Es ist vorbei
Es wird Nacht, dein Weg ist hier zu Ende
und im Abendlicht beginnt das Schattenspiel
du bist hier und du weißt du hast geschafft
du bist am Ziel
Ruh dich aus, lehn dich zurück
denn jetzt kommt der Augenblick
wo die lauten Stimmen schweigen
und wo man sich sicher fühlt
Es ist vorbei
diesen Tag wirst du nie vergessen
es ist vorbei
doch das Ende ist noch lange nicht erreicht
bist du bereit
immer wieder wird sich jemand mit dir messen
Keiner kann dir diese Last abnehmen
du trägst sie ganz allein
das Schicksal steht in deinen Karten
und holt dich immer wieder ein
Vielleicht bleiben dir nur ein paar Stunden
bis ein neues Spiel, ein neuer Kampf beginnt
und du weißt, daß du heut’ Nacht den Platz gefunden
hast, wo still die Zeit verrint
Ruh dich aus, lehn dich an mich
wo du endlich sicher bist
wo die Abendsterne flüstern, wo uns niemand finden kann
(Lyrics: YGO Soundtrack - Es ist vorbei
Ich nehme alles so verschwommen wahr. Nein, das ist nicht der richtige Ausdruck – gedämpft. Ja, genau. Wie durch ein dickes, weiches Wattepolster, das einem fast die gesamte Atemluft nimmt. Ein Jahr. Ein Jahr Schweigen, das hier zwischen uns klebt, auch wenn wir versuchen, so zu sein wie immer, was uns natürlich jämmerlich misslingt. Ich hätte nicht mal sagen können, was ich zu trinken hatte – obwohl es vermutlich das Selbe war wie sonst, was war das noch gleich? – oder wie lange wir etwa auf diesen unbequemen Stühlen saßen, von denen man schon immer Rückenschmerzen kriegen konnte, und nur ab und zu mal etwas sagten, als Alibi gewissermaßen. Und am Himmel, den wir jetzt beide anstarren wie blöde, nur um uns nicht gegenseitig anschauen zu müssen, lässt sich natürlich auch keine Tageszeit ablesen – September eben, es könnte genauso gut Nachmittag oder schon später Abend sein. Meine Uhr habe ich vergessen, passiert mir in letzter Zeit öfter. Genau wie es mir immer öfter passiert, dass ich durch die Gegend laufe, ohne jemanden um mich herum wirklich wahr zu nehmen und dann aus allen Wolken falle, wenn man mich anspricht. Mein Ruf als allzeit bereite Arbeitskraft muss mir schon vorauseilen, was vermutlich der Grund ist, warum ich keinen besseren Job bekomme.
An der Kreuzung bleibe ich stehen, du brauchst ein paar Sekunden, um zu merken, dass ich nicht mehr neben dir bin und hältst dann so abrupt an, dass du beinahe über deine eigenen Füße stolperst. Joey, ist dir eigentlich bewusst, wie wenig du dich trotz allem verändert hast? Ich frage das nur stumm... die wichtigen Dinge bleiben wie immer ungesagt.
„Ich muss hier lang.“ Ich deute die staubige Straße entlang, und du schaust mich so irritiert an, als hätte ich gerade dein gesamtes Weltbild zum Wanken gebracht. Ich kann mir denken warum. Am letzten Ende von Domino, als hätte ich es absichtlich vermieden, in die Nähe unserer alten Stammplätze zu kommen, nur die Schule und das Café, in dem wir waren, sind hier praktisch in der Nachbarschaft. Ich wollte einfach nicht jeden Tag an diesen verdammten Spieleläden vorbeikommen, die nach außen hin zwar weiter laufen, für mich aber jeden Sinn, gewissermaßen ihre Seele, verloren haben. Nicht an den Wohnungen, in denen wir unsere Pyjamapartys abgehalten haben und nicht an den Treppenaufgängen, in denen ich dir und Tristan endlose Vorträge über Raucherlunge und Krebs gehalten habe, während ihr euch einen Spaß daraus gemacht habt, mir euren Zigarettenrauch ins Gesicht zu blasen. Ich wollte nichts von dem wiedersehen. Außerdem war hier gerade eine billige Wohnung zu haben.
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Du bist also umgezogen. Logisch, das war doch zu erwarten, ich bin es schließlich auch. Warum überrascht es mich dann so?
„Kann ich mitkommen?“
Verdammt, wie klingt denn das? Früher mussten wir so was nicht fragen.
„Sicher.“
Weit ist es anscheinend nicht mehr. Schon nach ein paar Metern bleibst du vor einem Häuserblock stehen, einem dieser Dinger, die man nicht als heruntergekommen bezeichnen kann – aber auch nicht als wohnlich. Steril trifft es vielleicht. In der Wohnung steuerst du zielstrebig auf dieses winzige Teil zu, das wohl deine Kochecke darstellt. Aha, so weit sind wir also schon, dass du mir was zu trinken anbieten musst, um überhaupt etwas zu reden zu haben.
Aber ich habe mich getäuscht. Gewaltig getäuscht sogar. Vielleicht hattest du das VOR, aber an der Ablage bleibst du auf einmal stehen, mit dem Rücken zu mir, und gibst überhaupt nichts mehr von dir.
Was soll ich nun davon halten?
Erst nach ein paar Sekunden merke ich, dass deine Schultern zucken. Lachst du oder weinst du? Ich mache ein paar unsichere Schritte auf dich zu – ich konnte es noch nie leiden, Mädchen weinen zu sehen, nicht mal meine Schwester. Es macht irgendwie hilflos. Also hoffe ich mal, dass du lachst. Warum auch immer.
„Tea...?“
Du drehst dich zu mir um. Ein unscheinbarer kleiner Tropfen rollt über deine Wange, aber nicht unscheinbar genug, dass ich ihn übersehen könnte. Natürlich, mein übliches Glück. Du weinst.
Um nicht allzu dumm dazustehen, lege ich dir etwas ungeschickt den Arm um die Schultern – mein Pech, denn unglücklicherweise scheinst du das als Aufforderung zu verstehen, dich bei mir auszuheulen. Was erwartest du? Dass ich auf einmal zum Seelentröster werde? Das konnte ich noch nie, das war immer deine Aufgabe. Trotzdem, irgendwie fühlt es sich auch verdammt gut an, dich so nah zu haben. Doch, das muss ich zugeben.
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Ich muss eine Ewigkeit hier gestanden und geheult haben. Meine Stimme klingt rau und zittrig, als ich wieder zu sprechen beginne.
„Tut mir... Leid. Ich wollte nicht...“
Ja, was nicht? Doch, ich wollte endlich weinen. Natürlich habe ich das auch in der ersten Zeit getan. Hinter verschlossenen Türen.
„Es ist nur... Ich frage mich langsam, warum wir dieses Theater hier noch weiterführen, wenn es sowieso jeden Moment zu Ende sein kann. Kannst du mir das sagen?“
Kannst du natürlich nicht. Du schweigst einfach weiter. Was habe ich erwartet? Ich brauche dich doch nur anzuschauen, um zu sehen, dass es dir mindestens so schlecht geht wie mir, aber du kannst es nicht zeigen. Vermutlich gewöhnt man sich die Tränen ab, wenn man zu Hause dafür geschlagen wird. Etwas unsicher greife ich nach deiner Hand und ziehe dich zum Sofa. Wir setzen uns. Schweigen.
Und dann kann ich es sehen. Wie konnte mir das verborgen bleiben? Die ganzen Jahre, die ich mir einbildete, in den Pharao verliebt zu sein, und in denen ich versucht habe, die selben Gefühle auch für Yugi aufzubringen, weil es mir ungerecht vorkam, den Geist in seinem Innern zu lieben, wo ich doch genau wusste, dass er seit wer weiß wie lange mehr oder weniger heimlich mich liebte... die ganzen Jahre habe ich dich irgendwie übersehen.
Und trotzdem, wird mir klar, war da immer eine... besondere Beziehung zwischen uns beiden. Ich glaube nicht an diesen ganzen Kitsch von verdrängten Gefühlen und heimlicher Bestimmung, wie in den Romanen, die deine Schwester ständig liest – aber ETWAS war da. Ich kann nur nicht sagen, was. Etwas, das über dieses stille Einverständnis am Spielfeldrand hinausging, das mich mit Tristan verband, oder auch mit Serenety und manchmal sogar Mokuba... Etwas, das dich dazu brachte, unnötige Umwege zu machen, um mich abends nach Hause zu bringen, und auch noch Witze darüber zu reißen, wie dein Vater dich dafür wieder anschreien würde – oder schlimmeres. Etwas, das mich veranlasste, dich auch zum zigtausendsten Mal die Hausaufgaben abschreiben zu lassen, irgendwo in einer dunklen Ecke des Schulhofs, nachdem ich den Anderen schon klar gemacht hatte, dass es nicht mein Problem war, wenn ihr eure Nachmittage mit Videospielen statt mit Arbeit ausfüllen musstet... dabei mochte ich sie genauso gern wie dich. Doch, wirklich. Aber du hast diese Art an dir, die jeden dazu bringen konnte, sich für dich verantwortlich zu fühlen.
Besonders mich. Gut, vielleicht auch nur mich, vielleicht sage ich nur „jeden“, um mich zu entschuldigen. Ich weiß es nicht. Ist das wichtig? Jetzt sind wir sowieso die einzigen, die es noch betreffen kann, so grausam es ist, das zu denken.
Die einzigen.
Das klingt nach Einsamkeit... nach Verantwortung und Last... aber irgendwie auch nach einer großen Chance.
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So, das nächste Kapitel - endlich!
Einen herzlichen Dank noch mal an Rei17, fürs lesen, Bilder schicken und alles... ;)
P.S.: Ich weiß, ich bin unkreativ mit meinen Kapitelüberschrifen... aber so bin ich nun mal. Wenn jemandem etwas besseres einfällt, soll er sich ruhig melden.