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Im Auge des Sturms

Eine unerwartete Begegnung
von

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Im Auge des Sturms

Keuchend lehnte sich Haru gegen den Stamm einer krummen Sicheltanne. Sie konnte einfach nicht mehr weiter rennen. Eine gefühlte Ewigkeit war vergangen, seit sie die Talstraße und den schrecklichen Kampf hinter sich gelassen hatte. Das Blut rauschte in unerträglicher Lautstärke durch ihre Adern und ihr Herz hämmerte nicht mehr vor Schreck, sondern vor Anstrengung. Wimmernd glitt sie an der Rauen Rinde des Baumstamms hinab. Den Waldboden polsterten zarte Tannennadeln, die jedoch nicht über ihren von Kratzern gezeichneten Körper und die frische Luft hinwegtäuschen konnten. Im Gebirge zog der Frühling später ins Land als in der Stadt und den umliegenden Feldern. Haru versuchte etwas Staub und eingetrockneten Schlamm von ihren vormals fliederfarbenen Reisekleidern abzuklopfen. Vergeblich. Das Pochen der Kopfhaut, dort wo der Räuber versucht hatte sie aufs Pferd zu ziehen, war mörderisch. Sie zog sich die zerschrammten Geta von den Zehen. Ihre Füße brannten, als hätte sie das gesamte Kaiserreich an einem Tage ohne Pause durchquert. Zwar war der Schmerz des Ponytritts abgeklungen, doch mit ihren feinen Schuhen lief es sich im Gelände schlecht. Blasen waren der Lohn für unpassende Ausrüstung auf Wanderschaft. Hätte sie doch ihre Stiefel aus Ziegenleder getragen, dann würden ihr ein paar spitze Steine nichts ausmachen. So jedoch stolperte sie über jede Unebenheit. Zumal der Berghang, den sie in ihrer blinden Flucht hinaufgekraxelt war, stark bewaldet war.
 

Eigentlich sollte sie sich zum nächstgelegenen Dorf durchschlagen, das hatten ihr sowohl ihre Eltern, als auch Takeshi eingeschärft. Aber wie? In ihren Schuhen erschien ein Weiterlaufen unmöglich. Eine dumpfe Ahnung sagte ihr, dass sie sich auf dem falschen Weg befand. Bauerndörfer wurden selten auf einem Berggipfel inmitten undurchdringlicher Forste erbaut. Generell stieß man im Gebirge höchst selten auf eine Siedlung. Haru hatte in ihren jungen Jahren bereits weite Teile des Landes bereist und wusste um die Eigenheiten bestimmter Gegenden. So brauchte sie sich keiner Illusion hinzugeben: In der eingeschlagenen Richtung würde sie niemals Erfolg haben. Allerdings wagte sie auch nicht, zurück ins Tal zu ziehen. Was wenn die bösen Männer dort noch auf sie lauerten? Vielleicht hatten sie Harus arme Händlerfamilie tatsächlich ausgeraubt und sich ihrer auf blutige Weise entledigt? Oh, sie wagte kaum daran zu denken. Würde sie sie je wiedersehen? Sie hatten keine Gelegenheit gehabt, zu besprechen, wo sie sich bei einer Trennung wiedertreffen würden. Für gewöhnlich durchquerte der Händlerzug allerlei Dörfer, doch wer konnte sagen, ob sie den Überfall überlebt hatten? Falls Haru eine Siedlung fände, wie lange müsste sie auf ihre Eltern warten? Stunden, Tage, Jahre oder doch eine Ewigkeit? Das Mädchen schniefte. Wenn doch wenigstens Takeshi hier wäre. Er hatte sie aufopferungsvoll verteidigt und sie auch sonst so zuvorkommend behandelt, obwohl er kein Krieger war. Ach, sie wünschte es hätte mehr Samurai gegeben, die die kaiserliche Seide bewacht hätten. Dann hätte sich kein Bandit auch nur in ihre Nähe gewagt. Ob Mutter und Vater sie bereits vermissten? Konnten sie sich überhaupt noch Gedanken um ihre einzige Tochter machen oder weilten sie bereits im Totenreich? Was würde Haru jetzt um eine ihrer seltenen Umarmungen geben! Plötzlich rumorte ihr Magen. Oder um eine Tasse Tee mit Hirsebrei! Seit dem heutigen Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen… Bei den Göttern, sie würde in diesem winddurchfegten Wald keine Nacht überleben!
 

Schluchzend kauerte sie sich am Stamm der Tanne zusammen. Ihr gesamter Körper brannte, sie konnte keinen Schritt mehr tun. Wenn Erschöpfung oder Kälte nicht ausreichten, um sie zu töten, würden es die Wölfe und Bären tun. Außerdem gab es in entlegenen Winkeln der Berge gewalttätige Oni, die Kinderleiber mit einem einzigen Happs verschlingen konnten oder blutrünstige Yokai, die ihre Opfer in die Irre lockten, um sie einem qualvollen Tode zu zuführen. Wie schrecklich… Riesige Tränenbäche rannen ihre Wangen hinab. Hayate Haru, Tochter eines Seidenhändlers, einer wilden Räuberbande entkommen, nur um im tiefsten Wald von Bestien gerissen zu werden. Oh, ihr Götter, seht ihr mir zu? Könnt ihr mir nicht helfen? Ich werde euch beim nächsten Schreinbesuch ganz sicher besonders wertvolle Opfergaben darbringen!, flehte sie stumm und schlang die schlotternden Arme um ihre Knie. Ein Windstoß löste ihren ohnehin zerstörten Haarknoten. Ich muss selber aussehen wie eine Räubertochter… Bibbernd raffte sie ihre Gewänder zusammen. Sollten Bäume nicht vor Wind schützen? Andererseits konnte Wind wohl nicht so schädlich sein, schließlich hatte er ihr eben mehr oder weniger das Leben gerettet, indem er das Pferd des Räubers erschreckt hatte. Aber kalt fand sie ihn trotzdem. Ihre Zähne klapperten und wenn sie nicht um das Leben ihrer Familie fürchten musste, fürchtete sie nun um ihres. Ach ihr Götter, bitte gebt mir ein Zeichen was ich tun soll! Ich schaffe es nicht alleine und ich muss doch meine Eltern wiedersehen, damit ich eines Tages das Seidengeschäft weiterführen kann. Wer züchtet denn dann die niedlichen Seidenraupen und spinnt ihre kostbare Seide zu schimmerndem Garn? Wer webt aus den feinsten Fäden glänzende Stoffe für die kaiserlichen Roben? Ihr seid doch sonst so gütig zu uns. So habt doch auch nun Erbarmen mit mir…
 

Über ihrem verzweifelten Gebet musste sie eingedöst sein, denn aus heiterem Himmel herrschte ein seltsames Dämmerlicht im Wald. Als würde für sie der Morgen grauen, erklang das Geraschel der nachtaktiven Tiere, die sich darauf vorbereiten ihre Baue zu verlassen. Weinend beobachtete Haru einen vorbeihuschenden Fuchs, der einige Schwalben aufschreckte. Sein gelber Blick musterte sie wissend: Bald würde auch sie als Beute eines größeren Untiers enden.
 

Und dann war da ein neues Geräusch. Ein Wispern. Ganz leise. Als würde der Wind mit den Blättern und Nadeln der Bäume spielen. Aber es wehte kein Wind mehr. Das Wispern wurde zu einem unverständlichen Flüstern. Es klang menschlich und überirdisch zugleich. Etwas, das Haru nie zuvor vernommen hatte. Ästchen und Zweige knackten. Hauchfeine Schritte über dem Waldboden. Da kommt jemand! Ächzend versuchte sie sich zu erheben. Ihre steifgefrorenen Glieder versagten ihr den Dienst. Hinter einem Feuerdorn erschien ein roter Stofffetzen. Mit schreckgeweiteten Augen hielt das Mädchen die Luft an. Zu spät! Ihr Götter, lasst es nur keinen Räuber sein, dann bin ich endgültig verloren und Takeshi hat mich umsonst gerettet!

„Fürchte dich nicht…“ Die Flüsterstimme wehte nun hinter dem Busch hervor. Sie klang geisterhaft, nicht von dieser Welt. Bei den Göttern, ein Yokai kam, um sie zu holen!
 

Schicksalsergeben harrte Haru dem Kommenden. Lautlose Schritte tappten über den Waldboden. Das Mädchen hielt die Luft an und barg den Kopf in den Händen. Nur um mit einem Mal verwundert auf den Neuankömmling zu starren. Ein Mann trat endlich aus seinem Versteck hervor. Schlanker und graziler, als sie je einen gesehen hatte, mit langem schwarzen Haar, im Nacken zu einem dicken Zopf zusammengeflochten. Zwei spitze Ohren lugten hinter feinen Strähnen hervor und das Auge, welches nicht von Haar verdeckt war, schimmerte in einem blutigen Rot. Es harmonierte auf beängstigende Weise mit dem Gewand unter der schwarzen Rüstung, die er trug. Goldbeschläge funkelten im Dämmerlicht. Haru bemerkte ein langes Schwert an einem Gurt um seine Hüfte. Ein Krieger? Vielleicht aus einer Adelsfamilie? Die schlichten, aber wertvollen Materialien seiner Ausrüstung standen in seltsamem Gegensatz zu der zierlichen Gestalt. Sicherlich trug er feinste Seidenroben unter dem rohen Körperschutz, sie musste es schließlich erkennen, schließlich würde sie einst das Geschäft ihrer Eltern übernehmen. Aber was tat ein Adeliger in edlen Gewändern, vollkommen unbehelligt von Dreck und Kälte im Bergwald? Oh, bei den Göttern, hatte sie es mit einem Yuurei zu tun? Der Seele eines in jungen Jahren grausam gemeuchelten Samurai, der nun Vergeltung für sein schreckliches Schicksal suchte?
 

Zitternd duckte sie sich in den Schatten des Baumes, der ihr freilich nicht erlaubte, sich vor dem Blick des Fremden zu verstecken.

Feine Brauen hoben sich mitleidig bei dem Anblick des frierenden Mädchens. „Hab keine Angst…“ Der Satz begann wieder mit diesem geisterhaften Hauchen, endete jedoch erstaunlich laut und fest.

Haru runzelte die Stirn. Wie seltsam. Vielleicht können auch Geister heiser werden. Sicherlich verirren sich niemals Menschen außer mir hierher. Er muss lange kein Wort mehr gesprochen haben. Vielleicht ist er einfach einsam und sehnt sich nach Gesellschaft? Sie fasste sich ein Herz und stammelte: „W-Wer seid Ihr?“

Der junge Mann lächelte sanft. Vertrauenerweckend, doch der Schock des Überfalls hatte Haru misstrauisch und vorsichtig werden lassen. Von ein paar freundlichen Worten würde sie sich nicht einlullen lassen. „Nur ein namenloser Eremit, der sich vor langer Zeit auf den Gipfel dieses Berges zurückgezogen hat, um inneren Frieden zu erlangen. Ich habe dich gesehen. Unten im Tal, auf der anderen Seite des ehemaligen Dorfes.“

Dorf? Es gibt ein Dorf? Dort muss ich hin!, durchfuhr es Haru. Zugleich gruselte sie die Enthüllung, dass er sie beobachtet hatte. Wohlmöglich hegte er die gleichen Ziele wie die bösartige Räuberbande. Außerdem wagte sie nicht, den Fremden mit ihren Befürchtungen und Wünschen zu bedrängen.

Doch dieser schien ihr die drängende Frage von den Lippen abzulesen. „Es gab ein Dorf, vor langer Zeit“, erklärte er und sein Auge schimmerte… gütig… oder war diese Emotion… Trauer?

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Dieser Fremde verunsicherte sie. Wie sollte sie sich ihm gegenüber verhalten? Und weshalb erzählte er von einem ehemaligen Dorf? Konnte sie dort, im Schutze der Ruinen vielleicht die Nacht verbringen? „Verzeiht, Herr, ich verstehe nicht, was-“ Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund. „Oh vergebt mir, ich habe völlig vergessen, mich vorzustellen…“ Wie hatte sie nur versäumen können, ihre guten Manieren zu gebrauchen? Es gab durchaus Situationen in denen Gedankenlosigkeit für einen einfachen Menschen den Tod bedeuten konnte.
 

„Es gibt nichts zu verzeihen, Haru.“ Erstaunt blinzelte das Mädchen. Woher kannte er ihren Namen? Wie lange war er dem Händlerzug bereits gefolgt? Arbeitete er am Ende gar tatsächlich mit den Räubern zusammen?! Würde er sie direkt in ihr Lager bringen? Nervös rutschte sie am Boden herum. Ob sie einen Fluchtversuch wagen konnte? Mit ihren zerschrammten Füßen? Unmöglich.

„Sorge dich nicht, ich will dir nichts Böses. Ich habe dich gesehen… Deine Familie, sie wurde von Räubern überfallen, doch du konntest entkommen. Es ist solch ein Trauerspiel: Sie haben die Herrschaft über den Berg an sich gerissen und stören den Frieden, indem sie jeden Reisenden ausrauben. Es ist eine Qual, mit anzusehen, wie dieser Ort nach und nach verfällt. Aber für Geschichten bleibt später Zeit.“

Nervös knetete sie ihre frierenden Finger. Obwohl sie noch kein hohes Alter erreicht hatte, wusste sie genau, dass es Menschen gab, deren Lügen glaubhafter erschienen als die Wahrheit. „Hast du auch gesehen, ob sie davon gekommen sind?“

Der Mann wiegte nachdenklich den Kopf. „Sicher bin ich mir nicht. Ich bin erschöpft von einer langen Reise und dir ist kalt. Begleite mich doch in mein zu Hause und verbringe eine Nacht in Sicherheit.“

Enttäuscht unterdrückte Haru erneute Tränen. Immer noch Ungewissheit. Mutter und Vater haben mich stets davor gewarnt, mit Fremden zu gehen. Besonders Männer wollen Kindern oft nichts Gutes. Aber wohin soll ich sonst gehen?
 

Die Miene des Fremden wirkte mit einem Mal traurig, als hätte er Harus Gedanken gelesen. „Du darfst mir vertrauen. Ich habe wahrlich nichts Böses im Sinn. Mein einziger Wunsch ist zu helfen, wo ich noch kann.“

Das klingt zu gut um wahr zu sein. Prüfend blickte das Mädchen in das makellose Gesicht auf. Er war der schönste Mensch den sie außerhalb von kunstvollen Tuschezeichnungen je erblickt hatte und löste eine seltsame Bewunderung in ihr aus, wie für ein besonders prachtvolles Haustier. Eine ungreifbare Kraft drängte sie dazu, ihm nachzugeben. „In Ordnung“, murmelte sie und erhob sich steifbeinig aus der Hocke. Dennoch mahnte ihr Körper sie, nicht aufzugeben. Am Leben zu bleiben, wachsam zu sein.

„Du kannst kaum laufen“, bemerkte er besorgt.

„Es geht schon…“ Das Mädchen versuchte sich an einem brüchigen Lächeln und wimmerte auf.

„Deine Füße bluten. Ich kann dich tragen.“

Eigentlich wagte Haru nicht, dieses Angebot anzunehmen. Der Fremde wirkte selbst so klein und zerbrechlich, als könnte ihn die nächste Windböe davonwehen.

„Es macht mir nichts aus“, beharrte er und so kletterte sie fröstelnd auf seinen Rücken. Die Platten der Rüstung waren stahlhart unter ihren Fingern, doch darunter fühlte er sich an, als bestünde er aus Luft.

Als wäre er nicht von dieser Welt.

„Sorge dich nicht um mich. Solange du mich siehst, ist alles gut.“

Beunruhigt ob dieser Aussage klammerte sie sich an die dürren Schultern. Fortwährend in der Angst, sie könnten sich unter ihren kleinen Händen auflösen.
 

Sie erklommen den Berggipfel in einer erstaunlichen Geschwindigkeit. Haru verfiel mehrere Male in einen unruhigen Schlaf, doch als sie an einer schuttbedeckten Lichtung anhielten und der Namenlose sie sanft auf ein weiches Moospolster sinken ließ, fühlte sie sich beinahe wie neugeboren. Wie durch ein Wunder herrschte völlige Windstille an diesem merkwürdigen Ort. Verwunschene Bäume neigten sich über die Lichtung. Trauerweiden, Birken, blühende Kirschbäume, Sicheltannen. Brombeerzweige trugen bereits im Frühjahr ihre Früchte. Der junge Mann nahm neben ihr Platz und schloss für einen Moment die Augen. Er wirkte tatsächlich sehr müde, doch als er Harus Besorgnis wahrnahm schenkte er ihr ein aufrichtiges Lächeln. „Du musst hungrig sein. Koste nur die Früchte des Waldes, dafür wurden sie geschaffen.“

Zögerlich steckte sich das Mädchen einige Brombeeren in den Mund. Obwohl es lediglich eine Handvoll Beeren war, fühlte sie sich nach den süßen Köstlichkeiten überraschend gesättigt. „Weshalb isst du nichts?“, fragte sie.

Der Fremde antwortete nicht, sondern blickte versonnen auf die Lichtung hinaus. Erst nach einer Weile des Schweigens erhob er wieder die Stimme: „Siehst du die verfallene Säule dort im Wald?“

Haru leckte sich den Beerensaft von den Fingern und folgte seinem Blick. Am Rande der Lichtung befand sich ein größerer Trümmerhaufen, aus dem eine vereinzelte Säule empor ragte, wie der letzte Krieger nach einer verheerenden Schlacht.
 

„Möchtest du eine Geschichte hören?“

Sie nickte. Ihre Eltern hatten kaum Zeit, ihr Geschichten zu erzählen und hielten ihr stets vor, dafür zu alt zu sein. Dabei gab es für sie wenig spannendere Dinge.

Ihre neue Bekanntschaft schien um ihre Neugierde zu wissen, denn er begann langsam, beinahe ein wenig geheimnisvoll mit seiner Erzählung:

„Einst stand an dieser Stelle ein Schrein. Er war dem Windgott geweiht und unvorstellbar prächtig. Herrlich anzusehen. Die Menschen trugen täglich Opfergaben herbei, um ihren Gott gutmütig zu stimmen und kümmerten sich um seine Bleibe, sodass sie strahlte wie eine herrschaftliche Burg. Eines Tages kam ein Sturm über den Berg und wütete tagelang ohne Ende. Sintflutartiger Regen fiel und überflutete das Dorf am Fuße des Berghangs, von dem ich dir erzählt habe. Die Dorfbewohner kamen zum Schrein, beteten um Schutz. Leider beherrschte der Windgott lediglich den Wind und nicht den Regen. Er war nicht in der Lage, die Flut aufzuhalten. Allerdings gelang es ihm, das Wasser umzuleiten und das Dorf auf diese Weise zu retten. Dafür bezahlte er mit dem Licht seines rechten Auges. Doch was wog ein einziges Auge schon gegen die Bewahrung zahlreicher Leben?
 

Nach diesem Unheil und seiner Abwendung vergaßen die Leute den Windgott allmählich. Das Dorf alterte und das Leben wurde beschwerlicher. Da ihnen der Boden der umliegenden Äcker zu unfruchtbar war, verließen die Menschen das Dorf und von da an lag auch der Schrein verlassen dar.“
 

Haru seufzte. Solche Geschichten betrübten sie immer. Am liebsten mochte sie Sagen über tapfere Helden und schöne Prinzessinnen, die vom Kaiser zu seiner Gattin auserwählt wurden. Über Bauerndörfer gab es selten ruhmreiches zu berichten. Dennoch, der Fremde erzählte gut, mit einer Stimme, die sie an fahrende Geschichtenerzähler erinnerte, die von ihren scheidenden Vätern grade erst in ihr Erbe eingeführt wurden. „Wie traurig. Der arme Windgott… und die armen Leute. Ohne Schutzgottheit müssen sie ein karges Leben gefristet haben“, murmelte sie und betrachtete die verwitterte Säule. Es musste schrecklich sein, vergessen zu werden.
 

Ihr Retter wiegte leicht den Kopf. „Nun, ganz so verheerend sollte ihr Vergessen nicht enden, denn der Windgott vergaß seine Anhänger nicht. Er verbrachte jeden Tag neben dem Pfad, der zum Schrein führte, um auf ihre Rückkehr zu warten. Aber sie kamen nicht, nicht ein einziger. Tag um Tag, Jahr um Jahr wartete er, bis der Pfad von demselben Moos, auf dem du heute sitzt, überwuchert war und der Schrein zu Staub und Geröll zerfiel. Nun ist die bröckelnde Säule alles, was an den einst herrlichen Schrein erinnert. Der Windgott war alleine, verlassen und vergessen. Ohne Anhänger verlor er seinen Status als Gott und hätte einfach verschwinden müssen…“

„Oh nein! Aber, wenn du meinst er hätte verschwinden müssen… Sag, gibt es ihn noch? Den Windgott?“
 

Als Haru in ihrer Aufregung sogar die respektvolle Anrede vergaß konnte der Fremde nichts anders, als zu schmunzeln. Nachsichtig tätschelte er ihren Handrücken. „Die Geschichte ist noch nicht beendet. Warte nur ab. Trotz seiner schwindenden Kraft entschied der Windgott sich dafür, ein Geist zu werden. Als Geist oder Yokai war er nicht mehr dazu fähig seinen Leuten zu helfen, wie er es als Gott getan hätte. Aber sein Wunsch war es, alles in seiner Macht stehende tun zu können, um jeden zu beschützen. Auch heute, wo er kaum mehr als ein Echo eines Windhauchs ist, wacht er über sein Land und bemüht sich Unschuldige vor Unheil zu bewahren. Das ist das Ende meiner Geschichte. Ich mag Jahrhunderte alt sein, aber wie du siehst ist meine Erzählung sehr kurz“, schloss er, die Lider gesenkt, als wäre er in alten Erinnerungen versunken.

Moment mal… Haru neigte den Kopf, musterte den Fremden und die Erkenntnis flammte in ihrem Geist auf wie ein Blitzschlag. Unter dem Haar, welches ihm auf der rechten Seite ins Gesicht fiel, befand sich kein Auge mehr. Natürlich nicht. Nur eine leere Höhle. „D-Du warst das! Du bist der Windgott des verfallenen Schreins! Du hast den Wind geschickt! Du hast meine Gebete erhört! Du hast mich beschützt!“

Der Namenlose nickte langsam.

Haru spürte, wie ihr die Schamesröte in die Wangen stieg. Solch ein hohes Geschöpf gab sich mit einer unwichtigen Händlertochter ab, ließ sich auf die Ebene eines Menschen herab und rettete ihr Leben, einfach so, ohne Grund. „Oh, bei den Göttern, weshalb fällt mir das erst jetzt auf? Wie großzügig und hilfsbereit du bist. Ich… ich danke dir…“

Ihr Gegenüber winkte ab. „Ja, es ist wahr. Ich habe dem armen Pferd einen Schrecken eingejagt, um dich vor den Räubern zu bewahren. Aber danke mir nicht. Ich konnte nicht anders. Schließlich ist der Schutz der Menschen mein innigster Wunsch.“

„Warum? Du solltest den Menschen böse sein, weil sie dich vergessen haben. Weshalb bist du nicht zu einem niederträchtigen Rachegeist geworden?“ Ein kalter Schauer überlief ihren Rücken. „Oder… hast du mir diese Geschichte nur erzählt um mich einzulullen und wirst mich nun verschlingen?“

„Aber nein, Haru. Nie würde ich dir Schaden zufügen. Ich sehnte mich nach ein wenig Gesellschaft, deshalb habe ich dich hierhergebracht. Zugegeben, ohne diese zufälligen Begegnungen ab und an, würde ich wohl tatsächlich vergehen.“
 

Mitleidig betrachtete Haru den Windgott. Welch trauriges Schicksal. Nur zu geben und nie etwas zurückbekommen, sondern verstoßen zu werden, weil die Menschen wichtigeres im Sinne hatten, als ihrem Beschützer ein klein wenig Aufmerksamkeit zu schenken.

„Ich werde dich nie vergessen“, murmelte sie.

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht“, entgegnete er gelassen. Nach einer Weile des Schweigens fügte er hinzu: „Haru, ich muss gestehen, dass ich mein Erscheinungsbild ein wenig verändert habe, um dich aufzusuchen. Langsam verlässt mich die Kraft, diese Illusion aufrecht zu erhalten. Gestattest du mir, das Trugbild aufzulösen?“

Überrascht bejahte Haru die beinahe unterwürfige Frage. Sie hatte nicht damit gerechnet in den Bergen auf solch freundliche Gesellschaft zu stoßen. Zudem verspürte sie drängende Neugierde die wahre Gestalt ihres großherzigen Retters kennen zu lernen. Möglicherweise war sein gewöhnlicher Anblick kaum zu ertragen und er hatte sie bei ihrer Begegnung nicht verschrecken wollen. Oder er verwandelt sich doch noch in eine Bestie und zerfleischt mich. Aber nein, er wirkt so freundlich. Hätte er mir böses gewollt, er hätte es längst tun können. Außerdem ist er einsam und traurig, da wäre es dumm seine einzige Gesellschaft zu verschlingen…
 

Während sie mit sich selbst haderte, begann die Luft um den Windgeist herum zu flimmern und zu wirbeln. Ein leises Rauschen wie von einem entfernten Wirbelsturm erklang und schon saß sie vor einem völlig anderen Wesen. Nun gut, nicht gänzlich anders, wenn man genau hinschaute, konnte man mit einiger Mühe dieselben gutmütigen Gesichtszüge ausmachen, doch die Veränderung taugte unzweifelhaft dazu, Uneingeweihte zu täuschen. Das lange, schwarze Haar war weiß geworden, lediglich an den Enden erinnerten dunkelblaue Spitzen an die frühere Erscheinung, als wäre der Geist von einem auf den anderen Moment um Jahrzehnte gealtert. Seine kränklich blasse Haut tat ihr Übriges. Fahlbraune Gewänder, fremdartiger Schmuck und ein zerschlissener Umhang, dessen Fell früher wunderbar weich gewesen sein musste, verrieten, dass er bereits seit langer Zeit alleine an diesem Ort leben musste. Zwei gegabelte Hörner wanden sich aus seiner Kopfhaut hervor und verliehen ihm das Aussehen eines Dämons. Nun verstand Haru, weshalb sich der Windgott seiner Tarnung bedient hatte: Auch sein verbliebenes, nun stechend gelbes Auge besaß nichts Menschliches mehr, der schwarze Hintergrund erinnerte an ein Höllentor. Das Mädchen schluckte schwer, als ihr Blick auf die schwarzen Klauen fiel, in welchen die vormals schlanken Finger und Zehen endeten. „Hab keine Angst“, bat der Namenlose und lächelte schwach.

„Keine Sorge, solange du mir nicht nach dem Leben trachtest laufe ich nicht weg“, versprach Haru tapfer. Dann musterte sie ihn abermals. „Bist du krank? Noch nie habe ich ein derart fahlhäutiges Geschöpf gesehen, ob Geist oder nicht.“

Er schüttelte langsam den Kopf. „Ich war schon immer eine schwache Gottheit und als Geist oder Yokai gewinnt man nicht an Kraft hinzu. Wenn man von seinen Anhängern vergessen wird, droht man zu vergehen. Lediglich einige seltene Begegnungen mit Menschen erhalten meine Existenz.“

„Das muss ein beschwerliches Leben sein.“

„Nicht so beschwerlich, wie man meinen würde. Glücklicherweise bin ich nicht alleine. Andernfalls wäre ich niemals ein verehrenswerter Gott geworden.“

Interessiert horchte Haru auf. „Du hast Gesellschaft, obwohl du sagtest, die Menschheit hätte dich vor langer Zeit vergessen?“

„In der Tat. Er ist ein wenig eigen, was Fremde betrifft, aber ich bin sicher, dass er mit dir auskommen wird.“
 

Als hätte das mysteriöse Wesen gehört, dass man über es sprach, raschelte es plötzlich im Unterholz. Ein spitzer, keilförmiger Kopf schob sich aus dem Brombeergebüsch hinaus, woraufhin ein rotbrauner Schlangenleib folgte. Haru erstarrte vor Ehrfurcht. Ein Drache starrte sie aus seinen lodernden Augen an. Anstatt Beinen besaß er flossenähnliche Fortsätze, die ihm wohl ermöglichten, in der Luft zu schweben. Aus seiner Kehle stieg ein skeptisches Grollen auf, als überlegte er, ob er das kleine Etwas, welches in sein Revier eingedrungen war, fressen sollte.

Aber der Windgeist hinderte ihn daran: „Bitte lass unseren Gast in Frieden. Sie ist sehr jung und keine Bedrohung, vielmehr benötigt sie unsere Unterstützung.“

Der Drache schnaubte und zischte feindselig, ehe er seinen grazilen Körper um die Schultern seines Gefährten wickelte.
 

Schüchtern beäugte Haru die schillernde Kreatur.

„Fürchte dich nicht. Sein Name lautet Ren und er ist nicht immer so schweigsam. Wie für einen Winddrachen typisch spricht er recht gerne mit mir, bloß in Gesellschaft wird er wortkarg“, erklärte der Geist.

Ren fauchte. Offenbar gefiel es ihm nicht, dass jemand in seiner Anwesenheit über ihn sprach.
 

Haru kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Da machte sie an einem Tag Bekanntschaft mit einem Windgott und seinem Drachen. Sagenumwobene Geschöpfe, die für ihr ungestümes Temperament und ihre Klugheit bekannt waren und sowohl grausam als auch gutmütig sein konnten.

„Weißt du, obwohl ich zuvor etwas anderes behauptete, trage auch ich einen Namen. Als ich Ren kennenlernte war er ein unbändiger Jungdrache, der in einen ewigen Kampf mit einer Donnerbestie verstrickt war. Ihr Kampf fand hier, an der Spitze des Berges, statt und fügte den Dorfbewohnern im Tal großen Schaden zu. Sie ängstigten sich vor den Blitzen und Wirbelstürmen mit denen die göttlichen Bestien sich bekriegten.“

Da hob der Drache die Schnauze und sprach: „Die Menschen sind aber auch kleinlich. Na, jedenfalls kamst dann du von fern her und wolltest, dass wir unser Kräftemessen beenden. Dein Mitleid mit diesen undankbaren Dorfbewohnern habe ich bis heute noch nicht verstanden. Damit hast du mich so sehr abgelenkt, dass mein Gegner einen tödlichen Treffer gelandet hätte, wenn du mich nicht beschützt und in deiner Unfähigkeit sogleich einen Pakt mit mir geschmiedet hast. Das war eine sehr hinterhältige Tat!“

„Es tut mir immer noch unsäglich Leid, mein Freund“, entschuldigte sich der Geist und streichelte die zottelige Drachenmähne.

Haru konnte die Augen nicht mehr von diesem bezaubernden Geschöpf abwenden. Nie hätte sie gehofft, die Stimme eines Drachen zu vernehmen. Wie elegant er sich wand und mit seinen Brennhaaren in der Luft herum wedelte, erfüllte ihr Herz mit Freude.

„Ja, ja, ist schon gut“, brummte der Drache besänftigt und gab wohlige Laute von sich.

„Seitdem ist Ren immer an meiner Seite gewesen und leiht mir seine Kraft, falls ich sie benötige. Wir unterstützen uns gegenseitig, sind füreinander da. Außerdem teilte er damals seinen Namen mit mir, damit ich nicht als namenloser Gott in unseren ehemaligen Schrein einziehen musste. Seitdem darf ich mich Ichimokuren nennen, aber diesen Namen kennt niemand mehr.“
 

Irritiert zwang sich das Mädchen ihren Blick von Ren loszueisen.

„Ichimokuren? Weil du dein Auge verloren hast?“

„So ist es.“

„Welch schrecklicher Name!“

„Er war besser als kein Name“, widersprach er sanft. „Vielleicht verstehst du einige Dinge noch nicht, schließlich bist du noch sehr jung. Aber ein Wesen ohne Namen besitzt keine Kraft. Niemand kann es ansprechen, niemand wird sich länger als ein paar Tage an es erinnern, wenn er es nicht benennen kann.“

„Ich hätte mich auch an dich erinnert, wenn ich deinen Namen nicht gewusst hätte!“, begehrte Haru sofort auf. Es empörte sie, dass der gefallene Windgott davon ausging, ihre Begegnung sei kein besonderes Ereignis für sie. Dabei würde sich doch jeder Mensch eine solche Bekanntschaft wünschen. Wie konnte man dieses herzensgute Wesen mit dem prächtigen Drachen aus seiner Erinnerung verbannen?

Ichimokuren musterte sie aus seinem matt glühenden Auge. „Wenn es so wäre würde es mich ehren. Doch etwas an mir scheint in den Köpfen der Menschen noch schneller zu vergehen als meine tatsächliche Existenz. Wie dem auch sei, Haru. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du zu deiner Familie zurückkehrst. Wir haben uns an diesem Tage gegenseitig Hilfe geleistet. Ruhe dich diese Nacht unter meinem Schutz aus, morgen werden Ren und ich dich den Berg hinab geleiten. Sei unbesorgt: Der Wind gehorcht meinem Willen. Er rastet und wird mein Schild, er weht und wird meine Klinge. Solange ich hier bin, gibt es nichts, wovor du dich fürchten musst. Bald schon wirst du wieder mit den Deinen vereint sein.“
 

Und so rollte Haru sich auf dem weichen Moos zusammen, umgeben von behütender Wärme. Ihre Lider wurden schwer, die Schmerzen ihrer wunden Glieder verblassten zu einem leisen Pochen. Der Drache und sein Meister wachten über sie. Es war der erholsamste Schlaf den sie auf Reisen je gehabt hatte. In ihren Träumen zogen Drachen über den Himmel. Auf Windzungen reitend flogen sie umher. Wild, ungestüm, frei. Sie spielten und tanzten in den Wolken und ihr Gebrüll schallte weit über die Berge hinaus. Es hallte so laut von den Felswänden wieder, dass die Mitglieder des kleinen Händlerzuges im Tal erstaunt ihre Gesichter gen Osten reckten. Sie alle wirkten zerrupft und erschöpft, doch insgesamt lebendig und wohlauf. Und das war das Wichtigste.



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