschuldigungen und deine Mitleidstour. Davon wird Luca auch nicht mehr zurückkommen.“

„Aber ich wollte doch nicht, dass er stirbt.“

„Ist er aber und zwar nur deinetwegen. Deine verdammten Träume haben ihn umgebracht und mein Leben ruiniert. Ich frage mich ehrlich, was bei dir nur kaputt ist. Wahrscheinlich haben sie dich kurz nach der Geburt vertauscht. Irgendwie hatte ich sowieso schon von Anfang an das Gefühl gehabt, dass du nicht mein Kind sein kannst. Bei Luca hatte ich sofort gespürt, dass er mein Fleisch und Blut ist, aber du warst schon immer ein Fremder für mich gewesen. Ja, die werden dich ganz sicher irgendwie nach der Geburt vertauscht haben! So einer wie du kann gar nicht mein Kind sein und jetzt verschwinde und lass dich hier nicht mehr blicken. Ich will dich nie wieder sehen, hörst du?“ Es brachte nichts, das Gespräch war beendet und was Jesse blieb, war eine riesige Leere in seinem Innersten. Obwohl ihn größtenteils die Kraft verlassen hatte, stand er auf, verabschiedete sich von seiner Mutter und wandte sich von ihr ab. Seine Knie fühlten sich an, als würden sie jeden Moment den Dienst versagen und er steckte die Hände in die Taschen seines Mantels, wo er sie zu Fäusten ballte. Er wollte nur noch raus und das am Besten so schnell wie möglich. Doch bevor er mit dem Wachmann den Raum verließ, sprang seine Mutter hoch und rief ihm noch nach „Ich wünschte, ich hätte dich umgebracht, als ich die Chance dazu hatte! Dann wäre Luca noch am Leben und ich hätte glücklich werden können!!!“ Doch Jesse reagierte gar nicht mehr darauf. Mechanisch folgte er dem Wachmann, der ihn wieder zurückbrachte und nachdem er die Kontrolle passiert hatte, verließ er das Gefängnis. Der Wind wehte und kühlte sein glühendes Gesicht. Es regnete in Strömen und Jesse setzte seine Kapuze auf. Der Donner grollte ohrenbetäubend und schließlich begann es auch noch zu hageln, doch er spürte gar nicht, wie sie auf seinen Kopf und seine Schultern einprasselten. Er spürte gar nichts mehr in diesem Moment. Viele hätten in seiner Situation geweint oder Emotionen gezeigt, aber er konnte es nicht. Seine Tränen waren schon vor Jahren versiegt und er fühlte auch nichts mehr außer Leere und Hoffnungslosigkeit. Er setzte sich erst einmal an einer überdachten Bushaltestelle hin und zündete sich eine Zigarette an. Aber das würde auch nicht viel helfen, er brauchte etwas Hochprozentiges, um die Worte seiner Mutter schlucken und diese ganze Scheiße wenigstens für ein paar Stunden vergessen zu können. Aber eine Lösung war das auf Dauer auch nicht und würde an seiner Misere nichts ändern. Denn egal wie viel er auch trank, es würde niemals die Leere in seinem Herzen füllen. Vielleicht war es wirklich besser, wenn er einfach vom Angesicht dieser Welt verschwand. Es würde sowieso kein Schwein kümmern, wenn er jetzt gleich auf der Stelle tot umfiel. Im Grunde wollte ihn doch sowieso niemand haben. Weder sein Vater, der ihn im Stich gelassen hatte, noch seine Mutter oder sein Onkel. Ein lautes Klingeln riss Jesse aus seinen Gedanken und er holte sein Handy hervor. Auf dem Display stand „Sklaventreiber“, das war sein Onkel. Na toll, der hatte ihm gerade noch gefehlt. Jesse drückte den grünen Hörer und ging ran. „Was willst du, Walter?“

„Verdammt noch mal wo bleibst du? Ich hab dir gesagt, dass du heute Überstunden machen musst, weil Andy heute früher Feierabend hat. Wo treibst du dich wieder herum, du Nichtsnutz?“

„Ich war bei Mutter. Ich werde außerdem heute nicht mehr arbeiten kommen.“

„Was sagst du da?“

„Ich fühl mich gerade nicht so gut.“

„Du bewegst deinen faulen Arsch hierher, du kleiner Schmarotzer. Ich lass dich bei mir wohnen und füttere dich schon seit Jahren durch und dafür hast du gefälligst bei mir zu arbeiten. Und außerdem hast du mir immer noch nicht den Tipp fürs Pferderennen gegeben. Du kennst die Abmachung, also halt dich gefälligst dran oder du kannst die nächsten beiden Tage auf der Straße schlafen. Und ich glaube nicht, dass du schon wieder Lust darauf hast.“ Doch das war Jesse jetzt auch egal. Er wollte heute einfach nicht mehr in den Getränkemarkt gehen und dort bis spät in die Nacht Kästen schleppen. Nach dem Gespräch mit seiner Mutter hatte er keine Lust, sich auch noch mit Walter herumärgern zu müssen. Er brauchte jetzt einfach mal Abstand. Wenn er schon die nächsten beiden Tage auf der Straße schlafen musste, dann konnte er wenigstens das Beste daraus machen. Mit einem leisen Seufzer warf er die brennende Zigarette zu Boden und drückte sie aus. Dann ging er in Richtung Tankstelle und dachte nach. Wie sollte denn sein Leben weitergehen, wenn er nicht vorzeitig an Leberversagen starb oder unter die Räder geriet, wenn er mal wieder betrunken war? Drei Male hatte er bereits eine Alkoholvergiftung gehabt, ein Mal lag er sogar im Koma und wäre fast gestorben. Im Grunde hatte er doch keine wirkliche Zukunft. Er hatte keine Familie und die Schule hatte er wegen diesem Sklaventreiber Walter auch schmeißen müssen und hatte deshalb auch keinen Abschluss. So schnell würde er nirgendwo einen Job finden und wirkliche Begabungen hatte er auch nicht. Im Grunde konnte er gar nichts, außer sich von seinem Onkel ausnutzen und von ihm schikanieren zu lassen, weil dieser wusste, dass Jesse auf ihn angewiesen war. Und natürlich konnte er auch nichts anderes, als sich zu betrinken, weil sein Leben so beschissen war. Seine Mutter hatte sich von ihm abgewandt und sein Vater hatte die Familie schon vorher im Stich gelassen. Und seinetwegen war sein kleiner Bruder tot. Für ihn gab es keinen Grund, noch länger am Leben zu bleiben. Niemanden würde es interessieren, wenn er stirbt und wirklich große Aussichten hatte er in diesem Leben auch nicht. An der Tankstelle kaufte sich Jesse eine Schnapsflasche, steckte sie in eine braune Papiertüte und wanderte ein wenig umher, um sich einen ruhigen Ort zu suchen, wo er ungestört war. Er wollte niemanden sehen oder hören, also schaltete er auch sein Handy aus. Um wenigstens einen trockenen Unterschlupf für die Nacht zu haben, ging er zur Unterführung, wo tatsächlich niemand war, nicht einmal Obdachlose. Wenigstens ein kleiner Lichtblick für diesen Tag. Als er sich gesetzt hatte, schraubte er den Verschluss der Schnapsflasche auf. Am liebsten hätte er in diesem Moment einfach nur laut geschrieen und die Flasche gegen die Wand geworfen, aber das würde auch nichts bringen. Schreien und Rumheulen würde rein gar nichts an seiner Situation ändern. Früher hatte er das gemacht, aber dann hatte er einfach resigniert und all das hingenommen, was ihm widerfuhr, weil er wusste, dass er den Kampf nicht gewinnen konnte. Und wirklich fühlen konnte er seit Jahren nichts mehr. Nur körperlichen Schmerz. Schließlich hob er die Flasche wie zum Anstoß an und murmelte mit trostloser Stimme „Alles Gute zum Geburtstag, Jesse.“ Dann nahm er einen ordentlichen Zug in der Hoffnung, dass der Alkohol ihm für die nächsten Stunden die Erinnerungen und Sorgen wegwaschen konnte.



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