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Mein ist die Rache

von

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Genüsslich lutschte Porthos an einem Knochen. An ihm klebten noch einige Fetzen einer Ente, die gut und gerne gereicht hätte, zwei erwachsene Männer über alle Maßen zu sättigen. Porthos jedoch hatte es vorgezogen, sich alleine den Bauch vollzuschlagen. Während dieses Verhalten bei seinen Freunden nur noch müdes Kopfschütteln verursachte, war Charles zutiefst beeindruckt angesichts der schieren Völlerei, die sich vor seinen Augen abspielte. Er war nahe daran, sich zu bekreuzigen. Noch nie hatte er einen einzelnen Menschen solche Mengen verschlingen gesehen, ohne dass dieser sich zwischendurch Platz durch ein herzhaftes Erbrechen geschafft hätte. Sie hatten in einem niedrigen, rauchigen Wirtshaus Platz gefunden, das gerade einmal Raum für ein Dutzend Männer, einen runden Wirt und ein schmächtiges Schankmädchen bot. Porthos hatte schmatzend von seinem Besuch bei der Wirtsfamilie Evrard berichtet und ihren Sohn Henry bemitleidet, der scheinbar immer noch vollkommen dem Alkohol verfallen war, um seine Trauer zu ertränken. "Der arme Junge braucht ein liebes Mädchen, dass sich um ihn kümmert. Aber seine Eltern haben bestätigt, dass er an dem Abend, als Renée Caspar ermordet wurde, völlig betrunken auf dem Dachboden umhergetaumelt ist." Als er die fragenden Gesichter seiner Freunde bemerkte, fügte er hinzu: "Sie hatten ihn dort eingeschlossen, damit er nicht ihre gesamten Vorräte vernichtet und sich selbst tot säuft."

"Das klingt ja fürchterlich!" Charles schauderte. "Der arme Mann braucht wirklich ein wenig Zuwendung wie mir scheint."

"Der arme Mann braucht eine Familie, die ihn nicht behandeln wie ein Tier. Zu einer Hure gehen zu müssen, damit einem jemand in seinem Schmerz zuhört, während die Eltern nur ums liebe Geschäft besorgt sind erscheint mir die eigentliche Tragödie zu sein." Athos drehte grimmig seinen Becher zwischen den Fingern. "Aber so wissen wir wenigstens, dass wir Evrard von unserer Liste nehmen können. Gleiches gilt übrigens auch für unseren Vidal. Ich bin gestern abend die Dienstpläne der letzten Wochen durchgegangen; bis auf einen Abend war Vidal in jeder Tatnacht entweder im Louvre oder an einem der Tore postiert. Dir bleibt also ein unangenehmes Gespräch erspart." Aamis neben ihm schnaufte erleichtert.

"Bleiben also noch Renard und Bonnefoix. Und möglicherweise Martel. Das wird sich gleich zeigen." Porthos sprang von seinem Hocker auf, stopfte sich noch schnell das letzte Stück Brot zwischen die Zähne und marschierte los.
 

Für gewöhnlich fuhr Monsieur Martels Kundschaft mit einer mehr oder minder prunkvollen Kutsche vor oder ließ zumindest durch einen beflissenen Diener erkennen, dass sie über das nötige Vermögen verfügte, um seine Aufmerksamkeit zu verdienen. Entsprechend verwirrt war er, als sich nacheinander 5 Männer in seinem Verkaufsraum versammelten und den eigentlich recht großzügig bemessenen Raum dunkel und beengt wirken ließen. Er kannte ihre Gesichter und wußte, dass sie nicht gekommen waren, um Geschäfte mit ihm zu machen. Seine Hände begannen zu zittern während sie versuchten, ruhig und souverän ein perlen- und kristallbehangenes Collier um den Hals einer zahlungskräftigen, aber leicht zu verstimmenden Kundin zu legen. Nur mit Mühe gelang es ihm, das Schmuckstück im Nacken zu schließen. Immer wieder sah er nervös zu den ungebetenen Besuchern auf, griff dann nach dem venezianischen Spiegel und legte ihn in die bereits ungeduldig zuckende Hand der älteren Frau. Ihre fleischigen Finger machten deutlich, dass sie in diesem Leben noch keinen schweren Griff selbst gemacht hatten. Ein Saphirring schnitt sich in das Fleisch. Er mochte ihr Ehering sein, der einmal gepasst hatte und jetzt bis zu ihrem Tod nicht mehr zu entfernen war. Um einen besseren Eindruck zu bekommen, erhob sie sich und ging, etwas plump, zu einem Fenster am anderen Ende des Raumes. Wortlos betrachtete sie das Schmuckstück um ihren Hals im Spiegel. Eine einzelne Perle, verbunden mit einem eckig geschliffenen klaren Kristall, drohte zwischen ihren Brüsten zu verschwinden, sichtlich zum Gefallen der Trägerin.

"Ein sehr schönes Stück, Meister Martel. Morgen werde ich jemanden zu Ihnen schicken, um es abzuholen. Und die Steine kommen wirklich aus den fernen holländischen Gebieten? Oder sagt Ihr das nur, um einen höheren Preis zu bekommen?"

"Aber nein, Madame, ich versichere euch, sie wurden per Schiff viele Wochen bis nach Paris gebracht. Ich gebe euch mein Wort als ehrbarer Handwerker." Monsieur Martel war ein unverschämter Lügner, wenn er Hoffnung hatte, dass seine Kunden darauf herein fallen würden. Im Falle der betuchten Madame hatte er keine Bedenken. Sie wollte seine Geschichte glauben, um ihrerseits mit den Steinen prahlen zu können. Viel Geld, wenig Verstand, das waren seine liebsten Kunden. Dass Madame von dem unpassenden Besuch völlig unbeeindruckt geblieben war beruhigte ihn. Wenn er nur sein Geschäft zu einem erfolgreichen Abschluss bringen konnte, durften seinetwegen 20 Soldaten in diesem Raum stehen und ungeduldig die Augen verdrehen.

"Nun gut, nehmen Sie es mir wieder ab. Ich schicke Ihnen also morgen jemanden mit dem verabredeten Betrag und sie verpacken es hübsch mit allem drum und dran und geben es demjenigen mit. Wie gehabt."

"Wie immer, Madame." Er machte einen erfüchtigen Knicks, nahm ihr das Schmuckstück ab und legte es sorgsam in eine verschließbare Kiste. Seine Kundin schickte sich an zu gehen, sah den geraden Weg zur Tür jedoch verstellt.

"Monsieur, Ihr steht im Weg." Sie starrte Porthos empört an.

"Verzeiht, edle Dame! Ich fürchte, Ihr werdet um mich herumschweben müssen." Belustigt betrachtete er ihr empört zitterndes Kinn. Tatsächlich wäre sie ohne Schwierigkeiten zur Tür gelangt, wenn sie einen kaum nennenswerten Bogen um den Musketier gelaufen wäre. Dafür fehlte ihr jedoch jedes Verständnis.

"Porthos!" Der Befehlston wischte ihm das Grinsen aus dem Gesicht. Ein kaum verständliches "Alter Spielverderber!" entwich dem Hünen. Betont langsam und in betont kleinen Schritten wich er zur Seite, ihr herablassendes Schnauben aus emporgereckter Nase quittierte er mit einem vernehmlichen "Krämersweib", das er mit seinem charmantesten Lächeln servierte.

"Mein Gatte ist Beamter!" Ihre Stimme überschlug sich vor Empörung.

"Und zwar ein ganz besonders toller!" Er lächelte immer noch. 'Dein Mann bezahlt dir die teuren Steinchen doch nur, damit er guten Gewissen zu den Paradiesmädchen laufen kann, wann immer du ihn nervst. Und das scheint verdammmt oft der Fall zu sein, so oft wie ich ihn dort antreffe. Aber davon weißt du natürlich nichts, nicht wahr? Und solange er dich aushält, siehst und riechst du auch nichts verdächtiges. Dein Mann ist schließlich Beamter.' Zum Abschluss huschte noch ein "Du fettes Suppenhühnchen!" durch seine Gedanken, dann richtete er seinen Blick an die Decke, das zuvorkommende Lächeln noch immer auf den Lippen. Im Schatten der Tür tauchte jetzt ein hagere Gestalt auf, die der üppigen Madame einen Mantel umlegte und sie nach draussen geleitete.

"Mein Gatte wird sich über euch beschweren, Musketier! Beim König!" Sprach es und verschwand, das Haupt erhoben wie eine Königin.

"Sicherlich. Wenn er es irgendwann einmal in Rufweite des Königs schaffen sollte, bitteschön." Porthos´ Bauch bebte vor unterdrücktem Gelächter.

"Monsieur, ich verbiete mir diesen Ton gegenüber meinen Kundinnen!" Meister Martel versuchte, empört zu klingen. Seine Stimme war laut genug, dass Madame auf der Straße noch das Gefühl vermittelt wurde, der unverschämte Musketier Porthos würde zumindest an dieser Stelle getadelt werden. Leider konnte sie das strahlende Gesicht Monsieur Martels dabei nicht sehen. Zufrieden maschierte sie davon, den stummen Diener im Schlepptau.

"Meine Herren, womit kann ich euch behilflich sein?" Nichts war mehr übrig von der Nervosität vergangener Minuten. Er verschloss das Kästchen mit dem Halsschmuck, dessen tatsächlicher Wert wahrscheinlich nur die Hälfte von dem betrug, was er der Beamtengattin berechnete, und schob es in ein kleines, ebenfalls verschließbares Fach in seiner Ausstellungsvitrine.

Keiner der Musketiere machte Anstalten, auf die Frage des Schmuckmachers einzugehen. Man sah abwechselnd einander und schließlich Athos an, der allerdings abwinkte und statt dessen D´Artagnan mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass er den Anfang machen sollte. Überrascht angesichts dieses untypischen Verhaltens stammelte er zunächst einige unzusammenhängende Worte, um einen guten Anfang zu finden, entschied sich aber endlich für den direkten Weg: "Letzte Nacht wurde eine junge Frau hier in der Gegend offenbar überfallen und schwer verletzt. Sie konnte sich bis zu dem Haus des Baders Baudin retten, verstarb dort aber am frühen Morgen. Wir haben Grund zu der Annahme, dass es zwischen ihr und Euch eine Verbindung irgendeiner Art gibt." Monsieur Martel hatte aufmerksam zugehört, auf seinem weißer werdenden Gesicht eine Mischung aus Bestürzung und Verwirrung.

"Was für eine Verbindung?" Nervös tastete er nach einem Hocker hinter sich und ließ sich fallen, als er ihn endlich zu fassen bekam.

"Das wissen wir leider nicht. Der Bader sagte, sie hätte entweder Marcel oder Martel gemurmelt, bevor sie starb. Auf Grund der Nähe der Badestube zu eurem Haus erschien es uns angebracht, euch um Hilfe zu bitten."

"Vielleicht war sie eine Kundin von mir? War sie reich?"

"Wohl kaum. Sie sah eher aus wie die Bedienstete von durchschnittlich wohlhabenden Leuten. Aber so etwas ist manchmal schwer einzuschätzen. Hat jemand gestern Schmuck von einer jungen Frau bei euch abholen lassen? Durchschnittlich groß, blond, schmal, unauffällig gekleidet?" Aramis sah ihm prüfend ins Gesicht, das zum wiederholten Male zitterte, konnte aber kein Anzeichen von Verstellung erkennen.

"Nein, nein, so etwas kommt nie vor. keiner meiner Kunden hat bisher Schmuck von einer Frau abholen lassen. Die Gründe seien dahingestellt. Aber -" er stockte, ging noch einmal die Worte des blonden Musketiers in Gedanken durch,"- blond und schmal sagt ihr? Würdet Ihr sagen, dass sie wie eine Neunzehnjährige ausgesehen hat?" Das runde Gesicht des ältlichen Mannes war nun vollends erbleicht, seine Wangen bebten. Ein schrecklicher Verdacht formte sich in seinem Verstand. Zu seinem Entsetzen nickten nicht nur Aramis und D´Artagnan, sondern auch der nach wie vor schweigende Athos. Porthos konnte sich nicht zu einer Meinung dazu durchringen, da er nur die Hälfte der Frage mitbekommen hatte und in Gedanken bei seiner kleinen Verschwörung mit dem Venezianer war, der betont unbeteilgt abseits stand und die unter Glas ausgestellten Schmuckstücke bewunderte.

"Meine Haushälterin, Margot, sie ist heute schon etwas spät, dass sieht ihr gar nicht ähnlich..." Nervös sah er mehrfach auf das Zifferblatt der Uhr, die an einer langen Kette um seinen Hals hing. "Sie wird doch nicht..." Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, die er umgehend mit einem feinen Taschentuch abwischte. Achtlos stopfte er es wieder in seinen Ärmel, einige Ecken der Spitze ragten noch heraus. "Sie kommt jeden Tag ausser Sonntags, immer um die Mittagszeit, bringt mir etwas zu essen und ordnet meine Dinge oben im Haus und hier im Geschäft. Sie müsste längst hier sein. Sie hat sich sicherlich nur verspätet. Nicht wahr?" Der kleine Mann versuchte verzweifelt, in den Gesichtern der Musketiere Hoffnung zu finden. Statt dessen sah er vor allem Mitleid und Unglauben. Er sank noch weiter in sich zusammen, der Kopf fiel auf die Brust und die Augen starrten leer auf die zitternden Finger.

"Mademoiselle Margot wohnt nicht bei euch?" Aramis unternahm den aussichtslosen Versuch, der traurigen Gestalt noch einmal Mut zu geben.

"Nein, sie lebt bei ihrer Mutter und ihrem Bruder. Nicht allzuweit von hier. Gegenüber dem Friedhof von St. Jean." Sein Gesicht erhellte sich kaum merklich. "Vielleicht ist ihre Mutter krank und sie kommt später. Das wäre doch möglich? Ich werde einfach noch ein wenig warten." Er setzte sich straff auf, verschränkte die Hände vor sich auf dem kleinen Tischchen und starrte voller Erwartung zur Tür. Die blassen Augen glänzten feucht.

"Monsieur Martel, Ihr habt uns noch gar nicht gesagt, wie Mademoiselle mit Nachnamen heißt." D´Artagnans Stimme drang kaum noch zu ihm durch. Zu sehr war er darauf konzentriert, die Ankunft der jungen Margot herbeizusehnen.

"Pirard.", sagte er kurz angebunden. "Wenn Ihr zu ihr geht, sagt ihr, dass ich sie erwarte und dass ich nicht böse bin, weil sie sich verspätet!" Von da an schwieg er, sah sie nicht mehr an und verharrte starr auf dem Hocker. Die Musketiere verließen die Werkstatt auf dem Pont Notre Dame schweigend. Nach einigen Metern durchbrach Porthos die Stille: "Margot ist unser Mädchen. Wir wissen es, er weiß es. Und jetzt?"

"Jetzt sollten wir uns fragen, warum ihn der Tod einer Haushälterin, die nicht einmal in seinem Haus wohnt, so schwer trifft." Charles' Gesicht glühte vor Aufregung. Diese Frage hatte für ihn jedoch nichts mit plötzlich erwachtem detektivischem Eifer zu tun. Er witterte ein kleines Skandälchen, der alternde Juwelier und das Dienstmädchen, ein Lustspiel mit tragischem Ende. Wider erwarten fand seine Frage Unterstützung von dem Mann, der für diese Art geistiger Beschäftigung am wenigsten übrig hatte.

"Dein klatschsüchtiger Ton aussen vor: Die Frage ist berechtigt. Ich bezweifle allerdings, dass eine junge Frau sich auf eine solche Heimlichkeit mit jemandem wie Martel einlässt. Zu riskant, zu geringe Aussichten auf eine Legitimierung. Nicht zu vergessen, dass Monsieur einen unverheirateten Sohn in besten Jahren hat, der das Geschäft eines Tages übernehmen wird. Konkurrenz im eigenen Hause, wenn man es nüchtern betrachtet."

"Und um nichts anderes geht es ja bei einer kleinen Liebelei: nüchterne Betrachtung." Charles wackelte mit den emporgerissenen Händen wie eine Marionette.

"Ich muss Athos zustimmen." Aramis versuchte, ein Lachen zu unterdrücken.

"Fantastisch!" Immer noch ragten seine Hände zum Himmel. Mit einem Mal war ihm vollkommen klar, warum es zwischen den beiden nicht zum Äußersten kommen wollte. Wo der Verstand den Körper regierte bekamen niedere Begierden einfach keine Gelegenheit, auszubrechen. Und wenn beide Beteiligten an dem selben Gebrechen, nämlich übertriebener Vernunft, litten, wohin sollte das führen? Genau, sagte Charles zu sich selber, zu nichts. Zu nichts ausser einem gelegentlichen gierigen Blick, den die Vernunft sofort mit Verachtung strafte. Er hatte mehr Arbeit vor sich als befürchtet.
 

Das Haus der Pirards war nicht sonderlich groß und auch im großen und ganzen eher unauffällig. Es war eingeschlossen von zwei höheren Bauten, die ebenfalls nicht vermuten ließen, dass die Menschen dieser Nachbarschaft besonders wohlhabend gewesen wären. Auf der anderen Straßenseite ragten die Mauern des kleinen Friedhofs der Kirche St. Jean gerade so weit aus dem Boden, dass ein Kind nicht darüber hinweg sehen konnte. Porthos klopfte zögerlich an der schmucklosen Tür. Er wollte die Bewohner nicht schon vor dem Betreten des Hauses verschrecken. Eine zarte Stimme antwortete und beschied, dass sie gleich öffnen würde. Porthos trat einen Schritt zurück. Als sich die Tür schließlich öffnete, stand vor ihnen eine ältere Frau, schmal, mit blauen Augen, dass Haar grau mit einigen verbliebenen blonden Strähnen. Mit großen Augen sah sie erst Porthos, dann die übrigen Männer an und versuchte schließlich, an ihnen vorbei eine weitere Person zu sehen. Als sie niemanden fand, dem ihr Interesse gegolten hätte, gruben sich tiefe Falten in ihre Stirn.

"Erwartet ihr jemanden, Madame?"

"Meinen Sohn -", sie strich sich mit der rechten Hand eine Strähne aus dem Gesicht. Porthos bemerkte, dass ihr linker Arm steif und angewinkelt an ihre Seite gedrückt war. Die Finger jedoch bewegten sich tadellos. "- und meine Tochter", ergänzte sie leiser.

"Sind sie schon lange fort?" wollte er wie beiläufig wissen.

"Meine Tochter ist seit gestern abend verschwunden. Mein Sohn wollte sie suchen. Bei dem, was man im Moment so hört..." Nach einer kurzen Pause, als müsste sie die nächsten Worte genau abwägen, um nicht am Ende ein Unglück heraufzubeschwören: "...über die toten Mädchen." Dann sah sie sich die Männer noch einmal genau an. "Seid ihr Soldaten oder Gauner, die eine schwache Frau überfallen wollen?" Was klang wie ein Scherz wurde durch ihre Mine zu einer bitteren Frage, die Porthos die Sprache verschlug.

"Soldaten, Madame!", versicherte D´Artagnan.

"Kommt Ihr wegen meiner Tochter?" Madame Pirard hatte in den vergangenen Wochen zu viel von dem Gerede der Nachbarn mitangehört, um nicht zu wissen, was in diesem Moment vor sich ging. Soldaten standen nicht einfach so vor jemandes Tür, dessen Tochter gerade verschwunden war oder dessen Sohn nicht gerade zur Armee geschliffen werden sollte. Und diese Männer sahen nicht aus, als kämen sie, um ihren Sohn für den Dienst im Namen des Königs zu verpflichten.

"Monsieur Martel sagte uns, dass sie hier wohnt.", versuchte D´Artagnan zu beschwichtigen.

"Das war keine Antwort auf meine Frage. Ist meine Tochter tot oder warum laiert Ihr so?"

"Wahrscheinlich ist sie das." Athos hielt es für angemessen, direkten Fragen mit direkten Antworten zu begegnen. Madame Pirard schien ihm vom Leben ernüchtert genug, um sich auch vom Tod eines ihrer Kinder nicht mehr umwerfen zu lassen. Sofort zog sie die Tür weit auf und winkte sie mit dem beweglichen Arm herein. Erst jetzt zeigte sich, dass sie auch das linke Bein nur schlecht bewegen konnte und überhaupt leicht schief zu sein schien.

"Ich habe leider nicht genug Stühle und einen brauche ich selber, wie Ihr seht. Bitte betrachtet es nicht als unhöflich." Sie ließ sich umständlich auf den nächsten Stuhl nieder. "Monsieur, Ihr sagtet wahrscheinlich. Was lässt euch zweifeln?" Sie zog ein Stück Stoff von der Lehne, dass sich bei näherem Betrachten als abgetragene Weste entpuppte. Eine dicke Nadel steckte darin. Offenbar hatten sie sie bei Ausbesserungsarbeiten gestört.

"Dass wir nicht wissen, wie Eure Tochter aussieht. Das ist alles. Monsieur Martel hat uns auf den Gedanken gebracht. Die Tote nannte seinen Namen, bevor sie starb, und nach unserer Beschreibung kam sie ihm als erste in den Sinn." Madame Pirard nickte verstehend.

"Ja, das sieht ihr ähnlich, dass sie als erstes ihn nennt."

"Hat Ihre Tochter schon lange für Monsieur Martel gearbeitet?" Aramis meinte, so etwas wie Zärtlichkeit in der letzten Bemerkung vernommen zu haben.

"Seit sie zwölf ist. Seht ihr, ich verdiene nur wenig, nicht genug, um meine beiden Kinder und mich zu versorgen, deshalb haben meine Kinder schon früh für ihr eigenes Auskommen sorgen müssen."

"Ihr seid verwitwet?", fragte D´Artagnan vorsichtig. Das leise Lachen der Angesprochenen verwirrte ihn zunächst.

"Nein, der Vater meiner Kinder und ich - sagen wir, es sollte nicht sein. Wir haben einander geliebt, aber eine Ehe war unmöglich. Er heiratete eine andere, eine Zweckehe, bekam einen Sohn mit ihr, bekam nur kurz darauf einen Sohn von mir und nur wenige Jahre später auch noch eine Tochter. Er hat uns so oft es ging etwas Geld zukommen lassen, aber seine Frau hat die Bücher streng kontrolliert." Sie hob die Schultern, soweit ihr Körper es erlaubte, aber ihr Blick war nüchtern. "Nach ihrem Tod hat er uns dieses Haus gekauft, damit wir jederzeit ein sicheres Dach über dem Kopf haben. Seitdem müssen wir nur noch für Nahrung, Kleidung und Feuerholz sorgen."

"Arbeitet eure Tochter in mehreren Haushalten?" Athos bemerkte den Korb voller löchriger Kleidung, der in eine Ecke zwischen Schrank und Hauswand gedrückt worden war. Zuoberst lag ein Hemd, das gut und gerne Porthos´ hätte sein können, wenn er nicht Wert auf den tadellosen Zustand seiner Kleider gelegt hätte. Weiter unten, fast vollständig verdeckt von derben Hosen und durch vieles Tragen verfärbten Arbeitshemden, blitzte ein Stück roter Stoff auf, mit einem fein gewebten Muster und mit schimmernden silbrigen Fäden bestickt. Unmöglich gehörte dieses Kleidungsstück einem Mitglied der Familie Pirard. Und auch das aussergwöhnlich große Hemd ließ ihn zweifeln.

"Nein, nur bei Monsieur Martel. Er zahlt recht gut und seit meinem Unfall vor einigen Jahren gibt er ihr hin und wieder etwas extra. Er ist ein guter Mann, wirklich." Sie beobachtete aufmerksam, wie der Musketier vor ihr auf und ab lief, scheinbar in Gedanken. Ihr entging nicht, wie er seiner blonden Begleitung ein Zeichen gab, welche daraufhin das Wort ergriff: "Ihr sagtet, eure Kinder müssten beide für ihr Auskommen sorgen. Was macht euer Sohn?" Wie beiläufig lief Aramis zur gemauerten Kochstelle, griff sich einen Hocker und setzte sich, den Blick immer auf das Gesicht der älteren Frau gerichtet. Hinter deren Rücken nutzte Athos indessen die Gelegenheit, Charles auf den ungewöhnlich kostbaren Stoff zwischen dem, was man getrost als Lumpen bezeichnen konnte, aufmerksam zu machen. Charles reagierte prompt, griff nach dem, was sich als Ärmel herausstellte, betrachtete mit schnellem Blick das Muster und rieb das Material zwischen den Fingern. Binnen Sekunden war er zu einem Urteil gekommen und nahm Abstand von dem Korb. Er stellte sich dicht neben seinen Freund und flüsterte, zum ersten Mal seit seiner Ankunft mit einer Stimme, die nicht zum Scherzen aufgelegt war: "Das Muster ist holländisch. Sehr feiner Zwirn, nicht gerade billig. Die Stickerei ist aus echten Silberfäden, soweit ich das auf die Schnelle beurteilen konnte. Das macht es richtig teuer." Athos nickte anerkennend.

In der Zwischenzeit berichtete Madame Pirard, dass ihr Sohn Werkzeugschmied sei und sein Vater ihm damals ein üppiges Lehrgeld gezahlt habe, damit Fragen nach seiner Familiensituation gar nicht erst aufkamen. Bei Zweiflern trat er stets als der Mann auf, der Madame Pirard beinahe mit seiner Kutsche zu Tode gequetscht hatte und nun aus Reue für ihre benachteiligte Familie sorgte. Wer der echte Kutschenbesitzer war, der damals nicht einmal gehalten hatte, um sich um die schwer Verletzte zu kümmern, wusste ohnehin niemand, da es an dem Tag in Strömen geregnet und bereits gedämmert hatte, so dass niemand in der engen Gasse Zeuge des Unfalls geworden war. Man hatte sie Stunden später wimmernd und am Boden liegend gefunden, nachdem ihre Kinder in Sorge die gesamte Nachbarschaft aufgescheucht hatten.

Gerade wollte sie zu einer neuen Lobeshymne auf den Vater ihrer Kinder ansetzen, als sich die Haustür öffnete. Ein Mann, der Jugend bereits entwachsen, mit den breiten Schultern eines Schmieds und von recht kleiner Statur, betrat den Raum, blieb aber angesichts der Versammlung vor ihm mit der Tür in der Hand stehen und sah verwirrt in das Gesicht der Frau, die ganz offensichtlich seine Mutter war. Er bemerkte nicht, wie einige der Anwesenden ihn wiederum entgeistert musterten.

"Ist Margot - ?" Eine Ahnung beschlich ihn. Er sah seine Mutter flehend an, Tränen stiegen ihm in die Augen. Schnell wischte er sich mit dem Ärmel über das rundliche Gesicht. "Maman? Sag doch!" Seine Mutter sah ihn schweigend an, dann gab sie ihm die Antwort, die sie einige Zeit vorher auf die gleiche Frage erhalten hatte: "Wahrscheinlich." Seine Hand klammerte sich fester um den Türgriff, damit er nicht plötzlich wie ein Sack zu Boden fiel. "Vielleicht ist sie doch bei - " Er wollte sagen Martel, aber seine Mutter schüttelte bereits den Kopf. "Diese Herren kommen gerade von dort. Monsieur Martel", sie betonte seinen Namen plötzlich, als koste er sie viel Kraft, "wartet ebenfalls auf sie."

"Heute früh wurde eine junge Frau tot aufgefunden, wir konnten ihr bisher allerdings keinen Namen geben. Wenn ihr euch dazu im Stande fühlt, könntet ihr uns vielleicht - " D´Artagnan hatte seinen Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da begann der Verzweifelte bereits wild mit dem Kopf zu nicken. "Sofort, wenn Ihr gestattet! Was muss ich tun?" Seine Stimme zitterte, aber sein Blick war fest und entschlossen.

"Folgt uns einfach. Wir erklären euch dann alles weitere unterwegs." Der junge Pirard sah ein letztes Mal prüfend zu seiner Mutter. Ihre Ruhe irritierte ihn, aber vielleicht war das einfach die Reaktion einer Frau, die einst zum Sterben auf der Straße zurückgelassen worden war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  citosol
2014-08-13T01:47:21+00:00 13.08.2014 03:47
Just a quick "hi!" to remind you that we're still here, waiting for you to write the next amazing chapter!
^__________^
With love
citosol
Von:  laety
2014-03-29T16:46:25+00:00 29.03.2014 17:46
Bonjour

Schöne Geschichte ... Ich hoffe, später kann ich nicht warten, um zu sehen, wie Charles wird dauern, bis die beiden Turteltäubchen zu sagen!
Von:  Kira_Lira
2013-09-15T22:11:17+00:00 16.09.2013 00:11

Hello! like this? ^ ______ ^, And missed you, please do not leave much time to write, is the most interesting point of the plot, the captain is not going to scold to involve a civilian?, But for how long is going to realize Aramis has all the characteristics of victims, witnesses have referred them to this similarity and not realize it, they'll notice until it's too late?, but they are thinking Athos not see, poor Charles that is not eating used to someone like Porthos, I hope maybe a little romance in the next chapter, please do not delay, thanks for sharing ^ _____ ^.


Von:  fahnm
2013-09-15T21:41:19+00:00 15.09.2013 23:41
Spitzen Story.^^
Von:  citosol
2013-09-14T19:51:36+00:00 14.09.2013 21:51
Hi! :) finally you're back, and I'm so happy about it...I really missed a lot your characters and I was very curious to see what Porthos and Charles had in mind...but I fear I have to wait a little more :)
I loved the small clues you put here and there (obviously I'm talking about Athos and Aramis ♥) and the smart thought Charles had about them and their love behaviour

The whole story is intriguing but I really cannot wait to see how Athos anx Aramis' story is going to end.
Do I have to wait another year? ;)
THANK YOU SO MUCH for not having left this wonderful story apart!
Many kisses
citosol



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