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Das triste Leben des Jesse Wyatt

von

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Schicksalhafte Wiederbegegnung

Als das Gewitter endlich abgeklungen war und es auch zu regnen aufgehört hatte, schnappte sich Charity ihre Jacke und verabschiedete sich von ihrer Großmutter. Diese sah auf die Uhr und fragte verwundert, was ihre Enkelin denn um sieben Uhr noch draußen zu erledigen hatte. Die Studentin erklärte, dass sie noch gerne einen Spaziergang machen wollte, da sie sowieso leichte Kopfschmerzen hätte und darum etwas frische Luft gut gebrauchen konnte. „Nimm aber dein Handy mit, falls etwas sein sollte.“

„Keine Sorge Oma, ich hab alles dabei. Ich bleib auch nicht allzu lange weg, höchstens eine halbe Stunde oder so.“ Zum Abschied gab sie ihrer Großmutter noch einen schnellen Kuss auf die Wange und nachdem sie ihre wasserfesten Wanderschuhe angezogen hatte, ging sie zur Tür raus. Inzwischen war es schon dunkel geworden, aber da sie hier in einer ruhigen Gegend wohnten und die Straßen allesamt beleuchtet waren, hatte Charity eigentlich nichts zu befürchten. Inzwischen hatte sich auch die Luft deutlich abgekühlt und wenigstens war es nicht mehr so erdrückend schwül wie am Mittag. Damit sie wenigstens etwas Unterhaltung zu ihrem Spaziergang hatte, holte sie ihren MP3-Player heraus und begann die neuesten Lieder von Katy Perry zu spielen. Auch wenn sie ein sehr gutes Verhältnis zu ihrer Großmutter hatte und religiös war, so war sie durchaus kein langweiliges Mauerblümchen, wie viele immer dachten. Tatsächlich liebte sie es, sich auch mal etwas kürzere Röcke anzuziehen, irgendwo hin feiern zu gehen oder sich die neuesten Hits der Charts anzuhören. Es war nur ärgerlich, dass viele sie für ein naives Kirchendummchen hielten, das rein gar nichts im Kopf hatte und das nervte sie schon mal. Sie verstand nicht, wieso sie gleich als verklemmtes Mauerblümchen abgestempelt wurde, nur weil sie nicht in allen Bereichen dem typischen Mädchenklischee von heute entsprach. Während ihrer High School Zeit hatte sie zwar hin und wieder mal für einen Jungen geschwärmt, aber es war nie etwas Ernstes geworden und sie hatte auch noch nie ein Bier getrunken. Sie verstand einfach nicht, wie so viele glauben konnten, man könnte nur Spaß haben, wenn man Alkohol trinkt. In der Schule hatte sie es nicht immer einfach gehabt und wurde oft aufgezogen, weil sie nichts trinkt, keinen festen Freund hatte und noch nicht einmal rauchte. Aber insbesondere fanden es viele witzig, dass sie betete und an Gott glaubte. Charity hatte sich zu helfen gewusst und sie hatte sich auf ihre Freunde verlassen können, die ihr immer helfend zur Seite standen. Auch wenn sie gutgläubig und naiv war, ließ sie sich nicht so einfach solche Schikanen gefallen und besaß auch eine Kämpfernatur, die man ihr nicht wirklich zutrauen würde. Und sie hatte auch ihren Kampfgeist bewiesen, als sie zur leitenden Kraft einer Schuldemonstration wurde, als gegen die Diskriminierung und Intoleranz an den Schulen gegenüber Schwarzen und Homosexuellen protestiert wurde. In einer unbedachten Kurzschlussreaktion war sie aufs Podium gestiegen und hatte den Oberschulrat zur Rede gestellt und die Menge auf ihre Seite gezogen. Im Nachhinein hatte sie sich selbst gewundert, wie sie dazu nur den Mut aufgebracht hatte, aber wenn sie sich für etwas einsetzen wollte, dann konnte sie eine richtige Kämpferin werden und war dann nicht mehr die treudoofe Charity, über die sich so viele Schüler lustig machten. Die Aktion hatte ihr zwar Ärger bei der Schulleitung eingebracht, aber gleichzeitig hatte sie sich bei den Schülern Respekt verschafft, auch wenn sie das überhaupt nicht beabsichtigt hatte. Es war einfach so über sie gekommen und sie hatte nicht großartig darüber nachgedacht, sondern spontan gehandelt. Trotzdem gab es am College immer noch genug Idioten, die sie nach wie vor noch in eine Schublade mit den langweiligen Mauerblümchen stecken wollten, die nichts hatten, als den Gottesglauben, den sie von ihrer Oma hatten. Manchmal waren diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen einfach nur Idioten und ab und zu hatte sich Charity schon gefragt, ob nicht irgendwo auf ihrem Kopf „Opfer“ geschrieben stand und sie es irgendwie übersehen hatte. Denn egal wie sie sich auch gab, sie schien den Spott von solchen Vollidioten immer auf sich zu ziehen, nur weil sie es nicht unbedingt nötig hatte, zu trinken, zu kiffen, zu rauchen oder sich direkt an den Hals des nächstbesten Typen zu schmeißen. Sie sah einfach keinen Grund darin und ihre Großmutter hatte auch gesagt gehabt, dass es das unvernünftigste war, was man machen konnte: Es nur zu tun, weil man dazugehören wollte. Denn hinterher würde man es sowieso bereuen. Ihre Mutter hatte schon mit 14 Jahren angefangen zu rauchen, nur weil sie zu einer Clique dazugehören wollte und war bis zu ihrem Unfalltod starke Kettenraucherin gewesen. Die Lunge hatte da auch schon nicht mehr richtig gearbeitet und sicherlich hätte sie dann irgendwann Lungenkrebs umgebracht, wenn nicht der Baum, gegen den das Auto auf der nassen Fahrbahn geprallt war. Charity musste in diesem Moment zurückdenken, als sie vom Tod ihrer Eltern erfahren hatte. Sie hatte an dem Abend schlecht geschlafen und einen Alptraum gehabt. Was sie geträumt hatte, wusste sie nicht mehr, aber sie hatte ziemlich heftig geweint und versucht, bei ihrer Großmutter Trost zu finden, die damals auf sie aufgepasst hatte. Sie war damals sieben Jahre alt gewesen und hatte gefragt, ob sie ihre Eltern anrufen könnte, weil sie geträumt hätte, dass sie nicht nach Hause kommen würden. Ihre Eltern waren zu dem Zeitpunkt noch auf Geschäftsreise und am Telefon hatte ihre Mutter sie getröstet und versprochen, dass sie bald da sein und dann mit ihr zusammen in den Zoo gehen würde. Aber sie kamen nicht zurück und statt in den Zoo ging Charity zur Beerdigung ihrer Eltern. Sie hatte heftig geweint, als sie realisiert hatte, dass ihre Eltern nie wieder zurückkommen würden, weil sie für immer fort waren. Und sie hatte sich gefragt, ob sie es nicht vielleicht hätte verhindern können, wenn sie ihren Eltern von ihrem Traum erzählt hätte. Aber dank ihrer Großmutter hatte sie diese Gedanken wieder verworfen. Grace hatte sie getröstet und dann gesagt, dass ihre Eltern nun an einem Ort sind, wo sie immer glücklich sein werden und dass sie immer auf ihre kleine Tochter aufpassen werden. Dann hatte sie Charity den Rosenkranz gegeben, damit ein Teil von ihrer Mutter immer bei ihr blieb. Und inzwischen glaubte sie, dass sie diesen Traum deshalb gehabt hatte, damit sie die Chance bekam, sich von ihren Eltern zu verabschieden.
 

Als plötzlich nicht mehr Katy Perry, sondern stattdessen Skillet spielte, unterbrach sie ihre Gedanken und übersprang das Lied und suchte sich ihren Lieblingssong von Lady Gaga. Meine Güte, wie lange war sie denn jetzt eigentlich unterwegs und wo genau war sie denn jetzt? Verwundert sah sie sich um und wusste im ersten Moment gar nicht, wo sie war. Sie war so abgelenkt gewesen, dass sie gar nicht aufgepasst hatte, wo sie hingegangen war. Das durfte doch nicht wahr sein, wie konnte ihr denn so etwas nur passieren? Eigentlich kannte sie die Gegend gut genug und für gewöhnlich passierte ihr so etwas nicht, aber heute war sie sowieso schon schusselig genug und in der Dunkelheit sah sowieso alles ganz anders aus. „Och nee. So doof kann doch nicht mal ich sein!“ Charity raufte sich die Haare und ärgerte sich, dass sie sich verlaufen hatte. Zu ihrer Gutgläubigkeit kam leider auch ein absolut miserabler Orientierungssinn hinzu, der ihr auch oft genug Schwierigkeiten bereitete. Aber vielleicht hatte sie ja Glück und fand eine Straße, die ihr bekannt vorkam, wenn sie weiterging. Nach einer Weile erreichte sie zu ihrer Erleichterung eine Unterführung und wusste nun zum Glück auch wieder, wo sie war. Wenn sie dort durchging, kam sie auf den Weg wieder nach Hause und war in knapp einer Viertelstunde wieder zurück. Das war aber knapp gewesen. Wer weiß was ihre Großmutter gedacht hätte, wenn sich ihre 22-jährige Enkelin noch in ihrem eigenen Wohnviertel verlief. Die ganze Nachbarschaft würde darüber lachen und das konnte sie überhaupt nicht gebrauchen. Nun schaltete Charity ihren MP3-Player etwas leiser und sang leise mit. Sie blieb jedoch stehen, als sie nicht weit entfernt jemanden auf dem Boden liegen sah. Ach du Großer Gott, ein Obdachloser, schoss es Charity durch den Kopf und sofort schaltete sie die Musik aus und nahm die Hörer aus den Ohren. Normalerweise lagen an der Unterführung nie Obdachlose, sondern sie trieben sich immer am Bahnhof oder im Parkhaus herum. Zwar kam sie nicht oft hierher, aber man erkannte sofort, wenn Obdachlose irgendwo ihr Lager eingerichtet hatten. Und die Unterführung war definitiv kein solcher Ort. Sie ging weiter und hörte plötzlich ein leises Stöhnen. Was, wenn das kein Obdachloser war, sondern vielleicht das Opfer eines gewalttätigen Angriffs? Oder vielleicht war es ein Passant, der schwer gestürzt war und sich verletzt hatte! Nun rannte sie hin und sah sich den am Boden Liegenden genauer an. „Hallo? Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie Hilfe?“ Er hatte keine Decken bei sich und war auch nicht wie ein Obdachloser gekleidet. Nicht einmal eine Tasche hatte er bei sich. Das war definitiv kein Penner! Nun kniete sich Charity hin und drehte ihn vorsichtig auf die Seite und brachte ihn erst einmal in die stabile Seitenlage. Dabei entdeckte sie ein paar leere Schnapsflaschen und ahnte schon, was hier passiert war. Auch die Fahne, die ihr entgegenwehte, bestätigte ihren Verdacht: Der Kerl hatte sich komplett abgeschossen. Aber als sie das Gesicht des Betrunkenen genauer sah und wieder erkannte, konnte sie es zuerst nicht fassen und glaubte erst an einen verrückten Zufall. Dieser Junge mit dem rotbraunen Haar und den Piercings im Gesicht war doch der gleiche, der ihr die Handtasche geklaut hatte. Und jetzt lag er sturzbetrunken auf dem Boden und konnte offenbar nicht mehr alleine laufen. An der Schläfe blutete er leicht, vermutlich war er gestürzt und hatte sich dabei verletzt. Aber die Wunde war nicht tief, sie musste wahrscheinlich nicht einmal genäht werden. Auf dem Boden lag sein Portemonnaie, das ihm wohl aus der Manteltasche gefallen war. Sie hob es auf und schaute kurz auf seinen Ausweis, um wenigstens erfahren zu können, wie er denn hieß. Sein Name war Jesse Wyatt und er war heute 23 Jahre alt geworden. Ob er zu viel gefeiert hatte? Nein, die Schnapsflaschen sahen eher danach aus, als hätte er sich hier niedergelassen und die Klamotten waren dieselben, die er heute Nachmittag getragen hatte. Der kam garantiert nicht von einer Feier, sondern hatte sich hier ganz alleine betrunken. „Jesse, kannst du mich verstehen? Sag doch etwas!“ Er gab ein leises Stöhnen von sich und bewegte sich. Aber so betrunken wie er war, würde er sicher kaum eine vernünftige Antwort geben können. Es war besser, wenn sie den Notarzt rief, damit er in ein Krankenhaus kam. Gerade holte sie ihr Handy raus und wählte bereits den Notruf, da begann der am Boden Liegende zu schluchzen und vergrub das Gesicht in den Händen. „Es tut mir Leid…“, brachte er hervor, wobei er aber ziemlich stark nuschelte. In dem Zustand fiel ihm das Reden sehr schwer. „Ich wollte doch nicht, dass das passiert.“

„Keine Sorge Jesse, ich rufe den Notarzt. Dann wird man dir helfen.“

„Nein“, rief er und machte sich ganz klein, wobei er eine Fötalposition einnahm. Er schluchzte heftig, seine Augen zeugten von unendlicher Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit und er zitterte dabei am ganzen Körper. „Ich will hier liegen bleiben und sterben… ich hab es nicht anders verdient, als zu krepieren.“ Als Charity das hörte, ließ sie das Handy wieder sinken und sah ihn fassungslos an. Nun gut, er war ziemlich betrunken und da sagte man Dinge, die nicht unbedingt wahr sein mussten. Aber so verzweifelt wie er war, schien das wirklich wahr zu sein. Er wollte sterben und hatte wahrscheinlich deshalb zu viel getrunken. Mein Gott, an seinen eigenen Geburtstag Suizid begehen zu wollen war echt hart. Fest stand, dass Charity ihn so nicht hier lassen konnte, aber was sollte sie dann machen? Ihn in ein Krankenhaus bringen? Schließlich hatte sie ihren Entschluss gefasst und zückte ihr Handy. Doch statt die Notrufnummer zu wählen, rief sie bei einem Taxiunternehmen an. Dass es eigentlich eine total bescheuerte Idee war, einen wildfremden betrunkenen Jungen nach Hause zu bringen, um ihn dort auszunüchtern anstatt in einem Krankenhaus, kam ihr in dem Moment nicht in den Sinn. Sie dachte einfach nur daran, wie unendlich verzweifelt und traurig er war, obwohl heute doch sein Geburtstag war und wahrscheinlich hatte er niemanden, an den er sich wenden konnte. Warum sonst lag er ausgerechnet hier, wo kaum jemand hinging? Irgendetwas Schlimmes musste passiert sein, da war sich die Studentin sicher. „Jesse, kannst du aufstehen?“ Sie nahm seinen Arm und half ihm erst einmal, sich aufzusetzen. „Keine Sorge, ich werde dich erst einmal in Sicherheit bringen, wo du dich ausnüchtern kannst. Glaubst du, du schaffst es, ein paar Schritte zu laufen?“ Er antwortete nicht und schien noch nicht einmal zu wissen, was hier eigentlich geschah. Sein Blick wanderte ziellos umher und Charity bezweifelte, dass er überhaupt fünf Meter schaffte. Sie biss sich auf die Unterlippe und nahm all ihre Kraft zusammen, als sie ihn hochzog. Wankend kam er auf die Beine und sogleich legte sie seinen Arm um ihre Schultern, während sie ihn mit der anderen Hand am Gürtel festhielt, um ihn zu stabilisieren. „Also gut Jesse, wir gehen jetzt ganz langsam und vorsichtig. Versuch, langsam ein Bein vor das andere zu setzen. Ich halte dich fest und dann gehen wir zusammen zum Taxi.“

„Scheiße“, nuschelte er und rollte benommen seinen Kopf. „Ich bin seekrank…“ Auf Charitys Stirn bildeten sich Schweißperlen und sie musste ihre ganze Kraft zusammennehmen. Zwar war Jesse eher schmächtig und nicht sehr groß, aber da er sich kaum auf den Beinen halten konnte, musste sie den größten Teil seines Gewichts stemmen und da er immer wieder stark zur Seite schwankte, wurde sie mitgezogen und verlor beinahe selbst das Gleichgewicht. Schritt für Schritt gingen sie vorwärts und erreichten nach einer gefühlten Ewigkeit endlich das Taxi. Gleich schon als der Fahrer sie sah, stieg er aus und half Charity das letzte Stück zum Auto und gemeinsam setzten sie Jesse ins Taxi. „Zu viel gefeiert?“

„Er hat auf seinen Geburtstag angestoßen und es leider übertrieben.“

„Bist du seine Freundin?“

„Ja.“ Charity hielt es für das Beste, erst mal zu behaupten, dass sie seine Freundin wäre. Das war eine plausiblere Erklärung, als wenn sie sagte, dass sie ihn überhaupt nicht kannte. Dann müsste sie ja die Frage beantworten, wieso sie Jesse nicht in ein Krankenhaus brachte. Nun setzte sich auch Charity ins Auto und nannte dem Fahrer die Adresse. Die Fahrt selbst dauerte nur wenige Minuten und die überstand Jesse ganz gut, ohne sich übergeben zu müssen. Sie zahlte das Geld und gemeinsam holten sie den Betrunkenen aus dem Auto raus, den Rest schaffte die Studentin alleine. Als sie aber vor der Haustür stand, fiel ihr etwas ein, woran sie noch gar nicht gedacht hatte: Ihre Großmutter. Wie würde sie wohl reagieren, wenn ihre Enkelin mit einem betrunkenen und fremden Jungen vor der Tür stand? Sollte sie sie auch anlügen? Nein, sie war ihrer Großmutter gegenüber keine gute Lügnerin und diese durchschaute sie jedes Mal sofort. Jesse stöhnte und sank zusammen und nur mit Mühe konnte sie ihn oben halten. „Reiß dich bitte zusammen, okay? Wir haben es ja gleich geschafft.“ Sie drückte die Klingel und wenig später öffnete Grace ihr die Tür. Wie befürchtet bekam sie erst einmal einen Schreck und wich zurück. „Cherry, was hat das zu bedeuten und wer ist dieser junge Mann da?“

„Sein Name ist Jesse Wyatt. Er ist der Kerl, der mir heute Nachmittag die Handtasche geklaut hat. Ich hab ihn an der Unterführung gefunden.“

„Aber warum bringst du ihn hierher und rufst keinen Notarzt? Bist du denn völlig verrückt geworden?“

„Er ist völlig verzweifelt und ist offenbar auch suizidgefährdet. Außerdem hat er Geburtstag und er tut mir irgendwie Leid. Könntest du bitte beiseite gehen? Er ist ein bisschen zu schwer für mich und ich kann ihn kaum halten.“ Da Grace regelrecht vor vollendeten Tatsachen stand und kaum eine andere Wahl hatte, ging sie beiseite und begleitete ihre Enkelin ins Wohnzimmer. Dort legte die Studentin den Betrunkenen auf die Couch und zog ihm die Schuhe und die Jacke aus. „Ich fasse nicht, was du da gerade machst. Der Junge gehört in ein Krankenhaus. Du kennst ihn nicht einmal und weißt nicht, ob er vielleicht gefährlich ist.“

„Er ist nicht gefährlich, er braucht einfach nur Hilfe.“

„Du bist viel zu naiv, Charity. Willst du in Zukunft jeden Betrunkenen herbringen, weil er dir Leid tut?“ Sie antwortete nicht, sondern ging den Verbandskasten holen, um die Verletzung an seinem Kopf zu versorgen. Sie blutete bereits nicht mehr, musste aber trotzdem gesäubert und desinfiziert werden, bevor sie sich entzünden konnte. Glücklicherweise hatte sie im Erste-Hilfe-Kurs aufgepasst und so begann sie, das Blut abzuwaschen, die Wunde zu reinigen und dann mit Salbe zu behandeln. Ansonsten schien er keine weiteren Verletzungen zu haben. Während sie neben ihm kniete und die Wunde behandelte, betrachtete sie sein Gesicht. Nun, sie war kein Freund von Piercings und fand so etwas auch nicht gerade schön, aber dennoch war sein Gesicht sehr hübsch. Es war blass und fein geschnitten und seine Augen hatten ein wunderschönes Smaragdgrün. Zwar war er kein Schönling, besaß aber etwas natürlich Schönes und irgendwie konnte Charity ihre Augen nicht von ihm abwenden. Besonders nicht von seinen Augen. Schließlich ertappte sie sich selbst dabei, wie sie ihm durchs Haar strich und zog ihre Hand sofort wieder zurück. Ohne zu der immer noch wütenden Grace zu sehen, fragte sie schließlich „Oma, glaubst du, dass es so etwas wie göttliche Fügung gibt?“

„Natürlich. Warum fragst du?“

„Es kann doch kein Zufall sein, dass er mich erst beraubt, mir wortlos die Tasche zurückgibt und ich ihn dann sturzbetrunken und verletzt an der Unterführung finde. Vielleicht war es ja tatsächlich kein Zufall, dass ich ihn gefunden habe. Wer weiß, was mit ihm passiert wäre, wenn ich ihn nicht gefunden hätte.“ Grace schüttelte den Kopf und durchschritt langsam den Raum. Sie konnte nicht verstehen, wie naiv ihre Enkelin manchmal sein konnte. Nur weil sie zufällig den gleichen Typen wieder traf, der sie zuvor beklaut hatte und er betrunken irgendwo in der Ecke lag, glaubte sie direkt an göttliche Fügung oder an das Schicksal. Sie war skeptisch und hatte Sorge, dass ihr der Junge noch Ärger machen könnte. Aber vor allem gefiel ihr nicht, wie Charity ihn ansah und wie sie ihm durchs Haar strich. Es war allzu offensichtlich, dass sie Interesse an ihm hatte und natürlich würde sie es ihr gönnen, wenn sie sich verliebte. Aber ausgerechnet jemanden, der sich so sehr betrinkt? Sie war besorgt, dass dieser Jesse einen schlechten Einfluss auf ihre Enkelin ausüben konnte, wenn es wirklich ernst werden sollte. Nun gut, Charity hatte bereits ein Praktikum in einer Adaptionsstelle absolviert und wusste, wie sich Suchtverhalten auf das eigene Leben auswirkten und sie hatte trotz des an der Schule vorherrschenden Gruppenzwangs nie Alkohol getrunken. Nicht einmal zu ihrem 18. Geburtstag! Aber wenn so etwas wie Liebe ins Spiel kam, konnte jeder Mensch schwach werden. Denn er war ja auch nur ein Mensch. Aber es machte jetzt auch keinen Sinn, mit ihr zu streiten und den Jungen auf die Straße zu werfen. Und solange er in diesem Zustand war, würde er mit Sicherheit auch keine Schwierigkeiten machen. Nein, der wird sicherlich erst einmal seinen Rausch ausschlafen und das konnte noch eine Zeit lang dauern. „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, Charity.“ Damit verließ die Pensionärin das Wohnzimmer und ging hoch in die obere Etage, wo sie ihr Zimmer hatte. Sie war erschöpft und dieser starke Wetterwechsel hatte ihr schon zugesetzt. Charity blieb noch wach und durchsuchte Jesses Mantel. Natürlich wusste sie, dass sie das nicht tun durfte und sie auch richtig Ärger bekommen könnte, aber sie wollte wenigstens einen Hinweis darauf finden, warum Jesse so depressiv war. Aber viel fand sie nicht in seinen Taschen. Zigaretten, ein Feuerzeug und ein Handy. Als sie aus reiner Neugier die Anrufliste durchging, bemerkte sie schnell, dass Jesses Kontakte offenbar nicht gerade zu seinen Freunden gehörten. Statt Namen waren alle Nummern mit Beleidigungen versehen. Angefangen von „Ausbeuter“, bis hin zu „Hackfresse“. Allem Anschein nach war Jesse nicht gerade der netteste Kerl, oder aber er hatte nicht gerade eine hohe Meinung von anderen. Hoffentlich versah er sie nicht eines Tages mit dem Eintrag „Treudoofe Nuss“, oder so. In seinem Handy war auch ein Terminkalender und jeden Monat war am gleichen Tag immer nur ein Eintrag: Besuchstag Mum. Diese Einträge gingen zwei Jahre zurück und waren auch für die nächsten sechs Jahre eingetragen. Wenn Jesse doch 23 Jahre alt war, dann bedeutete das sicherlich nicht, dass er bei seinem Vater lebte und am Wochenende seine Mutter besuchen ging. Das erklärte allein die Tatsache, dass der Besuchstag immer auf einen Donnerstag fiel. Und außerdem war es immer nur ein Mal pro Monat in regelmäßigen Abständen. Ob seine Mutter der Grund war, wieso es ihm so schlecht ging? Das würde sie wahrscheinlich erst erfahren, wenn sie mit ihm redete und er ihr auch eine Antwort gab. Sie steckte das Handy zurück und sah sich sein Portemonnaie an. Bargeld hatte er nicht viel mit, wahrscheinlich hatte er alles für Schnaps ausgegeben. Außer einem Personalausweis (einen Führerschein hatte er nicht) fand sie seltsamerweise keine Kredit- oder Kontokarten. Ob er überhaupt welche besaß? Zusätzlich gab es noch ein Foto im Portemonnaie. Für Charity war das nichts Ungewöhnliches. Auch sie hatte ein altes Foto mit ihren Eltern und ein neueres von ihrer Großmutter immer bei sich. Das kleine Passbildchen zeigte einen kleinen brünetten Jungen, der sehr aufgeweckt und fröhlich aussah. Vermutlich Jesses Bruder. Aber von seinen Eltern gab es keine Fotos, aus welchem Grund auch immer.

Jetzt hatte sie aber wirklich genug herumgeschnüffelt! Charity steckte nun auch das Portemonnaie wieder zurück in die Manteltasche und legte sowohl diesen als auch die Schuhe beiseite. Vorsichtig legte sie ein Kissen unter Jesses Kopf und deckte ihn zu. Wie kam man an seinem 23. Geburtstag dazu, einfach so sterben zu wollen? Sie konnte es einfach nicht begreifen und allein die Erinnerung daran, wie verzweifelt Jesse gewesen war, als er am Boden gelegen und geweint hatte, schmerzte sie. Er tat ihr einfach nur Leid und sie wollte ihm gerne helfen. Dieser Handtaschenraub war sicherlich auch kein Scherz oder eine Mutprobe gewesen. Jesse hatte ihr bewusst die Handtasche weggenommen und sie ihr ebenso bewusst wieder zurückgegeben. Aber warum? Was waren seine Beweggründe gewesen? War es vielleicht eine Art stummer Hilfeschrei gewesen? Seltsamerweise war sie überhaupt nicht sauer auf ihn, weil er das getan hatte. Inzwischen glaubte sie auch nicht mehr daran, dass er sie überhaupt bestehlen wollte. Ein Gefühl in ihr sagte ihr, dass Jesse keine solchen Absichten gehegt, sondern ein bestimmtes Ziel verfolgt hatte. Und es hatte mit ihr zu tun. Sie musste nur noch den Grund herausfinden. Da sie momentan nichts anderes zu tun hatte, setzte sie sich in den bequemen Sessel und schaltete den Fernseher ein. Im Laufe des Abends passierte es dann aber, dass sie einfach einschlief und erst gegen zwei Uhr morgens wieder aufwachte. Müde rieb sie sich die Augen und sah sich um. Jesse lag immer noch auf der Couch und schlief tief und fest. Er machte auch nicht den Anschein, als würde sich an diesem Zustand etwas ändern. Im Dunkeln tastete sie nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Leise schlich sie aus dem Wohnzimmer und wollte schon in ihr Zimmer gehen, da hörte sie plötzlich eine Stimme. „Luca…“ Sie blieb stehen und drehte sich zu Jesse um. „Mum… es tut mir… Luca… Luca ist…“ Offenbar sprach er gerade im Schlaf und hatte wohl keinen sehr schönen Traum. Hoffentlich ging es ihm wenigstens nach dem Aufwachen etwas besser. Leise schloss Charity die Tür und ging in ihr Zimmer, um wenigstens noch ein paar Stunden zu schlafen.



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