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Zerspringende Ketten

von

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Träume

Wenn du beweist, dich zu bessern, dann lasse ich dich mich halten!
 

Naoe erwachte. Es war noch dunkel, aber der Horizont ließ den nahen Sonnenaufgang erahnen. Er setzte sich auf und schaute zum Fenster hinaus und sah den Morgenstern, der langsam zu verblassen begann - genau wie sein Traum.

Sein Herzschlag beruhigte sich mit jeder Sekunde, die er nach draußen schaute.

Die Kühle der fast verblichenen Nacht ließ seine in Schweiß gebadete Haut abkühlen und ihn frösteln.

Er dachte an den Traum, der ihn nun das vierte Mal innerhalb kurzer Zeit heimsuchte. Vieles darin blieb ihm verborgen, aber er spürte, dass es etwas mit Kagetora zu tun hatte. Er fragte sich, ob Kagetora in Gefahr schweben könnte und dieser Traum ein Hinweis dafür sein sollte, aber dazu bestand zur Zeit kein Grund für Besorgnis. Es gab gegenwärtig keine Anzeichen aus der Unterwelt, die auf eine mögliche Gefahr für Kagetora hindeuteten.
 

Der Traum verwirrte Naoe immer wieder aufs Neue. Er wurde nicht schlau aus ihm. Die Worte, die er kurz vorm Erwachen im Traum vernahm, waren immer die gleichen. Wenn du beweist, dich zu bessern, dann lasse ich dich mich halten.

Er konnte diese Worte noch immer hören, weil sie ihn nach dem Aufwachen nicht verließen.

Es waren Kagetoras Worte an ihn bei ihrem letzten Aufeinandertreffen. Naoe erinnerte sich an jede Einzelheit dieser Begegnung. Kagetoras Stimme, sein Blick, seine Worte...

Der Gedanke daran ließ Naoes innere Glut aufflammen, die von seiner grenzenlosen Leidenschaft für Kagetora lebte. Er wünschte sich aus tiefstem Herzen, ihn jetzt sehen zu können.
 

Zwei Monate waren seit ihrer letzten Begegnung vergangen. Naoe hatte Kagetora seitdem weder gesehen, noch gehört. Über Nagahide und Haruie erfuhr Naoe alles, was er wissen musste, um auf dem Laufenden zu bleiben. Zudem erschien zur Zeit alles ruhig, und sie mussten nur ab und zu mit kleineren Angelegenheiten hantieren, die keine größere Zusammenarbeit erforderte. So ergab sich keine erzwungene Gelegenheit für Naoe, Kagetora aufzusuchen. Natürlich konnte er ihn auch unabhängig von der gemeinsamen Arbeit besuchen, aber das wollte er nicht. Zu sehr war er mit den Ereignissen ihrer letzten Begegnung beschäftigt.

Er verstand Kagetora einfach nicht. Er verstand sich selbst nicht. Auf der einen Seite hasste er Kagetora für seine Unbarmherzigkeit ihm gegenüber, die ihrer Beziehung seit 400 Jahren keinen Schritt der Veränderung erlaubte, aber andererseits erfüllte ihn großes Verlangen nach Kagetora. Er wollte ihn besitzen. Ihn halten. Ihn küssen. Er wollte ihn für sich ganz allein haben und duldete keine andere Person neben ihm, obwohl er wusste, dass er sich dem nicht widersetzen konnte, und Kagetora sich schon gar nicht zu etwas zwingen ließ.

Es war zum Verrücktwerden. Er wünschte sich, nein, er wusste, dass Kagetora ihm gegenüber die gleichen Gefühle hegte, aber dieser ließ sie nicht zu. Dieser Umstand raubte Naoe regelrecht den Verstand, und er erwischte sich in Gedanken dabei, Kagetora sogar gegen seinen Willen zu nehmen. Dass dies dann das Ende von allem bedeuten würde, war Naoe in solchen Momenten völlig egal.
 

Naoe schlug die auf seinem Schoß ruhende Decke zurück, und stand auf. Er beschloss, weiter darauf zu warten, bis Kagetora sich ihm öffnete, sich ihm aus freien Stücken näherte. Er würde, wenn es sein müsste, weitere 400 Jahre warten. Ein gequältes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Er fragte sich, wer hier der wahre Masochist war.

Er ging ins Bad, um seine Trainingssachen anzuziehen, um in der Morgendämmerung sportliche Erholung für seinen Körper und seinen Geist zu suchen. Er öffnete die Tür, und kehrte der aufgehenden Sonne den Rücken zu.
 


 

Zur gleichen Zeit, an einem anderen Ort, saß eine einzelne Person auf einem Felsvorsprung und starrte in den Sonnenaufgang.

Er verabscheute den Sonnenaufgang, er bevorzugte die Nacht. Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn aufhorchen und wissend lächeln.

„Nun, Arakawa? Habt ihr sie gefunden?“

„Ja, Shishido-sama. Die Vorbereitungen laufen. Kimura-san ist auf dem Weg. Alles läuft so, wie Sie es wünschen.“

„Gut. Du kannst dich zurückziehen.“

„Wie Sie wünschen, Shishido-sama.“
 

Shishido dachte an die bevorstehenden Ereignisse, und wurde von seiner ihm bekannten Ungeduld überwältigt. Noch ein klein wenig, dann würde er über Kagetora triumphieren können. Ein sadistisches Lächeln erschien auf seinem schönen Gesicht. Er hatte sich lange Zeit im Verborgenen halten müssen, aber diese Zeit war nun vorbei. Er konnte endlich in Erscheinung treten, und Kagetora das Fürchten lehren.

Licht und Schatten

Takaya lag dösend auf dem Rücken im Grass. Er genoss die Stille unmittelbar um ihn herum, und lächelte zufrieden. Etwas weiter entfernt von ihm, absolvierte gerade seine Klasse die Sportstunde im Außengelände, was an den lauten Stimmen und Zurufen zu erkennen war. Eigentlich müsste er dasselbe tun, aber er hatte sich für das Schwänzen entschieden.

Zumindest bin ich noch auf dem Schulgelände, dachte er fast reumütig und drehte sich auf die Seite, um in die Richtung des Stimmengewirres schauen zu können.

Viel konnte er nicht erkennen, da ihm mehrere Bäume die Sicht nahmen. Er überlegt kurz, seinen Geist mit Hilfe seiner Kraft hinüberschweben zu lassen, um das Treiben von oben zu beobachten, aber er tat es nicht.

„Dann hätte ich erst gar nicht Schwänzen brauchen...“, murmelte er entschieden und drehte sich zurück auf den Rücken. Er beobachtete die Sonnenstrahlen, die sich einen Weg durch das dichte Blättermeer des Baumes, mit dem der Wind spielte, bahnten, und auf seinem Körper ein Wechselspiel von Licht und Schatten erzeugten. Seine Gedanken schweiften ab.

Licht und Schatten, Gut und Böse, Gewinner, Verlierer... Gewinner... Was verdammt meinst du damit, Naoe?, fragte sich Takaya mit einem verzweifelten Blick ins Leere.

Näherkommende Schritte ließen ihn aufhorchen. Er wollte sich gerade aufsetzen, als Chiakis Gesicht dicht vor seinem auftauchte. Er schaute hoch.

Nur ein Stück näher und wir würden uns küssen, stellte Takaya nüchtern fest und hatte plötzlich Naoes Gesicht vor Augen. Er spürte seine Zunge am Hals, seine umschlingenden Arme. Erschrocken darüber, dass sich ihm diese Gedanken beim Anblick von Chiakis Gesicht aufdrängten, ließ ihn verlegen wegrutschen und Chiaki strafend anfunkeln.

„Was willst du?“

Takayas unerwartet harter Ton ließ Chiaki Stirnrunzeln. Er hätte zu gern gewusst, an was Takaya gerade gedacht hatte. Sein betroffenes Benehmen gab ihm auf alle Fälle einen Grund zum Grinsen, was Takayas Augen noch böser funkeln ließ.

Da sind sie. Die unbezwingbar funkelnden Tigeraugen, denen niemand etwas entgegensetzen kann, außer vielleicht Naoe. Chiaki, der Kagetora, dessen Seele in Takayas Körper wiedergeboren wurde, schon eine Ewigkeit kannte, spürte die bedeutende Macht in seinem Blick. Mit dieser hatte er seit Jahrhunderten im Kampf gegen böse Bestrebungen machtversessener Familien standgehalten – Naoe immer an seiner Seite.

Naoe. Wieso lässt du dich von ihm so fesseln? Idiot. Und Kagetora, du bist der noch Größere, urteilte Chiaki in Gedanken. Er hatte immer loyal hinter Naoe gestanden und dadurch seine noch immer anhaltende 400jährige schmerzvolle Beziehungsodyssee mit Kagetora miterleben müssen. Es gab Zeiten, da hatte er Kagetora für sein Verhalten verabscheut. Er hätte ihm am liebsten den Rücken zugekehrt, aber seine Loyalität Naoe gegenüber ließ das nicht zu. Er würde Naoe nie allein lassen. Aber er wusste, dass Kagetora ein Teil von Naoes Leben war.

„Das fragst du mich? Frag dich lieber selbst, was du willst!“, zischte Chiaki, aufgrund seiner Gedanken an Naoe, unbeabsichtigt sarkastisch zurück.

„Keine Ahnung was du von mir willst, Chiaki.“ Takaya schien sich vom Überraschungsmoment erholt zu haben und klang nun wieder gefasst und äußerst arrogant.

„Wirklich? Soll ich dir ein wenig auf die Sprünge helfen? Also. Vor circa einer Woche gab ich einem starrköpfigen jungen Mann einen Auftrag, den er in Zusammenarbeit mit einer weiteren Person erledigen sollte. Leider hat dieser junge Mann bis jetzt vergessen, mir einen mündlichen Bericht über die Ereignisse zu geben. Hilft dir das vielleicht weiter?“

Chiaki, der sich inzwischen schräg gegenüber Takaya ins Grass niedergelassen hatte, schaute ihn gespannt an.

Takaya hatte im Moment überhaupt keine Lust mit Chiaki zu reden, zu sehr verwirrten ihn die Gedanken an Naoe. Er hatte Haruie aufgetragen, ihren Bericht an Chiaki weiterzuleiten. Er musste also schon über alles Bescheid wissen. Er fragte sich, was Chiaki wirklich von ihm wollte. Er beabsichtigte gerade etwas zu entgegnen, als Yuzuru und Morino in ihren Sportanzügen auf sie zukamen.

Verdammt, dachte Takaya.Ich wollte hier eigentlich meine Zeit allein verbringen, ohne von irgend jemanden gestört zu werden.

Er beobachtete Yuzuru, der lächelnd neben Morino herging.

Er hatte geschworen, Yuzuru zu beschützen. Nicht nur, weil er sein bester Freund war sie einander wie Brüder behandelten, sondern auch, weil Yuzurus Kraft zum jetzigen Zeitpunkt mysteriös erschien. Sie wussten nur, dass Yuzuru die Macht hatte, alles zu zerstören, was sie kannten. Weder Naoe noch Haruie konnten sagen, was Yuzuru war. Ein Mensch, ja, aber gleichzeitig mehr als das.

Kousaka weiß mehr, argwöhnte Takaya, aber er weiht uns nicht ein. Er würde seine Informationen über Yuzuru ohne weiteres preisgeben, wenn er dabei einen Vorteil für sich gewinnt, mutmasste Takaya missmutig.

Zur Zeit schien sich aber niemand für Yuzuru zu interessieren, so dass sie ein wenig Ruhe genießen konnten, aber Takaya machte sich nichts vor. Früher oder später würde die nächste, machtbesessene Familie kommen und versuchen, Yuzuru für ihre Zwecke zu missbrauchen. Er würde dies zu verhindern wissen.

„Hallo Takaya! Hier bist du also. Ich dachte schon, du wärst wieder zum Spielcenter gegangen.“ Yuzuru setzte sich während des Sprechens neben Takaya und nickte Chiaki freundlich zu. Morino tat es ihm nach, rügte aber Takayas wiederholtes Schwänzen.

Takaya, der eigentlich allein sein wollte, versuchte seine saure Miene zu verbergen. Er fragte sich, warum sich immer alle um ihn sammeln mussten, vor allem dann, wenn er absolut keine Lust drauf hatte. Er würde sich auf der Stelle in Luft auflösen, wenn jetzt noch Haruie und Naoe auftauchen würden, aber dies blieb ihm erspart.

Naoe. Immer wieder kreisten seine Gedanken um diesen Menschen, der ihn schon eine so lange Zeit begleitete.

Naoe, ich werde einfach nicht schlau aus dir. Red mit mir... Erkläre dich... Ich kann diesen Zustand nicht mehr ertragen. Wenn du dich besserst, dann darfst du mich halten... Was habe ich mir dabei gedacht, als ich das zu dir sagte? Was will ich von dir... Takaya war so sehr in Gedanken, dass er Yuzurus Frage überhaupt nicht hörte. Erst als dieser ihn anstupste, horchte er auf.

„Hä? Was hast du gesagt?“

„Ich fragte, ob du das kommende Wochenende schon etwas vor hast, da ich dich gern zu etwas einladen möchte. Meine Eltern haben mich gebeten, nach unserem Ferienhaus in den Bergen zu sehen. Eigentlich wollten wir zusammen hinfahren, aber ihnen ist etwas dazwischen gekommen. Sie hätten nichts dagegen, wenn ich fahre und ein paar Freunde mitnähme. Also, wenn du Lust hast?! Morino und Chiaki würden uns begleiten. Ich wollte noch Haruie und Naoe fragen. Vielleicht können wir gemeinsam ein kleines Fest feiern. Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst.“

Takaya schaute Yuzuru zu, wie dieser mit leuchtenden Augen diesen Vorschlag machte. Tatsächlich hatte er am Wochenende nichts vor, außer Chiaki hatte einen neuen Auftrag, von dem er noch nichts wusste, was er aber nicht annahm, da sonst Chiaki selbst nicht mitfahren würde. Und falls Naoe auch kommen sollte, was ihn ein wenig unbehaglich fühlen ließ, ergab sich vielleicht eine Gelegenheit, bei der er mit ihm ungestört reden könnte.

Der Gedanke daran, Naoe bald sehen zu können, ließ ihn den Atem anhalten. Einen kurzen Moment spürte er, wie ein feuriges Verlangen seinen Körper durchfuhr. Überrascht schnappte er laut nach Luft.

„Alles in Ordnung?“, fragte Chiaki, der Takaya mit seinem Blick durchbohrte. Er hatte schon die ganze Zeit das Gefühl, dass Takaya mit etwas beschäftigt war. Er nahm an, Naoe hatte damit zu tun.

Die beiden benahmen sich seit ihrem letzten Aufeinandertreffen seltsam. Sie hatten sich seitdem nicht mehr gehört, noch gesehen. Zur Zeit vermied Naoe es sogar, hier aufzutauchen. Und da es gegenwärtig keine gemeinsamen Aufträge gab, hatte er auch keinen Grund dazu. Es schien, als ob er auf etwas wartete.

Takaya stand plötzlich auf und schaute auf alle hinunter.

„Von mir aus. Du kannst mit mir rechnen. Wir sehen uns später in der Klasse, dann kannst du mir ja alle Einzelheiten erzählen.“ Er drehte ihnen den Rücken zu und ging zum Schulgebäude.

Überrascht über Takayas ungewöhnliches Verhalten, schauten sich die Zurückgebliebenen verwundert an. Chiaki schaute von Morino und Yuzuru fort in die Richtung, in der Takaya verschwunden war.

„Ich denke, er ist mit irgend etwas beschäftigt, worüber er mit niemanden reden will.“

Yuzuru schaute ebenfalls in die Richtung. Genau das nahm auch er an und hoffte, dass Takaya durch das gemeinsame Wochenende ein wenig Ablenkung finden würde.

Morino stand auf und zerrte Yuzuru mit sich.

„Wir müssen zurück, Yuzuru. Wir kommen sonst zu spät. Chiaki, du solltest dich auch beeilen!“

Chiaki blieb sitzen und schaute grinsend zu beiden hoch.

„Nee, laß mal. Ich nehme ich mir eine weitere Auszeit. Takaya hat sich hier ein schönes Plätzchen ausgesucht. Wäre doch schade drum, nicht noch ein Weilchen hier zu bleiben.“

Er legte sich mit verschränkten Armen hinter dem Kopf ins Gras. Er wollte gerade seine Augen schließen, als ihn Yuzurus Frage daran hinderte.

„Chiaki, könntest du vielleicht Naoe und Haruie in meinem Namen fragen? Ich dachte mir, da du ja öfters mit ihnen telefonierst, würde es für dich kein Problem sein. Wir könnten einen gemeinsamen Treffpunkt vereinbaren, der gleichzeitig auch unser Abfahrtspunkt ist. Was sagst du dazu?“ Yuzuru schaute mit fragenden Augen hinab zu Chiaki, der seiner Bitte gerne nachkam, denn er wollte ohnehin mit Naoe reden.

„Klar, mache ich. Also bis später.“ Er schloss seine Augen und lauschte den sich entfernenden Schritten.

Vielleicht bietet dies Kagetora und Naoe die Möglichkeit, bestimmte Dinge zu klären. Aber wenn ich so an die Vergangenheit denke, dann habe ich kein gutes Gefühl dabei, dachte Chiaki und seufzte leise. Er nahm sich für später vor, Naoe und Haruie zu kontaktieren.
 


 

Die Woche verging wie im Flug. Takaya hatte von Chiaki erfahren, dass Naoe und Haruie kommen würden. Er stand im Bad und betrachtete sich im Spiegel. Irgendwo unten im Haus hörte er seine Schwester Miya, die mit Aufräumen beschäftigt war.

Vor ein paar Minuten saßen sie noch gemeinsam am Tisch und redeten über die Ereignisse der vergangenen Tage. Nun stand er im Bad und machte sich für seinen Aufbruch fertig. Gepackt hatte er alles. Seine Schwester war versorgt. Er konnte sich mit einem guten Gefühl auf den Weg machen, aber er war nervös. Der Gedanke an das Zusammentreffen mit Naoe ließ ihn zögern. Seit er erfahren hatte, dass er kommen würde, dachte er nur noch daran, wie Naoe auf ihn reagieren würde.

Und wie werde ich auf ihn reagieren? Finden wir Zeit, um miteinander zu reden? Takaya fixierte seine Augen im Spiegel und fuhr sich durch das vom Duschen noch feuchte Haar.
 

Er verließ das Bad und ging in sein Zimmer, um dort seinen Rucksack zu holen. Er ging anschließend die Treppe hinab, um sich im Flur seine Schuhe anzuziehen.

„Hey Schwesterherz, ich mache mich jetzt auf den Weg!“, rief Takaya wissend, dass sie gleich kommen würde, um ihn zu verabschieden.

„Was? Ist es schon soweit? Okay. Dann pass auf dich auf. Hast du auch alles? Du musst dir keine Gedanken um mich machen. Nachher kommt ja Suzuka, dann bin ich nicht allein. Sie bleibt über Nacht, wie wir es abgesprochen haben. Dein Mobiltelefon hast du auch?“ Miya, die während des Sprechens in den Flur gestürmt kam, schaute ihren Bruder fragend an. Er musste lächeln. Ihre Aufregung zeigte sich deutlich durch ihre roten Wangen im Gesicht.

Er fühlte sich immer ein wenig unwohl, wenn er sie allein ließ, aber sie war inzwischen vertraut mit seinen gelegentlich längeren Abwesenheiten und stellte daher keine Fragen. Sie vertraute ihm, und dafür liebte er sie.

„Ja, ich habe alles. Danke noch mal für das leckere Frühstück! Wenn irgendetwas sein sollte, dann ruf mich sofort an, hörst du?! Ich wünsche dir viel Spaß mit Suzuka. Ich geh dann mal.“ Takaya schulterte seinen Rucksack und wurde sofort heftig von Miya umarmt.

„Pass auf dich auf...“, flüsterte sie und lief ohne einen Blick zurück in die Küche. Er schaute ihr nach und musste sanft lächeln.

Keine Angst. Ich werde dich nicht verlassen, wie es der Rest der Familie getan hat, dachte er sich und verließ das Haus, um zum gemeinsamen Treffpunkt zu eilen.
 

Für ihren Sammelpunkt hatten sie den Platz vor dem Schultor gewählt. Takaya konnte Morino und Chiaki schon von Weitem sehen, wie sie sich angeregt unterhielten. Yuzuru konnte er nicht entdecken, was nur bedeuten konnte, dass er noch nicht eingetroffen war. Auch von Haruie und Naoe fehlte jede Spur. Er setzte seinen Weg fort und versuchte dabei nicht an Naoe zu denken.

„Takayaaaa! Hey Takaya, warte auf mich!“ Yuzuru kam lächelnd von hinten auf ihn zugerannt. Er kam keuchend neben ihm zum Stehen und stemmte seine Arme auf die Oberschenkel, um sich von seinem Sprint zu erholen.

„Ich bin den ganzen Weg von deinem Zuhause bis hierher gerannt!“, erzählte Yuzuru laut luftholend, „Deine Schwester hat mir gesagt, dass du kurz vor meinem Eintreffen gegangen bist. Ich wollte dich eigentlich spontan abholen, aber das war wohl nichts.“ Er musste schief grinsen.

Er hatte sich gewünscht, Takaya früher einholen zu können, um ein wenig mit ihm zu plaudern. Er machte sich zwar nicht direkt Sorgen um ihn, aber er spürte, dass etwas Takaya wurmte, worüber er nicht reden wollte. Er hatte die Hoffnung gehabt, ihn vor dem Treffen allein sprechen zu können, aber das hatte sich unter diesen Umständen erledigt.

Warum bin ich bloß so spät losgegangen!? Mist. Chance vertan. Gut. Die nächste kommt bestimmt! Er schaute Takaya bewundernd von der Seite an. Er mochte ihn und war froh, dass er ihn kennen gelernt hat. Takaya war wie ein Bruder für ihn und er spürte, dass es ihm genauso erging. Das machte ihn glücklich.

„Was ist?! Warum guckst du so? Hast du etwa beim Laufen deinen Verstand verloren? Du hättest mir Bescheid sagen sollen, dass du vorhattest, mich abzuholen. Ich hätte gewartet, du Blödmann!“ Takaya grinste Yuzuru fies an, während er ihm die Haare zerzauste.

Sie wollten gerade gemeinsam ihren Weg Richtung Chiaki und Morino fortsetzen, als sie von einem großen dunkelgrünen Van passiert wurden, der sie fröhlich anhupte. Takaya meinte, Haruie am Steuer erkannt zu haben. Zusammen folgten sie dem Auto, das den gleichen Bestimmungsort zu haben schien. Sie erspähten Haruie, die das Auto verließ und auf die beiden dort Wartenden zuging.

Naoe ist immer noch nicht da. Wo bleibt der bloß? Oder kommt er jetzt doch nicht mehr? Takaya spürte, wie ihm dieser Gedanke einen Stich versetzte.

Der kommt doch bestimmt wieder mit einem seiner drei Autos...

Innerlich etwas aus der Ruhe gebracht, erreichte Takaya zusammen mit Yuzuru die drei Wartenden.
 

„Hey Takaya, lange nicht gesehen!“, scherzte Haruie mit lachendem Gesicht und umarmte ihn. Takaya schaute sauer drein und befreite sich von ihr. Er merkte sofort, dass die Stimmung etwas getrübt war. Er wollte gerade nach dem Grund fragen, als Chiaki genau das sagte, was er hoffte nicht zu hören.

„Wir sind komplett. Naoe wird nicht mitkommen. Ihm ist etwas dazwischen gekommen. Ich soll euch aber von ihm Grüße bestellen und viel Spaß wünschen.“

Yuzuru und Morino bedauerten das Gehörte und machten aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl. Chiaki schaute in Takayas Richtung. Er konnte sehen, wie sich seine Gesichtsfarbe änderte. Er wurde erst blass und anschließend überzog eine leichte Zornesröte sein Gesicht.

Haruie, die Takayas Veränderung ebenfalls mitbekommen hatte, ergriff das Wort.

„Okay! Dann mal alle einsteigen! Yuzuru, du sitzt bitte vorn, damit du mir den Weg weisen kannst. Der Rest sucht sich hinten einen Platz. Verstaut die Sachen einfach im Kofferraum. Los, los...“

Takaya hatte sich in die letzte Reihe gesetzt und schaute schlechtgelaunt aus dem Fenster, während Haruie den Wagen startete und losfuhr. Morino saß vor ihm und Chiaki neben ihr. Er spürte, dass Haruie ihn gelegentlich durch den Rückspiegel beobachtete, aber er vermied jeglichen Blickkontakt. Er blendete seine Umgebung aus und konzentrierte sich auf das unsichtbare Band, was ihn und Naoe miteinander verband. Er konnte ihn spüren, weit weg und mit irgendetwas beschäftigt.

Verdammt. Verdammt. Naoe... Takaya spürte, wie sein Zorn erneut aufflammte. Er schaute aus dem Fenster. Sie fuhren aus der Stadt in Richtung Berge. Die Sonne schien aus einem wolkenlosen Himmel auf sie hinunter und erwärmte die Luft im Auto. Sie öffneten die Fensterscheiben und genossen den kühlen Fahrtwind.

Erinnerungen

Naoe öffnete die schweren Augenlieder und versuchte etwas zu erkennen. Ihm tat der Schädel weh und er hatte das Gefühl, dass ihm sein restlicher Körper den Dienst versagt zu haben schien.

Wo bin ich? Was ist passiert...

Er versuchte sich zu erinnern, aber da war nur Schwärze, gepaart mit stechendem Schmerz. Es fiel ihm zunehmend schwerer, die Augen offen zu halten, so dass er sich entschloss, sie wieder zu schließen. Er seufzte erleichtert.

Wenigstens bin ich noch in meinem gewohnten Körper, auch wenn er sich gerade alles andere als toll anfühlt..., stellte Naoe beruhigt fest und versank wieder in der traumlosen Leere.
 

Als er erneut erwachte, spürte er, dass sich jemand in seiner Nähe befand. Er hörte das Geräusch eines Tabletts, was in seiner unmittelbaren Umgebung abgestellt wurde. Zudem nahm er einen süßlichen Blumenduft in der Luft war, der ihm bekannt vorkam, aber er war nicht in der Lage, ihn zuzuordnen. Sein Kopf ließ noch immer keinen klaren Gedanken zu, aber zumindest hatte sich der dumpfe Schmerz in seinem Schädel gelegt.
 

Er hatte gerade vor, seine Augen zu öffnen, als er spürte, wie ein kühler Lappen auf seine Stirn gelegt wurde. Er unterdrückte ein Zucken und behielt die Augen geschlossen.

Er genoss die frische Kälte auf seiner Stirn und konzentrierte sich wieder auf die Wahrnehmungen seines Gehörsinnes.

Die Person schien sich durch den Raum zu bewegen. Er lauschte den Geräuschen von Vorhängen, die zurückgezogen wurden und bemerkte sofort die Helligkeit, die durch seine geschlossenen Augenlieder drang.

Ein Grund mehr, die Augen geschlossen zu halten..., stellte er nüchtern fest und

versuchte, durch sein Gehör die Position der Person zu festzustellen. Auch wenn er sich gegenwärtig an nichts erinnern konnte, spürte er, dass etwas nicht stimmte.

Er hörte weitere Geräusche. Es wurde ein Glas mit Flüssigkeit gefüllt und anschließend setzte sich die Person auf einen Stuhl oder ähnliches. Stille.

Naoe spürte, dass er langsam nervös wurde. Ab und zu wurde die Stille durch die Schluckgeräusche der Person und das Knarren der Sitzgelegenheit unterbrochen. Er überlegte, ob er die Augen öffnen und versuchen sollte, sich in eine günstigere Verteidigungsposition zu bringen, aber diesen Gedanken verwarf er gleich wieder. Er fühlte, dass, unabhängig von dem dumpfen Schmerz in seinem Kopf, etwas mit seinem Körper nicht stimmte. Er beschloss zu warten und musste nicht lange ausharren.
 

„Wieso öffnest du nicht einfach deine Augen und erzählst mir, warum du Minako getötet hast!“

Naoe gefror das Blut in den Adern. Er dachte, er wäre auf alles vorbereitet gewesen, aber dies ließ ihn schwindeln. Er erinnerte sich blitzartig an alles, was geschehen war. Woher er diese Stimme kannte, warum sich sein Körper so mies anfühlte, und weshalb er irgendwo in einem Bett lag, welches ihm nicht vertraut war. Er stöhnte.

Woher kannte Takahashi-san Minakos Name? Wann hat sie es geschafft, mich zu überwältigen? Warte, genau. Ich habe zusammen mit ihr etwas getrunken, während sie mir von ihrer Angelegenheit berichtete, bei der ich ihr behilflich sein sollte. Betäubungsmittel. Ja, genau danach fühlt sich mein Kopf an, aber was noch? Was stimmt sonst noch nicht mit mir?

Naoe untersuchte im Geiste seinen Körper. Er versuchte alles Ungewöhnliche zu erspüren und blieb an seinem linken Knöchel hängen. Dort befand sich etwas, was vorher nicht da gewesen war. Er fühlte die Kälte eines eisernen Gegenstandes, welcher seinen Knöchel umschloss. Ihm wurde sofort bewusst, welche Aufgabe dieses Objekt hatte.

Ich kann meine Kräfte nicht einsetzen..., dachte er mit leichtem Entsetzen.

Aber woher kommt dieses Band der Versiegelung? Wer hat es angelegt und warum... Naoes Gedanken überschlugen sich. Seine Beunruhigung nahm zu. Er konnte sich einfach niemanden aus der Unterwelt vorstellen, der seine Finger im Spiel haben könnte. Zumal es in letzter Zeit sehr ruhig gewesen war, fast friedlich.

Vielleicht zu ruhig, und ich habe mich dadurch blenden lassen... Er ging sorgfältig alle letzten Ereignisse im Geiste durch, fand aber keinen Ansatzpunkt, der nur im Geringsten eine solche Tat gegen ihn schlussfolgern ließ. Er erstarrte und schluckte schwer.

Sie sind nicht hinter mir her! Sie wollen Kagetora... Ich soll als Köder oder Informationsquelle dienen. Naoe lachte heiser.

Als ob ihnen das etwas nützt. Kagetora würde mich eher verraten, als sich erpressen zu lassen... Er spürte bei diesem Gedanken einen bittersüßen Schmerz im Herzen.
 

„Hm? Ich wusste gar nicht, dass meine Frage so lustig ist, Tachibana-san. Oder muss ich diesen Ausbruch den Nachwirkungen der Betäubung anrechnen?“

Naoe konzentrierte sich wieder auf die Stimme. Er öffnete die Augen und bemerkte, dass es ihm inzwischen leichter fiel, sie offen zu halten. Nachdem sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, drehte er seinen Kopf in die Richtung, aus der Takahashi zu ihm sprach.
 

Sie saß auf einem verhältnismäßig einfach gehaltenen Stuhl im Vergleich zum Rest des Zimmers. Die übrigen Einrichtungsgegenstände erschienen luxuriös. Er konnte Bilder an der Wand hängen sehen, und ein großer Schrank aus Holz mit kleinen Verzierungen befand sich seitlich von seinem Bett an der Wand. Ihm gegenüber, hinter Takahashi, lud ein großes Fenster zu einem Panoramablick ein.

Er versuchte durch den Blick nach draußen Hinweise über seinen Aufenthaltsort zu erhalten, musste aber feststellen, dass ihm die Landschaft überhaupt nichts sagte. Er schaute zurück zu Takahashi, die ihn mit unergründlichen Augen ansah.

„Soll ich meine Frage wiederholen, Tachibana-san?“ Sie sah Naoe über den Rand ihres noch halbvoll gefüllten Wasserglases an. Er erwiderte ihren Blick, versteifte aber innerlich bei dem Gedanken an Minako.

Ich muss herausfinden, wie viel sie weiß und von wem... Aber vor allem, wer ist sie wirklich? Wird sie ebenfalls benutzt? Sie ist eine ganz normale Person, soviel konnte ich bei unserer ersten Begegnung feststellen. Sie hat mir diesen Ring also nicht angelegt...

Naoe versuchte sich aufzusetzen, musste dieses Vorhaben aber abbrechen, weil ihm schwindelig zu Mute wurde. Er fluchte innerlich.

„Hm. Verstehe. Du bist also momentan nicht in der Lage, eine einfache Frage zu beantworten. Dann werde ich dir entgegenkommen. Ich lasse dich jetzt allein. Ich rate dir aber, dich bis zu unserem nächsten Treffen äußern zu können, da ich nicht weiß, was geschehen könnte. Ach ja, noch etwas, Tachibana-san. Du brauchst gar nicht auf die Idee zu kommen, von hier fliehen zu wollen. Das würde dir nicht gut bekommen...“, ließ Takahashi kalt verlauten, stand auf und drehte sich noch einmal zu ihm um, bevor sie das Zimmer verließ.
 

Naoe starrte auf die Tür, durch die Takahashi verschwunden war. Er schloss kurz seine Augen und dankte ihr insgeheim dafür, dass er nun etwas Zeit allein zum Nachdenken hatte. Er atmete tief ein, und versuchte sich zu entspannen.

Er verspürte Durst. Ihm wurde auf einmal bewusst, dass er gar nicht mehr wusste, wann er das letzte Mal seinem Körper etwas zugeführt hatte. Er schaute sich um, und entdeckte neben sich am Bett auf dem Nachtschränkchen das Tablette mit einem Krug Wasser und einer Schale frischem Obst.

Wenigstens lassen sie mich nicht hungern – noch nicht..., dachte Naoe bitter, während er versuchte, sich trotz des Schwindelgefühls aufzusetzen. Als er es geschafft hatte, verharrte er, bis das schlimmste Gefühl nachgelassen hatte, und griff nach dem Krug Wasser.

Er leerte zwei volle Gläser und aß nun einen Apfel, während er sich das Zimmer genauer anschaute. Es war im westlichen Stil gehalten. Bis auf den Schrank, das Bett, die Wandbilder, den Stuhl und das Nachtschränkchen mit einer dazugehörigen Lampe war der Raum leer.

Wäre ich kein Gefangener dieses Zimmers, würde ich mich sich sogar wohlfühlen..., dachte Naoe melancholisch. Besonders der atemberaubende Panoramablick fing immer wieder seinen Blick ein.

Der Anblick außerhalb des Fenster ließ ihn erkennen, dass es früher Abend sein musste. Die Sonne war noch nicht untergegangen, würde es aber in den nächsten zwei Stunden tun.

Sie geht genau dort unter... Naoe unterdrückte ein Seufzen und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte.

Er wusste nicht, wann Takahashi das nächste Mal auftauchen würde. Er wollte auf jeden Fall bereit sein und beginnen, einen Plan auszuarbeiten, der ihm helfen sollte, diesen Platz unversehrt zu verlassen. Er konnte zwar seine Kräfte nicht nutzen, aber vielleicht half ihm seine körperliche Stärke und seine Intelligenz.

Dass Takahashi von Minako zu wissen schien, war für Naoe eindeutig ein Zeichen, dass jemand aus der Unterwelt seine Finger im Spiel hatte. Es gab nicht viele, die darüber Bescheid wussten. Aber wer und warum, darauf hatte er noch keine Antwort.

Minako... Er musste an das Ereignis von vor 30 Jahren denken. Ihm wurde kalt, als er unerwartet an den Moment denken musste, als Kagetoras Seele durch Minakos Körper zu ihm sprach.

'Das werde ich dir bis in alle Ewigkeit nicht vergeben!' Das waren deine Worte, Kagetora-sama. Dann werde ich eben bis in alle Ewigkeit warten... Er schob diesen Gedanken beiseite und überlegte, was er als nächsten tun würde.

Er hoffte, dass Takahashi bei ihrem nächsten Besuch mehr von sich preisgeben würde, sich vielleicht sogar verriet, aber damit durfte er nicht rechnen.
 

Naoe dachte darüber nach, ob jemand sein Verschwinden bemerkt haben könnte, kam aber zu dem Entschluss, dass vorerst niemand beunruhigt sein würde, wenn er sich drei oder vier Wochen lang nicht meldete. Chiaki und Haruie waren dieses Verhalten von ihm gewöhnt.

Aber was ist danach... Er hoffte, dass sie zum Schutz von Kagetora nicht überstürzt handeln, und nach ihm suchen würden.

Ihm fiel auf einmal wieder ein, dass er sich den Abend nach dem zweiten Treffen mit Takahashi, der nun der Abend seiner Entführung war, eigentlich mit Kousaka treffen wollte. Er fand es äußerst ungewöhnlich, dass ihn Kousaka aufsuchen wollte. Naoe verzog missmutig das Gesicht.

Wenn er wirklich zu mir nach Hause gekommen ist, dann wird ihm bestimmt aufgefallen sein, dass ich ungewollt abwesend bin. Ich habe da kein gutes Gefühl. Der nutzt diesen Vorteil gegenüber Chiaki und Kagetora bestimmt wieder für seine zwielichtigen Machenschaften... Aber warum wollte er mich treffen? Um mich zu warnen? Weiß er vielleicht mehr? Wäre nichts neues... Naoe spürte, dass sich Frust in ihm ausbreitete.

Er nahm sich einen weiteren Apfel und hing seinen Gedanken nach, während er der Sonne bei ihrem Untergang durch das Fenster zusah.
 


 

Während Naoe seinen Gedanken nachhing, bestimmte jemand anderes auf dem Anwesen, auf dem sich Naoes Zimmer befand, seine weitere Behandlung.

Shishido lag im warmen Wasser und genoss die ruhige Atmosphäre. Er hielt die Augen geschlossen und dachte an Kagetora.

Ich bin mal gespannt, wann du aktiv wirst. Ich kann es kaum abwarten, aber ich werde mir in der Zwischenzeit das Warten mit deinem Spielzeug versüßen... Ein teuflisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

Er vernahm die Ankunft seines engsten Vertrauten, der als einziger die Erlaubnis besaß, ihn in solchen Momenten der Entspannung ohne Absprache aufsuchen durfte.

„Shishido-sama.“

„Arakawa, gibt es etwas Neues? Oder bist du gekommen, um mir beim Baden Gesellschaft zu leisten?“ Shishido schaute verführend in Arakawas Richtung, dessen Wangen aufgrund der letzten Bemerkung eine leichte Röte überzog.

„Naoe ist zu Bewusstsein gekommen. Er war noch nicht in der Lage, ein richtiges Gespräch zu führen, daher hat ihn Takahashi-san vorerst allein gelassen. Er liegt wach in seinem Bett und überlegt wahrscheinlich gerade, wer die Drahtzieher sind...“Arakawa wurde unsanft von Shishido unterbrochen.

„Ich glaube, du musst dir deinen Kopf nicht darüber zerbrechen, was Naoe denkt, Arakawa. Das ist belanglos. Wichtig ist, dass Takahashi ihn weiter aufsucht, bevor ich ihm letztendlich den ersten Besuch abstatte. Er soll unter Takahashis Bedürfnis leiden und sich nichts sehendlicher wünschen, als dass diese Frau stirbt. Hm. Diesen Gedanken werde ich ihm dann natürlich gerne erfüllen, aber er wird mir einen hohen Preis dafür zahlen müssen, so oder so. Ich freue mich darauf, zu sehen, wie sich mir das Schoßhündchen von Kagetora unterwirft.“ Shishido sah mit einen gierigen Blick in die Ferne.

Ich werde dein Schoßhündchen besteigen, Kagetora, aber das ist erst der Anfang! Shishido sah in Arakawas Richtung und überlegte, ob er ihn zu sich ins Wasser holen sollte, um seiner gestiegenen Erregung Abhilfe zu schaffen, aber er entschied sich dagegen. Er würde warten, bis Naoe bereit für ihn war.

„Arakawa, lass das Abendessen in meinem Zimmer herrichten. Sorge dafür, dass die Kamera eingeschaltet ist. Ich möchte Naoe heute Abend noch ein wenig betrachten. Du kannst dich, wenn du alles erledigt hast, anschließend zurückziehen.“ Als er hinauf zu Arakawa sah, um ihn zu entlassen, bemerkte er dessen verlangenden Gesichtsausdruck. Shishido lächelte ihn wissend an. Arakawas Gesichtsfarbe wurde noch dunkler, als er sich verabschiedete und sich zurückzog.

Du musst ab jetzt eine Weile auf mich verzichten, Arakawa. Aber keine Sorge, du wirst meine Gunst früher, als du vielleicht denken magst, wieder zu spüren bekommen. Er sah ihm hinterher, als Arakawa die Tür hinter sich schloss.

Entzwei

Takaya stand auf dem Dach des Schulgebäudes, und lehnte lässig mit dem Rücken am Maschendrahtzaun der Brüstung. Arrogant musterte er die vor ihm stehenden Personen. Er hatte ursprünglich vorgehabt, hier oben in Ruhe die Mittagspause zu verbringen, als drei Oberschüler der Nachbarschule unerwartet vor ihm auftauchten. Er brauchte einen kurzen Moment, bevor er sich an zwei, der drei Gesichter, erinnern konnte.

Weil es zu zweit nicht geklappt hat, kommt ihr nun also zu dritt? Auch gut. Wenn ihr euch unbedingt prügeln wollt, dann nur zu. Mir ist eh langweilig, und da ich schlecht gelaunt bin, kann ein bisschen Ablenkung nicht schaden..., dachte Takaya mit einem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht.

Er fixierte als erstes die ihm unbekannte Person. Sie war etwas kleiner als er, und hatte eine auffallende Narbe über der rechten Augenbraue. Er kam zu dem Entschluss, dass ihm die dritte Person ebenso wenig gewachsen war, und er als Sieger aus dieser Auseinandersetzung gehen würde.

Das wird nicht wirklich Spaß machen..., stellte er enttäuscht fest und begab sich in Verteidigungsposition.
 

Die beiden bekannten Gesichter reagierten sofort, und griffen ihn an. Sie versuchten gleichzeitig von zwei Seiten auf ihn zuzustürmen, während die dritte Person im Hintergrund lauerte. Takaya tauchte unter den Armen der einen Person durch, und versetze ihr einen Tritt gegen die Kniekehle. Sie ging ächzten zu Boden. Er drehte sich sofort um, als er spürte, dass die bisher untätige Person unerwartet schnell auf ihn zurannte. Er reagierte den Bruchteil einer Sekunde zu langsam, und erntete dafür einen Schlag in die Magengegend, der ihm den Atem nahm. Er schnappte nach Luft und wich zurück.

Mist, jetzt bin ich echt wütend, aber wenigstens ist es nicht so langweilig, wie ich gedacht habe... Takaya beäugte alle drei aus der Distanz, und schätze seine Lage neu ein.

Die Person, der er einen Tritt in die Kniekehle versetzt hatte, stand wieder, humpelte aber merklich.

Okay, dann bist du als erstes dran... Takaya dachte nicht weiter nach, und stürmte vorwärts. Er wich dem Tritt der unbekannten Person aus, schubste die zweite heftig zur Seite und trat der verbleibenden dritten erneut gegen das lädierte Knie. Diese ging stöhnend zu Boden und stand nicht mehr auf.

Er brauchte nicht lange zu warten, bis die unbekannte Person abermals auf ihn losstürmte, diesmal mit einem Messer bewaffnet.

Oh, das wird ja immer besser... Er wich der ersten Attacke aus, und beobachtete aus dem Augenwinkel heraus die verbleibenden beiden, die mit ihren Blicken irritiert die dritte Person mit dem Messer verfolgten.

Sieht so aus, als ginge ihnen das zu weit. Interessant. Gehören die wirklich zusammen?, fragte sich Takaya, als er sich auf die narbetragende Person konzentrierte. Er konnte einen Tritt in deren Seite landen, während er dabei dem Messer geschickt auswich. Der nächste Angriff sollte die Sache eigentlich beenden, als er einen unerwartet heftigen Schmerz im Kopf verspürte, der ihn erstarren ließ.

Naoe... Er nahm für einen kurzen Moment Naoes Anwesenheit wahr, bevor die Kette, die sie beide unsichtbar miteinander vereinigte, riss. Er hatte das Gefühl, als würde Naoes Existenz aus ihm herausgeschnitten. Er keuchte und versuchte Tränen des Schmerzes beiseite zu blinzeln.

Sein Gegner nutzte diesen Moment der Verwirrung. Er holte mit dem Messer aus, um es in Takayas Oberkörper zu versenken. Takaya reagierte im letzten Moment, und hob schützend seinen Arm. Das Messer zerschnitt seinen Ärmel und hinterließ einen blutenden Schnitt im Unterarm.

Er ging ein paar Schritte zurück, und hielt sich seinen blutenden Arm. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schaute er zu seinem Gegner, der ihn verächtlich angrinste. Dieser machte sich für einen weiteren Angriff bereit, und wollte soeben auf Takaya zulaufen, als ihn eine laute, befehlerisch klingende Stimme inne halten ließ.
 

„Was geht hier vor?“ Chiaki schaute von einer Person zur anderen, und sein Blick blieb bei Takaya und seiner Wunde hängen. Er blieb versteinert stehen.

„Takaya, was ist hier los?“ Er schaute fassungslos zu ihm, während dieser mit verzerrtem Gesicht zurückstarrte. Takayas Zustand irritierte Chiaki, da er nicht das Gefühl hatte, dass die hier Anwesenden ihm überlegen wären.

Warum also die Wunde? Irgendetwas stimmt hier nicht... Chiaki bewegte sich nun langsam auf Takaya zu, und behielt dessen Widersacher im Auge. Er rechnete mit allem, aber er hatte nichts zu befürchten, denn die beiden beieinander hockenden Personen standen sich gegenseitig stützend auf, und verließen, ohne ein Wort zu verlieren, fluchtartig das Dach. Die dritte schaute ihnen nach, und schien zu überlegen. Sie sah zurück zu Chiaki und anschließend zu Takaya, der den Blick eisig erwiderte. Sie steckte das Messer zurück in die Hosentasche, und ging rückwärts bis zur Treppe, die nach unten führte. Bevor sie im Treppengang verschwand, fixierte sie Takaya ein letztes Mal und grinste dabei sadistisch. Die Tür fiel zurück ins Schloss.
 

Chiaki trat auf Takaya zu, der sich auf den Boden gesetzt hatte.

„Was war hier los? Ich weiß, dass du dich gern provozieren lässt, aber eine Wunde? Das sieht dir nicht ähnlich. Wie ist das passiert, Takaya?“ Er hockte sich vor Takaya und griff nach dessen Arm, um sich die Wunde anzusehen. Sie war nicht sehr tief, und würde schnell verheilen, dank der ihm innewohnenden Kraft.

Er betrachtete Takaya genauer. Seit dem vergangenen Wochenende, als sie alle von Yuzurus Ferienhaus in den Bergen zurückgekehrt waren, schien Takaya noch schlechter gelaunt zu sein als zuvor. Chiaki wusste, dass es mit Naoe zusammenhing, aber er bekam kein Wort aus Takaya heraus, genauso wenig erfuhr er von Naoe selbst.

Naoe, wo steckst du gerade? Chiaki seufzte hörbar und entschied, im Moment nicht weiter über die beiden nachzudenken.

„Was führt dich nach hier oben, Chiaki? Hast du mich gesucht?“ antwortete Takaya Chiakis Frage ignorierend. Er konnte inzwischen entspannter atmen, da der Schmerz im Kopf und Arm nachgelassen hatte. Er sah Chiaki fragend an, der seinen Blick grinsend erwiderte.

„Jetzt, wo du mich fragst, weiß ich es selber nicht mehr. Dein Anblick hat mich völlig durcheinander gebracht!“ Er schlug Takaya freundschaftlich auf die Schulte, und stellte sich anschließend wieder hin, um in die Ferne blicken zu können.

Takaya stand ebenfalls auf, verband die Wunde mit seinem Taschentuch und gesellte sich zu Chiaki, der ihn kurz ansah, und nach Anzeichen körperlicher Schwäche suchte. Er konnte nichts finden, was ihn ein wenig beruhigte.

Was ist mit dir los, Takaya!? Warum die Verletzung? Was verschweigst du...
 

„Hast du was von Naoe gehört?“, fragte Takaya gedankenverloren, während er vom Schuldach das Geschehen auf dem Hof unter ihnen beobachtete. Chiaki sah ihn von der Seite an, und runzelte die Stirn. Es war äußerst selten, dass Takaya gezielt nach Naoe fragte.

„Nein. Wir haben das letzte Mal am Telefon miteinander gesprochen, als er sein Kommen am letzten Wochenende absagen musste. Ihm ist etwas dazwischen gekommen, was er wohl nicht ablehnen konnte. Wahrscheinlich irgendeine Sache, die seine Arbeit als buddhistischer Priester betrifft. Er hat mir nichts genaues gesagt. Tja, und wie wir Naoe kennen, meldet er sich erst wieder, wenn er die Sache erledigt hat, oder er zusätzliche Hilfe benötigt. Also kein Grund zur Sorge, würde ich meinen. Ist erst eine Woche vergangen...“ Chiaki wurde unsanft unterbrochen.

„Wer sagt, dass ich mich sorge? Er ist für sich selbst verantwortlich, und ich habe nix weiter mit ihm zu tun, außer, wir haben einen gemeinsamen Auftrag!“, entgegnete Takaya heftiger, als er es beabsichtigt hatte. Er drehte sich um, und wollte gehen, als er von Chiaki aufgehalten wurde.

„Hey Kagetora! Ich glaube kaum, dass es dich kalt lässt, wenn Naoe etwas zustoßen würde. Ich würde es nicht zulassen!“ Chiaki blickte entschlossen zu Takaya, der ihn anfunkelte.

„Tu, was du nicht lassen kannst!“, erwiderte Takaya auf arrogante Art, die Chiaki so vertraut und gleichzeitig zuwider war. Er drehte Takaya den Rücken zu, um erneut in die Ferne sehen zu können, und hörte dabei die Tür, die ein drittes Mal ins Schloss fiel.
 


 

Takaya lag wach in seinem Bett und dachte nach. Drei Wochen waren seit dem Vorfall auf dem Schuldach vergangen. Die Wunde war längst verheilt und es gab keinen weiteren ähnlichen Zwischenfall. Es hatte auch keinen Auftrag gegeben, so dass er sich hauptsächlich auf die Schule und die Prüfungen konzentrieren konnte.

Es gibt bisher auch keine Nachricht von Naoe. Vier Wochen sind seit dem letzten Kontakt vergangen. Was macht du? Wo bist du... Verdammt, Naoe!, dachte er gereizt. Takaya spürte eine innere Unruhe, wie seit langem nicht mehr. Seit dem Ereignis auf dem Dach, konnte er nicht die geringste Spur von Naoe entdecken. Er fand es merkwürdig, da bisher nie ein Gefühl der Leere existiert hatte, wenn Naoe länger weg war. Egal, wo sich Naoe aufhielt, Takaya konnte ihn spüren, wenn er es wollte, aber jetzt war da nichts.

Es fühlt sich fast so an, als ob er sich absichtlich vollkommen verschlossen hat. Aber warum? Will er mich schützen? Sich? Was treibst du nur... Er drehte sich beunruhigt auf die Seite, und schaute aus dem Fenster in den Nachthimmel.

Er hatte bisher mit niemanden über diese Sache reden wollen. Ihm war einfach nicht klar, ob es überhaupt etwas zu bedeuten hatte, aber dennoch war er verunsichert. Er machte sich inzwischen wirklich Sorgen.

Verdammter Scheißkerl! Was hast du dir nur dabei gedacht... Willst du mich wieder testen? Gewinner? Verlierer? Nach dem jetzigen Stand bist du eindeutig der Verlierer, Naoe!, dachte Takaya wütend, und versuchte sich an die letzte Begegnung mit ihm zu erinnern. Sofort schoss ihm die Begebenheit im Hotelzimmer in den Kopf. Er konnte Naoes Umarmung spüren, seinen Atem am Hals, seine grausamen, aber ehrlichen Worte...

Er hätte Naoes Berührungen genießen können, wenn er nicht so brutal vorgegangen wäre. Aber dessen unbeherrschte Art ließ Takaya Dinge erinnern, die er lieber vergessen wollte. Natürlich wusste Naoe nichts von diesen Ereignissen, aber vielleicht ahnte er etwas, und ging deshalb berechnend mit böser Absicht vor, um ihn zu quälen. Takaya lachte gepeinigt.

Du bist frei, Naoe! Du hast dich damals losgesagt. Du wolltest nur noch für dich leben. Es scheint, du tust es wirklich. Und ich? Was will ich? Will ich dich gehen lassen? Unsere Beziehung besteht nur aus Schmerz und Unterdrückung. Kann sich das überhaupt ändern? Es gibt so vieles, was ich dir nie verzeihen kann, und du? Kannst du mir verzeihen? Wie kannst du sagen, dass du mich liebst? Immer geliebt hast?

Takaya verließ ruhelos das Bett, um zum Bad zu gehen, als plötzlich sein Handy zum Leben erwachte. Er schaute auf die Uhr.

„Hä? Es ist kurz vor Mitternacht! Wer kann das sein?“, fragte er sich mit zunehmender Beunruhigung. Er hatte eine schlimme Vorahnung.
 

„Yo Kagetora, ich hoffe, ich habe deinen süßen Schlaf gestört!“

Takaya stellte sich mit dem Telefon am Ohr an sein Zimmerfenster, und betrachtete den Mond.

„Was willst du, Kousaka?“, fragte Takaya eisig.

„Warum so kühl, Kagetora? Freust du dich nicht, mich zu hören? Oder hättest du lieber Naoes Stimme hören wollen? Da muss ich dich leider enttäuschen. Der kann nämlich zur Zeit schlecht reden...“ Takaya unterbrach Kousaka scharf.

„Was heißt, er kann nicht reden? Was weißt du?“, fragte er mit besorgter Stimme.

„Oh? Kagetora und besorgt? Muss ich mir jetzt Sorgen machen über deine geistige Gesundheit?“

„Lass die Scherze, Kousaka, und komm endlich zum Punkt. Was willst du von mir?“, entgegnete Takaya und spürte, dass sich in ihm die anfangs flüchtig vorhandene, ungute Vorahnung zu einem Klumpen übelkeitserregender Masse zusammenzog. Er schluckte.

„Naoe wird festgehalten von einer Person, über die ich selbst noch nicht viel weiß. Aber das, was ich weiß, hört sich nicht sehr gut an. Es geht auch nicht wirklich um ihn, sondern er ist Mittel zum Zweck! Wie wäre es, wenn wir uns morgen treffen? Ich habe da nämlich so Päckchen, was äußerst interessant zu sein scheint. Ein Video, wenn ich genauer bin. Ich habe es mir noch nicht angesehen, aber es ist für dich bestimmt, denn dein Name steht drauf...“

Takaya hörte sprachlos zu. Sein ungutes Gefühl breitete sich inzwischen in jeder Faser seines Körpers aus. Er unterdrückte ein Zittern.

Naoe, geht es dir gut?, dachte Takaya und versuchte vergeblich, sein negatives Gefühl zu unterdrücken.

„In Ordnung. Wann und wo?“, herrschte Takaya Kousaka ungeduldig an.

„Hm, nicht so ungestüm. Wir sollten noch einiges klären. Also, du erzählt von dieser Sache niemanden. Chiaki und Haruie bleiben außen vor, verstanden? Ich treffe dich morgen auf Naoes Familiensitz, alleine. Komm, sobald du aufgestanden bist. Ich werde warten...“ Kousaka legte auf und ließ Takaya verblüfft am anderen Ende des Telefons zurück. Er warf das Telefon entnervt auf den Sessel in seiner Nähe, und starrte aus dem Fenster.

Kousaka. Was führst du im Schilde? Was willst du als Gegenleistung, denn umsonst gibst du keine Informationen preis... Takaya holte tief Luft. Er konzentrierte sich auf seine Atmung und beruhigte sich innerlich. Er überlegte, und kam zu dem Entschluss, dass er sich sofort auf den Weg zum Familiensitz der Tachibanas machen sollte.

Schlafen ist jetzt unmöglich. Mit dem Motorrad werde ich eh eine Weile bis dorthin brauchen, da kann ich auch gleich losfahren. Rechtszeitig zum Sonnenaufgang da sein, hm... Könnte es eine Falle sein? Vertrauen kann ich ihm nicht, aber es bleibt mir keine andere Wahl, wenn ich etwa erfahren möchte. Ich warte das Treffen einfach ab, und entscheide dann, ob ich Chiaki und Haruie hinzuziehe..., stellte Takaya entschlossen fest, verschwand kurz im Bad, und zog sich anschließend warm an.

Er ging leise nach unten, um sich in der Küche etwas zu Essen in seinen Rucksack packen zu können. Es waren noch Reste vom Abendbrot da, die Miya fein säuberlich verpackt hatte.

Miya..., dachte Takaya entschuldigend. Er packte genug für ein Frühstück ein, und schrieb dann einen Notizzettel für seine Schwester, damit sie sich morgen früh nicht über seine Abwesenheit sorgen musste. Er legte ihn gut sichtbar auf den Tisch, und verließ das Haus.
 


 

Er erreichte das Anwesen der Tachibanas am frühen Morgen. Der Sonnenaufgang stand kurz bevor. Er gähnte und streckte seinen vom Fahrtwind durchgefrorenen Körper. Die Fahrt war nicht sehr anstrengend gewesen, und gäbe es nicht diesen unguten Anlass dafür, hätte sie Takaya auch richtig genießen können.

Er sah sich um. In der Nähe des Hauses war ein kleiner Hain, auf den er geradewegs zusteuerte. Er kontrollierte auf dem Weg dorthin sein Umfeld auf mögliche Gefahren und der Anwesenheit Kousakas, konnte aber weder das eine, noch das andere feststellen.

Am Hain angekommen, suchte er darin einen freien Platz, um sich dort mit seinem mitgebrachten Schlafsack hinzulegen, um ein wenig Kraft zu tanken.

Er war auf drei Seiten von hohen Bäumen umgeben, die vierte aber war offen, und ließ den Blick ostwärts auf den Horizont zu.

Dort geht bald die Sonne auf..., dachte Takaya etwas schläfrig, und kuschelte sich in seinen Schlafsack. Ehe er es bemerkte, war er eingeschlafen.
 

Etwas kitzelte Takaya in der Nase. Er murmelte schlaftrunken, und drehte sich auf den Rücken. Plötzlich öffnete er die Augen, und sah direkt in Kousakas Gesicht, der aus kurzer Entfernung auf ihn hinab lächelte.

„Was zum...“, stotterte Takaya, während er versuchte aufzustehen. Dieser Versuch misslang, und er fiel hin. Er hörte Kousakas Lachen. Wütend befreite sich Takaya aus seinem Schlafsack, und funkelte dabei Kousaka an, der aus der Hocke hämisch zu ihm hinauf grinste.

„Na, warum so wütend? Mich trifft keine Schuld. Du bist der, der hier so seelenruhig im Hain schläft. Scheinst ja die Ruhe weg zu haben. Aber ich muss zugeben, du hast dir einen schönen Platz ausgesucht! Schau, die Sonne geht auf...“, entgegnete Kousaka amüsiert, und sah zum Horizont. Takaya tat es ihm nach. Genau in diesem Moment erschien der erste Sonnenstrahl.

Der Sonnenaufgang verliert kein Stück an seiner Schönheit! Ob heute, oder vor 400 Jahren..., stellte Takaya mit einem sanften Gesichtsausdruck fest. Er seufzte, setzte sich auf seinen Schlafsack und kramte in seinem Rucksack nach dem Essen.

Kousaka beobachtete ihn dabei, und dachte an den längst wieder vergangenen Ausdruck der Zufriedenheit auf Takayas Gesicht. Er hätte zu gern gewusst, an was dieser in jenem Moment gedacht hatte.

„Du bist also zum Picknick hier heraus gekommen? Du hättest anklopfen sollen, damit ich dich...“ Kousaka wurde durch Takayas verächtliches Schnaufen unterbrochen.

„Anklopfen? Ich wusste gar nicht, dass du hier der Hausherr bist, Kousaka? Oder ist mir da etwas entgangen.“ Takaya blickte zu Kousaka rüber, der sich auf einen Stein in seiner Nähe gesetzt hatte.

„Vielleicht ist dir so einiges entgangen. Ich bin sein Geliebter, also habe ich das Recht hier zu sein, und in seiner Abwesenheit das Anwesen zu hüten. Wusstest du das noch nicht?“, sagte Kousaka mit gespielter Ernsthaftigkeit. Takaya sah ihn mit unergründlicher Miene an.

„Hm...oder wie wäre es damit. Ich bin sein verloren geglaubter Bruder?“

„Kousaka, deine Scherze waren auch schon mal besser.“, stellte Takaya teilnahmslos fest, und biss in einen mitgebrachten Apfel.

„Das Haus ist seit vier Wochen verlassen, Kagetora. Naoe hat es in dieser ganzen Zeit nicht wieder betreten.“, sagte Kousaka ernst.

„Ach ja? Woher willst du wissen, dass er nicht doch mal hier gewesen ist?“, fragte Takaya, obwohl er ahnte, dass Kousaka die Wahrheit sprach.

„Ich habe da so meine Quellen, du kannst dich darauf verlassen. Wie dem auch sei, ich hatte Naoe um ein Treffen gebeten. An dem vereinbarten Tag bin ich hierher gekommen und musste feststellen, dass er nirgends aufzufinden war. Das sieht Naoe nicht ähnlich, wie eigentlich wissen müsstest. Ich wartete den ganzen Tag, aber keine Spur. Ich gehe davon aus, dass ich zu spät gekommen bin...“

„Was meinst du mit ‚zu spät’, Kousaka?“, fragte Takaya, und sah ihn mit ansteigender Wut an.

„Nachdem ich also vergeblich auf Naoe gewartet habe, bin ich zurück, und habe Nachforschungen betrieben. Ich konnte nicht sehr viel herausbekommen, außer, dass Naoe drei Tage vor meinem Treffen eine ältere Frau empfangen hat, die ihn um Hilfe in irgendeiner familiären Angelegenheit gebeten hatte.“ Takaya schnitt Kousaka das Wort ab.

„Du ignorierst meine Frage, Kousaka. Was meinst du mit ‚zu spät’...“, fragte Takaya mit einem gebieterischen Unterton. Er sah Kousaka eisig an.

Kousaka starrte für einen Moment verunsichert zurück.

Wow, du bist jetzt wirklich wütend, Kagetora-dono! Wohin soll das noch führen, wenn ich dir den Rest erzähle? Sollte ich vielleicht schützenden Abstand einnehmen?

Kousaka schluckte und fuhr dort weiter, wo er unterbrochen wurde.

„Ich glaube, du willst das jetzt lieber nicht hören, aber du wirst nicht drum herum kommen.“ Er sah Takaya wissend an.

„Die Frau, die Naoe aufgesucht hat, ist Minakos ältere noch lebende Schwester.“
 

Für einen Moment drehte sich in Takayas Kopf alles. Er versuchte Halt zu finden, indem er sich auf den Apfel in seiner Hand konzentrierte, aber er schaffte es nicht.

Seine Gedanken rasten zu jenem Tag, als er unbewusst von Minakos Körper Besitz ergriff.

Er war im Kampf so stark verletzt worden, so dass er aus eigener Kraft keinen anderen Körper übernehmen konnte. Naoe übernahm das für ihn, und suchte Minakos Körper aus.

Naoe begann diese schreckliche Tat aus reiner Selbstgier, wie Takaya heute wusste. Er tat es, damit er ihn nicht wieder aus den Augen verlor, wenn er einfach in einem andern Körper wiedergeboren würde. Er wollte ihn auf keinen Fall verlieren.

Takaya spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Liebe. Hass. Takaya schluckte und versuchte die Bilder zu unterdrücken, die sich ununterbrochen einen Weg zu seinem Bewusstsein bahnten. Er stöhnte.

„Wie ich sehe, nimmt dich das noch ganz schön mit, was, Kagetora!? Noch immer nicht drüber weg? Das tut mir, ehrlich gesagt, nicht leid. Ich kann Naoe nur leider nicht verstehen, warum er so an dir festhält, nach allem, was du ihm angetan hast und noch immer antust!“, sagte Kousaka unbarmherzig und erläuterte weiter.

„Wie du dir vielleicht denken kannst, ist es kein Zufall, dass sie Naoe gefunden hat. Und hier komme ich nun zu dem Punkt, der deine Frage bezüglich des ‚zu spät’ erklären wird. Seit einiger Zeit kursieren Gerüchte in der Unterwelt, dass eine mächtige, aber unbekannte Person aufgetaucht ist, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kagetora zu zerstören. Frag mich nicht, wer das ist, denn ich weiß es selber nicht. Und wenn ich ehrlich bin, hätte ich nichts dagegen, wenn dir etwas passieren würde, wenn da nicht Naoe wäre.“, stellte Kousaka ernsthaft fest.

„Es heißt, er würde versuchen, dich durch Naoe bekommen zu wollen. Nun, es scheint, als hätte er Naoe inzwischen, und wie ich den so kenne, wird er es nicht zulassen, dass dir etwas passiert. Eher würde er wohl sterben, als dich ans Messer zu liefern.“ Kousaka seufzte hörbar.

„Ich kann Naoe in diesem Punkt einfach nicht begreifen. Er ist mir ein Rätsel! Obwohl, wenn ich so richtig darüber nachdenke, dann kann ich sein Verhalten sogar verstehen. Es ist schon erschreckend, zu was ein Mensch fähig wird, wenn er in einer glücklosen Leidenschaft gefangen ist...“ Kousaka starrte zu Takaya, der sich vom ersten Schock erholt zu haben schien. Ihre Blicke trafen sich. Kousaka wendete als erster den Blick ab. Er sah zurück zum Horizont.

„Ich denke, wir sollten ins Haus gehen und sehen, was sich auf dem Video befindet. Oder was meinst du, Kagetora?“, fragte Kousaka leise, während er aufstand und ihm den Rücken zudrehte. Er ging ohne zu warten davon.

Takaya sah ihm nach. Er fühlte sich kraft- und hilflos.

„Naoe, ich hoffe, du bist in Ordnung und kommst nicht auf dumme Gedanken! Es gibt schon so vieles, was ich dir nicht verzeihen kann...“, murmelte Takaya leise, als er seine Sachen nahm und Kousaka folgte.

Enthüllungen

Es war eine Weile her, seit Takaya das letzte mal das Haus von Naoe betreten hatte.

Betreten ist gut..., dachte Takaya zweifelnd, Er hat mich hierher gebracht, damit ich mich von meinen Verletzungen erhole... Takaya spürte einen Stich in seinem Herzen, als er an die Auseinadersetzung mit seinem Bruder dachte. Er schob diesen quälenden Gedanken beiseite, und blickte sich um. Es war alles noch genauso, wie bei seinem letzten Aufenthalt, nur das Naoe nicht hier war.

„Naoe...“, sprach Takaya leise, und fragte sich, was er auf dem Video zu sehen bekommen würde. Er hatte ein ungutes Gefühl. Nicht nur, weil Kousaka bei ihm war, und dieser mehr wusste, als er selbst, sondern allein die Tatsache, dass es eine Videobotschaft war, ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Ihm kamen die schrecklichsten Dinge in den Sinn. Er sog hörbar den Atem ein.

Verdammt, reiß dich zusammen... Es wird schon nichts schlimmes sein, oder doch?, dachte er mit zunehmender Unruhe.

„Alles in Ordnung? Du siehst nach wie vor blass aus. Zu wenig geschlafen, was?“, meinte Kousaka, und ein belustigtes Lächeln umspielte seinen Mund. Er ging in den nächsten Raum. Takaya folgte ihm, und sah sich um. Er entdeckte einen großen Flachbildschirm an der Wand, sowie eine Soundanlage, ein Dvd-Player, ein Videorekorder und viele andere elektronische Gegenstände, die an der gegenüberliegenden Seite aufgestellt waren. Dazwischen stand ein großes, schwarzes Ledersofa. Takaya konnte sich nicht daran erinnern, diesen Raum beim letzten mal gesehen zu haben.

Wow, ganz schön viel... Eigentlich ja nicht verwunderlich, wenn ich daran denke, dass er sogar drei Autos besitzt..., stellte Takaya fest, und grinste schief, was unter den gegebenen Umständen, einer Grimasse gleich kam. Er sah zu Kousaka, der sich an den Geräten zu schaffen machte. Takaya ging zum Sofa, und setzte sich auf die Lehne. Darauf entdeckte er einen großen Briefumschlag, den er aufhob, und den Inhalt herausnahm.

Es war eine einfache, schwarze Videokassette, die einen weißen Aufkleber trug, auf dem sein Name in roter Schrift zu lesen war.

Kagetora..., las Takaya innerlich, und unterdrückte einen Zittern, als ihn Kousaka ansprach.

„Reich sie mir bitte rüber, damit ich sie in den Rekorder schieben kann. Dann wäre soweit auch alles fertig, und wir können es uns gemütlich machen auf dem Sofa. Leider habe ich es versäumt, Popcorn und Cola zu besorgen. Ich hoffe, du verzeihst meine Unachtsamkeit!?“ Er sah unverschämt zu Takaya, der ihn böse anfunkelte, und nahm auf dem Sofa platz. Takaya tat es ihm nach, während Kousaka das Video startete.
 

Schwärze überzog den Bildschirm, und ein leises Knistern erfüllte den Raum. Takaya blickte angespannt zum Fernseher, als dort endlich ein Bild erschien.

Ihm gefror das Blut in den Adern, und er unterdrückte einen Aufschrei. Das Bild zeigte einen beleuchteten, fast leeren Raum, in dem ein großes Bett stand. Auf diesem erkannte er Naoe, der mit seinen Handgelenken am oberen Bettrahmen mit Handschellen angekettet war. Seine Augen waren mit einem schwarzen Tuch verbunden, und der noch sichtbare Teil seines Gesichtes war von Anspannung gezeichnet. Er war, bis auf ein leichtes Laken über seinen Genitalbereich, nackt. Naoe war still, schien aber nicht zu schlafen, da er seinen Kopf ab und zu bewegte. Es sah so aus, als würde er lauschen. Takaya musterte Naoe intensiver, und entdeckte an seinem linken Fußknöchel ein Band der Versiegelung.

Er kann seine Kräfte nicht nutzen..., dachte Takaya wissend, und verzog ärgerlich das Gesicht.

Die Person hat ihre Hausaufgaben gemacht... Aber wer... Takaya kam nicht dazu, diesen Gedanken zu beenden, da plötzlich eine tiefe, wohlklingende Stimme zu hören war, die ihn mit Namen begrüßte.

„Guten Tag, Kagetora...“ Takaya konnte sehen, dass Naoe bei seinem Namen zusammenzuckte.

„Ich finde es äußerst schade, dass ich über diesen Weg mit dir sprechen muss. Ich bin eigentlich jemand, der gerne von Angesicht zu Angesicht redet. Aber unter den gegebenen Umständen, dachte ich mir, sollte diese Art der Kommunikation fürs Erste genügen.“ Takaya lauschte mit zunehmender Wut, und war überrascht, als auf einmal eine Person ins Bild trat, die er noch nie zuvor gesehen hatte.

Sie trug eine schwarze Hose, und darüber ein graues, aufgeköpftes Hemd aus Seide. Schwarze lange Haare waren zu einem Zopf gebunden, und ließen dadurch den Blick auf ein ungewöhnlich attraktives Gesicht zu. Takaya schluckte.

„Wie du siehst, habe ich hier einen Freund zu Besuch...“ Er trat neben Naoe an das Bett, und streichelte sanft dessen Kopf. Naoe zuckte unter der plötzlichen Berührung zusammen.

„Er kann dich leider nicht begrüßen, da seine Zunge gelähmt ist. Ich habe darum gebeten, da ich bei meinem Vorhaben nicht sein Gestöhne hören möchte.“ Takaya erstarrte bei dieser Erklärung.

Was hast du vor, du Bastard!? Takaya sah kurz zu Kousaka rüber, der versteinert den Bildschirm fixierte.

„Oh! Eh ich es vergesse. Sehr unhöflich von mir, dich zu begrüßen, aber mich nicht selbst vorzustellen. Also. Es freut mich, dich kennen zu lernen, Uesugi Kagetora. Ich bin Shishido Kiyoshi. Du kannst mich gern Kiyoshi nennen.“, sagte er lächelnd, während er auf das Bett stieg, und sich rittlings auf Naoes Hüfte setzte. Takaya sah, dass Naoe sich versteifte, und seinen Mund im lautlosen Protest öffnete.

„Na na na, Naoe. Wer wird hier denn gleich protestieren wollen. Du solltest dich benehmen, immerhin schaut dein geliebter Herr zu. Nicht wahr, Kagetora?“, sagte Shishido, und blickte fragend mit einem unheilvollen Grinsen in die Kamera.

„Wenn du ihm was antust, dann bringe ich dich um...“, flüsterte Takaya leise, und versuchte seinen aufsteigenden Zorn im Zaum zu halten. Kousaka schaute in seine Richtung, sagte aber nichts.

Takaya sah, wie sich Shishido nach vorne beugte, und Naoe etwas ins Ohr flüsterte. Naoe erblasste. Als sich Shishido wieder aufrichtete, hatte er ein Messer in der Hand.

„Was...“, entfuhr es Takaya unbeherrscht laut. Er starrte auf das Messer, das sich unaufhörlich Naoes Bauch näherte.

„So. Da wären wir also bei meinem Vorhaben, was gleichzeitig ein Geschenk an dich sein soll, Kagetora! Dein Schoßhündchen hier trägt ja nicht wirklich eine Leine, daher dachte ich mir, für den Fall, falls es sich mal verlaufen sollte, es mit einem Hinweis auf seinen Herren zu versehen.“, brachte Shishido, sadistisch lächelnd, hervor, während die Messerspitze Naoes Haut berührte. Naoes erbebte bei der Berührung.
 

Takaya konnte nicht glauben, was nun geschah. Er starrte entsetzt auf den Bildschirm und wünschte sich, dass das nicht wahr sei, was sich da vor seinen Augen abspielte.

Shishido begann langsam, Stück für Stück, Kagetoras Namen in Naoes Haut zu ritzen. Takaya hielt den Atem an. Er konnte beinah selbst den Schmerz spüren. Er fixierte Naoe und erkannte, dass dieser große Mühe hatte, ruhig liegen zu bleiben. Takaya nahm an, dass Shishido ihm gedroht hatte, falls er sich bewegen sollte. Er sah die Qual in Naoes Gesicht, welches mit jeder Sekunde blasser wurde. Er musste hilflos mit ansehen, wie Naoes Kopf zur Seite fiel, und er ohnmächtig wurde. Takaya stöhnte vor Wut, und sprang auf. Er wusste, er hatte keinen Einfluss auf das Geschehen, aber er konnte nicht mehr ruhig sitzen bleiben.

Shishido beendete in aller Ruhe seine Grausamkeit. Als er fertig war, nahm er einen Finger, tränkte ihn in der blutenden Wunde, und führte ihn an Naoes Mund. Er zeichnete dessen Lippen nach, bevor er anschließend seine und Naoes sanft durch einen Kuss vereinigte.

Takaya versteifte sich.

Du verdammtes Schwein! Was willst du? Was hat dir Naoes getan? Du willst mich, oder?! Dann komm, und hol mich, du Feigling... Takaya spürte, wie ihm Tränen der Hilflosigkeit über das Gesicht liefen.

Shishido richtete sich auf, und schaute mit blutverschmierten Lippen in die Kamera. Er lächelte.

„Wie hat dir meine Vorstellung gefallen, Kagetora? Ich hoffe, dass du mein Geschenk zu würdigen weißt. Immerhin habe ich dir Arbeit abgenommen. Schade nur, dass er nicht bis zum Schluss bei Bewusstsein bleiben konnte. Aber so bin ich wenigstens zu einem unkomplizierten Kuss gekommen, oder nicht? Obwohl ich mich jetzt ein wenig unbefriedigt fühle, und eigentlich Lust auf mehr habe. Vielleicht sollte ich einfach weiter machen!? Du hast doch bestimmt nichts dagegen, oder Kagetora? Dein Schoßhündchen zu besteigen, wird mir besonderen Spaß machen! Damit könnte ich mir wirklich die Zeit vertreiben, bis wir uns sehen. Ich weiß jetzt gar nicht, ob ich mir unser Treffen nun früher, oder erst viel später wünschen soll. Wie dem auch sei, du wirst von mir hören. Bis bald!“

Der Bildschirm wurde schwarz, und ließ eine ausgesprochene Drohung zurück.
 

Nach Minuten der Stille, regte sich Kousaka als erstes.

„Nun, immerhin scheint er noch zu leben.“, sagte er mit einer Unbeschwertheit, die Takaya den letzten Rest Beherrschung raubte. Er drehte sich zu ihm um, und schlug ihn mit aller Macht ins Gesicht. Kousaka rutschte dabei vom Sofa, und starrte irritiert zu ihm hoch. Er befühlte mit seiner Zunge seine Lippe, und schmeckte dabei Blut. Er wurde ärgerlich. Takaya sah verächtlich auf ihn runter.

„Wofür war das denn?“, fragte Kousaka unfreundlich, während er aufstand, und sich Takaya gegenüber stellte. Dieser drehte ihm den Rücken zu, und verließ eilig den Raum. Kousaka sah ihm nach.
 

Er fand Takaya auf der Veranda sitzend, und in die Ferne blickend. Er setzte sich stumm neben ihn, während er ihn dabei aufmerksam von der Seite musterte.

Okay, ich gebe es zu. Meine Worte waren alles andere als angebracht, aber hey! Mir geht nicht besser als dir, du Arsch, aber schlagen würde ich dich nicht gleich dafür..., dachte er, und seufzte hörbar.

„Seit wann bist du im Besitz des Videos?“, fragte Takaya mit emotionsloser Stimme.

Kousaka überlegte kurz, und beantwortete mit Unbehagen seine Frage.

„So ungefähr drei Wochen, würde ich sagen. Sie wurde hier im Haus abgelegt. Ich habe sie mir nicht angesehen. Dich wollte ich auch erst benachrichtigen, wenn klar war, dass Naoe nicht mehr auftauchen würde. Außerdem habe ich intensiv Nachforschungen bezüglich dieses Shishidos betrieben, so dass ich die Videokassette fast vergessen hätte.“ Er blickte Takaya an, und wartete auf dessen Reaktion, aber diese blieb aus. Takaya starrte weiterhin gedankenverloren in die Ferne.

Drei Wochen also. Das kommt hin, mit dem Ereignis auf dem Schuldach... Du hast mich ausgeschlossen, damit ich nichts von dem fühle, was du erleben musstest, und sehr wahrscheinlich noch erlebst. Bist du noch am Leben? Naoe... Verdammt, lass mich dich spüren, damit ich dich finden kann..., dachte Takaya kapitulierend und spürte, wie sich Angst in ihm ausbreitete. Er hatte keine Ahnung, ob Naoe noch lebte, noch wusste er, wo er anfangen sollte zu suchen. Er war schlicht und ergreifend ratlos. Wer war diese Person, die ihm nach den Leben trachtete, wenn Kousakas Informationen stimmten.

Kousaka unterbrach seine Gedanken, indem er erneut das Wort ergriff.

„Kagetora, ich will ehrlich sein. Ich habe keine Ahnung, ob Naoe noch am Leben ist. Schon gar nicht, wenn ich daran denke, was dieser Shishido getan hat. Er ist ein Sadist, wie ich schon lange keinen mehr getroffen habe.“, sagte Kousaka offen.

Nun, ich könnte dich beinah im gleichen Atemzug wie ihn nennen, wenn wir schon bei sadistischem Verhalten sind, Kagetora, aber das spare ich mir jetzt..., stellte er eisig fest, während er seine geschwollene Lippe betastete.

„Aber ich will ihm Naoe nicht überlassen, weder tot noch lebendig. Ich werde ihn zurückholen, aber dafür brauche ich deine Hilfe...“, sprach Kousaka leidenschaftlich, was ihm einen unergründlichen Blick von Takaya bescherte.

Warum willst du Naoe unbedingt befreien, Kousaka? Ich kenne weder deine Beweggründe, noch verstehe ich dein Verhalten..., dachte Takaya irritiert, und laut sagte er,

„Ich will ihm Naoe auch nicht überlassen, auch wenn ich allen Grund dazu hätte.“, meinte Takaya, und unterband entschieden Kousakas Aufbegehren auf seine letzte Bemerkung.

„Ich weiß, dass es nicht wirklich gut zwischen Naoe und mir läuft. Warum, kann ich nicht beantworten. Aber was ich weiß, ist, dass ich Naoe trotz allem nicht tot sehen will... Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um ihn zu befreien. Aber das wird schwieriger, als du vielleicht denkst...“, gab Takaya aufrichtig zu.

„Aber warum? Du setzt deine Macht ein, um ihn zu finden. Du kannst ihn doch spüren, oder? Diese Gabe besitze ich leider nicht, sonst hätte ich längst begonnen, allein nach ihm zu suchen.“, wandte sich Kousaka fragend Takaya, der auf einmal den Kopf hängen ließ.

„Ich kann ihn nicht aufspüren.“, sagte Takaya leise resigniert.

„Wie? Was heißt das, dass du ihn nicht spüren kannst. Hat sich deine Macht verändert? Hast du sie verloren, oder etwa...“, Kousaka verstummte, und sah Takaya bestürzt an.

„Es geschah vor drei Wochen. Ich war mitten in einer Auseinandersetzung mit Oberschülern aus der Nachbarschule, als ich auf einmal Naoes Anwesenheit spürte. Sie verschwand so plötzlich, wie sie auftauchte, und hinterließ einen unerträglichen Schmerz...“, erzählte Takaya fast lautlos und erbebte, als er an den Schmerz dachte, den er verspürt hatte.

„Ich glaube, Naoes hat sich in diesem Moment völlig verschlossen. Und wenn ich an das Video denke, dann ahne ich auch warum.“ Takaya unterdrückte ein Würgen, als er an die Szene mit dem Messer dachte. Er atmete tief ein, und versuchte seine rasenden Gefühle zu bändigen.

„Verstehe.“, sagte Kousaka begreifend, und sah unschlüssig zu Boden.

„Was ich nicht verstehe,“, brachte Takaya gepresst zwischen seinen Lippen hervor, „warum Minakos Schwester daran beteiligt sein soll. Welcher Sinn steckt dahinter...“, fragte Takaya unbestimmt.

„Kannst du dir das nicht denken, Kagetora? Ich hielt dich eigentlich für schlauer?! Denk zurück an den Moment, als ich dir davon erzählt habe...“, Kousaka machte eine Pause, um Takaya Zeit zu geben, sich daran zu erinnern, bevor er weiterfuhr,

„...genau aus diesem Grund benutzt er sie.“, sagte Kousaka mit Bestimmtheit, als er sah, dass Takaya gequält die Augen schloss.
 

Sie verstummten beide für eine Weile, ehe Kousaka erneut sprach.

„Kagetora, wie gehen wir vor? Ich bin zwar nicht so glücklich über die Tatsache, dass wir zusammenarbeiten müssen, aber eine Hand wäscht die andere.“ Er sah fragend zu ihm rüber. Takaya regte sich, stand auf, und ging ein paar Schritte in den Garten hinein. Er drehte sich um, und sah Kousaka aus fest entschlossenen Augen an, die keinen Widerstand duldeten.

Es scheint, als hast du dich wieder gefangen, was? Umso besser, dann können wir endlich aktiv werden..., dachte Kousaka erleichtert, da er wusste, dass er ohne ihn keine Chance besaß, Naoe zu finden, geschweige ihn zu befreien. Zudem war es Kagetora, den Shishido unbedingt haben wollte.

Wenn es sein muss, Kagetora, dann werde ich dich verraten, um Naoe zu bekommen..., stellte Kousaka entschieden fest.

„Kousaka, ich will, dass du mir alle Informationen zukommen lässt, die du bisher gesammelt hast.“, sprach Takaya beherrschend im arroganten Ton, der Kousaka innerlich wütend aufbrausen ließ.

Nur jetzt lasse ich zu, dass du so mit mir sprichst, Kagetora! Aber wenn der Zeitpunkt gekommen bist, dann stehst du allein da..., dachte Kousaka geheimnisvoll.

„Ich werde zurück fahren, und Haruie und Chiaki über diese Sache in Kenntnis setzen.“ Takaya sah, dass Kousaka missmutig die Augen verengte.

Ist mir egal, was du darüber denkst, Kousaka! Ich kann, und werde dir nicht trauen...,dachte er entschlossen.

„Wir brauchen jede mögliche Hilfe, die wir bekommen können. Außerdem wissen wir nicht, wie viel Zeit uns bleibt. Zudem glaube ich, dass Shishido eine weitere Botschaft senden wird. Er hat zur Zeit alle Fäden in der Hand. Er spielt mit mir, daher bleibt mir, oder uns momentan nur Raum zum Reagieren, aber das werden wir ändern. Wir treffen uns nächsten Samstag wieder hier. Bis dahin versuchen wir, so viel wie möglich herauszufinden. Wenn die Informationen ausreichen, dann werden wir einen Befreiungsplan ausarbeiten. Verstanden?“ Takaya sah Kousaka mit funkelnden Augen an, die keine Widerrede gestatteten.

Da ist sie also wieder, deine unbarmherzige Seite, die niemandem Raum zum Atmen lässt..., stellte Kousaka verärgert fest. Er stand auf, und ging zurück ins Haus. Er kam kurze Zeit später mit einer CD wieder heraus, die er Takaya entgegen hielt, und sagte,

„Hier. Darauf sind alle bisher gesammelten Daten zu Shishido, Naoes Verbleib, sowie Minakos älterer Schwester.“ Takaya nahm sie, und sah auf sie herab. Seine Hände zitterten leicht.

Oh? So willensstark, wie du dich gerade präsentierst hast, bist du also gar nicht..., dachte Kousaka, während er auf Takayas Hände starrte, und verächtlicht grinste.

„Warum grinst du so?“, herrschte Takaya Kousaka an, dem aufgefallen war, dass er sich über irgendetwas amüsierte.

„Och, es ist nichts. Ich bin einfach zu gespannt, wie unsere Zusammenarbeit sein wird. Wenn ich sagen würde, dass ich mich darauf freue, dann entspräche das der halben Wahrheit...“, meinte Kousaka spöttisch.

„Unsere persönlichen Standpunkte sollten in dieser Sache keine Rolle spielen, Kousaka. Du machst deine Arbeit, ich meine, und wir werden sehen, ob es genug ist, Naoe zu helfen.“, sagte Takaya gereizt. Er drehte sich um, und ging zum Haus. Kurz bevor er darin verschwand, drehte er sich noch einmal um, aber Kousaka war längst verschwunden. Takaya seufzte erschöpft, während er hinein ging.

Verlangen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Abwehr

Takaya stand in Naoes Garten, und blickte gedankenversunken in die Ferne. Eine Woche war seit seinem Treffen mit Kousaka vergangen, und heute war der verabredete Tag, an dem sie sich alle hier trafen, um über die Lage zu sprechen.

Er, Chiaki und Haruie waren vor knapp einer Stunde hier angekommen, aber von Kousaka fehlte bisher jede Spur. Er machte sich über dessen Verbleib keine Sorgen, da er wusste, dass dieser wie vereinbart kommen würde. Dennoch war er von einer Unruhe erfasst, die ihn seit Tagen nicht mehr loszulassen schien.

Er sah zurück zum Haus, und dachte an Haruie und Chiaki, die sich darin aufhielten, und sich inzwischen die Videobotschaft angesehen haben müssten. Bei dem Gedanken an die Nachricht wurde ihm übel, gleichzeitig aber stieg sein Zorn dabei ins Unermessliche. Er konnte noch immer nicht fassen, was er auf dem Video gesehen hatte. Er fühlte sich machtlos, und er hoffte, dass das niemand um ihn herum bemerkte.
 

Takayas Gedanken wanderten zu den Ereignissen der vergangenen Tage.

Als er vor einer Woche nach Hause fuhr, informierte er umgehend Chiaki, der sich anschließend mit Haruie in Verbindung setzte. Beide waren über die Neuigkeit bestürzt, und machten sich sofort daran, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um so viel wie möglich über Shishido Kiyoshi zu erfahren.

Er überließ Chiaki die CD mit Kousakas gesammelten Informationen, so dass dieser sie überprüfen konnte. Es passte weder ihm noch Chiaki, dass Kousaka seine Finger mit im Spiel hatte. Aber sie hatten keine andere Wahl, da er ihnen einen Vorsprung an Informationen voraus hatte, den sie unbedingt ausgleichen mussten.

Takaya selbst versuchte mehrere Male die Woche, mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht, Naoe zu erreichen. Jeder Versuch endetet aber damit, dass er erschöpft zusammenbrach, und seine Frustration dadurch wuchs.
 

Naoe war seit fünf Wochen verschwunden, und sie hatten keinerlei Ahnung, ob er noch lebte, oder wo er gefangen gehalten wurde. Ihre Nachforschungen ergaben kaum brauchbare Ergebnisse, und so hofften sie, dass Kousaka mehr Glück hatte. Takaya betete, dass es so war.

Wenn Kousaka ebenfalls mit leeren Händen kommt, dann weiß ich keinen Rat mehr... Dann können wir wirklich nur mitspielen, und auf Shishidos Anweisungen warten..., dachte er ärgerlich, uns setzte sich auf einen Stein.

Wie aus dem Nichts, tauchte plötzlich Haruie mit unbändiger Wut vor ihm auf. Sie blickte ihn mit zornigen Augen an.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll! Ich bin sprachlos, und gleichzeitig so wütend... Wenn ich mich nicht beherrsche, dann... Dann... Dieser verdammte Shishido! Was erlaubt sich dieses Kind bloß!? Es war so grausam... “, brüllte sie aufgebracht, und überlegte, ob sie den nächsten Felsen zerstören sollte, aber sie beließ es bei dem Gedanken.

Takaya sah sie an, und lächelte gequält. Er wusste, dass ihr Naoe viel bedeutete. Ihre Reaktion war nur zu verständlich, würde ihnen aber nicht weiterhelfen.

„Kagetora, was sollen wir machen? Uns läuft die Zeit davon... Ich habe wirklich Angst um Naoe. Wenn Kousaka keine neuen Informationen hat, dann sitzen wir wirklich in der Klemme.“ Er wollte gerade etwas entgegnen, als eine erwartete Stimme erklang.
 

„Was für ein Anblick, Haruie! So wütend habe ich dich selten gesehen... Hm, ich rate mal! Du hast das Video gesehen? Wenn dich das schon so zur Weißglut treibt, dann empfehle ich dir, das nächste nicht anzusehen...“, sprach Kousaka hämisch, während er zu ihnen trat.

„Was meinst du mit ‚das nächste’, Kousaka?“, fuhr ihn Takaya eisig an, der keineswegs überrascht über Kousakas plötzliches Auftauchen war. Er hatte nichts anderes erwartet.

„So wie ich es gesagt habe. Es gibt ein weiteres Video. Seltsamerweise ist es nicht hier abgegeben worden, sondern direkt bei mir, was mich ein wenig irritiert. Immerhin hätte es zu euch, oder besser gesagt, zu dir kommen müssen...“, meinte Kousaka erklärend, während er Takayas durchdringenden Blick erwiderte.

„Ich habe es mir auch schon angesehen, und bin der Meinung, dass es es nicht wert ist, angesehen zu werden.“, erläuterte Kousaka ernsthaft. Takaya hob fragend die Augenbrauen.

„Wie soll ich das verstehen? Wird Naoe etwa...“, seine Stimme brach ab, als er Kousakas zweifelnden Blick sah.

„Nein. Naoe scheint noch am Leben zu sein. Zumindest ist dieses Video, und der dazugehörige Brief ein Beweis dafür. Aber wie gesagt, ich denke, wir sollten es uns nicht ansehen. Naoe zuliebe...“, sagte Kousaka, und sah Takaya beinah flehend an.

„Das werde ich selbst entscheiden, ob es es wert ist... Wo hast du den Brief?“, fragte Takaya, und sah Kousaka gebieterisch an. Dieser kramte in seiner Manteltasche, und übergab ihm einen roten Umschlag. Er nahm ihn entgegen, und brach das Siegel.

Zumindest vergreift er sich nicht an meiner Post..., dachte er zynisch, und warf Kousaka einen unbestimmten Blick zu.

Er entnahm dem Umschlag ein gefaltetes Blatt, und begann zu lesen.
 

LIEBER KAGETORA!

MIR IST ZU OHREN GEKOMMEN, DASS DU ANFÄNGST RUMZUSCHNÜFFELN... WIE SOLL ICH DAS FINDEN? WIRST DU LANGSAM UNRUHIG, WEIL DEIN HÜNDCHEN NICHT MEHR UM DEINE BEINE SCHWÄNZELT? ICH DENKE, FÜR DEIN NICHT ERWÜNSCHTES HANDELN SOLLTEST DU, ODER EHER DEIN HUND, BESTRAFT WERDEN...

DU WIRST VON MIR HÖREN!

KIYOSHI
 

Als er mit dem Lesen fertig war, gab er ihn Haruie. Er sah zu Kousaka rüber, der darauf wartete, dass Haruie das Lesen beendete.

„Hey! Habt ihr die Besprechung etwa schon ohne mich begonnen?“, hörten sie Chiaki unangemeldet rufen, der vom Haus aus auf sie zu kam. Als er vor ihnen stehen blieb, reichte ihm Haruie, Kousaka ignorierend, den Brief.

„Von wem ist...“, begann Chiaki, und verstummte, als er zu lesen begann. Er schaute anschließend verunsichert zu Takaya.

„Woher kommt der Brief?“, fragte er, und blickte nun zum ersten Mal zu Kousaka, der ihn hinterhältig anlächelte.

„Ich hatte die Ehre, ihn zusammen mit einem weiteren Video bekommen zu dürfen. Wenn ich ehrlich bin, frage ich mich langsam, was dieser Shishido über mich und meine Beziehung zu Naoe denkt... Schon merkwürdig, oder? Immerhin steht ihr Naoe näher als ich, oder muss ich hier meinen Gedanken korrigieren?“, lästerte Kousaka, während er nun endlich selbst den Brief lesen konnte. Chiaki ignorierte Kousakas spitze Bemerkung, und blickte zu Takaya.

„Das hört sich nicht gut an, Kagetora... Wenn ich an das Video eben denke, dann ahne ich nichts Gutes. Dieser Shishido ist ein gefährlicher Mann, dem alles zuzutrauen ist. Wenn wir nicht schnell genug...“, sagte Chiaki gerade, als er grob von Kousaka unterbrochen wurde.

„Was ist, Chiaki? Bist du etwa schon am Ende deiner Möglichkeiten angekommen? Du enttäuschst mich...“, meinte Kousaka arrogant grinsend.

„Ich wüsste nicht, was dich das anginge...“, polterte Chiaki genervt los, als Takaya der beginnenden Auseinandersetzung mit seinem Wort ein schnelles Ende setzte.

„Chiaki, wir sollten unsere Energie für andere Dinge aufsparen. Das sollte auch für dich gelten, Kousaka!“, befahl er, und blickte unnachgiebig zu beiden Kontrahenten, die verstummt waren.

„Kousaka, ich will das Video sehen. Den anderen ist es freigestellt, ob...“, sagte er, und schaute fragend zu Chiaki und Haruie, die ihn zustimmend ansahen.

„Okay, dann ist es entschieden. Wir werden zuerst das Video ansehen, und anschließend die weiteren Ergebnisse zusammentragen.“, erklärte Takaya, während er unsicher zu Kousaka blickte. Dieser erwiderte gleichgültig seinen Blick, und ging allen voran auf das Haus zu.

„Ich habe dich gewarnt, Kagetora. Das Video birgt keinerlei Informationen, die uns von Nutzem sind... Eher das Gegenteil...“, murmelte Kousaka geschlagen.

Takaya starrte auf Kousakas Rücken, und verkniff sich eine Bemerkung. Er wollte sich von ihm auf keinen Fall einschüchtern lassen. Trotzdem breitete sich ein ungutes Gefühl in seinem Körper aus.

Sollte ich auf ihn hören? Nein. Ich will das Video sehen. Ich will mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass Naoe am Leben ist... Aber Kousaka wird nicht ohne Grund seine Bedenken äußern... Naoe zuliebe!? Was meint er damit... , überlegte er irritiert, und folgte Kousaka und den anderen ins Haus.
 


 

Takaya lehnte angespannt am Türrahmen, während Chiaki, Haruie und Kousaka auf dem vertrauten Ledersofa Platz genommen hatten. Sie starrten alarmiert auf den Bildschirm, der Naoe allein neben einem großen Wasserbecken in einem Baderaum zeigte. Er schien etwas zu sagen, aber sie konnten ihn nicht hören, da das Video tonlos war.

Naoe fiel plötzlich ohne Fremdeinwirkung in das Becken, und kam wütend wieder aus ihm hervor. Er blickte überrascht in eine bestimmte Richtung, die von der Kamera nicht eingefangen wurde, und sprach etwas. Nach wenigen Sekunden tauchte aus dieser Richtung Shishido auf, der ihm ein Handtuch gab, und danach in das Becken stieg. Naoe blieb zuerst unschlüssig stehen, bevor er sich schließlich das Handtuch um die Hüfte band, und sich zu Shishido ins Wasser gesellte.

Takaya unterzog Naoes Körper einer intensiven Musterung, und sein Blick blieb dabei an der frisch verheilten Wunde an seinem Oberkörper hängen. Er ballte die Fäuste.

Du verdammtes Schwein, Shishido..., dachte er voller Verachtung, und beobachtet das weitere Geschehen auf dem Video. Er sah, dass sich Naoe einen Platz gesucht hatte, der ein wenig Abstand zwischen ihm und Shishido ließ. Sie unterhielten sich eine Weile, ehe Shishido plötzlich aufsprang, zu Naoe eilte, und ihn mitten ins Gesicht schlug. Kagetora hielt den Atem an. Shishido setzte sich kurz danach auf Naoes Schoß, und küsste ihn. Takaya riss überrascht die Augen auf.

Was soll… Was hast du vor, Shishido?, dachte er fieberhaft, als er sich an Shishidos Worte an ihn im letzten Video erinnerte. Er wurde blass, und beobachtete mit zunehmender Bestürzung das weitere Geschehen.
 

Takayas Augen verfolgten Naoe, wie sich dieser befreite, und zu fliehen versuchte, aber unerwartet unter Wasser gezogen wurde. Er konnte erkennen, wie Naoe unter Wasser mit jeder verstreichenden Sekunde panischer wurde. Takaya blickte kurz zu Shishido, der teuflisch lächelnd da saß. Weitere Sekunden verstrichen, bevor Naoe erschöpft auftauchte. Er sah entsetzt zu Shishido, der etwas zu ihm sagte. Takaya vermutete, dass es nichts Gutes war, da sich Naoes Mine versteinerte. Unsichtbare Hände schoben Naoe gegen seinen Willen auf Shishido zu, der ihn mit zunehmender Erregung ansah. Dieser stand auf, und zog Naoe in eine Umarmung, die in einem aufgezwungen, leidenschaftlichen Kuss endete.

Takaya starrte gebannt auf die Szene, während sich Kousaka erhob, und das Zimmer verließ. Als er Takaya passierte, warf er ihm einen verächtlichen Blick zu. Er wusste nun, warum Kousaka verhindern wollte, dass sie sich das Video ansahen. Er verspürte für einen kurzen Moment Schuldgefühle, die er aber so schnell begrub, wie sie aufgetaucht waren. Seine Gedanken wanderten zu Naoe.

Es tut mir leid, Naoe... Wenn du mich schon ausgeschlossen hast, dann werde ich eben so mit dir leiden... Du Idiot!, dachte er bitter, und schaute zurück zum Bildschirm.
 

Inzwischen war Shishido voll in Fahrt, und genoss seine offensichtliche Macht über Naoe. Diesem wurde mit jeder Minute unbehaglicher zu Mute, was dazu führte, dass er sich in einem günstigen Moment befreite, bis zur Treppe kam, wo er aber erneut zu Fall gebracht wurde.

Nun war es Haruie, die schweigend dem Raum verließ. Chiaki rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her, blieb aber sitzen, um weiter fassungslos das Geschehen zu verfolgen.

Takaya hatte das Gefühl, dass Naoes letzte Gegenwehr mit diesem Fluchtversuch verschwand. Er sah, dass dieser den Kopf hängen ließ, und dem Eindringen Shishidos nichts mehr entgegen setzte. Naoe ließ es einfach geschehen.

Takaya spürte, dass ihn der Anblick der beiden Männer, trotz des Wissens um die Gewalttat, erregte. Er verachtete sich für dieses Gefühl. Er wurde unendlich wütend. Wütend auf sich, und auf Naoe, da dieser sich nicht mehr wehrte.

Was ist los, Naoe? Ich dachte immer, dass du derjenige bist, der es liebt zu dominieren! Warum jetzt nicht? ... Was ist mit mir... Takayas Gedanken kreisten verzweifelt um Naoe. Er wollte ihn dafür schlagen, gleichzeitig aber beschützend in seinen Armen gehalten werden. Er schluckte, und unterdrückte seine Tränen. Er starrte zum Bildschirm, und sog, wie ein Ertrinkender die Luft, jedes Detail von Naoe in sich auf. Er hatte Angst, Naoe nie wieder zu sehen, und er ahnte, dass es so kommen würde, wenn er nicht aufpasste.

Als der Fernseher nur noch ein schwarzes Bild anzeigte, stand Chiaki auf, und ließ Takaya allein im Zimmer zurück. Dieser rutschte an der Wand zu Boden, und blieb dort regungslos sitzen.
 


 

„Gib mir bitte mal die Flasche, Chiaki...“, sagte Haruie, während sie nach der Flasche Sake langte. Bevor Chiaki sie ihr reichte, füllte er sein Glas erneut auf.

Beide saßen am großen Küchentisch, und warteten auf Takaya, der den Videoraum bisher nicht verlassen hatte. Kousaka stand angelehnt am Küchenschrank, und trank schweigend sein Glas leer. Sein Blick wanderte ungeduldig zwischen Chiaki, Haruie und der Tür hin und her. Er seufzte genervt, und begann zu sprechen.

„Ich wusste ja, dass Kagetora masochistisch veranlagt ist. Aber dass er noch immer in diesem Raum sitzt, überrascht mich doch ein wenig...“, meinte er, und sah angewidert zu Chiaki, der ihn verärgert anschaute.

„Nun, und dass du es ebenfalls bis zum Schluss sehen wolltest, überrascht mich noch mehr... Vielleicht hat es dich sogar angeheizt? Und wer weiß schon, was Kagetora gerade macht? An sich rumspielen...“, bemerkte Kousaka bitterböse, als Chiaki zornig aufsprang, und ihn brutal am Kragen packte.

„Nimm das zurück! Wenn hier einer pervers ist, dann bist das auf alle Fälle du...“, zischte Chiaki in Kousakas Ohr, der ihn nur arrogant angrinste.

„So? Meinst du? Nun, ich brauche nur an die letzten 400 Jahre denken. Da fallen mir eine Menge Begebenheiten ein, die mein Urteil bekräftigen...“, erzählte Kousaka weiter belustigt, während Chiaki seinen Griff verstärkte.

„Ich glaube, du hast einfach keine Ahnung, Kousaka. Wie du vorhin schon so schön gesagt hast... Wir stehen beiden näher, und können deren Persönlichkeiten eher beurteilen als du. Natürlich darfst du dir gerne deine Meinung frei bilden, daran werden wir dich nicht hindern können, dennoch bitte ich dich, uns mit deinen Äußerungen zu verschonen. Ich mag hier zwar so ruhig sitzen, Kousaka, aber glaube mir, innerlich bin ich alles andere als beherrscht... Also, noch ein falsches Wort, und ich vergesse mich...“, entgegnete Haruie eiskalt, und sah zu Kousaka, der ihren strafenden Blick offen erwiderte.
 

„Was ist hier los?“

Alle drei blickten überrascht zur Küchentür, in der Takaya stand. Er trat an den Tisch, und setzte sich auf einen freien Platz. Er nahm sich ein Glas, und füllte es mit Sake. Chiaki wollte ihn dafür tadeln, aber er verstummte augenblicklich, als ihn Takayas vor Wut funkelnden Augen trafen.

Takaya nahm einen Schluck, und starrte auf das Glas in seiner Hand. Er seufzte laut, und forderte Chiaki und Kousaka auf, sich zu setzen. Er blickte zu beiden rüber, als sie sich hingesetzt hatten, und nahm erneut einen Schluck Sake.

„Ich weiß zwar nicht, was der Grund für euer Auftreten war, und um ehrlich zu sein, will ich es auch gar nicht wissen, aber ich nehme an, dass ihr es unterbrechen könnt, bis wir unser Treffen beendet haben?“, sagte er nun mit ausdruckslosen Augen, und blickte fragend in ihre Richtung.

„Na..natürlich...“, stotterte Chiaki unsicher, während er irritiert zu Haruie sah, die Takaya neugierig musterte.

„Alles in Ordnung, Kagetora?“, brachte Haruie aufrichtig hervor. Takaya sah flüchtig zu ihr rüber, bevor er sich, ihre Frage ignorierend, an Kousaka wandte.

„Was kannst du uns noch bieten, Kousaka, abgesehen von dem Video und dem Brief?“, wollte er sachlich wissen, und blickte Kousaka in die Augen.

„Du weißt, dass wir hier schon viel früher hätten sitzen können, aber du wolltest ja nicht auf mich hören, Kagetora.“, sagte Kousaka triumphierend, und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Takaya zeigte keine Reaktion, und starrte einfach nur zurück.

„Nun? Du hast meine Frage noch nicht beantwortet...“, entgegnete er gelassen. Kousaka sah ihn für einen kurzen Moment enttäuscht an, bevor er begann, die Frage zu beantworten.

„Naoes Aufenthaltsort ist nach wie vor unbekannt. Es gibt zwei mögliche Informationsquellen, die wir aufsuchen sollten. Zum einen wäre da Takahashi, Minakos noch lebende Schwester, und zum anderen, jetzt wird es spannend, das Haus Houjou. Ich weiß zwar nicht, wie weit ihr bei eurer Recherche über Shishido gekommen seid, aber ich kann euch versichern, dass er im Hintergrund mit Houjou Ujiteru verkehrte.“, Kousaka blickte, eine Erwiderung Takayas erwartend, in dessen Richtung, und wurde aber erneut enttäuscht. Er presste die Lippen zusammen, und fluchte innerlich.

Dieser Kerl raubt mir den letzten Nerv... Wie kann er jetzt nur so ruhig hier sitzen, und so tun, als wäre er nicht Zeuge von Naoes Vergewaltigung geworden... Am liebsten würde ich ihn schlagen! Dann könnte ich mich wenigstens ein wenig abreagieren... Schade, dass er mich und Chiaki unterbrochen hat. Es wäre eine willkommene Abwechslung gewesen..., überlegte Kousaka ärgerlich, während er sein Glas leerte.

„Was ist mit euch? Was habt ihr zu bieten?“, fragte Kousaka gereizt, und sah zu Chiaki, der ihn mit seinem Blick verhöhnte.

„Es scheint, als hätten wir die gleichen Quellen genutzt, Kousaka. Zumindest, was Takahashi angeht. Wir wissen, wo sie wohnt, und haben vor Ort auch schon jemanden positioniert, der uns benachrichtigt, sobald sie wieder auftaucht. Nun, und was Shishido betrifft, da sind wir nicht wirklich vorangekommen. Dass er mit dem Haus Houjou verkehrte, ist uns neu. Sind die Quellen dafür auch vertrauenswürdig?“, wollte Chiaki interessiert wissen, der jetzt in seinem Element schien, und den offenen Disput mit Kousaka vorläufig begrub.

„Ja, das sind sie. Es heißt sogar, dass er mit Houjou Ujiteru eine intensive Beziehung pflegte. Wie intensiv sie war, darüber konnte ich nichts herausfinden. Shishido ist sehr vorsichtig, aus welchen Gründen auch immer. Und nicht nur vorsichtig, er ist intelligent. Das macht die Sache weitaus schwieriger... Ich verstehe nur nicht, warum er Kagetora unbedingt haben möchte. Gut, wenn ich daran denke, dass du deinen Bruder... Dann kann ich ihn zwar verstehen, aber das passt nicht mit seinem kühlen Intellekt zusammen. Rache aus einem rein emotionalen Grund widerspricht seiner Persönlichkeit. Da muss mehr dahinter stecken, aber dieses ‚mehr’ habe ich noch nicht entdecken können. Er ist nach wie vor ein Rätsel, und ich komme nicht umhin, ihn zu bewundern.“, entgegnete Kousaka anerkennend, während er sein leeres Glas füllte, und einen Blick auf Takaya warf, der ihn mit undurchdringlichen Augen ansah.

„Ich werde das Gefühl nicht los, dass er uns einen Schritt voraus ist. Vielleicht steckst du ja mit Shishido unter einer Decke, und versuchst uns in die Irre zu führen?!“, sagte Haruie auf einmal, und durchbohrte Kousaka mit einem aggressiven Blick.

„Oh? Wie brillant ist denn dieser Gedanke...“, setzte Kousaka spöttisch an, als er von Takayas ruhiger Stimme unterbrochen wurde.

„Haruie, du solltest solche Gedanken besser für dich behalten. Vor allem dann, wenn sie jeglicher Grundlage entbehren.“, sagte er mit einem strafenden Blick zu Haruie, die ihn überrascht ansah.

„Aber, was ist denn daran...“, meinte Haruie aufgebracht, und wurde nun von Chiaki gestoppt.

„Wir sollten vorerst keine Zeit mit denkbaren Verdächtigungen vergeuden, Haruie. Kagetora hat recht. Wir wissen bisher einfach zu wenig über die ganze Sache. Und ich bin der gleichen Meinung wie Kousaka, dass mehr als Rache hinter der Entführung stecken muss. Zumal wir ja noch nicht mal wissen, ob Rache überhaupt eine Rolle spielt. Der Kerl ist einfach krank, Intellekt hin oder her...“, meinte Chiaki mit ruhiger Stimme, die aber seinen vor Zorn blitzenden Augen widersprach.

„Das leuchtet mir schon ein, nichtsdestotrotz sprechen wir hier aber von Kousaka! Der dient doch nur sich selbst...“, entgegnete Haruie kleinlaut, während sie Kousaka musterte. Dieser lächelte sie unverfroren an, was dazu führte, dass sie ihm einen heftigen Tritt gegen das Schienbein versetzte. Er stöhnte vor Schmerz überrascht auf, und warf ihr einen bitterbösen Blick zu.

„Haruie, du sollst das lassen. Habe ich mich vorhin nicht deutlich ausgedrückt? Kousaka, was würdest du als nächstes machen?“, sprach Takaya noch immer mit emotionsloser Stimme, leerte sein Glas, und sah fragend zu ihm rüber. Er spürte auf einmal, dass ihm der Alkohol langsam zu Kopf stieg.

Verdammt... Keine gute Idee gewesen, mir das Zeug in den Rachen zu schütten! Ich muss die Sache hier schneller beenden, als mir lieb ist... Obwohl, eigentlich ist mir ja früher lieber als später. Ich kann jetzt keinen um mich herum ertragen... Dann lieber noch ein Glas Sake, um vorübergehend alles auszulöschen..., dachte Takaya niedergeschlagen, und füllte seine Glas erneut. Chiaki quittierte Takayas Handlung mit einem missbilligenden Blick.

„Nun, wenn du mich so fragst, dann würde ich vorschlagen, dass wir zwei Gruppen bilden. Die eine wird sich um Informationen bezüglich Shishidos Verbindung zu Houjou Ujiteru kümmern, und die andere wird Takahashi einen Besuch abstatten.“, er sah gespannt zu Takaya und bemerkte, dass dieser allmählich mit den Folgen des Alkohol zu kämpfen hatte. Er grinste in sich hinein.

Du leidest... So soll es sein! Dieser junge Körper hat zudem noch so seine Nachteile, was Kagetora? Mein Mitgefühl spare ich mir aber für Naoe auf, auch wenn ich weiß, dass dieser lieber darauf verzichtet..., stellte Kousaka zufrieden fest, während er Takaya das Glas zum Prost entgegen hob.

„Nun? Was sagst du zu meinem Vorschlag?“, wollte Kousaka selbstgefällig wissen, und nahm einen Schluck.

„Dein Vorschlag entspricht genau dem meinen. Ich denke, wir teilen uns auf, und sehen, was wir herausfinden können. Wir bleiben miteinander in Kontakt, und werden uns zu einem verabredeten Zeitpunkt wieder hier treffen. Ich werde mit Kousaka gehen. Haruie und Chiaki, ihr werdet sehen, was ihr über Shishidos Verbindung zum Houjou Haus herausbekommen könnt. Kousaka und ich werden Takahashi aufsuchen. Ich denke, damit wäre alles geklärt. Ihr könnt euch auf den Weg machen, wenn ihr wollt. Ich werde die Nacht hier verbringen... Kousaka, wo treffen wir uns morgen?“, beschloss Takaya, und sah fragend zu Kousaka, der ihn säuerlich anblickte.

So? Wir beide bilden ein Team? Wenn das mal nicht nach meinem Geschmack ist... Aber glaube nicht, dass ich nach deiner Pfeife tanze, Kagetora! Wir werden sehen, wer der Stärkere von uns beiden ist..., überlegte Kousaka entzückt, als er aufstand, und zur Tür ging.

„Gut. Dann werde ich mal gehen. Ich hole dich morgen hier ab, Kagetora. Ich hoffe, du bist dann bereit, und jammerst nicht über deinen möglichen Kater!“, sagte Kousaka belustigt, und verließ ohne einen weiteren Blick zurück das Haus.
 


 

„Willst du wirklich allein hier bleiben? Sollen wir dir nicht lieber Gesellschaft leisten? Ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, dich allein zurück zu lassen. Nicht nach allem, was heute geschehen ist...“, sagte Haruie an Takaya gewandt, der ihren forschenden Blick müde erwiderte.

„Es ist alles in Ordnung. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Wir werden sobald wie möglich wieder in Kontakt treten. Meldet euch aber sofort, wenn es gefährlich wird. Ich will nicht nach noch jemanden suchen müssen, verstanden?“, versicherte Takaya beiden, während sie gemeinsam vor dem Tachibana Anwesen standen, und sich verabschiedeten.

Haruie war durch Takayas Worte nicht zufrieden gestellt, und blickte hilfesuchend zu Chiaki, der Takaya aufmerksam musterte.

„Okay, dann lass uns fahren, Haruie. Du hast Kagetora gehört! Hier können wir nichts mehr tun. Fahren wir zu mir, oder gleich zu dir?“, wollte Chiaki aufheiternd von ihr wissen.

„Das war nicht das, was ich hören wollte, Chiaki! Du bist echt ein Holzklotz! Fahren wir am besten gleich zu mir. Von dort aus kommen wir besser rum... Pass auf dich auf, Kagetora! Und nehm dich bloß vor Kousaka in Acht!“, sprach Haruie enttäuscht, und umarmte Takaya, der es ihr zuliebe geschehen ließ. Er sah beiden nach, wie sie ins Auto stiegen, und davon fuhren. Er seufzte erleichtert auf, und ging zögernd zurück zum Haus.
 

Takaya holte sich sein Glas Sake aus der Küche, und wanderte ziellos im Haus umher. Er versuchte seine Gedanken zu beruhigen, aber nichts half. Er dachte an das Video, und war noch immer entsetzt über das, was er gesehen hatte. Seine innere Unruhe wuchs mit jeder Minute an, und er wusste nicht, was er dagegen tun konnte.

Sein planloses Umherlaufen führte ihn zu Naoes Schlafzimmer. Er öffnete die Tür, und blieb am Türrahmen gelehnt stehen. Er blickte sich von dieser Position aus in dessen Zimmer um, und unterdrückte dabei seine an die Oberfläche brechende Traurigkeit. Das Glas abstellend, kramte er Naoes Futon hervor, und legte sich erschöpft darauf nieder. Er starrte an die Decke, und spürte, wie ihm unkontrolliert Tränen über das Gesicht liefen. Er drehte sich auf die Seite, und sah mit verschwommener Sicht aus dem Fenster. Es war inzwischen dunkel geworden.

Takaya schloss seine Augen, und stellte sich Naoe vor, wie er ihn im Video gesehen hatte. Er musste an die Narbe denken, die nun dessen Bauch zitierte. Beißende Wut auf Shishido schnürte ihm die Kehle zu.

Ihm drängte sich unerwartet die Szene auf, wo Shishido Naoe von hinten nahm. Trotz dieses offensichtlichen Gewaltaktes, kam er nicht umhin zu denken, dass Naoe unglaublich sexy dabei aussah. Wenn er ehrlich zu sich war, dann musste er sich eingestehen, dass er gerne Shishidos Platz eingenommen hätte. Natürlich nicht unter diesen Vorraussetzungen, aber er spürte, dass seine Lust bei diesem Gedanken anstieg. Er hasste sich für seine Gedanken, aber mehr noch für seine körperliche Reaktion. Er öffnete mit bebender Hand seine Hose, und schob sie mit zunehmender Erregung in seine Unterhose.
 

Zur gleichen Zeit lag Naoe wach in seinem Bett, und blickte aus dem Fenster. Neben ihm lag Shishido, der ihm mit seinen Fingern verspielt durch die Haare fuhr.

„Woran denkst du?“, wollte dieser neugierig wissen, während er sich aufrichtete, und sich rittlings auf Naoe setzte, damit dieser ihn ansehen musste.

„Das geht dich nichts an!“, fuhr ihn Naoe angewidert an, und blickte zu ihm hoch. Shishido ließ sich davon nicht einschüchtern, griff hinter sich in Naoes Schritt, und massierte dessen Hoden. Er grinste anzüglich auf ihn hinab.

„Was soll... Ngh... Lass das! Ahhh...“, brachte Naoe heiser durch zusammengepressten Lippen hervor, ehe er ihn von sich runter schubste.

„Du hattest deinen Spaß. Also geh jetzt, und lass mich in Ruhe...“, entgegnete Naoe verärgert.

„Was? Du wagst es, so mit deinem Kagetora-Ersatz zu sprechen?“, sprach Shishido spöttisch, als er Naoes schmerzvollen Blick sah.

„Ich dachte, mir würde ein wenig mehr Freundlichkeit entgegen gebracht, wenn ich mich dir schon hingebe, und Kagetora spiele...“, sagte Shishido mit gespielter Bestürzung, während er aufstand, und sich anzog. Ein geheimnisvolles Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

„Dann werde ich deinem Wunsch eben nachkommen, und dich alleine lassen. Bis morgen, Naoe! Ach ja, dein Herr hat inzwischen begonnen rumzuschnüffeln. Es ist wohl noch nur einer Frage der Zeit, bis er hier auftaucht! Oder eher, eine Frage meines guten Willens. Was willst du ihm eigentlich sagen, wenn er dich so sieht? Du schläfst beinah freiwillig mit seinem Feind... Glaubst du wirklich, dass er dich so zurück will!?“, meinte Shishido gehässig, und verließ ohne einen weiteren Blick auf Naoe das Zimmer.

Naoe spürte unbändige Wut in sich aufsteigen. Er hasste sich, und er hasste Shishido dafür, dass er ihn nicht in Ruhe ließ. Er setzte sich auf, nahm eine Zigarette aus der Schachtel, die auf dem Nachtschränkchen lag, und steckte sie an.

Er dachte an Kagetora, was seine Stimmung nur minimal hob. Er hoffte, dass es ihm gut ginge, und das er keinen Fehler begann. Er wollte auf keinen Fall, dass dieser versuchte, ihn zu befreien. Er musste das ohne seine Hilfe schaffen.

Er spürte, wie seine Sehnsucht entfachte, und überlegte, ob er es riskieren konnte, für einen kurzen Augenblick nach Kagetoras Präsenz zu suchen.

Nur kurz... Ich will lediglich wissen, ob mit ihm alles in Ordnung ist..., versicherte sich Naoe selbst, während er sich innerlich öffnete, und nach Kagetora suchte.

„Kagetora-sama...“, wisperte Naoe gequält. Er konzentrierte sich, und augenblicklich konnte er sie spüren. Er schluckte.

Ich bin okay..., formte Naoe lautlos in seinem Kopf und hoffte, dass dieser Gedanke Kagetora erreichte. Sofort überfluteten ihn Kagetoras Gefühle, die ihm den Atem nahmen. Er spürte Wut, Begierde, Hass, Erleichterung und Liebe. Er bemerkte, dass seine Hände zitterten, und er Mühe hatte, seine Zigarette zu halten.

Er versuchte sich aus dem Strudel der Gefühle zu befreien, um sich wieder verschließen zu können, aber er zögerte. Er genoss Kagetoras beinahe körperliche Anwesenheit, und wünschte sich, dass er wirklich hier wäre, damit er ihn mit seinen Armen umschlingen, und ihn zu sein machen konnte. Er stöhnte vor Verlangen und Schmerz auf, als er sich endlich verschloss. Er ließ den Kopf hängen und hoffte, dass er nicht zu viel riskiert hatte.
 

„Naoe... Hab ich dich endlich!“, flüsterte Takaya mit bebender Stimme.

Bewegung

Takahashi war wütend. Sie rauschte um die Ecke in den nächsten Gang, in dem sich ihre Räumlichkeit befand. Sie konnte es einfach nicht glauben. Sie fluchte innerlich, als sie durch die Tür in ihr Zimmer trat, und diese hinter sich zuknallte. Tief Luft holend und dabei die Ruhe suchend, stand sie mitten im Raum und bereute ihr Verhalten sofort.

Was ist bloß los mit mir? Es ist ja nicht so, dass ich nicht wiederkommen darf, um endlich Antworten auf meine Fragen zu bekommen, aber dennoch..., dachte Takahashi noch immer etwas aufgebracht, und setzte sich in den Sessel am Fenster.

Sie betrachtete minutenlang die sich vor ihr ausbreitende frühmorgendliche Landschaft, und fand endlich ihre Ruhe wieder. Sie seufzte, und dachte an das Gespräch mit Arakawa.
 

Arakawa ließ sie vor etwa einer halben Stunde zu sich rufen, um ihr mitzuteilen, dass sie das Anwesen gegen Abend verlassen würde. Er hatte ihr keinen Grund dafür genannt, nur, dass es Shishidos Anweisung war, und er sie ausführen würde. Sie würden sich danach bald wieder mit ihr in Verbindung setzen, um ihr erneut die Möglichkeit zu geben, Tachibana zu treffen.

Sie lenkte ihre Gedanken auf Tachibana. Mehr als fünf Wochen waren nun vergangen, seit sie ihn das erste Mal getroffen hatte, aber sie wusste zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr über ihn, als zu Beginn ihrer Bekanntschaft. Er leugnete zudem noch immer Minako, gekannt zu haben. Die ganze Sache war ermüdend. Wenn Arakawa ihr nicht eindringlich versichert hätte, dass Tachibana mit Minakos Tod in Verbindung stehe, hätte sie schon längst von ihm abgelassen. Schlimmer noch, sie begann, ihn zu mögen. Trotz seiner kühlen und durchaus arroganten Art ihr und vor allem Arakawa gegenüber, konnte sie erkennen, dass er darunter eine zerbrechliche Persönlichkeit versteckte, die irgendetwas zu verbergen versuchte. Sie wollte unbedingt wissen, wer dieser Tachibana wirklich war. Außerdem wollte sie erfahren, was Shishido, dem sie bisher kein einziges Mal begegnet war, mit ihm verband.

Ihr war in ihren Gesprächen mit Tachibana aufgefallen, dass Shishido ihm völlig fremd war. Sie hatten anscheinend vorher nie etwas miteinander zu tun gehabt, und Freunde waren sie auf keinen Fall. Das ließ sich schon allein an der Behandlung Tachibanas durch ihn ablesen. Natürlich war auch sie wütend und musste sich beherrschen, wenn es um Minako ging, aber sie würde nie soweit gehen, einen wehrlosen Gefangenen zu foltern.

Shishido war ihr nicht geheuer und sie befürchtete, dass dieser noch viel weiter gehen würde, um das zu erreichen, was er erreichen wollte. Aber was wollte er?

Arakawa verlor über Shishido kein Wort zuviel in ihrer Gegenwart, und in Tachibanas löste sich dessen ruhige Art gänzlich auf, und legte einen offen aggressiven Menschen frei, der es nicht ertragen konnte, dass sein Herr Interesse an einer anderen Person hegte. Wie auch immer dieses Interesse aussehen mochte...

Takahashi wurde das Gefühl nicht los, dass Shishido sie benutzte, um Tachibana zu quälen. Wenn sie an den Augenblick zurückdachte, an dem sie Tachibana ihre entscheidende Frage gestellt hatte, dann war offensichtlich etwas dran an dieser Behauptung. Tachibana tat sich mit dieser Angelegenheit schwer, auch wenn er es inzwischen gut verbarg.

Sie grübelte immer häufiger darüber nach, welches fehlende Verbindungsglied zwischen Tachibana und Shishido noch im Verborgenen wandelt und für einige Erklärungen sorgen würde, wenn es auftauchte.
 

Sie beobachtete durch das Fenster einen Falken, der in einiger Entfernung in der Luft zu stehen schien, bevor er im Sturzflug nach unten hinter einer Baumreihe verschwand. Sie schloss müde die Augen, und dachte an den Abend.

Sie würde ihre Zeit daheim nutzen, um sich über einiges klar zu werden. Sie wusste, dass es ein Verbrechen war, diesen Mann gegen seinen Willen hier festzuhalten, und sie sich damit strafbar gemacht hatte. Aber dieser Gedanke berührte sie nur peripher, da sie seit dem Tod Minakos jeden Glauben an das Gesetz verloren hatte. Ihr war beinah alles egal, Hauptsache, sie würde endlich Antworten auf ihre Fragen bekommen.

Sie hatte keine Ahnung, wie lange das alles noch andauern würde, wie lange Tachibana noch am Leben gehalten würde und wie lange sie überhaupt noch die Möglichkeit hatte, an allem teilzuhaben. So plötzlich wie Arakawa auf sie zugekommen war, so plötzlich könnte er auch wieder verschwinden, und sie ohne Antworten zurücklassen. Sie seufzte gequält, und fühlte sich in ihrer Position machtlos.

Ich will doch nur wissen, was mit dir geschehen ist, Minako! Ich möchte diese Welt nicht verlassen, ohne zu wissen, wer für deinen Tod verantwortlich ist! Ich kann und will nicht loslassen... Takahashi öffnete ihre Augen, und versuchte neuen Mut aus ihren Gedanken an Minako zu schöpfen.

Sie überlegte, wann sie Tachibana heute für ein vorerst letztes Mal aufsuchen sollte, bevor sie das Anwesen verließ, und entschied sich für den frühen Nachmittag. Sie glaubte nicht, dass er sich bereit erklärte, heute ihre Fragen zu beantworten, aber sie gab die Hoffnung nicht auf. Wenn sie ehrlich war, dann wollte sie ihn nur noch einmal sehen, bevor sie fuhr.

Sie sah erneut gedankenverloren aus dem Fenster.
 


 

„Könntest du die Musik leiser drehen?“, maulte Takaya genervt, der neben Kousaka im Auto saß.

Sie waren vor wenigen Minuten von Naoes Anwesen aus gestartet, und befanden sich nun auf dem Weg nach Matsumoto. Takaya hatte beschlossen, seiner Schwester noch mal einen Besuch abzustatten, bevor sie anschließend nach Nagano fuhren, um dort möglicherweise auf Takahashi zu treffen.

Als Kousaka auf seine barsch hervorgebrachte Bitte nicht reagierte, drehte er das Radio selbst leise, und sah aus dem Beifahrerfenster.

„Hey, ich wollte das Lied aber laut hören! Leise bringt’s nicht...“, entgegnete Kousaka überrumpelt und griff zum Radio, um Takayas Aktion rückgängig zu machen.

„So schlechte Musik bringt’s auch dann nicht, wenn du sie noch lauter hören würdest!“, meinte Takaya zynisch, und hielt Kousakas Hand fest. Dieser schaute für einen kurzen Moment irritiert auf seine Hand, bevor ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg.

„Ich will mal eines klarstellen, Kagetora! Ich bin hier der Fahrer, also habe ich die Entscheidungsgewalt über das Radio. Dir bleibt also nichts anderes übrig, als dich mit meinen Vorlieben zufrieden zu geben. Wenn du das nicht kannst, kein Problem, ich halte an der nächst möglichen Stelle an, und du kannst das Auto gerne verlassen. Ich werde dann in Matsumoto auf deine Ankunft warten...“, zischte Kousaka, während Takaya seine Hand geschlagen zurückzog, und sie in seinen Schoß legte. Kousaka drehte das Radio wieder lauter.

„Ach ja, wenn du Kopfschmerzen hast, dann ist das nicht mein Problem! Vielleicht hättest du gestern Abend nicht zu tief ins Glas blicken sollen...“, brachte Kousaka gehässig mit lauterer Stimme hervor, und sah kurz rüber zu Takaya. Dieser zog wütend die Augenbrauen zusammen, und Kousaka erwartete schon einen Sturm der Entrüstung, aber dieser blieb überraschend aus. Er runzelte die Stirn.

Nanu, so beherrscht heute? Irgendwie scheinst du mir verändert... Ich wüsste zu gern, was nach meinem Verschwinden gestern noch passiert ist. Und das etwas geschehen ist, ist nicht zu übersehen... Wenn du nicht allein mit der Sprache herausrückst, dann werde ich es eben aus dir rauskitzeln, wenn es sein muss, Kagetora!, überlegte Kousaka entschieden, und konzentrierte sich wieder auf die Straße vor ihm. In freudiger Erwartung begann er das gerade laufende Lied mitzusummen.
 

Takaya ignorierte Kousaka und die laute Musik so gut es ging, und schloss seine Augen. Er konzentrierte sich auf sich selbst, und auf die Erlebnisse des vergangenen Abends. Er konnte noch immer nicht glauben, dass er tatsächlich Naoe gefunden hatte.

Als er sich gestern mit seinem Gefühlschaos in Naoes Zimmer zum Schlafen gelegt hatte, spürte er auf einmal Naoes auf ihn gerichtetes shinenha (telepathischer Gedankenruf). Er war so überrascht darüber, dass er im ersten Moment seine eigenen Gedanken und Gefühle nicht kontrollieren konnte, und er sich wie ein Ausgehungerter auf dessen körperlose Anwesenheit gestürzt hatte. Für Naoe musste es wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein, diese geballte Ladung seiner widersprüchlichen Empfindungen abzubekommen.

Takaya hielt während ihrer geistigen Berührung die ganze Zeit über den Atem an und hoffte, dass Naoe sich nicht wieder verschloss, oder dieser sich zumindest so lange offen zeigte, bis er dessen Aufenthaltsort erfahren hatte. Er benutzte dazu reiha douchou (eins werden mit einem spirituellen Wesen, um durch dessen Augen sehen zu können), was in seinem betrunkenen Zustand zwar nicht ganz einfach war, aber es war ihm geglückt, und für einen kurzen Moment konnte er Naoes Aufenthaltsort sehen. Takaya war überrascht, da dieser nicht sehr weit von Matsumoto entfernt lag. Er wusste nun endlich, an welchem Ort er suchen musste.

Er hatte Kousaka von dieser entscheidenden Erkenntnis noch nichts erzählt. Er nahm an, dass dieser dann sofort zu Naoe eilen würde, aber das waren nicht seine Pläne.

Takaya genügte vorerst das Wissen, dass Naoe lebte und Shishido an dieser Tatsache erst einmal nichts ändern würde. Daher entschied er sich, nochmals zurück nach Matsumoto zu fahren, um anschließend, wie geplant, Takahashis Wohnsitz aufsuchen. Dort konnte er sich so selbst von ihrer Existenz überzeugen. Er glaubte Kousaka zwar jedes Wort bezüglich Takahashi, dennoch wollte er sie mit eigenen Augen sehen, und vor allem etwas über ihre Verbindung zu Shishido erfahren. Genau wie Kousaka, war auch er der Meinung, dass sie benutzt wurde, aber dem ungeachtet, war sie Shishidos Komplizin.

Aber wer kann es ihr Verübeln? Ich bin unbewusst für den Tod ihrer Schwester verantwortlich, und niemand kann ihr den wahren Grund dafür nennen. Sie hatte ein Recht auf Antworten, aber diese wird sie wohl niemals erhalten..., dachte Takaya traurig und spürte, wie ihm dieser Gedanken eine unbändige Wut auf Naoe verursachte.

Naoe... Du lebst also?! Soll ich mich jetzt darüber freuen, oder enttäuscht sein...

Takaya öffnete wieder seine Augen, und sah mit widersprüchlichen Gefühlen aus dem Beifahrerfenster. Er betrachtete ohne erkennbares Interesse die vorbeirasende Landschaft, und stellte sich innerlich auf die kommenden Ereignisse der nächsten Stunden ein.
 


 

Naoe, gekleidet in eine hellblaue Jeans und einem grauen, halbgeöffneten Seidenhemd, stand barfuss am Fenster, und rauchte eine weitere Zigarette. Der Aschenbecher in seiner Hand war inzwischen überfüllt, aber er hatte keine Lust ihn auszukippen.

Er war, obwohl es schon weit nach Mittag war, müde, weil er die halbe Nacht nicht geschlafen hatte. Seine gestrige Aktion verursachte ihm Kopfschmerzen, und er bereute sie zutiefst. Er hoffte, dass Kagetora nicht in der Lage gewesen war, ihn ausfindig zu machen. Aber er hatte diesbezüglich kein gutes Gefühl, da Kagetora der machtfähigste ihrer Gruppe war, und sie somit nicht umsonst anführte. Wenn dieser in der ganzen Verwirrung für nur einen Moment einen klaren Gedanken gefasst hatte, dann war ihm sein Aufenthaltsort nicht mehr verborgen, und er würde nun alles in die Wege leiten, um ihn zu befreien - denn diesen Gedanken hatte Naoe in Kagetoras Gefühlschaos lesen können. Er würde kommen. Und Naoe war sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen, oder ob er sich fürchten sollte, denn er hatte eine unbändige Wut bei Kagetora gespürt, die ihm eine Gänsehaut verursacht hatte. So ähnlich hatte er ihn schon einmal erlebt, nur dass er ihm da einen unverzeihlichen Grund dafür geliefert hatte. Aber jetzt?

„Kein Verzeihen, das bis in alle Ewigkeit anhalten wird..., murmelte Naoe gequält, während er seine nicht aufgerauchte Zigarette ausdrückte, und dabei einen Teil des Aschenbecherinhaltes auf den Boden schüttete.

„Mist...“ Naoe kniete sich hin, um wenigstens die Zigarettenstummel wieder aufzulesen. Er stöhnte auf, als er seinen Rücken beugte. Er verzog missmutig das Gesicht und verfluchte Shishido, der ihn seit dem Vorfall im Bad inzwischen täglich aufsuchte.

Naoe konnte zwar nicht vorhersagen, zu welcher Zeit dieser auftauchen würde, aber dafür wusste er mit absoluter Bestimmtheit, dass dieser bei jedem Treffen Sex wollte. Und im Gegensatz zum ersten Mal, hatte Shishido nie mehr die Rolle des Aktiven übernommen. Diese überließ er nun Naoe, der sich damit noch immer schwer tat.

Naoe war zwar froh darüber, dass ihm jetzt zumindest Shishidos körperliches Eindringen erspart blieb, aber er fühlte sich bei jeder Begegnung, und vor allem danach, schlecht.

Er hatte nicht da Gefühl, dass er Kagetora betrog, denn da gab es nichts, was er betrügen könnte, dennoch beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Sexuelle Nötigung am eigenen Leib zu erfahren, bestärkte ihn in seinem Entschluss, sich Kagetora niemals mehr aufzudrängen.

Er lenkte seine Gedanken zurück auf Shishido, der ihn vor etwa einer Stunde verlassen hatte. Dieser hatte Andeutungen gemacht, dass in den nächsten Stunden einige Veränderungen eintreten würden, die auch seine Situation betrafen. Er bemerkte seine wachsende Beunruhigung, die durch den gestrigen Abend ausgelöst und durch Shishidos Worte heute an Intensität zunahm. Er wusste nicht, was vor sich ging, aber machte sich auf alles gefasst.

Naoe richtete sich wieder auf, stellte den Aschenbecher auf dem Fenstersims ab, und griff nach seiner Zigarettenschachtel, als es an der Tür klopfte. Er ahnte, wer ihn nun besuchen kam.
 

„Guten Tag, Tachibana. Wie ich sehe, wanderst du unruhig umher!?“, sprach Takahashi, während sie ins Zimmer trat, und Naoe dabei intensiv musterte.

„Hast du etwa auf mein Kommen gewartet?“, fragte sie neugierig, als sie neben ihm am Fenster zum Stehen kam. Naoe sah sie an, und seufzte.

„Sehe ich etwa so aus, als würde ich auf eine ältere Frau warten wollen?“, entgegnete er süffisant, lehnte sich an die Fensterecke und schenkte ihr ein breites Lächeln.

Takahashi stockte der Atem – nicht nur wegen der Beleidigung.

„Oh?! Ich wusste gar nicht, dass du auch noch jüngere Besucherinnen empfängst. Arakawa zähle ich jetzt mal nicht dazu...“, meinte Takahashi, und ein belustigtes Lächeln umspielte ihren Mund.

„Wenn es dir nichts ausmacht, dann würde ich dich bitten, deinen Besuch kurz zu halten, da ich müde bin.“, sagte Naoe teilnahmslos, der sich dabei wieder eine Zigarette ansteckte.

Takahashi sah kurz zu ihm rüber, bevor sie ihren Blick nach draußen schweifen ließ.

Sie wusste auf einmal, dass er niemals ihre Fragen beantworten würde. Über diese plötzliche Erkenntnis war sie nicht überrascht. Sie hatte es eigentlich schon von Beginn an gewusst, es sich aber nicht eingestehen können.

Es schien etwas in Tachibanas Leben zu geben, dass ihn daran hinderte, und ihm zugleich großen Schmerz bereitete, und er diesen in einer selbstzerstörerischen Art mit offenen Armen empfang, was ihm ihr Mitgefühl brachte. Gleichzeitig machte sie die Situation unendlich traurig. Wenn er wirklich mit Minakos Tod zu tun hatte, dann wollte sie die Wahrheit erfahren – und zwar von ihm.

Takahashi spürte, wie die widersprüchlichen Gefühle in ihr einen Kampf um die Vorherrschaft ausfochten, und seufzte leise. Sie blickte zurück zu Tachibana und sah ihm in die Augen. Dieser erwiderte ihren durchdringenden Blick.

„Ich werde heute Abend das Anwesen verlassen. Wann ich wiederkomme, kann ich nicht sagen.“, sagte sie mit leiser, enttäuscht klingender Stimme. Naoe hob eine Augenbraue, und sah sie fragend an. In seinem Kopf rasten die Gedanken.

So?! Ist das ein Teil der Veränderungen, die Shishido angekündigt hat? Aber warum Takahashi? Was steckt dahinter... Kagetora! Er weiß von Takahashi, und will sie aufsuchen! Sie soll ihn ködern, und in eine Falle locken... Verdammt! Aber es wäre nicht nötig, sie aufzusuchen...er könnte doch direkt, wenn er weiß wo ich... Er will sie sehen, und Shishido ahnt es. Aber was hat Shishido vor... Naoes Unruhe nahm mit jedem weiteren Gedanken zu und er hoffte, dass ihn Shishido heute ein zweites Mal besuchen würde, damit er ihm Fragen stellen konnte. Er würde wahrscheinlich keine Antworten bekommen, aber eventuell ließ sich etwas an Shishidos Undurchdringlicher Miene ablesen.

„Tachibana...“, sagte Takahashi mit fester Stimme, während ihr Gesicht einen gequälten Ausdruck zeigte. Naoe konnte den Anblick nicht ertragen, und schaute aus dem Fenster.

„Ich spüre, dass du etwas mit Minakos Tod zu tun hast, aber ich weiß nicht was. Für mein Gefühl brauche ich auch nicht Arakawas Erklärungen, die im Grunde leere Worte sind. Ich weiß überhaupt nichts, nur, dass Minako Tod ist, niemand sich wirklich um diesen Fall gekümmert hat, und dass du die einzige Quelle mit möglichen Antworten bist. Ich kann dich nicht zum Reden zwingen, zumal du für dein Schweigen deine Gründe zu haben scheinst, aber ich bitte dich, bis zu unserem nächsten Treffen darüber nachzudenken. Ich hoffe, dass ein nächstes Mal geben wird...“ Takahashi sah hoffnungsvoll zu Tachibana, der noch immer aus dem Fenster sah, und sie ignorierte. Sie griff nach seiner Hand, und legte ihm etwas die Handfläche.

Tachibana zuckte überrascht über die unerwartete Berührung zusammen, und sah auf seine linke Hand hinunter, die noch immer von Takahashis Händen umschlossen wurde. Als sie ihre Hände wegnahm, entdeckte er dort eine silberne Kette mit einem filigran gearbeiteten Anhänger in Form von Rosenblüten. In der Mitte des Anhängers waren drei rote Edelstein eingearbeitet, die das Gesamtbild des Anhängers eindrucksvoll abrundeten. Tachibana hielt aufgrund der Schönheit den Atem an.

„Diese Kette trug Minako, als sie noch ein junges Mädchen war. Sie gehörte unserer gemeinsamen Mutter. Wir waren Halbschwestern. Sie ist nie mit meinem Vater zurecht gekommen, was dazu führte, dass sie früh auszog. Nachdem Minako unseren Familiensitz verlassen hatte, und sich niemals mehr bei uns gemeldet hatte, verging dennoch kein Tag, an dem ich nicht an sie gedacht habe. Genau wie unsere Mutter, habe ich mich um sie gesorgt, aber ich wusste, dass sie eine starke Person war, und sie ihren Weg gehen würde – bis zu dem Tag, als die Polizei die Nachricht ihres Todes überbrachte. Es brach das Herz unserer Mutter und ich konnte es einfach nicht glauben... Ich bin seitdem auf der Suche nach den wahren Hintergründen ihres Todes. Ich habe über die ganzen Jahre hinweg nichts herausfinden können, bis zu dem Tag, als Arakawa bei mir aufgetaucht ist... Nun, und das führte zu unserer Bekanntschaft. Ich habe das Gefühl, dass du die Antwort auf all meine Fragen bist, ich sie aber nie erhalten werde...“, erzählte Takahashi mit emotionsgeladener Stimme, und blickte in Tachibanas begreifende Augen.

„Auf Wiedersehen, Tachibana...“, sagte Takahashi unerwartet, und drehte ihm entschlossen den Rücken zu, und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Sie hatte das Gefühl, ihn nicht mehr wiederzusehen.

Naoe sah ihr mit gepeinigten Augen nach, und ballte die Hand, in der die Kette ruhte, zu einer Faust. Er wusste nun, warum sie so auf Antworten versessen war. Er fühlte sich plötzlich jämmerlich, und warf einen hilfesuchenden Blick aus dem Fenster warf.
 


 

Sie waren endlich in Matsumoto angekommen. Takaya schöpfte erleichtert Kraft aus der vertrauten Umgebung. Die Stunden mit Kousaka allein im Auto waren nicht einfach zu ertragen gewesen, da sie kaum miteinander gesprochen hatten. Nicht, dass es Kousaka nicht versucht hätte, aber Takaya hatte einfach keine Lust gehabt, sich mit ihm auseinander zusetzen. Die Gespräche blieben daher oberflächlich, und Naoe war kein einziges Mal der Gegenstand ihrer kurzen Unterhaltungen. Darüber war Takaya insgeheim froh gewesen, denn er befürchtete, dass ihn seine Gefühle bezüglich des Wissens um Naoes Aufenthaltsort verraten hätten. Sie schwiegen also die meiste Zeit der Fahrt über, nur Kousakas Gesang durchbrach hin und wieder die Stille.

Takaya sah aus dem Fenster, als sie an einer Ampel hielten. Er beobachtete ein vorbeilaufendes Pärchen, was sich auf spielerische Weise zankte, und presste unbewusst seine Lippen aufeinander. Er sah ihnen im Außenspiegel nach, bis sie aus seinem Blickwinkel verschwunden waren. Er verdrängte seine aufsteigenden Gefühle, und blickte nach vorne. Ihm entging so Kousakas Blick, der ihn die ganze Zeit über von der Seite beobachtet hatte.

„Nun?! Was wollen wir hier?“, fragte Kousaka neugierig, der somit seit langer Zeit wieder das Wort an Takaya richtete. Dieser blickte kurz zu ihm rüber und überlegte, ob er auf dessen Frage reagieren sollte.

„Ich will kurz nach Hause, um nach meiner Schwester zu sehen. Sie soll erfahren, dass ich einige Zeit weg sein werde, und sie sich keine Sorgen machen braucht.“, meinte Takaya aufrichtig, und versuchte Kousakas skeptischen Blick zu ignorieren.

„Ich wusste gar nicht, dass du so fürsorglich sein kannst, Kagetora?! Ich bin überrascht, oder ich müsste wohl eher sagen, dass ich erschüttert bin...“, sagte Kousaka auf belustigte Weise, die in Takaya Zorn auslöste.

„Ich habe dich nicht um deine Meinung gebeten, Kousaka! Im Gegensatz zu dir, habe ich jemanden, an dem mir etwas liegt... Wenn du dir also deine Kommentare sparen könntest, und mich einfach nach Hause fahren würdest, damit ich mein Vorhaben erledigen kann?! Umso schneller können wir uns außerdem danach auf den Weg nach Nagano machen. Ich denke, das ist auch ganz in deinem Sinne, oder?“, zischte Takaya unfreundlich, und blickte auf den Weg vor ihm. Sie waren nur noch drei Straßen von seinem Zuhause entfernt.

„Ganz wie Sie wünschen, Kagetora-sama!“, entgegnete Kousaka zynisch, und behielt die Autos vor ihm im Auge.
 

Als der silberne Sportwagen vor dem Gebäude hielt, blendete die am Horizont stehende Sonne die beiden Insassen des Autos. Sie unterhielten sich für einen Augenblick, und kurz darauf stieg die Person auf der Beifahrerseite aus. Sie warf noch einmal einen wütenden Blick zurück, ehe sie sich mit einem Schlüssel den Weg in das Haus bahnte.

Takaya lehnte sich mit dem Rücken an die geschlossene Haustür, und schloss für einen kurzen Moment seine Augen. Er seufzte hörbar. Er zog seine Schuhe aus, und betrat den Hausflur. Er lauschte für einen kurzen Moment, konnte aber keine Geräusche im Haus hören. Es schien, als wäre Miya nicht daheim. Er betrat die Küche, und sah einen Zettel auf dem Küchentisch liegen. Für einen Augenblick lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter, während er den Zettel betrachtete.

Takaya, reiß dich zusammen..., dachte er beschämt, und ging auf den Küchentisch zu.
 

HALLO TAKAYA!

WENN DU DAS HIER LIEST, BIN ICH SCHON BEI SUZUKA, UM DORT ZUM ÜBERNACHTEN... ICH HÄTTE ES DIR JA GERNE PERSÖNLICH GESAGT, ABER ICH WUSSTE NICHT, WANN DU WIEDER AUFTAUCHEN WÜRDEST. SUZUKA UND ICH WOLLEN GEMEINSAM LERNEN...

ICH HOFFE, ES GEHT DIR GUT, DA, WO AUCH IMMER DU GERADE BIST!? PASS BITTE AUF DICH AUF, UND KOMM BALD NACH HAUSE...

ICH UMARME DICH!
 

MIYA
 

P.S.: YUZURU HAT NACH DIR GEFRAGT! DU SOLLST DICH UNBEDINGT BEI IHM MELDEN...
 

Takaya starrte erleichtert auf den Zettel in seiner Hand.

„Ich sollte wohl langsam meine Ruhe wiederfinden, sonst bekomme ich wirklich noch Schwierigkeiten...“, murmelte er sich selbst belehrend zu, und ging hinauf in sein Zimmer. Dort angekommen, stopfte er ein paar nützlich Dinge in seinen Rucksack, und ging zurück in die Küche.

Er sah in den Kühlschrank und entschloss sich, etwas zu Essen für ihn und Kousaka mitzunehmen, damit sie dafür nicht zusätzlich unterwegs anhalten müssten.

Übernachten würden sie in einem Hotel an der Straße kurz vor Nagano. Zu diesem Entschluss waren sie übereinstimmend gekommen, da es bei ihrer Ankunft in Nagano für alles weitere sonst zu spät wäre, wenn sie durchfahren würden. So konnten sie also von dort aus am nächsten Morgen in Ruhe ihren Weg nach Nagano rein fortsetzen.

Takaya schloss seinen Rucksack, und hinterließ Miya auf der Rückseite des Zettels ein wage Antwort. Er platzierte ihn auf dem Tisch, und sah sich nervös um. Er wusste zwar, dass er sich um Miya und Yuzuru keine Sorgen machen musste, da sie ohne deren Wissen von seinen Leuten beschützt würden, wenn er und der Rest der Gruppe abwesend waren. Dennoch beschlich ihn jedes Mal eine Unruhe, wenn er nicht selbst über sie wachen konnte.

Er verließ gerade die Küche, als es unerwartet an der Haustür klingelte.

„Ich habe ihm doch gesagt, dass er im Auto bleiben soll...“, brummelte Takaya aufgebracht, während er einen Schritt schneller zur Tür ging und dort angekommen, sie förmlich aufriss. Überrascht weiteten sich seine Augen.

„Yo Takaya! Da hat mich mein Gefühl also nicht an der Nase herumgeführt. Ich bin echt froh, dich zu sehen!“, sprach Yuzuru erlöst, und sah in Takayas verwunderte Augen.

„Yuzuru... Wie... Also, äh...was machst du hier?“, stammelte Takaya und machte Yuzuru Platz, so dass dieser eintreten konnte.

Bevor Takaya die Eingangstür hinter Yuzuru schloss, warf er einen kurzen Blick zu Kousaka rüber, der inzwischen das Auto verlassen hatte, und Zigarette rauchend zu ihm rüber sah.
 

Takaya nippte an seiner Limo und sah zu Yuzuru rüber, der ihm gegenüber am Küchentisch saß. Er musterte seinen besten Freund und kam zu dem Entschluss, dass Yuzuru so aussah aus wie immer, und er nach außen hin völlig ausgeglichen schien. Aber Takaya wurde das Gefühl nicht los, dass Yuzuru etwas belastete. Die Art, wie dieser ihn anblickte und zu ihm sprach, verriet Takaya, dass dieser etwas auf dem Herzen hatte.

Takaya spürte, dass seine Ungeduld wuchs, und nicht nur, weil draußen jemand auf ihn wartete, sondern auch aus reiner Neugier. Er hatte gerade vor, nach Yuzurus Beweggründen für dessen Kommen zu fragen, als dieser seiner Ungeduld ein Ende setzte.

„Kann es sein, dass du wieder gehst? Draußen scheint jemand auf dich zu warten...“, sprach Yuzuru mit leiser, verunsicherter Stimme, und blickte beinah verzweifelt in Takayas Augen. Takaya schluckte, und war über diesen Blick völlig irritiert.

Was ist los, Yuzuru? Warum bist du hierher gekommen... Und woher, um alles in der Welt, wusstest du, dass ich gerade jetzt um diese Zeit hier sein würde... Wenn ich dich nicht besser kennen würde, dann würde mich dieses Wissen ängstigen... Takaya sah gedankenverloren in Yuzurus Augen, die ihn noch immer fragend anblickten.

„Oh... Hm, ja. Ich muss gleich wieder weg. Ich wollte nur kurz bei Miya vorbeisehen, aber sie ist nicht da. Na ja...“, sagte Takaya zurückhaltend, und wurde unerwartet heftig von Yuzuru unterbrochen.

„Wie geht es Naoe?“, drängte dieser mit gequälter Stimme, und schaute hoffnungsvoll in Takayas Augen.

Takaya stockte der Atem, als Naoes Name so plötzlich aus Yuzurus Mund kam.

Was weiß er? Ahnt er was? Es wäre nicht das erste Mal..., überlegte Takaya fieberhaft, und suchte in Yuzurus Augen nach Antworten.

„Also, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber ich mache mir Sorgen um Naoe! Hat er sich inzwischen bei dir gemeldet? Na ja... Der eigentliche Grund, warum ich mir große Sorgen mache, sind meine immer wiederkehrenden Träume, in denen Naoe auftaucht. Ähm... In meinen Träumen geht es ihm gar nicht gut. Ich sehe überall Blut an ihm, und ähm... Da ist eine weitere Person, die ihm schlimme Dinge antut... Wenn ich nur daran denke, läuft es mir unangenehmer Schauer den Rücken runter, Takaya! Es ist grausam... Naoe wirkt in meinen Träumen zerrissen... Etwas aus seiner Vergangenheit jagt ihn... Klingt vielleicht blöd, aber ich kann es nicht besser beschreiben. ... Bist du auf der Suche nach Naoe?“ Mit dieser einfachen Frage beendete Yuzurus seine bestürzende Erklärung und starrte auf seine Hände, die verkrampft in seinem Schoss lagen.

Takaya wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte geahnt, dass Yuzuru etwas über Naoe wissen wollte, aber dass dieser so nah an der Wahrheit lag, hatte er nicht erwartet.

Yuzuru war ihnen allen mit seiner Kraft noch immer ein Rätsel. Sie hatten zwar Nachforschung betrieben, aber sie waren kein Stück vorangekommen. Ihnen blieb zur Zeit nichts anderes übrig, als ein Auge auf Yuzuru zu werfen und dafür zu Sorgen, dass er, und vor allem seine Macht, von niemanden missbraucht wurde.

Takaya spielte kurz mit dem Gedanken, Yuzuru mitzunehmen. Vielleicht wäre er ihnen mit seiner geheimnisvollen Macht von Nutzem, aber würde er das tun, wäre er nicht besser als diejenigen, die Yuzuru bisher nach dem Leben getrachtet hatten. Er schüttelte unbewusst den Kopf.

Er wusste, dass Yuzuru Naoe sofort zur Hilfe eilen würde, wenn dieser die Wahrheit aus seinem Munde erfahren würde. Aber Takaya entschloss sich, ihm vorerst nichts zu erzählen. Er hoffte, dass Yuzuru ihn auch so verstehen würde.

„Woah, das klingt echt nach einem üblen Alptraum, Yuzuru! Ich weiß nicht, was ich sagen soll!? Nun, ich kann dir zumindest soviel sagen, dass es Naoe gut geht. Wir sind auf dem Weg zu ihm. Du brauchst dir also keine Sorgen um ihn zu machen.“, entgegnete Takaya mit gelassener Stimme und hoffte, dass diese einfache Antwort Yuzuru beruhigen würde.

„Ich will mitkommen!“, sprudelte es aufgewühlt aus Yuzurus Mund, der Takaya dabei flehend ansah. Dieser hatte solch eine Erwiderung schon vermutet. Für einen kurzen Moment blickte Takaya unentschlossen zu Yuzuru rüber, der ungeduldig auf die ausstehende Antwort wartete.

„Das geht nicht, Yuzuru! Tut mir leid! Wir können dich nicht mitnehmen...“, sprach Takaya leise, und sah Yuzuru direkt in die Augen. Die Enttäuschung zeigte sich augenblicklich in dessen Gesicht.

„Aber warum nicht? Vielleicht kann ich helfen... Okay, ich kann meine Kraft, oder was auch immer das ist, nicht wirklich kontrollieren oder sie bewusst hervorrufen, dennoch weiß ich, dass sie mich nicht im Stich lassen würde, wenn es darauf ankommt und es Naoe eine Hilfe wäre!“, brachte Yuzuru leidenschaftlich hervor, und ballte seine Hände zu Fäusten. Takaya konnte erkennen, dass es ihm wirklich ernst war, aber das würde ihm nichts nützen. Chiaki, er und Haruie hatten gemeinsam beschlossen, Yuzuru nicht in die Sache hineinzuziehen.

„Wenn Naoe dich hören könnte, würde er sich wirklich freuen, Yuzuru! Aber es geht nicht! Ich muss dich bitten, Geduld zu haben und auf unsere Rückkehr zu warten. Ich weiß, dass das nicht sehr einfach ist, aber ich hoffe, dass du diese Aufgabe meistern wirst! Na ja, außerdem hätten wir dich dann hier vor Ort, falls etwas sein sollte! Nun, und Miya ist ja auch noch da... Ich wollte dich nämlich bitten, ob du ab und zu bei ihr vorbeizusehen kannst, solange ich noch nicht wieder zurück bin...“, sagte Takaya besänftigend und spürte, dass sich Yuzuru Gegenwehr auflöste.

„Da habe ich wohl keine andere Wahl, was?“, stellte Yuzuru mit enttäuschter Stimme fest. Takaya grinste zu ihm rüber.

„Sieht wohl so aus! War noch nie leicht, dich bei mir durchzusetzen, was...“, scherzte Takaya, und trank sein Glas leer.

„Kannst du mir dann wenigstens einen Gefallen tun, Takaya?“, fragte Yuzuru leise während er aufstand. Takaya sah neugierig zu ihm hoch.

„Na klar, was immer es auch ist...“

„Kannst du Naoe bitte ausrichten, wenn du ihn siehst, dass ihn keine Schuld trifft!?“, sagte Yuzuru, und blickte Takaya dabei geheimnisvoll an.

Was meinst du damit, Yuzuru... An was trägt er keine Schuld?, dachte Takaya interessiert, aber entschloss sich, diese Gedanken nicht laut auszusprechen, da er das Gefühl hatte, dass Yuzuru sie selbst nicht beantworten könnte.

„Klar, kann ich ihm sagen. Okay. Ich muss los. Wollen wir?“ Takaya stand ebenfalls auf, und gemeinsam gingen sie zur Haustür.
 

Takaya verabschiedete sich draußen unter den Augen von Kousaka mit einer herzlichen Umarmung von Yuzuru, und sah ihm gedankenversunken eine Weile nach, als dieser seinen Weg nach Hause antrat.

„Hm. Du schuldest mir einen, Kagetora!“, sagte Kousaka plötzlich, als er in das Auto stieg. Takaya blickte irritiert zu der Stelle rüber, wo Kousaka eben noch stand. Er spürte, dass sich seine eben gewonnene Ruhe in Kousakas Gegenwart wieder in Luft auslöste. Er stieg aufgebracht ins Auto.

„Was meinst du damit, Kousaka? Ich wüsste nicht, warum ich dir etwas schuldig wäre...“, entgegnete Takaya mit eisiger Stimme.

„Nun, ich habe dir etwas Zeit mit deinem Freund geschenkt! Ich war nämlich schon drauf und dran dich aus dem Haus zu zerren, als Yuzuru auf einmal auftauchte. Na ja, und weil ich so ein netter Mensch bin, dachte ich, och, gebe ich denen ein paar zuckersüße Minuten allein! Wer weiß, wann sie sich das nächste Mal sehen...“, meinte Kousaka belustigt, und startete das Auto.

Takaya tat nichts weiter, als Kousaka wütend von der Seite anzustarren.

Nein, diese Genugtuung gebe ich dir jetzt nicht, mein Freund! Wenn du unbedingt rumstänkern musst, dann such dir einen anderen Dummen...

Takaya grinste breit und bemerkte, dass sich seine Wut in Luft auflöste. Er dachte an Yuzuru zurück und war froh, dass dieser die Angelegenheit so stehen lassen konnte. Er wusste nicht wieso, aber immer, wenn Yuzuru in seiner Nähe war, fühlte er sich gut. Er seufzte hörbar, und sah aus dem Fenster, als sie die vertraute Straße verließen.

Ruhe

Takaya erwachte, als das Auto unsanft bremste. Er schlug überrascht die Augen auf und versuchte sich zu orientieren.

„Was... Wo sind wir?“, fragte er noch immer schlaftrunken, während Kousaka neben ihm heiser lachte.

„Oh, aufgewacht? Ich dachte schon, ich muss zu drastischeren Mitteln greifen!“, meinte dieser vergnügt und warf Takaya einen unverschämten Blick zu.

Takaya ignorierte Kousaka und sah aus dem Beifahrerfenster. Dort erblickte er eine kleine Pension, die mit einer grellerleuchteten und äußerst unschönen Reklamewand für freie Zimmer warb. Takaya atmete erleichtert auf. Er hatte zwar nicht befürchtet, dass Kousaka irgendein krummes Ding durchziehen würde während er schlief, dennoch musste er sich eingestehen, dass er wohl die ganze Zeit über angespannt im Auto gesessen hatte.

Er streckte sich, so gut wie es im Auto möglich war und blickte anschließend zu Kousaka, der ihn mit fragenden Augen ansah.

„Gib es zu! Du hattest für einen kurzen Moment die Sorge, dass ich dich an einen ganz anderen Ort gebracht hätte, stimmt’s?“, stellte Kousaka befriedigend fest und verließ das Auto.

Takaya, der keine Lust hatte ihm diese Frage zu beantworten, stieg ebenfalls aus dem Auto und ging ohne zu warten in Richtung Eingang davon.
 


 

„Hey Kagetora! Die Dusche ist jetzt frei und soweit ganz in Ordnung! Guck dich aber nicht zu sehr in den Ecken um, das könnte deiner hochwohlgeborenen Nase nicht passen...“, meinte Kousaka ihn aufziehend, während er erfrischt aus dem Bad trat. Takaya schenkte ihm aus seiner sitzenden Position heraus einen kurzen nichtssagenden Blick, bevor er weiter aus dem Fenster sah.

Viel konnte er dort nicht sehen. Die Straße, vorbeifahrende Autos und in weiter Ferne die Lichter einer Großstadt waren alles, was auf sein Auge traf und ihn ablenkte. Er schloss die Augen und dachte an Naoe. Er versuchte erst gar nicht ihn zu erreichen, da er wusste, dass dieser sich nicht zweimal dazu hinreißen lassen würde, sich so offen zu zeigen. Er glaubte sogar, dass es Naoe ganz und gar nicht recht gewesen war, so bewusst auf ihn getroffen zu sein. Ein schiefes Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

Da hast du wohl Pech gehabt, Naoe... Du wirst mir nicht entkommen! Und schon gar nicht dein Peiniger..., dachte er entschlossen und spürte auf einmal Kousakas Nähe. Er öffnete wieder die Augen und sah direkt in Kousakas belustigt dreinschauende. Er erwiderte dessen Blick.

Kousaka stand vor ihm, und hatte seinen Oberkörper zu ihm hinunter gebeugt. Ein anzügliches Lächeln zierte dessen Gesicht und Takaya konnte Kousakas Atem spüren, so nah war er ihm. Ein paar Wassertropfen aus dessen feuchtem Haar fielen auf ihn herab. Ein Schauder lief ihm über den Rücken.

„Also, ich muss da leider passen, Kagetora! Ich mache ja schon viel, aber Prostitution zähle ich nicht zu meinen Aufgaben.“, sprach Kousaka vergnügt, richtete sich wieder auf und lehnte sich gegen die Fensterecke.

„Haben sich die anderen schon gemeldet?“, wollte er wissen, und blickte dabei neugierig mit nassen Haaren zu Takaya runter. Dieser seufzte genervt, da er in Gedanken noch immer bei Kousakas abstoßender Aussage war, und sah zu ihm hoch. Er bemerkte einmal mehr, dass er mit Kousakas zweifelhaftem Verhalten überhaupt nichts anfangen konnte – eher das Gegenteil. Es brachte ihn regelmäßig zur Weißglut, wenn er sich nicht zusammenriss.

„Nein, haben sie noch nicht. Ich rechne erst morgen Abend mit Informationen, wenn alles glatt läuft.“, entgegnete Takaya schärfer im Ton als geplant.

„So, morgen also... Hm. Mal was anderes. Hast du dir eigentlich überlegt, wie du die Sache mit Takahashi angehen willst? Ich meine, du wirst bestimmt nicht in ihr Haus spazieren, und dich als Liebhaber ihrer verstorbenen Schwester ankündigen, oder?“ Kousaka sah hämisch grinsend zu Takaya. Dieser behielt die Kontrolle über seine aufbrechenden Gefühle, und erwiderte eisig Kousakas Blick.

„Oh? Nicht? Ich dachte, das wäre der einfachste Weg. Ich könnte ihr sagen, Tachibana ist an Minakos Tod Schuld und ich bin auf der Suche nach ihm, um ihn zu töten. Nun, wenn ich es mir recht überlege, dann kommt mir dieser Gedanke gar nicht mal so verkehrt vor. Tja, und Takahashi wird mich in dieser Sache bestimmt liebend gern unterstützen. Ich könnte aber auch behaupten, dass mein Vater sie mehr als nur kannte und für ihren Tod tödliche Rache geschworen hatte, die ich jetzt in seinem Namen fortsetzen werde... Wie klingt das?“ Takaya beendete seinen Vortrag und sah mit unbarmherzigen Augen zu Kousaka hoch, der nicht so recht wusste, ob es Takaya ernst war mit dieser Aussage. Er erwiderte dessen gnadenlosen Blick, gab aber nach kurzer Zeit auf. Etwas verunsichert sah er nun aus dem Fenster und hing seinen Gedanken nach.

Das würde ich dir glatt zutrauen, Kagetora! Naoe zu hintergehen und dabei Genugtuung zu finden... Aber soweit werde ich es nicht kommen lassen. Wenn du glaubst, dass du ihn wieder hast, dann ist er schon längst wieder verschwunden... Ich bin schon auf dein Gesicht gespannt! Kousaka schöpfte aus diesen Gedanken neuen Mut und grinste Takaya offenherzig an.

„Nun, ich lasse mich einfach überraschen, was du morgen tun wirst, wenn wir Takahashis Anwesen erreichen und sie vielleicht da ist. Mit ihr und deinem Gefühlschaos musst du schon allein fertig werden... Ich kümmere mich nur um die Anhaltspunkte bezüglich Naoes Aufenthaltsort. Obwohl ich ja denke, dass Takahashi darüber nichts sagen kann. Wäre auch zu einfach, wenn Shishido in dieser Richtung einen Fehler gemacht hätte, oder? Außerdem werde ich seit heute morgen das Gefühl nicht los, dass gestern Abend noch etwas passiert ist, als ich eure gemütliche Runde verlassen habe. Du wirkst nämlich ein wenig gelöster. Es ist fast so, als ob du etwas wüsstest, was die ganze Sache erleichtert... Aber ich sehe schon, du willst dieses Wissen nicht teilen. Kann ich auch gut verstehen! Ich würde mir selbst auch nicht trauen, oder mir alles erzählen...“, entgegnete Kousaka lachend und ging zu einem der beiden Betten im Raum. Er legte sie darauf nieder, drehte sich auf die Seite, um Takaya aus dieser Position heraus weiter beobachten zu können. Dieser starrte erneut gedankenverloren aus dem Fenster, so dass Kousaka gezwungenermaßen auf dessen anziehendes Seitenprofil blicken musste, welches sich vor der Dunkelheit draußen scharf abzeichnete. Kousaka staunte innerlich über diesen Anblick.

Naoe, ich kann dich beinahe verstehen, was deine Vernarrtheit angeht... Kagetora gewinnt mit jedem Tag seine unerschütterliche Leuchtkraft zurück, die nicht nur dir den Atem raubt... Dennoch, diese Leuchtkraft schöpft ihre immense Kraft nicht nur aus schönen Dingen! Blutige Ereignisse sind untrennbar mit ihr verbunden... Diese Tatsache macht es dir nicht leicht, was!? Wer weiß, wohin Kagetoras Weg noch führen wird..., stellte Kousaka wehmütig an Naoe denkend fest, als ihn Takayas Stimme unterbrach.

„Wie du schon sagtest, du musst den morgigen Tag auf dich zukommen lassen. Ich weiß, was ich tue...“, sprach dieser leise, fast wie zu sich selbst. Einen kurzen Augenblick später stand er auf, und verschwand im Bad. Kousaka sah im seufzend hinterher.
 


 

Takaya stand unter der Dusche und ließ sich das warme Wasser unaufhörlich über seinen Körper laufen. Er erlaubte sich den Kopf hängen zu lassen. Er hatte das Gefühl, dass sich die eisige Kälte seit einiger Zeit in seinen Gliedern festgebissen hatte. Egal, wie warm das Wasser auch war, er spürte keine Veränderung in ihnen – genauso wenig halfen ihm warme Kleider.

Takaya wusste natürlich, dass die Kälte in seinem Kopf entstand, und sie sich von dort aus in alle Bereiche seines Körpers ausbreitete. Er könnte also nur etwas gegen sie ausrichten, wenn er begann, in seinem Kopf aufzuräumen. Aber das war leichter gesagt, als getan.
 

Takahashi zu treffen, würde nicht einfach werden. Er hatte sie nie kennen gelernt, da Minako keinen Kontakt zu ihrer Familie gehalten hatte. Minako hatte selten über ihre Familie gesprochen und wenn doch, dann erzählte sie von ihrer Mutter und ihrer Schwester, die ihr sehr viel bedeutet hatten. Takaya unterdrückte ein schmerzvolles Aufstöhnen. Er fühlte sich hilflos und sehnte sich nach Naoe, aber dieses Gefühl ließ ihn gleichzeitig wütend auf sich selbst werden. Er ließ seinen Kopf noch tiefer sinken und biss sich auf die Lippen.

Er hatte keine Ahnung, was er morgen dort machen sollte. Warum überhaupt dorthin? Genau wie Kousaka, nahm auch er an, dass Takahashi ihnen keinerlei nützliche Informationen geben könnte – sofern sie denn freiwillig dazu bereit wäre. Nun, und eigentlich wusste Takaya schon das Wichtigste. Sie könnten sich also sofort auf den Weg zu Naoe machen, aber irgend etwas hinderte ihn daran. Ein Teil von ihm wollte unbedingt Takahashi sehen. Er wusste nicht, ob es mit Minako zu tun hatte, aber er musste Takahashi sehen. Er würde ihr keine Antworten geben können, aber vielleicht konnte er ihr einen Teil ihres Schmerzes nehmen. Er schluckte und versuchte vergeblich die salzigen Tränen zu unterdrücken, die beharrlich mit Wasser vermischt von seinen Wangen tropften.
 

Takaya wusste nicht, wie lange er unter der Dusche gestanden hatte, aber Kousakas Bemerkung ließ erahnen, dass es länger als üblich gewesen sein musste.

„Also, wenn du noch zehn Minuten länger weggeblieben wärst, dann hätte ich das Bad gestürmt, Kagetora! Du hättest mich vielleicht vorwarnen sollen, dass du eher zu der genießenden Duschfraktion gehörst, bei denen unter 20 Minuten nichts läuft...“, meinte dieser belustigt und beobachtete, wie Takaya stumm in das freie Bett kletterte.

Takaya hatte das Gefühl, dass zusammen mit dem Wasser all seine verbliebene Kraft im Abfluss verschwunden war. Er lag erschöpft auf dem Rücken und starrte an die Decke. Er spürte Kousakas aufdringlichen Blick, aber versuchte ihn zu ignorieren. Seine Gedanken wanderten erneut zum morgigen Tag. Insgeheim hoffte er inzwischen, dass Takahashi nicht da sein würde, damit er vorerst um diese Begegnung herumkam.

Er drehte sich gerade auf die Seite, als sein Handy klingelte. Er stand langsam auf und nahm es vom Tisch hoch. Er starrte auf das Display und ein ungutes Gefühl beschlich ihn, nicht nur, weil er bemerkte, dass Kousaka jede seiner Bewegungen stoisch verfolgte. Er seufzte und nahm das Gespräch an.

„Ja? ... Verstehe. ... Wann? ... Hm. ... Okay. ... War sie allein, oder war jemand bei ihr? ... So? ... Das ist merkwürdig. Behaltet die Gegend im Auge! Ich glaube nicht, dass sie ohne Bewachung nach Hause gekommen ist. ... Gut. ... Sobald eine Veränderung auftritt, gebt mir sofort Bescheid! ... Bis dann.“ Takaya beendete das Gespräch und blieb für einen Augenblick unschlüssig stehen. Für einen kurzen Moment schloss er seine Augen, und verbannte das sich ihm aufdrängende schlechte Gefühl.

So, dann komme ich wohl vorerst nicht drum herum... Auch gut. Ich hatte es ja von Beginn an so vor, also kein Grund sich zu beklagen... Er ging zurück zum Bett.

„Sie ist also da?!“, war alles, was Kousaka gelassen fragte, während sich Takaya wieder hinlegte, und dessen Frage ignorierend endgültig die Augen schloss.
 


 

„Oh? Schon angekommen, Arakawa?! ... Ich nehme an, es lief alles ohne Schwierigkeiten? ... Hm. ... Wie viele? ... Nur? ... Wie enttäuschend. ... Nein, lass sie ruhig. Sie sollen sich vorerst in Sicherheit fühlen. ... Wir treffen uns dann am vereinbarten Ort. ... Nein, du machst es so, wie ich es gesagt habe. ... Ich wusste gar nicht, dass ich dir Dinge zweimal befehlen muss?! ... Schon gut. Es sei dir verziehen. ... Also, pass auf, dass dich niemand verfolgt. ... Genau. ... Und kein Kontakt bis wir uns am Treffpunkt sehen. Bis dann.“ Shishido beendete das Gespräch mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht, als er seinen begonnen Weg zu Naoes Zimmer fortsetzte.

Es wäre der zweite Besuch nach heute Morgen und Shishido ahnte, dass Naoe nach Takahashis Abschiedsbesuch einige brennende Fragen hatte. Shishido grinste vielsagend vor sich hin. Es war nicht so, dass er sie ihm so ohne Weiteres beantworten würde, aber er wollte sich nicht entgehen lassen, wie dieser vielleicht mit allen Mitteln versuchte, etwas aus ihm herauszukitzeln.

Nun, gegen Kitzeln und Beißen habe ich überhaupt nichts, Naoe... Ganz im Gegenteil! Ich brenne darauf zu sehen, wie du dich erniedrigst..., dachte er lüstern und bog in den nächsten Gang.
 

Naoe saß auf der Bettkante und zündete sich gerade eine Zigarette an, als Shishido ohne Ankündigung in das Zimmer trat. Er ging stumm an Naoe vorbei zum Fenster, um sich dort auf den Stuhl zu setzen. Erst als er saß, suchte er Naoes Blick und als dieser seinen erwiderte, lächelte er ihn begrüßend an.

„Du rauchst ziemlich viel, was?“, stellte Shishido geringschätzend fest, während er anmutig seine Beine verschränkte. Naoe sah auf die Zigarette in seiner Hand und nickte zur Bestätigung den Kopf.

„Mir bleibt nichts anderes übrig. In der Regel rauche ich nur in meiner Freizeit. Nun, und da ich zur Zeit sehr viel davon habe, rauche ich eben zwangsläufig mehr. Es ist also nicht meine Schuld, dass mein Tabakkonsum in die Höhe geschossen ist, oder?“, entgegnete er gelassen und nahm einen weiteren Zug.

Naoe musterte Shishido aufmerksam, um dessen Stimmung einzuschätzen. Er spürte, dass dieser ziemlich guter Laune war und daher nicht lange zögern würde, ihre Aktivitäten im Bett aufzunehmen. Naoe unterdrückte das Bedürfnis, ein verächtliches Gesicht aufzusetzen, und zog erneut an seiner Zigarette.

„Ich nehme an, dass du dich wahrscheinlich fragst, warum Takahashi so plötzlich das Anwesen verlassen musste?!“, sprach Shishido mit ruhiger Stimme, erhob sich elegant vom Stuhl und ging auf Naoe zu, um diesem die Zigarette aus der Hand zu nehmen. Er drückte sie im Aschenbecher, der neben Naoe auf dem Boden stand, aus und stieß Naoe anschließend unsanft zurück, so dass dieser nun mit dem Rücken auf dem Bett lag. Shishido setzte sich rittlings auf Naoes Schoss und sah überlegen auf ihn herab. Er griff Naoe in den Schritt und genoss dabei dessen Anblick.

Naoe sah mit eiskalten Augen zu Shishido hoch, der seinen Blick mit feurigen Augen erwiderte. Naoe schluckte und kam nicht umhin sich einzugestehen, dass er Shishido mit seiner dominanten Art äußerst attraktiv fand, und er sich immer häufiger dabei ertappte, ihre gemeinsamen Stunden auf verabscheuungswürdige Weise zu genießen. Er verachtete sich für dieses Gefühl.

Shishido verstärkte seinen Griff und unterbrach mit seiner Stimme Naoes Gedanken.

„Nun, Schuld an dieser Maßnahme ist dein dich verschmähender Liebhaber Kagetora. Er hat die Suche begonnen. Sein erster Weg führt ihn also direkt zu der Schwester seiner verstorbenen Geliebten – wie traurig, findest du nicht?“ Während Shishido das sagte, beugte er sich teuflisch lächelnd zu Naoe herab und küsste ihn sanft auf die Lippen. Naoe überlief aufgrund des widersprüchlichen Verhaltens Shishidos ein Schauder über den Rücken.

„Ich musste ihm doch die Möglichkeit verschaffen, sie auch wirklich zu treffen, oder? Es wäre doch jammerschade, wenn er nicht die Gelegenheit dazu bekäme. Ich wüsste nur zu gern, wie er sich ihr vorstellt. Vielleicht so: ‚Hallo, freut mich Sie kennen zu lernen! Ich war der Geliebte Ihrer verstorbenen Schwester, und bin nun auf der Suche nach ihrem Mörder. Leider handelt es sich bei ihm um eine vertraute Person, die mich zur gleichen Zeit hasst und begehrt, und bis in alle Ewigkeit mit mir vereint sein will!’ Wie romantisch... Wie dramatisch...“, meinte Shishido hämisch, während er sanft an Naoes Ohrläppchen knabberte. Er fuhr danach mit seiner Zunge Naoes Hals hinab und biss, als er an dessen Schlüsselbein angekommen war, in deren Vertiefung in der Haut. Naoe entfuhr ein heiserer Schmerzenslaut.

„Natürlich wird Takahashi ihm keine große Hilfe sein. Ich gehe davon aus, dass er das selbst weiß. Hm, aber warum suchst er sie dennoch auf? Will er durch sie etwas über mich erfahren? Dann hat er schlechte Karten, denn Takahashi ist mir nie begegnet. Will er mit ihr über Minako reden? Das wäre schon bizarr, oder? Vielleicht erzählt er ihr auch alles, und plant gemeinsam mit ihr deine Hinrichtung. Auf jeden Fall wird es wohl eine blutige Zusammenkunft...“ Shishido lachte geheimnisvoll, während er begann, Naoes Hemd aufzuknöpfen.

„Wie dem auch sei, wir werden morgen früh ebenfalls einen anderen Ort aufsuchen. Ich denke, du hast nichts dagegen?! Ein bisschen Abwechslung kann dir in jedem Fall nicht schaden...“ , hauchte Shishido mit erregter Stimme, während er begann, Naoes Brustwarzen zu küssen.

Naoe schloss die Augen und versuchte Shishidos Berührungen auszublenden. Er konzentrierte sich auf die erhaltenen Informationen.

Was willst du bei Takahashi, Kagetora? Welche Beweggründe hast du... Nun, zumindest wirst du mich hier jetzt nicht mehr antreffen, wenn du deinen Weg anschließend hierher fortsetzt... Soll ich mich darüber freuen? Aber was wird dich erwarten? Blutige Zusammenkunft... Hm, eine Falle. Aber das ahnst du wohl selbst, Kagetora, dennoch... Verdammt! Vielleicht ergibt sich für mich morgen eine Möglichkeit, Shishido zu überrumpeln, aber... Naoe konnte seinen Gedanken nicht zum Ende führen, da ein unerwartet brennender Schmerz seine rechte Brust durchströmte. Er sog überrascht den Atem ein und öffnete seine Augen.

„Oh! Zurück aus dem Reich der Gedanken?! Ich dachte schon, ich müsste zu heißem Kerzenwachs greifen, um dich zurück zu holen. Hm, aber ein kräftiger Biss hat es auch getan...“, brachte Shishido grinsend hervor, und sah fordernd auf Naoe herab.

„Ich denke, du solltest dich an unserem Spielchen beteiligen, sonst verliere ich die Lust! Du kannst dich bestimmt gut daran erinnern, was dabei beim letzten Mal passiert ist, oder?“ Shishido blickte unbarmherzig zu Naoe, der für einen kurzen Moment schmerzvoll die Augenbrauen zusammenzog.

Naoe brauchte keine zweite Ermahnung. Er wollte auf keinen Fall ein weiteres Mal Shishido in sich spüren. Er seufzte ergeben und blickte in Shishidos leidenschaftliche Augen.

Wenn du auf diese Weise gern dominiert werden möchtest, gern, dann sollst du es auch erbarmungslos zu spüren bekommen..., dachte Naoe aggressiv, und stieß Shishido unsanft seitlich von sich herunter. Befreit von Shishidos Körper, stand Naoe auf und drehte sich zum Bett um. Er starrte mit wütenden Augen auf Shishido herunter, der seinen Blick erwartungsvoll erwiderte.

Naoe begann sich ausziehen. Als er nackt war, kletterte er zurück aufs Bett und drückte Shishidos heißen Körper mit seinem kühlen nieder.
 


 

Takaya starrte angespannt aus der Windschutzscheibe des Wagens. Sie standen seit nun zwei Stunden Abseits des Anwesens von Takahashi und warteten darauf, dass diese von ihrem Ausflug zurückkam.

Kousaka und er waren eine Stunde früher, ehe sie das Haus erreichten, darüber informiert worden, dass Takahashi allein mit ihrem Wagen weggefahren war. Bisher war sie nicht zurückgekommen und Takayas Anspannung wuchs mit jeder Minute weiter an.

„Drei Stunden...“, murmelte er leise vor sich hin, als Kousaka neben ihm begann, die gekauften Reisbällchen zu essen. Er hielt die Schachtel Takaya entgegen, aber diese lehnte kopfschüttelnd ab.

„Später wirst du bestimmt nicht mehr zum Essen kommen. Du solltest dir das eventuell noch mal durch den Kopf gehen lassen. Vor allem sofort, sonst ist diese Schachtel schneller leer, als dir vielleicht lieb ist. Die schmecken nämlich verdammt gut!“, meinte Kousaka mit vollem Mund und warf einen Blick in den Rückspiegel.

„Unsere zwei verbleibenden Begleiter sitzen noch immer brav in ihrem Auto. Ich glaube, unsere Behandlung ihrer Mitstreiter ist ihnen nicht gut bekommen, oder aber sie haben andere Befehle erhalten. Was meinst du?“, fragte Kousaka gelassen, während er nach dem nächsten Bällchen griff.
 

Takaya dachte an ihre Ankunft in Nagano. Sie wussten natürlich, dass ihnen aufgelauert würde, dennoch kam der erste Anschlag ziemlich überraschend für sie. Sie waren gerade dabei etwas zu Essen zu kaufen, als Takaya die Anwesenheit der ersten feindlich gestimmten Person wahrnahm.

Damit niemand Unbeteiligtes verletzt würde und sie zudem weniger Aufsehen erregen konnten, beendeten sie ihren Einkauf eiliger als geplant. Sie lockten die verdächtige Person, aus der dann vier wurden, in einen angrenzenden Park, der um diese frühe Uhrzeit nur vereinzelt von Joggern heimgesucht wurde.

Hier ging es dann ganz schnell. Ehe Takaya agieren konnte, hatte Kousaka drei der vier niedergestreckt. Die vierte konzentrierte ihren Angriff auf Takaya, der aber genauso wenig Schwierigkeiten mit ihr hatte, wie zuvor Kousaka mit den drei anderen. Enttäuscht, aber gleichzeitig überrascht stellten sie fest, dass es sich um ganz normale Personen handelten. Diese Tatsache gab ihnen gleichzeitig Rätsel auf. Entweder waren die vier Teil der persönlichen Leibwache Takahashis, die unabhängig von Shishido handelten, oder aber Shishido verfügt über eine weitreichendere Macht, die sich nicht nur auf die Unterwelt erstreckte.

Die letzte Überlegung kam ihnen plausibler vor. Takahashis Männer hätten keinerlei Ahnung von ihnen haben können, und somit wäre ein geplanter Angriff von deren Seite unmöglich gewesen. Zudem glaubten sie auch nicht, dass Takahashi überhaupt eine persönliche Leibwache besaß, denn ihre gesammelten Informationen über ihre Person gaben keinen Aufschluss darüber.
 

Takaya unterbrach seine Gedanken und sah ebenfalls kurz in den Rückspiegel.

„Ich denke, sie warten genau wie wir darauf, dass Takahashi zurück kommt. Nun, und dann wird es interessant. Deren Überlegung wird sein, ob sie uns in Ruhe das Haus betreten lassen, oder aber uns vorher den Weg versperren sollten. Dieses Vorgehen wünsche ich mir natürlich nicht, zumal es uns die Sache mit Takahashi erschweren würde. Unsere Überlegung ist, ob wir sie vorher ausschalten, oder aber die Angelegenheit einfach in Ruhe abwarten sollten. Vielleicht ist es sogar besser, wenn ich allein zu Takahashi hinein gehe, und du hier draußen die Stellung hältst. Mit zwei bist du wahrscheinlich unterfordert, nehme ich an?!“, entgegnete Takaya belustigt und blickte grinsend in Kousakas Richtung, der sich noch nicht entschieden hatte, ob er Takayas Vorschlag für gut oder schlecht befinden sollte.

Takaya hob fragend eine Augenbraue, als Kousaka noch immer nichts erwiderte, und nahm sich das vorletzte Reisbällchen.

„Machen wir es so, wie du es vorgeschlagen hast. Ich werde hier draußen auf dich warten, Kagetora. Komm aber nicht auf die Idee, dort dann in alten schmerzhaften Erinnerungen zu schwelgen, verstanden!? Schau einfach, ob du nicht vielleicht doch etwas in Erfahrung bringen kannst, und dann verlassen wir diesen Ort wieder. Hoffen wir mal, dass Chiaki und Haruie mehr über den Aufenthaltsort von Naoe herausfinden konnten...“, sprach Kousaka letztendlich, obwohl er dabei nicht sehr überzeugt klang.

„Du musst mich nicht darauf hinweisen, dass uns die Zeit im Nacken sitzt, Kousaka!“, entgegnete Takaya aufgebracht und starrte plötzlich aufgeregt auf die Straße vor ihnen, als dort ein Auto erschien.

Nach der erhaltenen Beschreibung musste es Takahashis Wagen sein. Takaya hielt unbewusst den Atem an, als es immer näher kam und dabei zunehmend langsamer fuhr. Es bog dann in die von ihm erhoffte Einfahrt ein, und kam dort zum Halten.

Sie waren zu weit entfernt, als dass sie die Person genau hätten erkennen können, die dem Auto entstieg und sich auf dem Weg zur Haustür machte. Sie beobachteten, dass diese, bevor sie im Haus verschwand, sich noch einmal aufmerksam umsah und dabei ihr Auto streifte.

„Yo Kagetora, dann kann es endlich losgehen! Wenn es hier draußen ungemütlicher werden sollte, dann werde ich zu euch ins kuschelige Häuschen kommen und eure Teestunde sprengen, nur damit du es weißt. Also, los mit dir, bevor ihr vielleicht einfällt, dass sie bei ihrem Einkauf etwas vergessen hat...“, stellte Kousaka begeistert fest, und behielt den Wagen hinter ihnen durch den Rückspiegel im Auge.

Takaya warf kurz einen unbestimmten Blick zu Kousaka rüber, bevor er das Auto verließ.
 


 

Naoe gähnte ausgiebig und drehte sich auf die Seite. Shishido hatte ihn irgendwann mitten in der Nacht verlassen, und somit war er in der Lage gewesen, die verbleibenden Stunden in Ruhe zu schlafen.

Er blinzelte, während er aus dem Fenster sah, und setzte sich einen Augenblick später auf. Er griff nach seiner Zigarettenschachtel und musste enttäuscht feststellen, dass sie leer war. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie gestern aufgeraucht zu haben, daher nahm er an, dass Shishido sich einen kleinen Spaß mit ihm erlaubt hatte. Er seufzte gequält und legte sie zurück. Er fuhr sich mit seinen Händen durch die Haare und stand auf, um sich anzuziehen.

„Ob du schon bei Takahashi bist, Kagetora...“, murmelte er nachdenkend und schloss die letzten Knöpfe seines Hemdes. Er trat anschließend zum Fenster und genoss ein letztes Mal die ihm Trost spendende morgendliche Landschaft, die er dort erblickte.

Während er dort stand, wanderten seinen Gedanken immer wieder zu Kagetora. Er konnte es nicht erwarten, dass ihn Shishido endlich abholte, damit er seinen wagemutigen Plan in die Tat umsetzen konnte.

„Wir werden sehen, ob ich dich wiedersehen darf, Kagetora...“, sprach er entschlossen.

Zeitlos

Takaya stand am Eingangstor des Takahashi Anwesens und spähte nervös den Weg zurück, den er gekommen war.

Er konnte Kousaka im Wagen erkennen, der ihn mit einer Handbewegung zur Eile antreiben wollte. Takaya verzog missmutig das Gesicht und sah anschließend zum Auto dahinter, in dem ihre Verfolger saßen.

Seit er den Wagen verlassen hatte, wartete er angespannt darauf, dass diese ihren Angriff starteten, aber nichts dergleichen geschah. Er konnte sich noch nicht entscheiden, ob er das als gutes oder schlechtes Zeichen interpretieren sollte.

Takaya wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Haus zu. Er blickte auf das Namensschild.

Takahashi..., dachte er wehmütig und drückte die Klingel daneben. Er schaute hoch zur Frontwand des Hauses und hoffte, dort eine Reaktion auf sein Klingeln zu sehen, aber er wurde enttäuscht.

Kein Wunder... Jemand Fremdes steht vor dem Tor. Zwei verdächtige Autos parken in der Nähe... Und dann noch das eigene Wissen an der Beteiligung an Naoes Entführung! Wer macht da schon freiwillig die Tür auf... Gedankenverloren wollte Takaya gerade ein zweites Mal die Klingel betätigen, als sich das Tor vor ihm plötzlich öffnete.

Überrascht sah er erneut nach oben und konnte dort nun eine ältere Frau an der geöffneten Haustür stehen sehen, die ihm zuwinkte. Er hielt für einen kurzen Moment den Atem an, bevor er zuerst zögerlich, dann aber voller Selbstvertrauen auf die Frau zuging.
 

Takaya sah sich sitzend im Zimmer um. Bis auf einen halbhohen Tisch, an dem er jetzt saß, befand sich nichts weiter in diesem Raum. Er richtete seinen Blick auf die Seite des Zimmers, die ihn schon beim Betreten in seinen Bann gezogen hatte – durch ein wandgroßes Fenster konnte er auf den dahinter liegenden Garten schauen. Dieser war nicht sehr groß, da sie sich in einem eng bebauten Stadtteil Nagano befanden, dafür war er aber umso liebevoller und beinah bis zur Perfektion gestaltet. Takaya staunte. Er wäre am liebsten nach draußen gegangen, aber er musste sich jetzt auf das konzentrieren, weswegen er hierher gekommen war. Er seufzte hörbar.

„Alles in Ordnung, junger Mann?“

Takaya erschrak, da er Takahashis Zurückkommen nicht bemerkt hatte. Er tadelte sich innerlich dafür. Er sah mit widersprüchlichen Gefühlen rauf zu der Frau, die zum einen den Lockvogel für Naoes Entführung gespielt hatte – und zum anderen Minakos Schwester war. Er war über sich selbst überrascht, da ihn, seit er das Haus betreten hatte, eine tiefe Ruhe erfasst hatte. Die Befürchtung, ein emotionales Desaster beim Treffen auf Takahashi zu erleben, hatte sich also nicht bewahrheitet.

Er beobachtete Takahashi dabei, wie sie zwei Tassen mit Tee füllte und sich danach ihm gegenüber auf den Boden setzte. Sie sah ihn mit neugierigen Augen an.

Takaya wurde das Gefühl nicht los, dass er diese Frau kannte. Natürlich war dem nicht so, aber er hatte den Eindruck, durch sie Minakos Gegenwart im Raum spüren zu können. Takahashis eleganten Bewegungen, ihre Mimik und vor allem ihr klarer Blick erinnerten ihn an Minako. Seine innere Ruhe wurde von einer tiefen Traurigkeit überlagert. Er musste schlucken.

„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!?“, meinte Takahashi im Scherz und wusste nicht, wie nah sie damit der Wahrheit kam. Takaya spürte, wie ihm leicht übel wurde und er sich zusammenreißen musste, um keinen gequälten Ausdruck auf seinem Gesicht erscheinen zu lassen.

„Oh?! Nein, alles in Ordnung. Danke für den Tee.“, entgegnete Takaya aufrichtig, während er nach der für ihn bestimmten Tasse griff, um sie zum Mund zu führen.

Er kam nicht dazu, einen Schluck zu nehmen, da ihn Takahashis nächste Worte erstarren ließen.

„Ich nehme an, du bist hier, weil du auf der Suche nach Tachibana bist?!“

Takaya blickte Takahashi unvermittelt in die Augen. Er konnte nicht glauben, was er eben gehört hatte. Ihr offenes und direktes Wesen ließen ihn erschaudern. Er kam nicht umhin, den Mut dieser Frau zu bewundern. Intelligente Augen sahen ihn noch immer fragend an.

„Warum glauben Sie, dass ich auf der Suche nach Tachibana bin?“, erwiderte er mit ernstem Gesichtsausdruck. Er hatte noch nicht vor, ihre Frage zu bejahen. Ihn interessierte zum jetzigen Zeitpunkt nur Takahashi allein. Er wollte mehr über sie erfahren.

Aber warum? Was bringt es mir, mehr über sie zu erfahren... Minako kommt dadurch nicht zurück... Was will ich eigentlich hier? Takaya sah mit zweifelnden Augen zu ihr rüber und wartete darauf, dass sie seine Frage beantwortete.

„Nun, ich glaube es nicht, sondern ich weiß es. Ich habe zwar keine Ahnung, wer du letztendlich bist, aber ich ahne, dass du der Grund bist, warum sich Tachibana so verhält, wie er sich verhält. Ich denke, Shishido ist eigentlich hinter dir her. Er benutzt Tachibana als Druckmittel um dich zu bekommen, nun, und er benutzt mich ebenfalls. Ich bin Shishido nie begegnet, aber ich kann sagen, dass er ein grausamer Mensch ist. Nicht weniger grausam als der, der Minako getötet hat. Laut Shishido, könnte mir Tachibana meine Fragen bezüglich des Todes meiner Halbschwester beantworten, aber er weigert sich bisher. Was ist mit dir? Wenn du Tachibana kennst, dann weißt du vielleicht ebenso viel wie er?“ Während Takahashi sprach, sah sie mit unergründlichen Augen zu Takaya, der Mühe hatte, ihrem Blick standzuhalten.

„Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Dieser Tachibana wird seine Gründe haben, wenn er etwas darüber wissen sollte und es Ihnen nicht sagt. Seit wann ist Ihre Schwester tot?“, fragte Takaya ausweichend und spürte, wie es ihm die Kehle zuschnürte.

„Seit dreißig Jahren... Mir ist bewusst, dass Tachibana zu diesem Zeitpunkt noch nicht gelebt hat. Dennoch wurde mir versichert, dass er die Antwort auf all meine Fragen ist. Ich bin es langsam leid, nach den Antworten zu suchen, aber ich werde nicht aufgeben. Wenn Tachibana etwas weiß, dann wird er es mir sagen – koste es, was es wolle.“, sagte Takahashi mit unerschütterlicher Zuversicht, während sie von ihrer Teetasse trank.

Takaya schaute zu ihr rüber. Ein Teil seiner Persönlichkeit hätte ihr am liebsten alles erzählt. Wer er war...

Wer Tachibana wirklich war...

Was mit Minako passiert ist...

Warum sie in diese Sache hineingeraten war...

Aber ein anderer Teil von ihm verbot es. Er befürchtete, nein, er wusste, dass er mit den Konsequenzen jetzt noch nicht leben konnte. Vielleicht ergab sich irgendwann die Möglichkeit, ihr alles zu gestehen. Takaya machte sich bei diesen Gedanken innerlich über sich selbst lustig.

Was?! Ihr alles erzählen? Irgendwann? Wenn sie tot ist? Vielleicht noch auf dem Sterbebett? Du bist ein Träumer, Takaya! Nie könntest du dieser Frau erzählen, dass du den Körper ihrer Schwester in Besitz genommen hast und dabei Minakos Seele ausgetrieben hast... Und was bringt es dir überhaupt? Erlösung? Takaya lachte heiser und schüttelte gequält den Kopf. Takahashi sah ihn irritiert an.

„Willst du mir nicht sagen, wer du bist?“, sprach Takahashi mit ruhiger Stimme und sah interessiert zu ihm rüber. Er erwiderte ihren Blick, senkte ihn aber einen kurzen Augenblick später wieder und betrachtete seine Teetasse. Auf der Oberfläche des Wassers konnte er die ätherischen Öle des wohlschmeckenden Tees erkennen, die sich den sanften Bewegungen der Flüssigkeit anpassten. Er schloss für einen kurzen Moment die Augen, bevor er Takahashi die schuldig gebliebene Antwort gab.

„Mein Name ist Ougi Takaya und ich bin ein guter Freund von Tachibana Yoshiaki. Ja, ich bin auf der Suche nach ihm. Ich habe erfahren, dass Sie die letzten Wochen mit ihm verbracht haben. Ich bin hier, um etwas darüber zu erfahren.“ Während er sprach, hob er seinen Blick und schaute in die wissenden Augen vor ihm. Takahashi nickte bedeutungsvoll.

„Dann lag ich mit meiner Vermutung also richtig...“, sagte sie so leise, dass sich Takaya anstrengen musste, um sie zu verstehen.

„Nun, als ich Tachibana gestern das letzte Mal gesehen habe, ging es ihm den Umständen entsprechend noch gut. Ich weiß natürlich nicht, was seitdem alles passiert ist. Ich hatte das Gefühl, dass dort eine Unruhe aufgekommen ist, die mit meiner Abreise wohl nur einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Es kann durchaus sein, dass sie diesen Ort, den ich nicht kenne, inzwischen verlassen haben. Wäre logisch, wenn ich bedenke, dass du auf deiner Suche nach ihm schon hier bei mir aufgetaucht bist. Ich kann dir also diesbezüglich nicht helfen. Ich glaube, dass wusstest du schon vorher, oder?! Was ist also der wahre Grund deines Auftauchens?“, entgegnete Takahashi ehrlich, während sich ihre Augen fragend auf Takaya richteten. Dieser war erneut beeindruckt von der Stärke dieser Person. Er hatte keine Ahnung, wie viel sie wirklich wusste und bisher bereit war preiszugeben, aber er spürte, dass alles, was sie bis zum jetzigen Zeitpunkt gesagt hatte, der Wahrheit entsprach. Es hatte nicht den Anschein, dass sie mit ihm spielte.

Was hat Shishido jetzt mit dir vor? Ich glaube nicht, dass er dich am Leben lässt... Oder doch? Shishido hat darauf spekuliert, dass ich dich aufsuchen würde, und dafür hat er dich nach Hause geschickt... Aber warum? Ich werde aus dieser Person nicht schlau... Takayas Gedanken wurden durch Takahashis Stimme unterbrochen.

„Wie stehst du zu Shishido? Kennst du ihn?“, fragte sie ihn ohne Umschweife und bot ihm an, seine Tasse erneut mit Tee zu füllen. Takaya schüttelte auf ihr Angebot hin verneinend den Kopf und setzte stattdessen zu einer Antwort an.

„Keine Ahnung, wer dieser Shishido ist und was er von mir will. Ich bin ihm nie begegnet. Ich kann nicht sagen, warum er Tachibana in seine Gewalt genommen hat. Ich mache mir einfach Sorgen um meinen Freund, daher...“ Takaya verstummte, als er Takahashis zornigen Gesichtsausdruck bemerkte.

Er hatte bei dem, was er eben gesagt hatte, nicht gelogen. Er kannte Shishido wirklich nicht. Er konnte Takahashi natürlich nichts über die Unterwelt erzählen, und somit auch nichts von Shishidos plötzlichem Auftauchen. Er hoffte, dass Chiaki und Haruie ihm später mehr Informationen über Shishido vorlegen konnten.

Er fokussierte seinen Blick auf Takahashi, die ihren Zorn inzwischen wieder gut verbarg.

„So, du weißt also nicht, wer er ist. Hm?! Für Tachibana schien Shishido ebenfalls eine fremde Person zu sein. Aber seit ein paar Tagen scheint dieser einen Narren an Tachibana gefressen zu haben. Er hat auf einmal angefangen, ihn jeden Tag zu besuchen, manchmal sogar zwei Mal – sehr zum Missfallen einer seiner Vertrauenspersonen. Wie dem auch sei, Tachibana ist von diesen Besuchen nicht sehr angetan. Ich empfand ihn als zunehmend unruhiger, zorniger und vor allem schweigsamer. Letzteres war mir natürlich ein Dorn im Auge. Ich wollte Antworten, aber er ignoriert meine Fragen ständig. Somit stehe ich jetzt, wie zu Beginn dieser ganzen Angelegenheit, noch immer ohne Antwort da! Es ist sogar eher so, dass ich jetzt noch mehr Fragen habe, die mir niemand beantworten will. Das macht mich wütend!“ Takahashis laute Stimme hallte durch den Raum. Ihre Wut zeigte sich abermals offen in ihrem Gesicht.

Takayas Gedanken drehten sich noch immer um Shishidos Besuche bei Naoe. Er hatte kein gutes Gefühl dabei.

„Ich bin mir meiner Schuld durchaus bewusst, Komplizin eines Verbrechens zu sein. Aber das ist mir egal! So lange ich die erwünschten Antworten nicht erhalte, werde ich keinen anderen Weg einschlagen... Das habe ich mir geschworen.“ Sie sah mit entschlossenem Blick zu Takaya, den diese Worte betroffen machten. Sie hatte nicht nur das Leben von Minako ausgelöscht, sondern in gewisser Weise auch das ihrer Schwester.

Takaya spürte, wie ihn die Last der eigenen Schuld niederdrückte. Er wollte dieser Frau irgendetwas geben können, dass ihr helfen würde, den bisherigen Leidensweg zu verlassen, aber er besaß nichts – nichts außer der Wahrheit, und gerade diese konnte er ihr nicht offenbaren.

Das Bedürfnis, dieses Zimmer, Takahashi und die ihn quälenden Gedanken hinter sich zu lassen, bildete sich in seinem Inneren und nahm mit jeder verstreichenden Sekunde an Intensität zu, so dass er sich entschied, vorerst zu gehen. Er konnte hier nichts mehr erfahren. Er wollte hier vorläufig nichts weiter erfahren.

„Ich muss jetzt gehen. Ich bedanke mich für Ihre Gastfreundschaft, Takahashi-san.“, sagte Takaya und bemühte sich dabei, möglichst emotionsfrei zu klingen. Diese sah ihn überrascht an, aber behielt ihren Kommentar für sich.

„Ich nehme mal an, dass du nicht zur Polizei gehen wirst?! Denn wäre das deine Absicht gewesen, dann hättest du es schon längst in die Tat umgesetzt, richtig?! Nun, dieses Verhalten wirft neue Fragen auf, die ich wohl nicht beantwortet bekommen werde!? Werden wir uns wieder sehen? Diese Frage kannst du wohl auch nicht beantworten. Ich sehe schon... Ich hoffe zumindest, dass ich Tachibana noch einmal sehen werde.“ Mit diesen Worten stand Takahashi enttäuscht auf und wartete darauf, dass es ihr Takaya gleichtat. Dieser erhob sich und folgte ihr zur Zimmertür. Bevor er durch sie hindurch ging, warf er einen letzten Blick durch das Fenster auf den Garten. Er fragte sich, ob es ihm irgendwann erlaubt sei, diesen einmal sorglos zu durchschreiten.
 


 

„Nun red schon endlich! Wie war es?“ Kousaka sah für einen kurzen Moment genervt zu Takaya auf dem Beifahrersitz, bevor er seinen Blick wieder auf die Straße richtete.

Knapp eine Stunde war vergangen, seit sie Takahashi in Nagano verlassen hatten. Takaya hatte bisher nichts über den Verlauf des Treffens gesagt – lediglich eine Anweisung über die Richtung, die sie jetzt einschlagen würden, war über seine Lippen gekommen.

Kousaka grummelte leise vor sich, während er sich auf das Fahren konzentrierte. Er dachte über ihre gemeinsamen letzten Stunden nach. Er kam zu dem Entschluss, dass Takaya viel mehr wusste, als er bereit war zu sagen. Diese Tatsache wurmte Kousaka, da er auf diese Weise seinen eigenen Plan nicht vorantreiben konnte. Er musste unbedingt herausfinden, was Takaya alles vor ihm verbarg.

Warum fahren wir nach Oomachi City? Was soll da sein? Naoe etwa? Wenn ja, woher weißt du das? Verdammt... Du gehst mir echt auf die Nerven, Kagetora! Aber wir werden sehen, wer von uns sein Ziel als erstes erreicht..., dachte Kousaka entschieden, als er mit dem Auto die Schnellstraße verließ, um ihren Weg auf der abkürzenden Landstraße fortzusetzen.
 

Nach weiteren schweigsamen Minuten im Auto schien Kousaka das Ende seiner Geduld erreicht zu haben. Er fuhr an den Straßenrand und bremste scharf ab. Takaya sah ihn überrascht an.

„Verdammt! Du nervst mich, Kagetora! Würdest du mich jetzt bitte aufklären? Schau, ich habe sogar ‚bitte’ gesagt!“, sprach Kousaka im sarkastischen Tonfall und funkelte Takaya wütend mit seinen Augen an. Dieser ließ sich davon nicht beeindrucken, und starrte ihn ignorierend aus dem Fenster.

„Ich meine es ernst, Kagetora! Wenn du mir jetzt nicht augenblicklich irgendetwas dazu sagst, werde ich dich aus dem Auto schmeißen und ohne dich weiterfahren. Na?! Wie wäre das? Vielleicht kommst du ja per Anhalter weiter...“ Kousaka bemühte sich, seine Stimme nicht zu verzweifelt klingen zu lassen.

Er konnte diese Abhängigkeit nicht weiter ertragen – er konnte Anhängigkeiten generell nicht ertragen, daher arbeitete er lieber für sich allein. Nicht nur allein, sondern auch allein für seine eigenen Zwecke.

Er sah zu Takaya, der noch immer keine Regung zeigte.

Jetzt reicht es..., stellte Kousaka entschlossen fest und setzte an, Takaya aus dem Auto zu werfen, als dieser sich ihm zudrehte und ihn gebieterisch anfunkelte. Kousaka blinzelte überrascht und war über die Verwandlung sprachlos.

Was soll das jetzt?, überlegte er verunsichert, als er Takayas eisige Stimme vernahm.

„Du willst wissen, wie es war?! Was glaubst du, wie es ist, einem Menschen zu begegnen, dessen Leben du zerstört hast – dabei hattest du zu diesem noch nicht einmal direkten Kontakt! Und noch schlimmer, du hattest keinen Einfluss auf das eigentlich Geschehene... Was denkst du, wie es sich anfühlt?! Es brennt. Es schmerzt. Es schnürt sich alles zu! Ich bin voller Hass, Wut, Reue, Schuld, Liebe...Macht! Dennoch, trotz all meiner Macht fühle ich mich hilflos... Und wem verdanke ich das? Genau! Der Person, die ich aus den Händen einer nicht weniger grausamen Person befreien will. Schizophren, was? Krank, oder?“ Takaya sah Kousaka trotz seines emotionalen Ausbruches die ganze Zeit lang gefühllos in die Augen.

„Naoe lebt. Sie hat ihn gestern noch gesehen. Und wie es scheint, haben sie den Aufenthaltsort verlassen und sind in Bewegung. Ich habe mit Hilfe von reiha douchou erfahren können, wo sie sich ungefähr befinden. Daher würde ich dich bitten, den Wagen zu starten, damit wir nicht noch mehr wertvolle Zeit verlieren.“ Damit schien Takaya alles gesagt zu haben, denn er wandte seinen Blick von Kousaka ab und sah unnachgiebig nach vorne. Dieser sah ihn noch einen kurzen Moment von der Seite an, bevor er sich seufzend ebenfalls nach vorne drehte und das Auto startete.

„Okay. Damit muss ich mich wohl begnügen, was? Aber du hast bei deinem Bericht eine Menge ausgelassen... Aber was soll’s! Wirst schon deine Gründe haben...“, entgegnete Kousaka mit neu gewachsener Zuversicht, da ihn Takayas Worte bezüglich Naoe hoffnungsvoll gestimmt hatten.
 

Takaya lehnte sich nach seinem verbalen Ausbruch etwas entspannter im Sitz zurück und er sah mit einem unbestimmten Blick seitlich aus dem Fenster, während Kousaka die Fahrt wieder aufnahm.

Er schloss nach wenigen Minuten seine Augen und konzentrierte sich auf Naoe – oder vielmehr auf das Band der Versiegelung an dessen Knöchel. Er konnte es deutlich spüren und wäre sogar in der Lage gewesen, es sofort zu brechen, aber das hatte er noch nicht vor – weder Shishido noch Naoe wussten oder ahnten etwas von seiner Manipulation des Ringes.

Er war noch immer über sich selbst überrascht. In dem kurzen Augenblick, als er in der Lage war Naoe zu erreichen, hatte er, trotz aller überschäumenden Gefühle, einen klaren Kopf bewahrt und den Ring mit seiner Macht so minimal verändert, dass er ihn nun jederzeit mit Hilfe von reiha douchou ausfindig machen konnte – die Energie der Veränderung war für ihn klar durch die Augen seines spirituellen Gehilfen zu sehen.

Diese Entwicklung der Dinge erlaubte ihm zwar, etwas gelassener auf Ortswechsel ihrerseits zu reagieren, aber er hatte letztendlich keine Ahnung, was in Naoes oder Shishidos Kopf vorging. Dieser unbekannte Faktor bereitete ihm Sorgen. Er konnte sich mit Naoe nicht austauschen, da dieser sich noch immer rigoros abschottete. Takaya blieb somit erst einmal nichts anderes übrig, als sich behutsam heranzutasten und einen günstigen Moment abzuwarten – er musste Geduld haben.

Takaya rutschte auf seinem Sitz in eine angenehmere Position und blickte zu Kousaka rüber, der sich nun in Schweigen hüllte.

Tut mir leid, mein Lieber... Ich kann und werde dich nicht aufklären! Das Vertrauen dazu besitze ich nicht... Werde es wohl auch nie besitzen, wenn es um dich geht, Kousaka. Aber das weißt du selbst..., stellte Takaya nüchtern fest. Er seufzte hörbar. Kousaka sah daraufhin kurz zu ihm rüber.

„Ist etwas passiert?“, fragte dieser neugierig, während ein angespannter Unterton dabei nicht zu überhören war. Takaya hob überrascht die Augenbrauen.

Du bist mir ein Rätsel, Kousaka..., dachte Takaya schief grinsend.

„Ich habe Hunger. Das Reisbällchen und der Tee waren wohl nicht ausreichend. Was ist mit dir? Du hast zwar fast alle Bällchen gegessen, aber dein kurzer Kampf mit den zwei übrig gebliebenen Verfolgern müsste dich doch eigentlich hungrig gemacht haben?!“, äußerte Takaya fragend und dachte an den Moment zurück, als er wieder zum Auto kam.

Ihm war dabei aufgefallen, dass die beiden Personen im hinteren Wagen zusammengesunken und regungslos in ihren Sitzen hingen. Er konnte außerdem zwei aktivierte Airbags erkennen, die inzwischen luftleer waren.

Auf seinen fragenden Blick hin hatte Kousaka ihm erklärt, dass sich die beiden sofort in Bewegung gesetzt hatten, als er im Haus verschwunden war. Kousaka ließ sie nicht einmal aussteigen, sondern schickte sie einfach auf unsanfte Weise mit Hilfe von nendouryoku (Kraft der Telekinese) in den Schlaf. Dazu hatte er ihre Sitze mit Hilfe seiner Macht nach vorne gedrückt und zeitgleich die Luftsäcke aktiviert. Der unerwartete nahe Aufprall raubte den beiden zwar das Bewusstsein, ließ sie aber am Leben.

Takaya mutmaßte, dass sie inzwischen wieder zu sich gekommen sein müssten. Folglich hätten sie also über ihre Abreise Bericht erstattet können.

„Etwas Essen?!“ Kousakas belustigte Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück.

„Hatte ich dir nicht gesagt, dass du es bereuen wirst, nicht ein paar mehr Bällchen gegessen zu haben! Okay... Lass mich mal überlegen. Ich war hier zwar noch nie in der Gegend, aber vielleicht halten wir einfach in der nächsten Stadt an und sehen weiter. Viel kann ja nicht passieren. Ich habe nicht das Gefühl, dass wir verfolgt werden. Lassen wir uns also überraschen, was der kommenden Ort Kulinarisches zu bieten hat!“, meinte Kousaka vergnügt, der Takaya einen amüsierten Blick zuwarf.

„Einverstanden.“, war alles, was Takaya dazu meinte und griff zum Radio. Er stellte einen ihm bekannten Sender ein und ließ sich zurück in den Sitz fallen. Kousaka verkniff sich die Bemerkung und ließ den gewählten Sender laufen.
 


 

„Hey Naoe! Wie lange willst du noch da drin bleiben?“ Naoe vernahm Shishidos hämische Stimme und schloss erschöpft die Augen. Er saß eingeschlossen in der Toilettenkabine eines Rasthofes und seufzte leise.

„Muss ich mir Sorgen machen? So schlimm war das doch eben gar nicht, oder? Nun, eine willkommene Abwechslung zum Autofahren meinerseits und Rumsitzen deinerseits. Ich gebe dir noch eine Minute. Wenn du dann nicht raus kommst, komme ich eben rein und wir werden es ein zweites Mal treiben, hörst du?!“ Shishido lehnte lässig mit verschränkten Armen von außen an der Kabinentür und lachte vergnügt, während er Naoe sein Vorhaben mit belustigter Stimme androhte.
 

Naoes Gedanke rasten. Er dachte an die vergangene Stunde, die seit ihrem Aufbruch verstrichen war.

Shishido hatte ihn, kurz nachdem er aufgestanden war, abgeholt und gemeinsam waren sie zu einem bereitgestellten Wagen gegangen. Naoe hatte die leise Hoffung gehabt, dass er das Fahren übernehmen sollte, was seinem Plan entgegen gekommen wäre, aber Shishido machte diesem Gedanken einen Strich durch die Rechnung. Naoe sollte nichts weiter tun, als brav auf dem Beifahrersitz auszuharren und den Dingen entgegen sehen, die da kommen würden.

Dieser Umstand führte dazu, dass er seinen ausgearbeiteten Fluchtplan zwar ein wenig umgestalten musste, aber er ihn dennoch ausführen konnte, sobald sich die Gelegenheit bot.
 

Inzwischen wusste er auch, wo er sich ungefähr auf der Landkarte befand. Das ließ ihn zum einen aufatmen, aber zum anderen auch verzweifeln, da er nicht weit von Matsumoto entfernt gefangen gehalten wurde.

Der Ort, an dem er die letzten Wochen verbracht hatte, lag in der Nähe von Oomachi City, welche sich circa eine Stunde nördlich von Matsumoto befand. Inzwischen waren sie aber fast eine Stunde in die nördliche Richtung gefahren, so dass sich der Abstand vergrößert hatte, und seine Sehnsucht nach Kagetora mit jeder genommenen Meile angewachsen war.
 

Um seine Flucht weiterhin erfolgreich umsetzen zu können, musste er zudem herausfinden, ob Shishido selbst dann Macht über den Ring besaß, wenn sie einander nicht in Sichtweite waren. Alle Mühe wäre vergeblich, wenn er es schaffen würde zu fliehen, Shishido ihn aber zu jedem möglichen Zeitpunkt außer Gefecht setzen könnte.

Es war eine ungewisse Sache. Naoe glaubte auch nicht, dass Shishido ihn über seine Macht aufklären würde, wenn er ihn ganz direkt danach fragen würde. Hinzukommt, dass dieser sich sehr wahrscheinlich auf alle Eventualitäten eingerichtet hatte.

Naoe kam zu dem Ergebnis, dass er nur dann die Chance auf eine Flucht hatte, wenn er sich Kagetora öffnete, damit dieser den Ring zerstörte. Für diese Maßnahme blieben ihm wahrscheinlich nur ein paar Sekunden. Und das Wahrnehmen dieser war außerdem abhängig von seiner eigenen körperlichen Verfassung, wenn der Zeitpunkt des Fluchtversuchs gekommen war.

Naoe wusste, dass es eine riskante Angelegenheit war, aber er sah keine andere Möglichkeit, sich mit eigener Kraft aus Shishidos Gewahrsam zu befreien.

Naoe stützte den Kopf in beide Hände und stöhnte leise. Er hatte Angst – Angst Kagetora nicht wieder sehen zu können. Sein Vorhaben musste einfach klappen. Ansonsten würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als abzuwarten, bis er erneut wiedergeboren würde. Und das hätte zugleich die Bedeutung, dass er seine Suche von vorne beginnen zu müsste.
 

„Die Minute ist rum, Naoe!“, sprach Shishido verärgert, dessen Belustigung aus der Stimme verschwunden war. Naoe sah auf und bemerkte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Er konnte spüren, dass Shishido das Türschloss mit seiner Macht manipulierte. Er hatte definitiv keine Lust darauf, es hier ein zweites Mal mit Shishido zu treiben. Er sprang also auf und öffnete die Tür.

„Guter Junge!“, raunte Shishido mit einem teuflischen Lächeln, als er Naoe Platz machte, damit dieser die Kabine verlassen konnte. Naoe verkniff sich eine Bemerkung und ging Shishido ignorierend zum Waschbecken. Dieser folgte ihm auf dem Schritt, und blieb hinter ihm stehen. Er umschlang Naoes Oberkörper mit seinen Armen und legte den Kopf auf dessen Schulter ab. Durch den Wandspiegel blickte Shishido in Naoes Augen.

„Ich muss zugeben, dass ich ein wenig enttäuscht bin...“, meinte dieser und küsste Naoe dabei seitlich auf den Hals. Naoe unterdrückte einen Schauder.

„So? Also ich nicht. Ich denke, wir sind hier wohl fertig und sollten gehen?!“, erwiderte Naoe kühl, während er den Blick abwandte und den Wasserhahn wieder zudrehte. Ihm entging dabei die Veränderung in Shishidos Gesicht, der ihn nun ungehalten zu sich umdrehte und ihn brutal auf den Mund küsste. Naoe erstarrte. Er hatte sich an Shishidos plötzliche Stimmungsschwankungen noch immer nicht gewöhnt.

Naoe vernahm die Tür zum Toilettentraum und spähte hinüber. Dort stand ein älterer Herr, der bei ihrem Anblick überrascht stehen geblieben war. Shishido drehte sich lasziv um und bot ihm an, an ihrem Spiel teilzuhaben. Der ältere Mann riss peinlich berührt die Augen auf und verließ umgehend den Raum. Shishido lachte amüsiert und wandte sich abermals Naoe zu. Dieser sah ihn mit unergründlichen Augen an.

„Schade... Wäre doch bestimmt interessant geworden, oder was meinst du?“, fragte Shishido süffisant und setzte seinen Kuss fort.

Naoe wollte dieses Spielchen beenden und versuchte, Shishido von sich zu drücken, aber dieser ließ nicht locker. Er überlegte, noch handgreiflicher zu werden, als er auf einmal einen brennenden Schmerz in seiner Unterlippe spürte. Shishido hatte ihn gebissen. Überrascht zuckte er zurück, als Shishido ihn freigab. Naoe berührte mit seiner Hand die Lippe und bemerkte, dass er leicht blutete.

„Rot steht dir ausgezeichnet! Hat das schon einmal jemand zu dir gesagt?“, meinte Shishido verspielt, während er sich abrupt umdrehte und ohne ein weiteres Wort den Raum verließ. Naoe starrte ihm nach.

Er konnte noch immer nicht glauben, was sich da für zwiespältige Gefühle Shishido gegenüber in ihm aufgebaut hatten. Er verachtete ihn einerseits, aber gleichzeitig zog ihn dessen undurchschaubares Verhalten an. Wer war dieser Mensch? Woher kommt er und vor allem, was will er wirklich? Naoes Gedanken wanderten ein ums andere Mal wild durcheinander, als er Shishidos Schatten folgte.
 


 

Takaya gähnte ausgiebig und versuchte seine Beine so gut es ging auszustrecken. Er blickte verschlafen aus dem Beifahrerfenster, um sich anhand der Verkehrsschilder zu orientieren. Sie waren kurz vor Shinanokizaki, was bedeutete, dass sie Oomachi City ein ganzes Stück näher gekommen waren. Er seufzte erleichtert. Sie würden noch ungefähr eine halbe Stunde brauchen, um die Stadt zu erreichen.

Takaya konzentrierte sich auf das manipulierte Band der Versiegelung an Naoes Knöchel. Er verstärkte seine Konzentration und wandte reiha douchou an und erstarrte. Naoe war nicht weit von ihnen entfernt. Er konnte durch die Augen seines spirituellen Helfers einen schwarzen Wagen erkennen, der bewegungslos auf dem Parkplatz eines Rasthofes stand. In dem Auto saßen zwei Personen, die sich aufgebracht miteinander unterhielten. Eine dieser Personen war ohne jeden Zweifel Naoe. Sein Herz begann zu rasen.

Takaya versuchte irgendwo einen Anhaltspunkt zu finden, der ihm Aufschluss darüber gab, wo genau sich der Rasthof befand. Er wurde fündig. Er entdeckte ein Verkehrsschild, welches die Stadt Kamishiro in fünf Kilometern Entfernung ankündigte. Takaya fluchte, denn das bedeutete, dass Shishido ihnen einen Vorsprung von einer halben Stunde hatte. Er klärte Kousaka über den neuen Stand der Dinge auf, und sie machten sich sofort auf in Richtung Norden.
 


 

Naoe blickte angespannt zu Shishido rüber, der sich scheinbar mühelos dem Fahren und gleichzeitig seinem mobilen Telefon widmen konnte.

„Verstehe. ... Und mehr hast du nicht dazu zu sagen? ... Was für eine Verschwendung. ... Sammelt euch, und fahrt zum vereinbarten Treffpunkt. Wenn ihr dort angekommen seid, dann lasst Arakawa wissen, dass ich auf dem Weg bin. ... Und überlegt euch, wir ihr das wieder gut machen könnt!“ Shishido beendete das Gespräch und murmelte dabei ungehalten vor sich hin. Er steckte das Telefon zurück in seine Jackentasche und sah zu Naoe, der ihn neugierig anblickte.

„Untergebene sind manchmal zu nichts zu gebrauchen, was!? Vielleicht sollte ich mich mal mit Kagetora darüber unterhalten, wie er es schafft, so fähige Leute um sich zu scharren. Könnte ich doch glatt neidisch werden. Wie dem auch sei, dein Herrchen ist auf dem Weg hierher...“, meinte Shishido plötzlich etwas genervt und strich dabei Naoe über die Wange.

Naoe schluckte – nicht wegen Shishidos Berührung, sondern wegen der Tatsache, dass sich Kagetora auf dem Weg zu ihm befand. Aber woher wusste dieser, wo er sich aufhielt? Naoe hatte das Gefühl, dass er etwas übersehen hatte. Aber was?

„Fängt dein Schwanz zu wackeln an, wenn du hörst, dass dein Besitzer kommt? Nun, dann soll er mal kommen. Ich bin schon richtig gespannt darauf, wie er ist. Da kann ich ihm auch gleich sagen, dass du unglaublich gut im Bett bist. Oder sollte ich das lieber nicht sagen?“, sprach Shishido begeistert und beobachtete dabei, wie sich Naoes Gesicht wütend zusammenzog.

Naoe blieb stumm und richtete seinen Blick nach draußen. Er versuchte sich auf seinen Fluchtplan zu konzentrieren, da ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde. Shishido selbst würde nun mehr als sonst auf der Hut sein.
 

Sie fuhren inzwischen durch ein kleines Waldstück leicht bergauf, und Naoe sah aufmerksam nach draußen. Er hatte beschlossen, dass er in den nächsten Minuten handeln würde.

Sobald sie den Wald hinter sich gelassen haben würden, würde er seinen Plan in die Tat umsetzen. Er begann sich innerlich dafür zu sammeln und schärfte all seine Sinne. Ihm war klar, dass er schnell und präzise handeln musste, um zum gewünschten Erfolg zu kommen. Gleichwohl wusste er auch, dass er unmittelbar danach erst einmal keine Kontrolle über das weitere Geschehen haben würde und daher nur hoffen konnte, dass alles gut gehen würde.

Naoe sah nach vorne und konnte das Ende des Waldstücks erkennen. Er hielt unbewusst die Luft an.

Als sie aus dem Waldstück herausfuhren, ging alles ganz schnell. Naoe orientierte sich rasch in der sich ihnen nun zeigenden Umgebung, und griff danach Shishido brutal in das Lenkrad.

„Was zum Teufel...“ Shishido kam nicht dazu seinen Satz zu beenden, da der Wagen bereits unwiederbringlich über die Böschung raste. Naoe schluckte, als sich sein Magen über die unerwartete Richtungsänderung beschwerte. Er sah für einen kurzen Moment zu Shishido rüber, der ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte, als das Auto begann, sich zu überschlagen. Naoe schloss die Augen und dachte an Kagetora.
 


 

Ihm stieg Brandgeruch in die Nase. Wo war er?

Naoe öffnete schwerfällig die Augen, aber er konnte nichts erkennen, da seine Sicht verschwamm.

Der Brandgeruch wurde stärker. Was war passiert?

Naoe strengte sich an, etwas zu mit seinen Augen zu erkennen, erntete dabei aber nur einen ansteigenden Schmerz in seinem Schädel. Er stöhnte. Er sah an sich hinab und entdeckte Blut – sein eigenes Blut? Mit einem Mal fiel ihm alles wieder ein. Er begann zu zittern.

Ich lebe also noch..., dachte er und begann zu husten. Er drehte seinen Kopf zur Seite und sah Shishido, der schlaff in seinem Gurt hing. Er schien zu atmen, war aber nicht bei Bewusstsein. Naoe war erleichtert darüber. Trotz allem, was dieser junge Mann ihm angetan hatte, wollte er nicht für dessen Tod verantwortlich sein. Es gab noch so vieles, was er erfahren musste.

Naoe konzentrierte sich so gut es ging auf sich selbst. Er durchzog seinen Körper einer innerlichen Prüfung und stellte erleichtert fest, dass er nicht lebensbedrohlich verletzt war. Es schien nichts gebrochen, aber er hatte mehrere Platzwunden. Unter anderem eine an seinem Kopf, die dafür sorgte, dass ihm das Blut in sein linkes Auge lief, so dass er auf diesem nicht richtig sehen konnte. Er wischte unbeholfen darüber und hustete erneut.

„Ich muss aus dem Wagen raus...“, hauchte er unter Schmerzen, während er versuchte, sich abzuschnallen.

Er war froh darüber, dass der Wagen nicht auf dem Dach liegen geblieben war, aber selbst in dieser Position fiel es ihm schwer, sie zu bewegen. Er unterdrückte einen Schmerzenslaut, als er begann, seine Tür aufzudrücken.

„Keine Chance... Verdammt...“, wisperte Naoe verzweifelt, da er nicht in der Lage war, die Tür zu öffnen. Sie hatte sich zu sehr verzogen. Er beugte sich ächzend zu Shishido rüber, um zu prüfen, ob sich die Fahrertür öffnen ließe. Er hatte Glück. Der Spalt war groß genug, um herausklettern zu können. Er krabbelte so behutsam es nur ging über Shishidos Körper hinweg, und war nach kurzer Zeit draußen.

Er hatte das Gefühl, dass er dafür eine Ewigkeit gebraucht hatte. Er seufzte und blickte den Abhang hinauf. Er bekam eine Gänsehaut. Sie waren beinah zwanzig Meter in die Tiefe gestürzt.

Ein leises Knistern riss ihn aus seinen Gedanken. Er konnte Flammen aus der zerbeulten Motorhaube züngeln sehen. Hier hatte sie das Glück wohl im Stich gelassen. Naoe musste schleunigst handeln. Es würde nicht lange dauern, bis sich die Flammen ihren Weg in die Fahrzeugkabine gefressen hatten. Er musste Shishido so schnell es ging aus dem Auto ziehen.

„Dann mal los Naoe! Sonst überlegst du es dir noch anders...“, sprach er ermutigend zu sich selbst, als er an seine eigene körperliche Verfassung dachte. Er unterdrückte seine Schmerzen und machte sich an die Arbeit.
 

Naoe lehnte sich erschöpft mit dem Rücken an einen großen Felsbrocken, und versuchte bei Bewusstsein zu bleiben. Er spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er ging augenblicklich in die Knie und übergab sich. Nachdem sich sein Magen wieder beruhigt hatte, erhob er sich und ging zu Shishido rüber, der noch immer ohne Bewusstsein war. Naoe wusste, dass er keine Zeit zu verlieren hatte und eigentlich fliehen müsste, aber er wollte Shishido hier nicht einfach so liegen lassen. Er durchsuchte Shishidos Jacke und fand das Gesuchte. Er las aufmerksam die Einträge und hoffte, die richtige Rufnummer erwischt zu haben. Er wählte.

„Oh?! Da habe ich also tatsächlich die richtige Person erwischt. ... Na, aus seiner Jackentasche, woher sonst! ... Nein, er liegt friedlich neben mir. Obwohl ich nicht sagen kann, wie stark er wirklich verletzt ist. ... Hm. Wenn du so schreist, erfährst du überhaupt nichts, Arakawa. Das solltest du eigentlich wissen. ... Und Drohungen bringen dir auch nichts. ... Er befindet sich circa drei Kilometer nordwestlich von Kamishiro. Ich denke, du solltest in der Lage sein, ihn zu finden. Oder soll ich lieber einen Krankenwagen rufen? ... Dann mal viel Glück!“ Naoe beendete das Gespräch und legte das Telefon in Shishidos Schoss. Er strich diesem eine lose Strähne seines langen schwarzen Haares aus dem Gesicht und betrachtete ihn eingehend. Er hatte keine Ahnung, warum diese Person solch einen Groll gegenüber Kagetora hegte, aber er nahm an, dass er das noch erfahren würde. Er stand auf und setzte sich in Bewegung.
 

Naoe lief zurück in das Waldstück, aus dem sie gekommen waren. Er war noch keine zweihundert Meter weit gegangen, als er spürte, dass er schon seine Schmerzgrenze erreicht hatte. Schwer atmend lehnte er sich an den nächsten Baumstamm und schloss die Augen. Er versuchte sich innerlich zu beruhigen.

Soweit, so gut... Und nun? In diesem Zustand wirst du nicht weit kommen, Naoe!, stellte er nüchtern fest. Er öffnete seine Augen und überlegte, was er als nächstes tun sollte.

„Jetzt noch nicht, Kagetora... Tut mir leid, aber ich bin dazu noch nicht in der Lage...“, murmelte Naoe wehmütig und begann erneut einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er musste erst noch ein wenig mehr Abstand zwischen sich und Shishido schaffen, bevor er sich Kagetora öffnete.

Naoe lenkte seine Gedanken auf Shishido.

Da er noch immer in der Lage war, sich frei zu bewegen, nahm er an, dass Shishido entweder weiterhin bewusstlos war, oder aber dessen Macht über den Ring nicht greifen konnte, da er sich nicht in dessen Nähe aufhielt. Diese Ungewissheit machte Naoe nervös, aber er zögerte nicht, sich weiter von Shishido zu entfernen.

Mit jedem weiteren Schritt spürte er seine Kräfte schwinden. Er musste unbedingt einen Unterschlupf finden, damit er sich für einen kurzen Zeitraum unentdeckt ausruhen konnte, aber das war leichter gedacht als getan. Er sah sich aufmerksam um und entdeckte einen Wanderpfad.

Wenn es einen Wanderpfad gibt, dann gibt es auch eine Hütte zum Rasten..., dachte er logisch und ging weiter.

Naoe wusste, dass es keine gute Idee war, einem erkennbaren Pfad zu folgen, aber er musste sich beeilen, da er nicht wusste, wie lange er noch durchhalten würde.
 

Nach weiteren Minuten des mühsamen Dahinschleppens, erblickte Naoe eine kleine verfallene Hütte jenseits des Pfades. Er bahnte sich einen Weg durch das Unterholz, und kam nach wenigen Augenblicken vor der Hütte zum Stehen. Er zwängte sich durch die kaputte Tür und versuchte sich im dunkleren Inneren zu orientieren.

Ein zur Hälfte zugenageltes Fenster, das sich auf der rechten Seite befand, ließ ein wenig Helligkeit in den Raum fließen, so dass Naoe in der Lage war, sich ein Bild von seiner Umgebung zu machen. Die Hütte war bis auf ein paar Spuren, die eindeutig Tiere hinterlassen hatten, leer.

Naoe stöhnte schmerzvoll, als er sich nach der Musterung an der gegenüberliegenden Wand erschöpft zu Boden gleiten ließ. Von dieser Position aus hatte er zwar die Tür im Blick, war aber zugleich in der Defensive, falls jemand auftauchen sollte. Aber das war ihm jetzt egal. Er war einfach nur müde.

„Okay, fünf Minuten, Naoe, mehr nicht...“, sprach er leise und schloss erleichtert seine Augen.
 


 

„Halt hier an, Kousaka! Sofort!“ Takayas befehlerischer Ton ließ Kousaka zusammenzucken, während er wie befohlen an den Straßenrand fuhr.

„Was ist? Hast du nicht gesagt, dass wir durch dieses Waldstück müssen?“, entgegnete Kousaka verunsichert und sah zu Takaya, der sich inzwischen abgeschnallt hatte.

„Ja, das habe ich. Und du wirst das auch tun! Ich werde hier aber aussteigen, und zu Fuß weiter gehen.“ Takaya blickte gelassen zu Kousaka rüber, während er das sagte. Er traf dabei auf ein argwöhnisch blickendes Augenpaar.

„Wie jetzt?! Was heißt zu Fuß? Warum?“ Die Fragen sprudelten nur so aus Kousakas Mund, der sich keinen Reim auf Takayas plötzliches Verhalten machen konnte.

„Wie ich es sagte. Ich werde zu Fuß weiter gehen. Ist das so schwer zu verstehen? Ich möchte mich dem Ort einfach aus einer anderen Richtung annähern, okay? Alles Weitere machen wir so, wie wir es besprochen haben... Kein Alleingang und keine Toten, Kousaka! Hast du verstanden?“, sagte Takaya mit Nachdruck und öffnete die Beifahrertür. Er stieg aus, lehnte sich aber noch einmal zu Kousaka runter, da dieser ihm noch eine Antwort schuldig war.

„Verstanden, Kagetora! Aber ich bin nicht glücklich über diese Veränderung unseres Planes... Ich hoffe, du weißt, was du tust...“, meckerte Kousaka und blickte Takaya dabei direkt in die Augen. Dieser grinste ihn schief an und nickte mit dem Kopf.

„Ich weiß! Ich bin darüber auch nicht erfreut... Also bis gleich!“ Mit diesen Worten schloss Takaya die Tür und sah dem fortfahrenden Auto hinterher.

Takaya sah konzentriert in das Waldstück, das sich bergab vor ihm ausbreitete und ein böses Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

„Da versteckst du dich also, Naoe...“, sprach er mit einer Mischung aus Sehnsucht und Verachtung in der Stimme und machte sich auf den Weg.

Wiedersehen

Haruie lehnte unruhig an ihrem abgestellten Motorrad und beobachtete die vorbeifahrenden Autos. Sie befand sich auf einem kleinen Parkplatz neben der Schnellstraße, die südlich aus Hiraiwa hinausführte.

Sie wartete hier inzwischen seit mehr als einer Stunde auf Chiaki. Dieser war bisher weder aufgetaucht, noch hatte er ihr auf anderem Wege mitgeteilt, warum er sich so stark verspätete.

„Dieser Blödmann! Wir hätten doch gemeinsam gehen sollen!“, sprach sie verärgert zu sich selbst, während sie erneut das Telefon aus ihrer Lederjacke kramte.

Kein Anruf, keine Sms...kein Gedankenruf. Langsam mache ich mir Sorgen, Chiaki! Kagetora wäre nicht so erfreut darüber, wenn ich ihm mitteilen müsste, dass du nun auch vermisst wirst!, dachte sie angespannt und wählte Chiakis Nummer.

Sie ließ es etwa eine Minuten lang klingeln, bevor sie wieder auflegte. Seufzend ging sie in die Hocke und überlegte, was sie als nächstes tun sollte.
 

Sie wusste, dass Chiaki ein fähiger Kämpfer war und sie sich eigentlich keine Sorgen machen müsste. Aber da sie keine Ahnung hatte, auf wen er bei seiner geheimen Verabredung traf, konnte sie nicht einschätzen, ob Chiaki alleine zurechtkommen würde oder nicht.

Er hatte ihr zwar versichert, dass er wusste, was er tat und hatte es daher für effektiver gehalten, sich für die Recherche in dieser Gegend zu trennen, dennoch hinterließ die ganze Sache ein unangenehmes Gefühl. Sie stützte den Kopf in ihre Hände und schloss die Augen.

Chiaki, beeil dich...
 

Haruie ging im Geiste die Ergebnisse ihrer eigenen Nachforschungen durch. Viel hatte sie nicht herausbekommen, aber ganz unnütz waren ihre Resultate nicht. Sie hatte erfahren, dass Shishido Kiyoshi nicht immer diesen Namen trug, sondern er seinen ursprünglichen aus einem für sie noch rätselhaften Grund in jenen geändert hatte.

Ihre Quellen haben auch keinen Aufschluss darüber geben können, ob er wirklich ein Freund von Houjou Ujiteru gewesen war. In diesem Punkt hoffte sie auf Chiakis Ermittlungen, da er angedeutet hatte, eine der Familie Houjou nahe stehende Person zu treffen.

„Selbst wenn Chiaki mit neuen Informationen kommt, hilft uns das wahrscheinlich nicht weiter, Naoes Aufenthaltsort zu finden. Ob Kagetora inzwischen mehr herausgefunden hat? Das Telefonat mit ihm war nicht sehr aufschlussreich... Hm. Aber irgendwas muss er wissen, sonst würde er nicht gezielt nach Oomachi City fahren. Was er dort wohl will...“, murmelte sie leise vor sich hin und spielte gedankenverloren mit kleinen runden Steinen zu ihren Füßen.
 

Das Geräusch eines heranfahrenden Fahrzeuges ließ sie aufhorchen. Haruie hob augenblicklich den Kopf, in der Hoffnung, Chiakis Auto vorfahren zu sehen, musste aber enttäuscht feststellen, dass es ein fremder Wagen war. Er parkte etwas entfernt von ihr und kurz darauf entstieg ihm eine Familie. Die zwei Kleinkinder nutzen die Unterbrechung der Fahrt, um wild herumzutoben, während ihre Eltern auf der angrenzenden Grasfläche ein kleines Picknick vorbereiteten.

Haruie sah wehmütig zu ihnen rüber und lächelte gedankenversunken. Sie musste an ihre eigene erste Kindheit vor mehr als 400 Jahren denken. Damals, noch als junger Mann, traf sie in Sagami zum ersten Mal auf den Befehlshaber Uesugi Kagetora.

Kagetora hatte sie so sehr beeindruckt, dass ihm ihre Loyalität von Beginn gegolten hatte und sie an seiner Seite gegen Uesugi Kagekatsu, ein Rivale um die Vorherrschaft des Uesugi Clans, kämpfte und starb.

Nach ihrem Tod wurde sie Teil der Yasha-shuu – einer Gruppe von fünf starken spirituellen Kämpfern, die vom Kriegsgott Uesugi Kenshin auserwählt wurden, um rastlose Geister zu exorzieren, die seit der Sengoku Ära ihr Unheil trieben.

Dieser Kampf an der Seite von Naoe Nobutsuna, Yasuda Nagahide, Irobe Katsunaga und Uesugi Kagetora als ihr gemeinsamer Anführer dauerte seit nunmehr 400 Jahren an...
 

Haruie richtete sich auf und lehnte sich erneut an ihre Maschine. Die Zeit, die sie bis zum jetzigen Moment an Kagetoras Seite verbracht hatte, war nicht immer einfach gewesen und zudem ein ewiges Suchen, Finden und Kämpfen. Dennoch konnte sie sich ein anderes fortwährendes Dasein ohne das Zusammensein mit ihm und den anderen nicht mehr vorstellen – sie fragte sich, wie lange ihre gemeinsame Zeit noch andauern würde. Sie seufzte und schaute ein weiteres Mal auf ihre Armbanduhr.

„Soll ich Kagetora anrufen, oder ist es dafür noch zu früh... Verdammt, Chiaki, wo bleibst du nur?!“, stellte Haruie wütend mit leiser Stimme fest und spähte wiederholt zu der Familie rüber, die inzwischen harmonisch beisammen auf der Decke saß und aß.

Sie wandte ihren Blick ab und sah aufmerksam zur Straße, als plötzlich ihr Telefon zu klingeln zu begann. Sie zerrte es hastig aus ihrer Jackentasche und blickte erleichtert auf das Display, bevor sie das Gespräch annahm.

„Was hast du dir dabei gedacht, Chiaki!? ... Was ist daran bitte so lustig? ... Was sagst du da?! Natürlich haben wir ausgemacht, dass wir dem anderen mitteilen, wenn etwas dazwischen kommt. ... Du bist schrecklich! Ich hoffe wenigstens, dass sich deine Verspätung gelohnt hat, ansonsten kannst du auch gleich weg bleiben! ... Haha... ... Wenn hier jemand herzlos ist, dann wohl du! ... Okay. Wann bist du hier? ... Hm. Verstehe. Kitaotari also. ... Gut, ich werde gleich losfahren. ... Wenn ich angekommen bin, rufe ich dich an. ... Bis später!“ Haruie beendete das Gespräch und seufzte hörbar. Sie war froh darüber, dass es Chiaki gut ging, aber auf der anderen Seite war sie verärgert, dass er sie so lange im Ungewissen gelassen hatte.

Das sieht ihm echt ähnlich... Manchmal frage ich mich wirklich, warum Uesugi Kenshin ihn auserwählt hat?! Okay, ich nehme den Gedanken zurück... Chiaki, oder besser Nagahide, ist schon brillant, zumindest manchmal..., dachte Haruie belustigt und zog ihren Helm über. Sie startete ihr Motorrad und fuhr nach wenigen Augenblicken in Richtung Kitaotari davon.
 

Chiaki sah hinüber zur Eingangstür des kleinen Lokals und erblickte Haruie, die gerade hereinkam und sich suchend umsah. Er lächelte ihr zu, als sie ihn entdeckt hatte und eilig auf ihn zukam.

Hm... Du siehst aus, als wärst du noch sauer... Mal sehen..., dachte er noch immer lächelnd, als sie sich ihm gegenüber auf die Eckbank fallen ließ.

„Na?! Wie war die Fahrt hierher? Ich hoffe, du konntest dich etwas abreagieren?!“, fragte er unsicher grinsend und trank einen Schluck Limonade von seinem Glas. Haruie warf ihm einen säuerlichen Blick zu, bevor sie nach einer Bedienung Ausschau hielt, um sich ebenfalls etwas zu bestellen. Als sie ihre Bestellung aufgegeben hatte, sah sie zu Chiaki rüber, dem sie noch eine Antwort schuldig war.

„Die Fahrt war okay – kurvenreich, aber das liebe ich ja! Nun, und mein Ärger ist dabei nicht verflogen, wie du dir vielleicht gewünscht hast. Ich hoffe echt, dass du dir für das nächste Mal etwas mehr Mühe gibst, Chiaki!“, entgegnete Haruie belehrend und bedankte sich gleichzeitig freundlich bei der Bedienung, die ihr den bestellten Tee brachte.

„Wie ich dir schon am Telefon gesagt habe, ging das irgendwie unter! Tut mir beinah leid...“, scherzte Chiaki, während er amüsiert zu Haruie blickte, die ihre langen Haare zu einem Knoten band.

„Schon erstaunlich, wie du dich im weiblichen Körper zurecht findest...“

Haruie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Was ist denn das für eine dämliche Feststellung?! Hast du vergessen, dass ich seit 200 Jahren immer wieder einen weiblichen Körper übernehme? Letztendlich ist es eh egal, wie der Körper aussieht oder funktioniert. Die Hauptsache ist, dass meine Seele ein nützliches Gefäß findet!“, erwiderte Haruie nüchtern, während sie Chiaki nun über den Rand ihrer Teetasse beobachtete.

„Aha! Auf das deine Ausführungen von eben Kagetoras Ohren nie erreichen werden!“, meinte Chiaki grinsend.

„Ich glaube, der würde dir jetzt eine Standpauke bezüglich deiner unsensiblen Gedanken halten. Aber ist es dir wirklich egal? Was ist, wenn du unerwartet wieder einen männlichen Körper übernimmst und gerade dann Sona Shintaro auftaucht, so wie er es dir vor 200 Jahren versprochen hat?!“, fragte er auf einmal und sah ihr dabei ernst in die Augen. Haruie, die beim Namen ihres einstigen Geliebten für einen Moment schmerzhaft das Gesicht verzog, wandte ihren Blick ab und sah aus dem Fenster.

„Ich wüsste nicht, was es dich angeht, aber wenn es so kommen sollte, dann liegt die Entscheidung nicht an mir, ob die Liebe fortbestehen kann.“, sprach sie leise, während ihre Gedanken um Shintaro zu kreisen begannen.

Ah... Schluss jetzt, wir haben anderes zu tun..., tadelte sie sich innerlich und fixierte Chiaki mit ihren Augen.

„Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir einander berichten sollten, was wir herausgefunden haben, meinst du nicht auch?!“

Chiaki erwiderte ihren Blick und nickte zustimmend und begann zu berichten.

„Dann werde ich mal den Anfang machen. Vielleicht als erstes vorneweg: ich habe nichts über den Aufenthaltsort von Naoe herausfinden können. Ich denke, du wohl auch nicht, sonst hättest du bestimmt schon etwas gesagt?! Nun, ist ja auch nicht unser maßgeblicher Auftrag. Ich denke, Kagetora ist bestimmt schon kurz vor dem Ziel! Ihn zu unterschätzen ist das Dümmste, was dieser Shishido machen konnte. Wie dem auch sei, unser spezieller Freund hieß nicht immer so, wie er sich uns vorgestellt hat.“ Die letzten Worte ließen Haruie interessiert aufschauen.

„Das habe ich auch gehört. Aber ich konnte nicht erfahren, wie sein ursprünglicher Name war. Hast du etwa...“ Haruie wurde sanft von Chiakis wissendem Lächeln unterbrochen.

„Yepp. Ich kenne den alten Namen und den möglichen Heimatort dieses Herren: Sakamoto Isamu aus Wajima. Und wie ich gehört habe, war er wirklich ein sehr enger Freund von Houjou Ujiteru – nun, wie vertrauenswürdig diese Freundschaft war, konnte mir meine Informationsquelle nicht sagen, aber es sah auf jeden Fall nach einer ziemlich engen Beziehung aus. Warum die beiden letzten Endes Freunde wurden, hat sich mir noch immer nicht erschlossen. Nach allem, was mir berichtet wurde, bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass nichts politisch Motiviertes dahinter steckte. Ihr Zusammentreffen spielte sich eher auf kultureller Ebene ab. Sakamoto ist ein begnadeter Künstler und Go Spieler. Dennoch habe ich das Gefühl, dass ganz wichtige Aspekte dieser Person nach wie vor im Dunklen liegen – vor allem sein Hass auf Kagetora. Hier bin ich kein bisschen schlauer geworden. Und warum er seinen Namen geändert hat, konnte ich auch nicht in Erfahrung bringen. Dieser Shishido ist wirklich ein zäher Brocken! Aber das macht es umso spannender, wenn da nicht Naoe wäre...“, stellte Chiaki mit begeisterter Stimme fest und blickte forschend zu Haruie rüber, die ihn Stirn runzelnd anstarrte.

„Das ist kein Spiel, Chiaki! Wir wissen nicht, wie sehr Naoes Leben wirklich gefährdet ist! Ich glaube zwar, dass er ihn noch eine Weile am Leben lassen wird – zumindest bis er Kagetora gegenüber steht, aber völlig sicher kannst du dir bei diesem Sadist nicht sein. Wajima also... Denkst du, dass er sich dort aufhält?“, fragte Haruie zielstrebig und blickte ihn mit wachsamen Augen an.

Chiaki lächelte innerlich über Haruies Tatendrang. Er wusste, dass sie sofort losfahren würde, wenn sie sich dazu entschließen würden. Aber bevor es dazu käme, müssten sie noch einige Dinge im Vorfeld abklären.

Kagetora sollte in jedem Fall über ihre neuen Informationen unterrichtet werden, unabhängig davon, ob sie nach Wajima fuhren oder nicht. Zudem ist der Weg nach Wajima nicht unbedingt ein Katzensprung. Sie würden von ihrem jetzigen Aufenthaltsort knapp sechs Stunden brauchen.

„Hm. Ich denke, wir sollten unser weiteres Vorgehen mit Kagetora absprechen. Wann hast du ihn das letzte Mal gesprochen?“ Chiaki blickte Haruie fragend an.

„Am frühen Nachmittag. Er meinte, er wäre auf dem Weg nach Oomachi City. Warum er gerade dahin will, hat er mir nicht gesagt. Ich denke, er weiß mehr, als er uns sagt. Manchmal ist er echt anstrengend...“, antwortete sie mürrisch.

„Oomachi City?! Das ist nicht weit von hier. Aber in der Tat, wirklich seltsam, dass er dorthin unterwegs ist. Glaubst du, dass Naoe dort gefangen gehalten wird?“ Chiaki begann interessiert die Speisekarte zu studieren, während er auf Haruies Antwort wartete. Als sie nichts sagte, blickte er auf und traf auf draufgängerisch funkelnde Augen. Er schmunzelte.

„Dann lass uns auch nach Oomachi City fahren! Wir rufen ihn erst an, wenn wir dort angekommen sind, dann kann er uns nicht mehr wegschicken!“, sprudelte es aufgeregt aus ihrem Mund.

„Nee, lass mal. Keine gute Idee. Kagetora hätte etwas gesagt, wenn er uns dort bräuchte...“ Haruie fuhr Chiaki grob ins Wort.

„Hey?! Was ist denn mit dir los? Du bist doch sonst immer derjenige, der nie auf Kagetora hört und seinen eigenen Kopf durchsetzen will!?“, wetterte sie unüberlegt und funkelte ihn mit aufgebrachten Augen an.

„Naoes Leben steht dabei auf dem Spiel, schon vergessen?!“, gab er ihr als einfache Antwort und blickte sich aufmerksam nach der Bedienung um.

„Was? Eben genau deswegen!“, zischte sie leise, während sie mit jeder verstreichenden Sekunde unsicherer wurde.

Sie wusste, dass Kagetora sich etwas dabei gedacht hatte, ihnen von seinem Vorhaben nichts zu erzählen, dennoch beschlich sie eine innere Unruhe, die es ihr nicht einfach machte, ruhig und besonnen zu reagieren. Sie vermisste Naoe und hatte schlicht und ergreifend Angst um ihn.

„Ich habe verstanden. Dann eben auf nach Wajima, wenn wir ihm Bescheid gegeben haben, oder?!“, flüsterte sie nun kleinlaut und biss sich auf ihre Unterlippe.

„Hey! Du siehst gerade wie ein schmollendes Kind aus! Süß!“, brachte Chiaki lachend hervor und erntete dafür einen bitterbösen Blick.

„Entschuldige. Lass uns erst einmal etwas Essen, bevor wir unser weiteres Vorgehen planen. Während wir essen, können wir alles auflisten, was wir bisher herausgefunden haben.“, meinte Chiaki besänftigend und grinste die wiederholt an den Tisch getretene Bedienung freundlich an.

„Okay. So machen wir es...“, pflichte sie ergebend bei und nahm ebenfalls die Speisekarte zur Hand.
 


 

Kousaka murmelte aufgebracht vor sich hin, während er im Rückspiegel verfolgte, wie Kagetora im Wald verschwand.

„Was hast du vor? Warum die Änderung unseres Planes und vor allem, warum die Trennung? Irgendwas stimmt hier nicht...“

Er konzentrierte sich wieder auf die Straße vor ihm und überlegte sich, wie er weiter vorgehen sollte.

Kagetora hatte ihm beschrieben, was für ein Bild ihn erwartete, sobald er den Wald hinter sich ließ. Kousaka presste angespannt die Lippen aufeinander. Wenn alles stimmte, dann würde er in wenigen Minuten auf Shishido und einige seiner Untergebenen treffen. Er spürte, wie die Ungeduld in ihm wuchs und er es kaum aushalten konnte, endlich einen Blick auf die Szene zu werfen. Insgesamt sollten es mit Shishido fünf Personen sein, nun, und natürlich Naoe – aber ein Unfall?! Er konnte Kagetoras Worte noch immer nicht fassen.

Dieser hatte ihm geschildert, dass der Wagen, in dem Shishido und Naoe gesessen hatten, aus unerklärlichen Gründen von der Straße abgekommen und die Böschung hinabgestürzt war. Kousaka schluckte bei diesem Gedanken. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Naoe damit etwas zu tun hatte.

Was hast du dir dabei gedacht, Naoe?! Wolltest du dich umbringen?! Und alles für deinen Geliebten Kagetora, der sich nicht wirklich um dich schert?, dachte er verbittert und drosselte die Geschwindigkeit seines Fahrzeuges, da er beinah das Ende des Waldes erreicht hatte.

Kousaka fuhr an den Straßenrand und stieg aus. Er sah sich aufmerksam um und konzentrierte sich auf das, was er vor sich sehen konnte.

In etwa 50 Meter Entfernung parkte ein schwarzer Wagen. Niemand schien sich in ihm aufzuhalten, auch um ihn herum konnte er niemanden entdecken.

„Wie es scheint, sind wohl alle beim verunglückten Wagen... Umso besser für mich! Dann kann ich mich problemlos anschleichen und die Sache erst einmal unentdeckt überblicken...“, meinte Kousaka selbstsicher und lief los.
 


 

Arakawa stand besorgt neben dem am Boden liegenden Shishido, der seit ein paar Minuten von zwei Ärzten untersucht wurde, die er vorsichtshalber mitgebracht hatte. Er hielt angespannt den Atem an, als diese Shishido behutsam auf die Seite drehten, um nach weiteren Verletzungen zu suchen.

Shishido war zwar nicht bei Bewusstsein, aber als sein Körper bewegt wurde, gab er ein leises Stöhnen von sich. Augenblicklich ging Arakawa in die Knie und berührte sanft dessen Stirn. Er sah zu beiden Ärzten rüber, die ihm zu verstehen gaben, dass keine weiteren Wunden an der Oberfläche zu finden waren. Dennoch bestanden sie darauf, ihn für eine vollständige Untersuchung in ein Krankenhaus zu bringen – natürlich unter ihrer Aufsicht. Arakawa nickte zustimmend und richtete seinen Blick wieder auf Shishido, der noch immer die Augen geschlossen hielt.

Er konnte noch immer nicht glauben, was er hier sah. Als ihn Naoe unerwartet anrief und von Shishidos Zustand berichtete, hatte er es im ersten Moment für einen Scherz gehalten. Er wollte nicht glauben, dass es diesem Mann gelungen war, seinen Herrn zu überlisten. Oder hatte Shishido Naoe einfach unterschätzt?

Verdammt... Shishido-sama! Du bist tot, Naoe... Arakawa versuchte erfolglos Naoes Bild aus seinem Kopf zu verdrängen und spürte, dass er mit jeder weiteren Sekunde wütender wurde. Er war so zornig und gleichzeitig voller Angst, dass es ihm schwer fiel zu atmen. Er musste sich unbedingt beruhigen und einen klaren Gedanken fassen.

„Können wir ihn, ohne weiteren Schaden anzurichten, zum Wagen tragen und ihn dort hineinlegen?“, fragte er vorsichtig und blickte zu den beiden Ärzten rüber, die einander unsicher ansahen. Sie wussten natürlich nicht, ob ihr Herr innere Verletzung davon getragen hatte, daher war jede zusätzliche Bewegung Gift für seinen Zustand. Zugleich wussten sie aber, dass sie ihn schnellstmöglich in ein Krankenhaus schaffen mussten, um Gewissheit über den körperlichen Zustand von Shishido zu bekommen.

„Jemanden in diesem Zustand zu bewegen, ist immer mit einem Risiko verbunden, aber wir müssen ihn ohnehin von hier fortschaffen. Wir werden die stabilisierenden Maßnahmen durchführen und können nur hoffen, dass er innerlich keine lebensgefährlichen Verletzungen davongetragen hat. Nun, und wenn ich mir ein Urteil erlauben darf, dann glaube ich nicht, dass es so ist. Wäre dies der Fall, dann würde er schon nicht mehr leben. Wie werden dann mal beginnen...“, erläuterte der Ältere der beiden Ärzte im sachlichen Ton und begann seine Tasche nach den benötigten Dingen durchzusuchen.

„Dann mal los... Und auf das ihr euch keinen Fehler erlaubt, der tödlich endet...“, erwiderte Arakawa im eisigen Ton. Er blickte auf, als er das Geräusch herankommender Schritte vernahm. Er richtete sich auf und sah seinem dritten mitgebrachten Mann entgegen, den er losgeschickt hatte, um die Gegend nach Naoe abzusuchen.

„Und!? Hast du etwas entdecken können?“, wollte Arakawa ungeduldig wissen, obwohl er die Antwort schon längst kannte. Er hatte nicht geglaubt, dass sich Naoe noch in der Nähe aufhalten würde, nachdem er ihn angerufen hatte.

„Nein. Ich konnte nichts finden.“, antwortete der Mann pflichtbewusst und wartete auf die nächsten Befehle, während er einen verunsicherten Blick auf seinen am Boden liegenden Herrn warf, dem gerade eine Infusion angelegt wurde.

Arakawa fixierte den Mann vor ihm und konnte nachfühlen, was in ihm vorging. Ihm selbst erging es nicht anders. Die Furcht vor der Unwissenheit über Shishidos wirklichen Gesundheitszustand lähmte ihn beinah völlig. Er musste sich zusammenreißen, um Herr der Situation zu bleiben.

„Geh zum Auto und richte es so her, dass wir Shishido-sama bequem darin betten können, um zum nächsten Krankenhaus fahren zu können. Beeil dich!“, befahl er mit freundlicher Stimme und sah dem jungen Mann einen kurzen Moment wehmütig hinterher, der sich daran machte, die Böschung hinaufzuklettern.

Wäre Arakawa in dessen Position, könnte er einfach auf Befehle warten und alles andere ausblenden. Es wäre so viel leichter.

Arakawa schüttelte über die eigenen Gedanken angewidert den Kopf. Er beschämte seinen Herrn mit diesem egoistischen Wunsch.

Er wollte sich gerade wieder zu Shishido umdrehen, als er eine überraschte Stimme hinter sich vernahm.

„Shishido-sama!? Bitte, sie dürfen sich nicht bewegen!“, hörte Arakawa einen der beiden Ärzte sagen und drehte sich blitzartig mit klopfendem Herzen um. Er sah hinunter zu seinem Herrn, der mit erstaunlich klarem Blick zu ihm rauf sah. Arakawas Herz setzte bei diesem Anblick beinah aus. Er ging sofort neben Shishido in die Hocke und nahm vorsichtig dessen Hand in die seine.

„Sie haben den Arzt gehört, Shishido-sama! Sie sollen sich nicht bewegen! Wir wissen noch nicht, ob Sie innere Verletzungen davon getragen haben!“, sprach Arakawa und versuchte seiner Stimme einen ruhigen Ton zu verleihen. Am liebsten hätte er vor Erleichterung gebrüllt, ihn in seine Arme genommen und dessen Lippen geküsst. Aber er wusste, dass er sich das nicht erlauben durfte. Er begrub seinen sehnlichsten Wunsch und erwiderte Shishidos durchdringenden Blick.

„Ich nehme an, Naoe ist über alle Berge?!“, brachte Shishido mit leiser, schmerzverzerrter Stimme hervor und startete keine weiteren Versuche, sich erneut zu bewegen.

Arakawa registrierte dies mit Erleichterung, aber senkte schuldbewusst den Blick.

„Es tut mir leid, mein Herr. Wir haben ihn nicht finden können.“, antwortete er untergeben und wartete auf Shishidos Zurechtweisung. Als nichts dergleichen geschah, hob er besorgt seinen Blick. Er befürchtete schon, dass Shishido abermals das Bewusstsein verloren hatte, aber er wurde eines Besseren belehrt.

Shishidos Augen waren in die Ferne gerichtet und ein konzentrierter Ausdruck lag auf seinem Gesicht.

Die beiden Ärzte sahen ihn ratlos an, aber Arakawa wusste, was sein Herr gerade tat. Er hoffte nur, dass es keinen negativen Einfluss auf seinen Zustand hatte.
 


 

Takaya stand in kurzer Entfernung zu einer kleinen Hütte abseits eines Wanderpfades und legte die Stirn in Falten. Er hatte nicht lange gebraucht, um hierher zu finden. Er konnte die Energie des Ringes an Naoes Knöchel förmlich sehen. Er zögerte.

Ein Teil von ihm wollte die Hütte stürmen und sich erleichtert in Naoes Arme werfen, während aber ein anderer Teil seiner Persönlichkeit so voller Jähzorn war, dass er schon befürchtete, keinen weiteren Schritt mehr gehen zu können. Takaya atmete tief ein und versuchte seine innere Anspannung zu lösen – erfolglos. Er seufzte hörbar und spürte, dass sich seine Füße plötzlich wie von selbst in Bewegung setzten.

„So? Dann habe ich wohl keine Wahl...“, murmelte er leise zu sich selbst und verdrängte den mit jedem Schritt ansteigenden Zorn, der ihm die Luft nahm. Gleichzeitig, in einer unberührten Ecke seines Herzens, wuchs die Sehnsucht, Naoes Gesicht zu sehen ins Unermessliche. Insgeheim genoss er dieses Gefühl, aber er war noch immer nicht bereit, es offen zuzugeben – schon gar nicht gegenüber Naoe.
 

Takaya kam nach wenigen Augenblicken vor der kaputten Tür zum Stehen. Er vernahm kein Geräusch. Er griff nach der Tür und wappnete sich auf einen möglichen Angriff Naoes, als er begann sie aufzuziehen. Nichts geschah.

Verunsichert sah er sich im Halbdunklen der Hütte um und erblickte Naoe schlafend an der ihm gegenüberliegenden Wand gelehnt. Takaya hielt die Luft an und versuchte vergebens Herr seiner aufbrechenden widersprüchlichen Gefühle zu werden.

Sein Herz begann zu klopfen, als er langsam auf ihn zuging. Er kniete sich geräuschlos neben ihn nieder und betrachtete sanft dessen Gesicht. Er wandte seinen Blick ab, um für einen kurzen Moment zu Naoes Knöchel zu schauen, an dem er unfreiwillig den Ring der Versiegelung trug. Er fragte sich, ob er ihn jetzt lösen sollte.

Warum zögere ich? Was ist, wenn Shishidos Untergebene auf dem Weg hierher sind... Ich habe keine Zeit..., dachte er unruhig und sah erneut in Naoes schlafendes Gesicht. Er beugte sich zu dessen Ohr hinab.

„Nobutsuna...“, sagte er leise und sprach Naoe mit seinem Vornamen an.

Während er in Naoes Ohr flüsterte, berührte er sanft mir seiner rechten Hand dessen Wange.

„Naoe...“, wisperte Takaya weiter und verspürte das Verlangen, diesen Menschen zu küssen.

„Es wird Zeit, dich von dieser Fessel zu befreien...“, sprach er leise und konzentrierte sich auf den Ring.

Unerwartet traf er dabei auf eine weitere Person, die ebenfalls etwas mit dem Ring zu schaffen hatte.
 

Shishido..., schoss es ihm auf einmal durch den Kopf und er begann augenblicklich, sich für einen Kampf auf spiritueller Ebene zu rüsten.

Er spürte Shishidos Stärke und Willenskraft, die sich ihm aber unbeständig zeigten. Takaya nahm an, dass das die Nebenwirkungen des Unfalls waren. Er war also im Vorteil. Er konzentrierte sich auf das Band um Naoes Knöchel. Er übte unnachgiebig Druck von allen Seiten aus und spürte dabei parallel die schwindende Gegenwehr Shishidos.

Er scheint wirklich geschwächt..., dachte Takaya erleichtert und setzte an, mit seinem nächsten Kraftaufwand, den Ring zu brechen.

Er konnte sofort die feinen Risse spüren, die sich im Energiegeflecht des Ringes rasend schnell ausbreiteten. Mit jedem weiteren Riss wurde Shishidos Anwesenheit schwächer, bis sie, als der Ring letztendlich brach, völlig verschwand.

Takaya ließ erschöpft den Kopf hängen, als er eine leise, lang vermisste Stimme vernahm.

„Kage...tora-sama?!“
 


 

Kousaka lehnte entspannt an einem Baum und beobachtete unentdeckt und mit großem Interesse das Geschehen unterhalb von ihm an der Unfallstelle. In etwa 30 Meter Entfernung sah er fünf Personen, von denen sich vier unruhig hin- und herbewegten und sich angespannt um eine fünfte am Boden liegende Person kümmerten.
 

Als Kousaka vor ein paar Minuten einen ersten Blick auf diese Szene werfen konnte, hatte er sofort bemerkt, dass sich Naoe nicht unter ihnen befand. Diese Feststellung hatte ihn wissend lächeln lassen, da er damit seine Theorie bestätigt empfand – Naoe schien tatsächlich den Unfall verursacht zu haben. Entweder war er selbst gefahren, oder aber er hatte Shishido ins Lenkrad gegriffen.

Wie auch immer der Unfall ausgelöst wurde, Naoe war nun also auf freiem Fuß und Kagetora hatte dies von Beginn an gewusst. Er hatte es ihm also bewusst verschwiegen. Kousaka schnalzte anerkennend mit der Zunge.

„Daher auch dein plötzlicher Wandel... Du bist Naoe suchen gegangen – oder sollte ich eher sagen: das du ihn gezielt aufsuchst, Kagetora?!“, flüsterte er nun verstimmt, da ihm klar wurde, dass er seine eigenen Pläne neu überdenken musste.

Kousaka überlegte angestrengt, ob er sich ebenfalls auf den Weg zu Naoe machen sollte, oder er lieber versuchte, Shishido in seine Gewalt zu bekommen. Er sah unentschlossen zu Shishido rüber.

Dieser junge Mann barg dem Anschein nach Geheimnisse, an denen sogar Naoe interessiert schien. Denn sonst hätte sich dieser höchstwahrscheinlich nicht die Mühe gemacht, Shishido zum einen aus dem Wrack zu bergen, und ihn zum anderen generell am Leben zu lassen.

„Oder war es Mitgefühl? Wirst du langsam weich, Naoe? Haben wir es hier etwa mit dem Stockholm-Syndrom zu tun?!“, sprach Kousaka nachdenklich mit leiser Stimme, während er weiter das Treiben betrachtete.
 

Er beobachtete, dass an der Unfallstelle auf einmal alles für einen kurzen Moment zum Erliegen kam. In der nächsten Sekunde vernahm er aufgeregte Stimmen, die die aufgetretene plötzliche Stille durchbrachen. Kousaka fokussierte Shishido und konnte erkennen, dass dieser das Bewusstsein wiedererlangt hatte.

„Jetzt wird’s interessant...“, murmelte er aufgeregt, während er Shishido nicht aus den Augen ließ. Kousaka konnte erfassen, dass Shishido etwas fragte, was den Umstehenden unangenehm zu sein schien. Er mutmaßte, dass es bestimmt die obligatorische Frage nach Naoes Verbleib war. Er grinste höhnisch.

„Ihr wart zu leichtfertig... Das habt ihr davon!“, brachte Kousaka unter leisen Lachen hervor, während er sich wieder auf das Geschehen konzentrierte und es mit belustigt blitzenden Augen verfolgte.

Er fragte sich gerade, wann Shishido beginnen würde, nach dem Band der Versiegelung an Naoes Knöchel zu suchen, als er spürte, dass genau in diesem Moment damit jemand begonnen hatte. Kousaka musterte Shishido und bemerkte dabei dessen angespannten Gesichtsausdruck.

Hm... Mal sehen, ob ihm Kagetora zuvor gekommen ist...
 

Kousaka konnte vom folgenden Geschehen nicht viel erkennen, da sich einer der Männer direkt vor Shishido hingehockt hatte und ihm somit die Sicht nahm.

Er vermutete, dass diese Person eine enge Vertrauensperson von Shishido war, denn sie gab Befehle und schien die Lage zu überwachen.

„Ein weiteres Schoßhündchen...“, murmelte Kousaka mit einem Grinsen im Gesicht. Einen Augenblick später stand diese Person hastig auf und trieb die Person, die inzwischen am abgestellten Wagen auf der Straße mit Vorbereitungen beschäftigt war, zur Eile an.

Der wieder freie Blick auf Shishido zeigte Kousaka, dass jener erneut das Bewusstsein verloren hatte.

„Die Nebenwirkungen einer inneren Verletzung? Erschöpfung? Den Kampf verloren? Verloren, weil erschöpft und verletzt?! Wie langweilig...“, stellte Kousaka im gehässigen Ton fest und entschloss sich nun zu handeln.

Er würde Shishido und seine Männer ziehen lassen, und sich stattdessen auf den Weg zu Naoe machen.

Shishido würde ihm nicht weglaufen – schon gar nicht nach dieser Blamage. Bei Naoe, und vor allem Kagetora, war er sich nicht so sicher. Wenn er sie jetzt länger allein lassen würde und sie anschließend gemeinsam gehen ließe, hätte er seine Chance vertan, Naoe auf irgendeine Weise zu beeinflussen – denn dafür wäre jetzt die beste Möglichkeit.

Kousaka spekulierte darauf, dass Naoe sehr wahrscheinlich nicht nur körperlich angeschlagen war, sondern dass zudem dessen emotionale Verfassung kurz vor dem Zusammenbruch stand.

„Wem würde es dabei anders ergehen!? Entführung. Gefangenschaft. Sexualisierte Gewalt und ein unangenehmer Schatten aus der Vergangenheit...“, zählte Kousaka seufzend auf, während ein nachdenklicher Ausdruck auf seinem Gesicht erschien.

„Aber wie kann ich Kagetora überrumpeln?“

Kousaka drehte sich in Gedanken versunken um, warf dabei aber einen letzten Blick auf die Personen vor ihm, bevor er zurück zu der Stelle ging, an der Kagetora das Auto verlassen hatte. Ihm entging dabei der geringschätzige, aber zugleich erleichterte Blick Arakawas, der genau zu der Stelle sah, an der er eben noch gestanden hatte.
 


 

„Kagetora-sama?!“

Takaya erstarrte und hielt den Atem an. Er hatte das Gefühl, als würde er in der Woge seiner überschäumenden Gefühle ertrinken. Er hob langsam den Kopf und traf auf Naoes unergründliche Augen.

„Kagetora-sama...“, wisperte Naoe und hob seine linke Hand, um Takayas Wange zu berühren. Dieser sah die Berührung kommen und rutschte hastig ein Stück zurück.

Für einen kurzen Moment konnte Takaya einen gequälten Ausdruck in Naoes Augen aufblitzen sehen, bevor sie wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückfielen.

Takaya presste angespannt die Lippen aufeinander und versuchte erfolglos, Herr seiner widersprüchlichen Gefühle zu werden. Er spürte, dass mit jeder verstreichenden Sekunde seine Wut die Oberhand gewann.

Er schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, bevor er anschließend Naoe zornig anfunkelte. Naoes Augen weiteten sich überrascht.

„Tiger´s eye...“, flüsterte Naoe mit gebrochener Stimme, während er erneut die Hand nach Takaya ausstreckte. Dieser schlug sie zur Seite.

„Wage es nicht, mich zu berühren...“, sprach Takaya mit eisiger Stimme und warf dabei einen unbarmherzigen Blick auf Naoe. Dieser zuckte unwillkürlich zusammen.

„Kage...“, begann Naoe sanft, wurde aber gebieterisch von Takaya unterbrochen.

„Schweig!“, brüllte dieser beinah, während er sich für seine nächsten Worte innerlich sammelte.

„Wie kannst du es wagen, dich meiner Befehle zu widersetzen, Naoe Nobutsuna?! Ich dachte, wir hätten eine...“

„Ich kann mich nicht daran erinnern, in dieser Sache einen Befehl von dir erhalten zu haben!?“, erwiderte Naoe im sachlichen Ton Takaya unterbrechend, der plötzlich nach vorne schnellte, und Naoe mitten ins Gesicht schlug. Überrascht sog dieser den Atem ein und schmeckte Blut an der Innenseite seiner Wange. Er versuchte Takayas Blick einzufangen, aber dieser sah unerwartet betroffen zu Boden.

„Es tut mir leid...“, entgegnete Naoe aufrichtig und musterte weiterhin die zu Boden blickende Person vor ihm.

„Es ging nicht anders. Das müsstest du eigentlich selbst wissen...“, sprach Naoe mit wiederkehrender Zuversicht, der der folgende Blick von Takaya ein abruptes Ende setzte. Naoe schluckte nervös, als er dessen Gesichtsausdruck sah.

„So? Es ging nicht anders? Ich müsste das selbst wissen? Das heißt dann also auch, dass es nicht anders ging und dich Shishido ohne Weiteres nehmen durfte?! Ein Mal? Zwei Mal? Hast du es gern getan?“, fragte Takaya eiskalt und sah geringschätzig zu Naoe rüber. Dieser bekam vor Wut und Scham ein rotes Gesicht.

„Und glaube ja nicht, dass Eifersucht oder dergleichen aus mir spricht! Ich bin maßlos enttäuscht darüber, dass der Naoe Nobutsuna, den ich kenne und der sonst so willenstark und unerschütterlich daherkommt, sich von solch einem Menschen brechen lässt, sich wie Dreck behandeln lässt! Und dann entschuldigst du dich damit, dass es nicht anders ging, weil du es für mich getan hast?! Das ich nicht lache...“ Takaya spuckte Naoe die verächtlichen Worte förmlich ins Gesicht. Er schnellte erneut nach vorne, setzte sich rittlings auf Naoes Beine und drückte diesem mit beiden Händen den Hals zu.

Naoe, der in Takayas Worten ein Stück Wahrheit erkannte, ließ ihn gewähren und fixierte ihn stattdessen mit seinen Augen. Er spürte, dass Takayas Hände an seinem Hals zitterten und musste lächeln.

„Ich wusste gar nicht, dass dich so etwas zum Lächeln bringt!?“, zischte Takaya aufgebracht, bewegte seinen Kopf nach vorn und gab Naoe unerwartet einen groben Kuss auf die Lippen.

Naoes Augen weiteten sich vor Entsetzen und er begann nun doch, an Takayas Armen zu ziehen.

„Nein... Kage... So nich...“, presste er mit kaum vorhandener Atemluft hervor, als er erneut Takayas Lippen auf den seinen spürte.

„Was ist?! Ist es nicht das, was du willst?“, erwiderte Takaya mit gespielter, verführerisch klingender Stimme, während er seinen Griff um Naoes Hals verstärkte. Naoe kniff die Augen zusammen und versuchte den Kopf zur Seite zu drehen.

„Hm!? Glaubst du wirklich, dass du mir so ausweichen kannst, Nobutsuna?!“, flüsterte Takaya leise in dessen Ohr.

„Du bist zwar nicht im Besitz deiner vollen körperlichen Kraft, aber der Ring ist weg, Naoe! Es sollte also ein Leichtes sein, oder?!“, schleuderte Takaya ihm wütend entgegen, lehnte sich zurück und musterte aufmerksam dessen Gesicht. Er suchte darin nach Anzeichen, die den erhofften Befreiungsversuch verraten würde, aber konnte nichts dergleichen entdecken.

Enttäuscht ließ Takaya den Kopf hängen. Dem folgten einen kurzen Moment später beide Arme. Er spürte, dass sich Tränen der Wut, Enttäuschung und des Schmerzes in seinen Augen sammelten. Er begann heiser zu lachen, als er wieder zu Naoe aufblickte.

„Ich weiß nicht, was in dir vorgeht, Naoe!?! Alles was du sagst und tust, macht keinen Sinn...“, brachte Takaya erschöpft lachend hervor und sah ihm fragend in die Augen.

Naoe erwiderte Takayas forschenden Blick und wusste nicht, was er sagen sollte. Seine eigenen aufbrechenden Gefühle raubten ihm den Verstand, so dass es ihm schwer fiel einen klaren Gedanken zu fassen, um Takaya eine besänftigende Antwort zu geben. Er schluckte und versuchte den Schmerz in seinem Hals zu ignorieren.

„Kagetora-sama...“

Naoe stockte, denn er sah für einen kurzen Moment ein Aufflammen von Vertrauen in Takayas Augen. Aber so plötzlich wie er dieses aufblitzen sah, so schnell war es auch wieder hinter der starren Maske verschwunden. Er unterdrückte das Bedürfnis, Takaya in seine Arme zu ziehen und ihn bedingungslos zu halten.

Naoe hatte geahnt, dass er sich auf dünnes Eis begeben würde, wenn er sich auf Shishido einließe. Aber dass Takaya so extrem auf sein egoistisches Vorgehen reagierte, hatte er nicht erwartet. Da spielte es auch keine Rolle, ob sein Verhalten einem nützlichen und vor allem lebenserhaltenden Zweck diente. Er seufzte hörbar.

„Ich weiß nicht, was du hören willst...“, sprach er leise zu Takaya und spürte dabei, wie sich sein Herz vor Schmerz zusammen zog.

„Du sollst nicht sagen, was ich hören will, sondern was in dir vorgeht, Naoe...“, erwiderte Takaya im resignierten Tonfall und vermied es dabei, Naoe in die Augen zu sehen.

Naoe setzte gerade an zu antworten, als die kaputte Tür hinter ihnen auseinander flog und eine Person im Türrahmen erschien.

Ehe die beiden reagieren konnten, durchströmte eine starke Energiewelle den Raum, die Takaya erfasste und ihn von Naoe weg hart gegen die Wand knallen ließ. Stöhnend und dem Anschein nach das Bewusstsein verlierend, glitt Takaya zu Boden und blieb regungslos liegen. Naoes überraschter Blick wanderte von Takayas leblosen Körper rüber zum Eindringling.
 

„Wow! Das nenne ich mal Timing! Ich dachte schon fast, dass ich zu spät kommen würde!“, meinte Kousaka vergnügt, der sich weiter in den Raum hinein bewegte und dabei die auf dem Boden liegenden Person nicht aus den Augen ließ.

„Kousaka?!“

Naoe warf Kousaka einen irritierten Blick zu, den dieser mit einem Lächeln quittierte.

„Wer sonst?! Hast du etwa geglaubt, dass dieser Grünschnabel hier die Fähigkeit besitzt, dich ohne meine Hilfe zu finden?“, log ein noch immer heiterer Kousaka, der inzwischen neben Naoe zum Stehen kam und sich hinhockte.

„Was soll das?! Warum hast du das getan?!“ Naoe warf einen fragenden Blick in Kousakas Richtung, bevor er sich aufmachte, um an Takayas Seite zu eilen. Kousaka hielt ihn sanft am Arm gepackt auf.

„Ist es wirklich das, was du willst und vor allem jetzt brauchst, Naoe?!“, meinte Kousaka eindringlich, der keine Anstalten machte, Naoes Arm frei zu geben. Er blickte dabei Naoe nachdrücklich in die Augen.

„Was willst du mir damit sagen?“, fragte Naoe verunsichert, der von Takaya zu Kousaka blickte. Dieser grinste ihn nun breit an.

„Na ja. Ist doch ganz einfach! So, wie sich dieser Heißsporn hier eben aufgeführt hat, ist doch klar, dass er dich nun erst recht nicht mehr ranlässt – um es mal mit netten Worten zu sagen. Vom abhanden gekommenen Vertrauen will ich gar nicht erst sprechen... Vielleicht solltest du ihm Zeit geben?! Dir Zeit geben?! Außerdem ist da immer noch Shishido, der wohl schon, während wir uns hier unterhalten, auf dem Weg in ein Krankenhaus ist. Noch könnten wir ihn einholen. Mein Auto ist nicht weit von hier geparkt...“, sprach Kousaka verschwörerisch und ließ Naoes Arm gehen.

„Wieso sollte ich das mit dir tun, Kousaka?! Ich ziehe es vor, mit Takaya jetzt lieber reinen Tisch zu machen. Danach werden wir zusammen mir den anderen gemeinsam das weitere Vorgehen bezüglich Shishido besprechen. Du könntest daran bestimmt teilnehmen, wenn du wirklich maßgeblich daran beteiligt warst mich zu finden. Ansonsten schlage ich vor, dass du einfach verschwindest...“, entgegnete Naoe mit fester Stimme und warf Kousaka einen abschätzenden Blick zu.

„Denkst du wirklich, dass es so einfach ist, Naoe?! Du hast Kagetora selbst gehört. Deine Nähe wird ihm nicht gut tun, dass hast du selbst gemerkt...“, drängte Kousaka unaufhörlich weiter.

„Ach ja?! Und meine Abwesenheit bewirkt also das Gegenteil?! Wenn dem so wäre, dann hätte sich Takaya emotional nicht so gehen lassen – das ist meine Schuld. Hätte ich mich nicht zurückgezogen, um ihn zu schützen, wäre unser Wiedersehen wahrscheinlich anders verlaufen. ... Warum erzähle ich dir das überhaupt...“ Naoe brach mitten im Satz ab, richtete sich unbeholfen auf und ging zu Takaya.

Kousaka gab einen verächtlichen Ton von sich und verengte wütend die Augen. Er überlegte fieberhaft, wie er Naoe doch noch überzeugen konnte, mit ihm zusammen die Hütte zu verlassen, um Shishido zu verfolgen.

„Kagetora will kein Schoßhündchen, Naoe! Aber du verhältst dich gerade wie eins!“, brachte Kousaka wütend hervor, während er auf Naoes Rücken starrte.

Naoe zuckte bei diesen Worten zusammen. Er kniete sich neben Takaya und berührte sanft dessen Rücken. Seine Gedanken rasten. Er wusste nicht mehr, was er tun sollte. Einerseits wollte er sich Takaya öffnen, aber andererseits machten ihn Kousakas harsche Worte betroffen, denn auch in ihnen lag ein Funken Wahrheit. Er sollte sich von seinen Gefühlen freimachen und die Sache mit Shishido alleine zu Ende bringen – unabhängig davon, dass es dieser eigentlich auf Kagetora abgesehen hatte. Naoe seufzte hörbar und fasste eine schwere Entscheidung. Er drehte seinen Kopf und blickte zu Kousaka, der inzwischen wieder stand und angespannt zu ihm rüber sah.

„Gut. Ich werde vorerst mit dir mitkommen. Warte bitte draußen auf mich. Ich möchte Takaya noch in eine angenehmere Position bringen, sowie Haruie und Chiaki verständigen. Dann können wir gehen...“, flüsterte Naoe und spürte die unangenehme Last dieser Entscheidung.

„Okay! Beeil dich aber...“, erwiderte Kousaka erleichtert und drehte sich lächelnd um.
 

Sobald Naoe allein mit Takaya in der Hütte war, begann er, diesen behutsam auf den Rücken zu drehen und ihn nach Verletzungen abzusuchen. Er glaubte zwar nicht, dass Kousaka so weit gehen würde, aber Naoe wollte sich einfach vergewissern. Er zog seine Jacke aus und bettete Takayas Kopf darauf. Anschließend durchsuchte er dessen Jacke nach dem Handy. Als er es gefunden hatte, wählte er Chiakis Nummer und sah dabei wartend auf Takayas Gesicht hinab. Er berührte liebevoll dessen Wange und strich ihm die zersausten Haare aus dem Gesicht.

„Ich bin es, Chiaki! ... Nein, dem geht es gut. ... Ja, mir soweit auch. Der Grund, warum ich eigentlich anrufe... ... Nein, wie kommst du darauf? Egal. Hör mir zu, denn ich habe nicht viel Zeit. Takaya liegt bewusstlos in einer kleinen Hütte circa drei Kilometer nordwestlich von Kamishiro. ... Ja, du hast richtig gehört. Wie lange werdet ihr brauchen? ... Gut. ... Nein. Ich werde diesen Ort gleich mit Kousaka verlassen. Wie werden gemeinsam Shishido verfolgen, aber ich bleibe mit euch in Kontakt. ... Davon weiß er noch nichts. ... Tut mir leid, aber es geht nicht anders. ... Verstanden. Bestell Haruie Grüße! ... Ich werde mich sobald es geht melden. Bis dann!“ Naoe beendete mit neu gewonnenem Selbstvertrauen das Gespräch. Er schloss für einen Moment die Augen.

Steh zu deiner Entscheidung... Verdammt, wenn das bloß so einfach wäre... Aber es ist die richtige, oder?! Naoe versuchte seine zweifelnden Gedanken beiseite zu schieben, aber es gelang ihm nicht ganz. Ein kleiner Rest des beklemmenden Gefühls blieb unweigerlich vorhanden.

Er sah sehnsuchtsvoll auf Takaya herunter und berührte sanft mit seinen Fingern dessen geschlossene Lippen. Er spürte Begierde in sich aufsteigen, die ihm die Kehle zuzuschnüren drohte. Er beugte sich zögerlich hinab, aber stoppte mitten in der Bewegung.

„Ich hoffe, du kannst mich eines Tages verstehen, Takaya. ... Aber wie sollst du mich verstehen können, wenn ich mich selbst nicht verstehe. Mein Leben gehört dir – auf immer und ewig. ... Ich werde jetzt gehen, aber ich bin erreichbar...“, wisperte Naoe zärtlich, während er sich nun ganz nach unten beugte und Takaya sanft auf die Lippen küsste. Er verharrte einen Augenblick, bevor er sich anschließend entschlossen aufrichtete und die Hütte verließ.
 


 

Takaya öffnete die Augen. Er hob seine rechte Hand und berührte seine Lippen.

„Was hast du vor, Kousaka...“, flüsterte Takaya zwischen seinen Fingern hindurch.

Gespielte Gefühle

Yuzuru saß an seinem Schreibtisch und versuchte sich auf seine Hausaufgaben zu konzentrieren. Es fiel ihm nicht leicht, da seine Ohren seit mehr als einer Stunde von lauten Flüchen, und den darauf meist folgenden Siegesschreien attackiert wurden.

Er seufzte resigniert und ließ seinen Kopf seitlich auf das offene Buch vor ihm sinken.

„Hey Takaya...“, brachte er gequält hervor. Yuzuru wartete auf eine Antwort, aber nichts geschah. Er stöhnte missmutig, da er langsam das Gefühl bekam, er würde Selbstgespräche führen.

„Du kannst das Spiel gerne mit nach Hause nehmen. Hey?! Hast du gehört?“, bot Yuzuru an und drehte sich zu Takaya um. Dieser saß auf seinem Bett und starrte konzentriert auf den flackernden Bildschirm vor ihm.

„Oh Mist! Verdammt... Ja! Das hat du davon...und den noch... Haha! Hä? Was hast du gesagt, Yuzuru!?“, antwortete Takaya beinah eine Minute später.

Yuzuru grinste schief und schüttelte nachsichtig den Kopf. Er konnte an Takayas Verhalten ablesen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Irgendwas schien Takaya nach wie vor zu belasten und er tat alles, um sich davon abzulenken.

Die Tatsache, dass Takaya nicht mit ihm darüber sprach, machte ihn traurig. Yuzuru hatte gehofft, dass sich dieser, nach allem, was sie gemeinsam erlebt hatten, etwas offener ihm gegenüber zeigen würde, aber dem war noch immer nicht so. Ihm blieb daher also nichts weiter übrig, als weiterhin geduldig darauf zu warten, dass Takaya ihm irgendwann sein Herz ausschüttete.
 

Yuzuru dachte an die Ereignisse der letzten Tage. Als Takaya sich vor zwei Tagen überraschend bei ihm gemeldet hatte, um ihm mitzuteilen, dass er wieder zurück war und es Naoe gut ging, war er überglücklich gewesen.

Takaya hatte ihm erzählt, dass Naoe gerade dabei war, einen Auftrag zu erledigen und dieser daher keine Zeit hatte, sich zu melden. Yuzuru ahnte zwar, dass das nicht die komplette Wahrheit war, aber er bedrängte Takaya in dieser Hinsicht nicht weiter. Er hoffte einfach, dass er bald selbst die Möglichkeit bekam, Naoe mit eigenen Augen zu sehen.

Überdies hatten seine schrecklichen Träume zu jenem Zeitpunkt aufgehört, als sich Takaya zurückgemeldet hatte – demzufolge bestätigte das Ausbleiben seiner Alpträume Takayas Worte. Yuzuru freute sich darüber, dass Takaya auf seine spezielle Art ehrlich zu ihm war.
 

„Was hast du gesagt?“ Takaya wiederholte seine Frage und guckte mit gerunzelter Stirn zu Yuzuru rüber, der nun seinerseits nicht reagierte, da er gedankenverloren zum Fenster hinausblickte. Takaya sah hinter sich und griff nach dem Kopfkissen. Seine Augen blitzten vergnügt auf, als er ausholte und das Kissen warf.

Yuzuru drehte sich im ungünstigsten Moment um, denn das Kissen landete mitten in seinem Gesicht. Ein überraschter Laut kaum aus seinem Mund, während es zu Boden fiel und er wieder freie Sicht auf Takaya hatte. Völlig verblüfft über Takayas Tat konnte er sehen, wie dieser erfolglos versuchte, nicht laut loszulachen. Yuzuru zögerte keine Sekunde. Er sprang erbost auf, schnappte sich das Kissen und stürmte auf Takaya los. Diesem blieb das Lachen im Hals stecken, während er entgeistert zu dem temperamentvoll näher kommenden Yuzuru starrte.

„Hey! Halt! Was hast du vor?“, stammelte Takaya, der augenblicklich den Controller aus der Hand warf und abwehrend die Hände hob.

Yuzuru stoppte seinen Lauf nicht wirklich, sondern holte zudem mit dem Kissen aus. Er verfehlte Takayas Oberkörper nur deshalb, weil sich dieser nach hinten aufs Bett warf.

„Ha! Fehler!“, brüllte Yuzuru begeistert, der Takayas schlechte Defensive ausnutzte. Er setzte sich rittlings auf dessen Schoß und hatte somit die Möglichkeit, ihn aus dieser Position heraus mit dem Kissen zu bearbeiten. Takaya hob lachend die Arme und machte sich daran, Yuzuru von seinem Körper zu werfen.
 

„Was ist denn in dich gefahren?!“, brachte Takaya belustigt hervor, als er es endlich geschafft hatte, Yuzuru neben sich auf das Bett zu stoßen.

Beide lagen schwer atmend nebeneinander auf dem Rücken und starrten an die Decke.

„Keine Ahnung! Vielleicht war ich einfach genervt davon, dass du unaufhörlich meine vier Wände mit unanständigen Ausdrücken beschmutzt hast!“, witzelte Yuzuru, der seinen Kopf Takaya zudrehte.

„Ich und unanständige Worte! Verwechselst du mich vielleicht mit Chiaki?“, entgegnete Takaya in gespielter Empörung. Er schloss seine Augen und genoss Yuzurus Nähe. Er konnte sich immer noch nicht erklären, warum er in Yuzurus Gegenwart komplett abschalten konnte und es ihm leichter fiel, seine innere Ruhe wieder zu finden. Er seufzte zufrieden.

„Es tut gut, dein Lachen zu hören, Takaya!“, erwiderte Yuzuru aufrichtig. Er blickte weiterhin in Takayas Richtung. Dieser drehte ihm den Kopf zu und hob ungläubig die Augenbrauen.

„Woah! Das klingt völlig schräg, wenn das aus deinem Mund kommt!“, stellte Takaya fest und verpasste Yuzuru eine leichte Kopfnuss.

„Autsch! ... Ey, lass das! Ich würde es niemals wagen, mich über dich lustig zu machen! Es bereitet mir eben Sorgen, weil du dich so benimmst, wie du dich benimmst!“, meinte Yuzuru im beleidigten Tonfall, der sich den Kopf an der Stelle rieb, die Takaya mit seiner Faust drangsaliert hatte.

„Ich bin dein bester Freund! Ist es da nicht normal, sich zu sorgen?! Nur leider muss ich die schwere Bürde tragen, dass mein bester Freund gleichzeitig ein sehr verschlossener ist...“, entgegnete Yuzuru seufzend, der dem aufbegehrenden Takaya mit einer Handgeste augenblicklich das Wort abschnitt.

„Ich beklage mich hier nicht, Takaya! Noch will ich dich zu irgendwas drängen... Das Einzige, was ich will, ist dir helfend zur Seite zu stehen. Nun, und wenn das eben bedeutet, dass ich einfach deine wechselhaften Stimmungen aushalten muss, dann soll es so sein. Aber du sollst wissen, dass du über alles mit mir reden kannst!“

Als Yuzuru seine leidenschaftliche Erklärung beendet hatte und Takaya direkt in die Augen sah, konnte er neben Bewunderung auch ein belustigtes Funkeln erkennen. Er wandte verlegen seinen Blick ab und wartete darauf, dass Takaya die Stille brach.

„Danke, Yuzuru! Du weißt gar nicht, wie sehr du mir hilfst, weil du so bist, wie du bist!“, antworte Takaya aufrichtig und lachte dabei glücklich.

„Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du mich gerade aufziehst?!“ Während Yuzuru das sagte, richtet er sich auf und sah skeptisch neben sich. Takaya lugte zu ihm hoch und grinste über das ganze Gesicht.

„Meine Worte waren aufrichtig gemeint!“, erwiderte dieser mit Nachdruck und setzte sich ebenfalls auf. Sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an, als er die nächsten Worte sprach.

„Wirklich, Yuzuru. Ich mag vielleicht nicht über alles reden können, aber wenn ich sage, dass ich in deiner Gegenwart zur Ruhe komme, dann ist das so! Ich weiß natürlich, dass das meine Probleme nicht löst, aber es hilft mir trotzdem ungemein. Es ist fast so, dass ich aus meiner neu gewonnen Mitte heraus die problematischen Dinge leichter betrachten kann – was für deren Lösung sehr von Vorteil ist! Wie du siehst, du tust mehr, als du eigentlich denkst!“, offenbarte Takaya einem verblüfft schauenden Yuzuru.

„Also, wenn DU so etwas sagst, dann klingt das noch viel schräger!“ Yuzurus Augen funkelnden schelmisch.

„Und was machen wir jetzt?! Vielleicht Ringe austauschen?!“, scherzte Takaya, der sich auf die Suche nach dem weggeworfenen Controller machte.

„Hast du Lust, eine Runde gegen mich anzutreten?! Ist irgendwie langweilig, ständig gegen den Computer zu spielen.“ Als Takaya das Gesuchte gefunden hatte, sah er fragend zu Yuzuru, der seinen Blick fassungslos erwiderte.

„Ringe?!? Ich wusste gar nicht, dass du auf so einen Kitsch stehst! Aber wenn du meinst... Wenn ich mich recht erinnere, dann müsste ich hier irgendwo welche aus dem Kaugummiautomat liegen haben...“, meinte Yuzuru belustigt und schickte sich an, dass Bett zu verlassen, aber er wurde vom laut lachenden Takaya daran gehindert.

„Okay, okay... Ich nehme das zurück! Aber würdest du jetzt endlich eine Runde gegen mich spielen!?“, drängte Takaya weiter, der sich inzwischen wieder neben Yuzurus auf das Bett gesetzt hatte.

„Tut mir leid! Ich kann nicht! Ich muss noch den größeren Teil der Hausaufgaben machen. Wenn du nicht die ganze Zeit so laut gewesen wärst, dann wäre ich womöglich schon fertig!“ Während Yuzuru Takayas Bitte ablehnte, sah er ihn entschuldigend an.

„So?! Und warum habe ich jetzt das Gefühl, dass dir das nicht wirklich leid tut?!“, argwöhnte Takaya, der insgeheim schon längst beschlossen hatte, Yuzuru endlich allein zu lassen, damit dieser seiner „Leidenschaft“ nachkommen konnte.

„Vielleicht solltest du auch ab und zu an diese Dinge denken!“, sprudelte es Yuzuru frech aus dem Mund, der aufstand und sich wieder zu seinem Schreibtisch begab. Er hörte, wie Takaya ergeben seufzte und auch aufstand.

„Nun, diesen letzten Satz von dir werde ich ganz schnell vergessen! Aber ich nehme dich beim Wort! Ich werde mir das Spiel ausborgen. Also erwarte nicht, dass ich mit gemachten Hausaufgaben in der Schule auftauche!“

Takaya schnappte sich seine Jacke, das Spiel und ging zur Tür. Er drehte sich noch einmal zu Yuzuru um, der ihn mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen ansah.

„Hey?! Alles okay? Soll ich das Spiel lieber hier lassen?!“, fragte Takaya, der fast befürchtete, dass Yuzuru ihm nun zwischen Tür und Angel von weiteren bizarren Träumen berichten würde. Er sah ihn erwartungsvoll an.

„Oh?! Nein. Es ist nichts. Du kannst es gerne mitnehmen. Bestell Miya liebe Grüße!“, entgegnete Yuzuru eine Spur zu hastig, was für Takaya mehr als verdächtig klang.

„Wie du meinst... Wenn etwas ist, dann zögere nicht, mich anzurufen! Verstanden? Also, bis morgen!“

Takaya verschwand durch die Tür und ließ einen ratlosen Yuzuru zurück. Dieser glaubte, für einen kurzen Moment eine Frau hinter Takaya schwebend gesehen zu haben. Diese Frau richtete ihren liebevollen Blick von Takaya auf ihn und lächelte. Es war ein sanftmütiges Lächeln, aber zur gleichen Zeit ein unendlich trauriges. Yuzuru hatte diese Person noch nie zuvor gesehen. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass sie keine Bedrohung war und er Takaya mit seinem Schweigen darüber wohl einen Gefallen tat.

Yuzuru ging zum Fenster und sah hinaus. Er konnte sehen, wie sein bester Freund gerade die Straße betrat und unschlüssig stehen blieb. Dieser setzte sich einen Augenblick später in Bewegung, um dann aber erneut stehen zu bleiben. Takaya griff in seine Hosentasche und holte sein Telefon hervor. Er starrte kurz auf das Display, bevor er das Gespräch während dem Weitergehen annahm. Yuzuru verfolgte Takaya neugierig mit seinen Augen, bis dieser an der nächsten Hausecke aus seinem Sichtfeld verschwand.

Er seufzte leise und ermahnte sich innerlich, seine Sorgen um Takaya in den Griff zu bekommen, damit diese sein Leben nicht noch mehr beeinflussten, als sie es ohnehin schon taten. Yuzuru setzte sich zurück an seinen Schreibtisch und nahm seine Arbeit dort wieder auf, wo er sie vor wenigen Minuten gestoppt hatte.
 


 

Takaya saß gelangweilt auf der Schaukel des ihm vertrauten Spielplatzes, der sich in der Nähe seines Zuhauses befand. Er blickte sich suchend um, aber konnte nirgends die Person entdecken, die ihn hier treffen wollte.

Sein Telefon fand den Weg zurück in seine Hand und er ging unbestimmt die Adressliste durch. Als er bei Naoes Namen angekommen war, spürte er einen kleinen Stich im Herzen.

Takaya musste augenblicklich an die Erlebnisse der letzten Wochen denken – aber vor allem an die aktuellen von vor zwei Tagen. Er konnte es noch immer nicht glauben, aber Naoe war tatsächlich frei und körperlich den Umständen entsprechend unversehrt.

„Naoe...“, murmelte Takaya sehnsuchtsvoll und schloss die Augen.
 

Er rief sich den schlafenden Naoe zurück ins Gedächtnis, den er vorfand, als er die Hütte im Wald betreten hatte. Sein Gefühlschaos drohte ihn in jenem Moment zu zerreißen.

Auf der einen Seite hätte Takaya Naoe augenblicklich wach prügeln können, aber auf der anderen wollte er einfach Naoes Lippen mit seinen verschließen.

Dieses Bedürfnis war letzten Endes das größer gewesen, so dass er Naoe zwar nicht küsste, ihn aber auch nicht unsanft aus dem Schlaf weckte.

Trotzdem schaffte es Takaya nicht, seine widersprüchlichen Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Wenn er an jenes Verhalten zurückdachte, dass er Naoe gegenüber gezeigt hatte, dann wurde ihm unwohl zumute. Er hatte ihn geschlagen, ihn sexuell genötigt und lauter, wie er nun fand, unreife Dinge gesagt. Es war nicht so, dass er Naoe seine wahren Gefühle offenbart hatte, aber dennoch glaubte Takaya, dass er Naoe viel mehr gezeigt hatte, als er eigentlich beabsichtigt hatte.

„’Mein Leben gehört dir...auf immer und ewig!’ Eine Liebeserklärung, genau wie damals am See... Der Kuss...“, flüsterte Takaya gedankenverloren, der ein begieriges Beben bei diesen Worten nicht unterdrücken konnte.
 

Seit sich Takaya allen Anteilen seiner Persönlichkeit geöffnet hatte, spürte er erneut die geballte Kraft der scheinbar auswegslosen Lage, in der sich Naoe und er befanden. Das Treffen mit Takahashi hatte eine alte, aber folgenschwere Wunde abermals aufgerissen und somit erneut Öl ins Feuer gegossen.

Takaya konnte und wollte Naoe nie verzeihen, was dieser damals getan hatte. Dennoch spürte er zur gleichen Zeit großes Verlangen nach der Nähe dieses Menschen.

Er versuchte die ganze Zeit über zu verstehen, was Naoe dazu gebracht haben könnte, sich zu jenem Zeitpunkt so grausam zu verhalten. Bisher war es ihm schwer gefallen, auch nur ansatzweise legitime Gründe dafür zu finden.

Wenn er aber an die Ereignisse der letzten Wochen dachte, und sich die damit verbundenen Ängste zurück ins Gedächtnis rief, dann hatte er das Gefühl, dass er nun in der Lage war, wenigstens einen kleinen Teil von Naoes zerrissener Persönlichkeit zu verstehen – Takaya hatte sich dabei ertappt, dass auch er, wenn nötig, alles getan hätte, um Naoe möglichst unversehrt aus Shishidos Fängen zu befreien.

Takaya fragte sich immer wieder nach dem Grund, warum auch er auf fragwürdiges Verhalten zurückgreifen würde. Konnte er nicht ohne die Person leben, die ihm so großes Leid zugefügt hatte? Aus Angst vor dem Alleinsein? War es Takayas oder Kagetoras Anteil seiner Persönlichkeit, der sich nach Naoe sehnte? Es verwirrte ihn – seine Gefühle verwirrten ihn.

„Warum muss alles immer so kompliziert sein...“, sprach er leise, während er ungeduldig die Uhrzeit überprüfte. Takaya sah sich anschließend erneut um, aber er konnte noch immer keine Spur von der erwarteten Person sehen. Er spürte, dass er langsam wütend wurde – aber er war sich nicht recht sicher, ob er dies darauf zurückführen konnte, dass er zum einen einfach zum Warten verurteilt wurde, oder er aber zwangsläufig die Zeit hatte, um über sich und Naoe nachzudenken.
 

„Verdammt, Chiaki! Beweg deinen...“ Takaya verstummte, als er Schritte vernahm. Er blickte in die mutmaßliche Richtung und konnte wage eine Person erkennen, die lässige Sportkleidung trug und Kopfhörer aufgesetzt hatte.

Ein Jogger?! Um diese Uhrzeit? Gut, so spät ist es auch wieder nicht..., dachte Takaya beiläufig, während er die Augen zusammen kniff, um so mehr erkennen zu können. Er begann seine Sinne zu schärfen, um sich für eine mögliche Konfrontation bereit zu machen.

Takaya erhob sich von der Schaukel und sah gespannt der Person entgegen, die jetzt eine Laterne passierte und somit deutlich für ihn erkennbar war. Er entspannte sich augenblicklich, als er Chiaki erkannte. Dieser winkte ihm gerade fröhlich zu, als sein Handy zu klingeln begann. Takaya kramte es aus seiner Jackentasche hervor und erstarrte, als er den Namen auf dem Display las.

„Naoe!“, brachte er zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Er sah kurz zu Chiaki rüber, der noch einige Meter entfernt war, und nahm mit klopfendem Herzen das Gespräch an.

„Naoe?! ... Mir geht es gut. ... Nein, bisher nicht. Aber ich treffe mich gerade mit ihm. Warum? ... So?! Und was für einen Grund mag es geben, dass du nicht direkt mit mir darüber sprechen kannst? ... Das verstehe ich nicht. ... Ich wusste gar nicht, dass du Chiaki als deine erste Anlaufstelle siehst?! ... Vergiss es. ... Nein. Egal. Ich werde das Gespräch jetzt beenden. ... Bis dann.“

Takaya sah aufgelöst auf das Display hinab, das noch für einen kurzen Moment aufleuchtete, bevor es sich verdunkelte. Er fühlte sich auf einmal schlecht. So schlecht, dass er am liebsten einfach nach Hause gerannt wäre und alles um sich herum vergessen hätte.
 

Takaya hatte keine Ahnung gehabt, was er sich von seinem ersten Gespräch mit Naoe nach der fürchterlichen Begegnung in der Hütte erhofft hatte, aber es war bestimmt nicht das – Naoe gab sich unerträglich reserviert und kühl, und zu allem Überfluss hatte er sich allein mit Chiaki getroffen, um ihn so über seine Fortschritte zu informieren.

Aber warum hatte ihn Naoe dann angerufen?

Das passte nicht zusammen.

Wollte er etwa seine Stimme hören? Takayas Gedanken begannen zu rasen. Gleichzeitig spürte er die ihm vertraute Wut auf Naoe in sich aufsteigen, so dass es ihm äußerst schwer fiel, seine nun schlechte Laune für sich zu behalten. Kaum war Chiaki bei ihm angekommen, ließ er seinem Zorn freien Lauf – auch wenn er wusste, dass er sich unfair verhielt.

„Wenn du mich das nächste Mal um ein Treffen bittest, dann sei gefälligst pünktlich! Hast du verstanden!“, schleuderte er Chiaki bösartig entgegen, so dass dieser perplex stehen blieb und ihn mit einem unbestimmten Ausdruck in den Augen ansah.
 

„Ich weiß zwar nicht, was dir gerade über die Leber gelaufen ist, Takaya, aber für die kleine Verspätung musst du mich nicht gleich anmachen!?“

Chiaki, der sich inzwischen auf die Schaukel neben Takaya gesetzt hatte, starrte interessiert zu diesem rüber, der nun den Kopf gesenkt hielt. Er konnte Takayas Gesicht kaum erkennen, da dessen dunkle Haare die Sicht darauf verdeckten. Er registrierte Takayas verkrampfte Hände und hob irritiert die Augenbrauen. Bevor Chiaki ihn darauf ansprechen konnte, steckte Takaya sie hastig in die Jackentaschen und begegnete offen seinem Blick.

„Worüber wolltest du mit mir sprechen?“, fragte Takaya wieder ruhiger, der innerlich versuchte, sein Unbehagen Naoe gegenüber vorerst zu verdrängen.

„Wie geht es Yuzuru?“, begann Chiaki neugierig, der es sich nicht nehmen ließ zu schaukeln, wenn er schon einmal auf einer saß. Er grinste breit, als er Takayas missbilligenden Gesichtsausdruck sah.

„Guck nicht so! Ist schon etwas länger her, seit ich das zum letzten Mal gemacht habe. Meine Technik ist nicht so berauschend, was?“, scherzte er und ließ Takaya dabei nicht aus den Augen.

„Warum willst du wissen, wie es Yuzuru geht? Hast du ihn heute nicht selbst in der Schule getroffen?“, erwiderte Takaya irritiert.

„Das stimmt, aber ich wollte einfach von seinem besten Freund wissen, was der dazu sagt...“, meinte Chiaki schlicht, der sein Schaukeln plötzlich stoppte und Takaya mit einem ernsten Gesicht anschaute.

„Ich habe vorhin mit Naoe gesprochen. Er hat mir beunruhigende Informationen mitgeteilt...“, sprach Chiaki mit leiser Stimme und sah sich für einen Moment alarmiert um. Anschließend wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Takaya zu. In dessen Augen nahm er für einen Augenblick das ihm vertraute wütende Funkeln wahr, das alles und jeden in die Knie zwingen konnte, wenn es darauf ankam.

Ist wohl gerade nicht leicht für dich... Auch ich habe weder Einfluss auf Naoe, noch verstehe ich sein Verhalten völlig! Warum er aber freiwillig mit Kousaka zusammenarbeitet, ist mir beinah unheimlich! Nun, da ist wohl Vertrauen angesagt...

„Wie dem auch sei...“, beendete Chiaki seinen Gedanken laut und begann, Takaya das Gehörte anzuvertrauen.

„Es sieht so aus, dass Yuzuru wieder zur Zielscheibe wird...“, sprach Chiaki leise und sah Takaya abwartend an. Dieser blickte ihn für einen Moment schockiert an, bevor sich sein Ausdruck erneut wandelte – Chiaki sah nun Arroganz aufblitzen, die er nur zu gut kannte.

„Inwiefern?“, fragte Takaya in einer Gelassenheit, die seinem inneren Aufruhr Lügen strafte. Die plötzliche Angst um seinen besten Freund verdrängte sogar die Wut auf Naoe, die sich seit dem Telefonat ungehindert mehr und mehr Raum in seinem Denken genommen hatte.

„Naoe wollte nicht alles am Telefon erzählen und hält es daher für nötig, dass wir uns alle Morgen treffen und die neuen Entwicklungen besprechen sollten. Die Entscheidung darüber, ob Yuzuru bei dem Treffen dabei sein sollte, wollte er dir überlassen.“

Chiaki schloss seine Übermittlung mit einem verunsicherten Blick auf Takaya ab, da er ahnte, was jetzt kommen würde. Er machte sich auf dessen Wutausbruch gefasst, aber wurde überrascht. Er schaute zu Takaya rüber, der gedankenverloren in die Dunkelheit starrte und nicht erkennen ließ, ob er das Gesagte gehört hatte. Chiaki runzelte verwirrt die Stirn und überlegte, ob er den letzten Satz wiederholen sollte, als sich ihm Takaya gequält lächelnd zuwandte.

Chiaki riss konfus die Augen auf. Alles hatte er erwartet, aber nicht diesen Anblick.

Ihm wäre es lieber gewesen, wenn Takaya ihn ärgerlich angebrüllt und sich zudem über Naoes anmaßendes Verhalten aufgeregt hätte. Aber ein einfaches, wenn auch gepeinigtes Lächeln? Chiaki rollte ratlos mit den Augen und versuchte in Takayas Gesicht irgendwelche anderen Gefühlsregungen erkennen zu können, aber seine Suche blieb erfolglos.

Chiaki blickte in Takayas dunkle Augen und wollte gerade wieder das Wort ergreifen, als dieser unerwartet hastig aufstand, ein paar Schritte ging und dann mit dem Rücken zu ihm stehen blieb.

„Ich werde mich dann mal auf den Heimweg machen. Wir sehen uns morgen in der Schule. Unterrichte bitte alle über das morgige Treffen – 19 Uhr sollte okay sein.“, erklärte Takaya mit emotionsloser Stimme und war im Begriff zu gehen, als ihn Chiakis Worte daran hinderten.

„Hey!? Alles in Ordnung? Du hast meine Frage außerdem noch nicht beantwortet! Wie geht es Yuzuru nun?“, fragte Chiaki, der über Takayas seltsames Verhalten ein wenig beunruhigt war.

„Ihm geht es gut. Ich komme gerade von seinem Zuhause. Wir werden das Treffen vorerst ohne ihn abhalten und dann entscheiden, ob wir ihn anschließend einweihen. Also, bis später...“, entgegnete Takaya müde und ging davon.

Chiaki sah ihm besorgt hinterher und fluchte innerlich über die verfahrene Situation zwischen Naoe und Takaya. Er vermutete, dass die beiden nach ihrem Aufeinandertreffen in der Hütte noch kein klärendes Gespräch miteinander geführt hatten. Nicht, dass sie das vorher jemals wirklich getan hätten. Aber nach den Wochen der Sorge um Naoe, der sich absichtlich völlig zurückgezogen hatte, um Takaya nicht in Gefahr zu bringen, war ihre, auf den ersten Blick zerbrechliche, Beziehung zum Zerreisen gespannt.

Chiaki war sich sicher, dass Takaya mit der aktuellen Situation fertig werden würde. Aber auf lange Sicht gesehen, hoffte er einfach, dass Naoe den erforderlichen Schritt auf Takaya zugehen würde, damit die Spannung ein wenig nachließe – eine Aussprache war mehr als nötig, so dass zumindest die neuen Wunden geheilt werden konnten.

„Okay. Dann werde ich wohl mal den Leuten Bescheid geben und hoffen, dass das Treffen nicht in einer Katastrophe endet...“, murmelte Chiaki skeptisch, der sich ebenfalls von der Schaukel erhob, sein Telefon hervor zog und Naoes Nummer wählte.
 


 

Ernüchtert über Chiakis beunruhigende Neuigkeiten, spazierte Takaya mit hängendem Kopf gedankenversunken auf dem Gehweg, der ihn direkt nach Hause führen würde. Er dachte an Yuzuru und fluchte laut.

Takaya hatte die Hoffnung gehabt, dass vorerst niemand weiter Interesse an Yuzuru und seiner unerklärlichen Kraft zeigen würde, und sie sich daher allein auf Shishido konzentrieren konnten. Aber das nun dem Anschein nach ihre Gruppe gleichzeitig von zwei unterschiedlichen Seiten unter Druck gesetzt wurde, passte ihm überhaupt nicht in den Kram.

Über Shishidos Beweggründe besaßen sie nach wie vor kaum Informationen und was die hinzugekommene Seite anging, tappten sie womöglich noch mehr im Dunklen – außer Naoe konnte morgen unerwartet Genaueres berichten, was Takaya inständig hoffte.

„Verdammt... Kann denn nicht eins nach dem anderen kommen?!?“, sprach Takaya verärgert, der gleichzeitig hörte, dass sich ein Auto näherte. Augenblicklich schärfte er seine Sinne und warf einen Blick hinter sich, um zu überprüfen, wo sich das Auto befand. Nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte, ging er mit selbstsicheren Schritten weiter den Fußweg entlang.

Das Auto war Takaya zwar nicht vertraut, aber er hatte auch nicht das Gefühl, dass ihm irgendeine Gefahr drohte. Er versuchte sich zu entspannen und hoffte, dass der Wagen ihn bald überholte, und er sich wieder seinen frustrierenden Gedanken widmen konnte.
 

Nach ungefähr zwanzig weiteren Schritten bemerkte Takaya, dass das Auto aufgeschlossen hatte und langsam neben ihm herfuhr. Er blickte neugierig rüber und versuchte angestrengt zu erkennen, wer hinter dem Steuer saß, aber die Dunkelheit ließ es nicht zu.

Takayas Gedanken begannen zu rasen. Die Tatsache, dass der Wagen nicht den Eindruck erweckte, dass er jeden Moment wieder an Geschwindigkeit zunehmen würde, um ihn hinter sich zu lassen, ließ seine Anspannung erneut ansteigen. Er blieb abrupt stehen und drehte sich gereizt dem Auto zu, das ebenfalls seine Fahrt gestoppt hatte.

Takaya begann seine Kräfte zu konzentrieren, um möglichst schnell einen Schutzschild aufbauen zu können, falls es nötig wäre, und starrte ungeduldig auf das Fahrzeug.

Einen kurzen Moment später öffnete sich die Fahrertür und eine Person stieg aus, die Takaya einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Überrascht hielt er den Atem an und stierte fassungslos zu der Person rüber, die er für sein Gefühlschaos verantwortlich machte.

„Naoe...“, flüsterte er verzweifelt, während er seine Hände zu Fäusten ballte. Naoe erwiderte seinen Blick gelassen und lächelte.

„Soll ich dich nach Hause fahren, Takaya?“, fragte Naoe erwartungsvoll, während er seine Arme locker auf das Autodach legte und Takaya von oben bis unten musterte.
 


 

Takaya saß aufgewühlt auf dem Beifahrersitz und blickte zum wiederholten Male verstohlen zu Naoe rüber, der seinerseits stumm den Wagen fuhr. Seit Beginn ihrer Fahrt hatte Naoe weder ein Wort mit ihm gewechselt, noch hatte er in seine Richtung geschaut. Naoes konzentrierter Blick war stur auf die Straße vor ihm gerichtet, so dass Takaya das Gefühl hatte, dieser hätte seine Anwesenheit schlichtweg vergessen.

Takaya wusste nicht, was er jetzt machen sollte. Auf der einen Seite gab es so vieles, was er von Naoe wissen wollte, aber er nicht wusste, wie er danach fragen sollte. Auf der anderen Seite hingegen war er so voller Zorn, dass es ihm mit jeder Minute schwerer fiel, einfach nur still zu sitzen und darauf zu warten, dass Naoe endlich eine Reaktion zeigen würde. Takaya hätte Naoe am liebsten am Kragen gepackt und alles aus ihm heraus geschüttelt.

Verdammt, verdammt...verdammt! Sag endlich etwas! Behandle mich nicht wie Luft..., flehte Takaya innerlich, der sich nicht entscheiden konnte, welcher Gefühlsregung er den Vorrang lassen sollte.
 

Wie sehr sich Takaya auch anstrengte, Naoes Verhalten verstehen zu wollen, kam er letztendlich nicht umhin sich einzugestehen, dass er dabei keine befriedigende Lösung erhielt. Es widerte ihn beinah an, dass Naoe so gelassen neben ihm sitzen konnte und es dadurch den Anschein hatte, als hätten sich die Wochen der Gefangenschaft überhaupt nicht ereignet.

Takaya biss sich gedankenverloren auf seine Unterlippe und schmeckte Blut. Überrascht darüber, zuckte er kaum merklich zusammen und sah verlegen aus dem Beifahrerfenster.

Gut, gut...du hast gewonnen, Naoe! Wenn du nichts sagst, dann werde ich es eben tun...

Takaya verzog für einen Moment verärgert das Gesicht, und konzentrierte sich anschließend auf seine Atmung. Er musste ruhiger werden. Wenn nicht, dann befürchtete er, dass er bei der kleinsten falschen Bemerkung in die Luft gehen würde. Diese Genugtuung wollte er Naoe nicht geben – zu oft hatte dieser in der Hinsicht schon über ihn triumphieren können. Takaya war sich bewusst darüber, dass der Altersunterschied zwischen ihm und Naoe einen Vorteil für diesen bedeutete, dennoch besaß er allein die uneingeschränkte Befehlsgewalt über ihn und den Rest der Gruppe. Er könnte Naoe also einfach den Befehl erteilen, alles zu erzählen, was er wissen wollte, aber dieser Gedanke erschien ihm nicht richtig.
 

Takaya bemerkte, dass sich seine anvisierte innere Ruhe in Luft aufzulösen begann. Er presste unzufrieden die Lippen aufeinander und sah erneut zu Naoe rüber. Dieser hatte unerwartet seinen Blick auf ihn gerichtet.

Ihre Augen trafen sich und Takaya hielt überwältigt inne. Es waren nicht viele Tage vergangen, seit er Naoe zuletzt in der Hütte gesehen hatte, dennoch verursachte ihm dessen Anblick erneut eine Gänsehaut.

Takaya hatte keine Ahnung, was in Naoes Kopf vorging, wenn dieser ihn so ansah. Dafür wusste er aber umso besser, was sich bei ihm selbst alles tat, wenn er in Naoes Augen blickte – neben seiner Wut und Unzufriedenheit, spürte er die immer stärker werdende Präsenz eines weiteren Gefühls, welches ihn mehr und mehr verunsicherte.

Takaya wollte und konnte es sich selbst noch nicht eingestehen, aber er spürte die immer größer werdende Zuneigung - daran gab es keinen Zweifel.

Die Wochen der Angst und Sorge um Naoe, und natürlich seine unbändige Wut auf diesen waren schon Beweis genug dafür. Aber auch die Tatsache, dass sein Herz vor Eifersucht und Sehnsucht schneller zu schlagen begann, wenn er daran dachte, dass Naoe unfreiwillig mit Shishido geschlafen hatte, ließ keinen Zweifel über seine wahren Gefühle Naoe gegenüber aufkommen.
 

Wenn Naoe ihm so wie jetzt in die Augen sah, hatte Takaya das Gefühl, dass dieser Dinge sah, die er selbst nicht sehen konnte. Es schien, dass Naoe in der Lage war, bis in die hinterste Ecke seiner Seele blicken zu können – eben zu jenen dunklen Flecken, die er selbst erst Stück für Stück zu beleuchten begann. Gerade dieses Gefühl der Entblößung, dass er bei Naoes intensiven Blicken unterschwellig empfand, machte ihm zu schaffen. Takaya fühlte sich unsicher, aber zugleich war er zornig, da er oder eher Kagetora sich selbst in diese Lage gebracht hatte.

Er wusste, dass er als Kagetora Naoe schon seit Jahrhunderten kannte, aber als Takaya dagegen erst seit kurzer Zeit. Er hatte inzwischen akzeptiert, dass Kagetora ein Teil von ihm, wie Takaya ein Teil von Kagetora war, dennoch hatte er häufiger das Gefühl, nicht zu wissen, wer er wirklich war.

Wenn er Naoe richtig verstanden hatte, dann war er schon immer Kagetora, nur eben ohne jene Erinnerungen. Diese hatten ja auch bis vor kurzem völlig abgekapselt in ihm geschlummert. Es ängstigte ihn nach wie vor, wenn jene ihn überrumpelten und er Dinge sah und spürte, die ihm fremd erschienen.

Auch wenn Takaya sich inzwischen damit abgefunden hatte, sich allen erfreulichen wie unerfreulichen Aspekten seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit öffnen zu müssen, so hatte er nun Schwierigkeiten herauszufinden, wem Naoes Liebe galt. Er war sich nicht sicher, wen dieser wirklich begehrte – ihn oder Kagetora. Aber wenn er und Kagetora ein und dieselbe Person waren, dann...
 

Takayas Gedanken kreisten ununterbrochen von einer Feststellung zur nächsten und wieder zurück, so dass er nicht mitbekam, dass Naoe ihn etwas gefragt hatte. Erst als sich dieser ein zweites Mal an ihn wandte, reagierte Takaya.

„Wa...was?“, brüllte Takaya überrascht und ärgerte sich über das Entgleiten seiner Stimme. Er bemerkte, dass sich Naoes Mund zu einem belustigten Lächeln formte.

„Hey! Kein Grund, sich gleich zu amüsieren!“, rief Takaya noch immer ungehalten in Naoes Richtung, der inzwischen wirklich lachte. Takaya wandte abrupt seinen Blick ab und sah nach vorn. Er genoss Naoes ausgelassenes Lachen.

Es war lange her, dass er ihn das letzte Mal so lachen gehört hatte. Takaya schluckte seinen Unmut herunter und lächelte besänftigt.

„Was für ein seltener Anblick... Du lächelst, Takaya!“, sprach Naoe beeindruckt mit seiner wohlklingenden Stimme.

„Wenn du das so sagst, werde ich das Gefühl nicht los, dass du dich über mich lustig machst.“, erwiderte Takaya argwöhnisch, der weiter unbeirrt auf die Straße vor ihm blickte.

„Ich würde nie auf die Idee kommen, mich über dich lustig zu machen. Die Äußerung war ernst gemeint! Außerdem steht dir das Lächeln besser als dein mürrischer Ausdruck...“, meinte Naoe vergnügt, der Takayas herannahendem Aufbrausen Einhalt gebot, indem er ihm unerwartet mit seiner Hand die Haare zerwuschelte. Takaya starrte daraufhin völlig perplex zu Naoe rüber, der inzwischen wieder beide Hände am Lenkrad hatte und mit einem entschuldigenden Lächeln die Straße hinter ihnen durch den Rückspiegel überprüfte.

„Wie geht es dir, Takaya? Kousakas Vorgehen in der Hütte war ja alles andere als sanft...“, fragte Naoe neugierig, der es nun wieder vermied, ihn anzusehen.

Takaya, der bei Kousakas Erwähnung Wut in sich aufsteigen spürte, holte tief Luft, um dieser freien Lauf zu lassen, als ihm augenblicklich Naoes liebevolle Worte und der Kuss zu jenem Zeitpunkt in den Sinn kamen. Verlegen senkte er den Kopf.

„Nicht annährend so sanft, wie eine gewisse andere Person...“, stellte Takaya mit leiser Stimme fest.

Naoe sah für einen kurzen Moment irritiert zu Takaya, der seinen Kopf noch immer gesenkt hielt und fragte sich, ob er das Gesagte richtig verstanden hatte.

Nicht so sanft, wie eine gewisse andere Person?! Was meinst du damit? Halt... Heißt das, du warst gar nicht... Hast du etwa alles mitbekommen?, dachte Naoe verblüfft und fuhr sich schuldbewusst mit der linken Hand durch die Haare. Er fühlte, dass eine leichte Röte seine Wangen überzog.

Dann haben Kousaka und ich dich tatsächlich unterschätzt... Aber warum hast du dich ruhig verhalten? Wolltest du auf diese Weise Kousakas Beweggründe herausfinden? Du überrascht mich immer wieder aufs Neue, Takaya...
 

Naoe fuhr langsam an eine rote Ampel heran und überlegte fieberhaft, was er nun sagen konnte. Es war nicht so, dass er sein Verhalten in der Hütte bereute. Aber die Tatsache, dass Takaya ihn bewusst miterlebt hatte, verunsicherte ihn etwas. Er fragte sich, was in Takayas Kopf alles vorgegangen sein musste, als er ihn einfach allein zurückließ.

Wäre er an Takayas Stelle gewesen, dann hätten Wut, Enttäuschung und Sehnsucht seine Gedanken bestimmt, aber erging es diesem genauso? Er hatte keine Ahnung.

Naoe beschleunigte die Fahrt wieder, als die Ampel auf grün schaltete und seufzte leise. Seine Hände umklammerten das Steuerrad ungewollt fester, als er erneut Takayas Stimme vernahm.

„Mir geht es gut. Was ist mit dir? Du hast schließlich in dem Auto gesessen, das den Abhang runtergesaust ist.“, fragte Takaya aufrichtig, der Naoe interessiert von der Seite anblickte.

Wenn Takaya an den Unfall zurückdachte, dann wurde ihm noch immer übel vor Sorge – Naoe hatte bei dieser Aktion sein Leben aufs Spiel gesetzt. Glücklicherweise war alles gut gegangen, dennoch verurteilte Takaya Naoes risikobereites Vorgehen.

Naoe hätte zu diesem Zeitpunkt nur noch eine kurze Weile ausharren müssen, dann hätten er und Kousaka sie eingeholt, aber so hatte Naoes selbstmörderisches Vorgehen ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Takayas abschweifende Gedanken wurden durch Naoes selbstsichere Antwort unterbrochen.

„Mit mir ist alles in Ordnung. Lediglich der ein oder andere blaue Fleck schmerzt hin und wieder, aber wie du siehst, wandle ich nicht unter den Toten.“, erwiderte Naoe scherzhaft und sah rüber zu Takaya. Dort traf er auf vor Wut blitzende Augen, die ihm den Atem raubten.

Tiger´s Eye..., dachte Naoe berauscht. Er hätte Takaya auf der Stelle küssen können, aber er wusste, dass das nicht möglich war. Nicht, solange sie ihre schwierige Beziehung ungeklärt ließen. Naoe machte sich keine Illusionen darüber, dass das schon in naher Zukunft geschehen könnte, dennoch gab er die Hoffnung nicht auf, Takaya irgendwann bedingungslos in den Armen halten zu können.

„War meine Frage etwa so lustig, Nobutsuna?!“, schleuderte Takaya Naoe bitter entgegen und starrte weiter unerschütterlich zu diesem rüber. Naoe wandte betroffen den Blick ab und blieb stumm.

„Ich habe dich etwas gefragt! Und ich will eine Antwort!“, beharrte Takaya weiter, der das Gefühl hatte, dass er vor lauter Abneigung nicht mehr atmen konnte. Er versuchte sich zu beruhigen.

Es tat ihm weh zu hören, dass Naoe so leichtfertig über diese Sache sprach. Takaya hütete sich davor, darüber nachdenken, was gewesen wäre, wenn Naoe diesen Unfall nicht überlebt hätte. Natürlich wäre dieser wiedergeboren worden, aber wann und wo? Takaya wollte Naoe nicht schon nach so kurzer Zeit verlieren. Es gab so vieles, was er noch erfahren musste und brauchte hierbei die Hilfe von Naoe. Er wollte Naoes völlige Untergebenheit. Er wollte dessen Vertrauen, er wollte nicht allein sein...

„Tut mir leid, Kagetora-sama...“, antwortete Naoe mit leiser Stimme. Takaya zuckte bei diesem Namen für einen Moment zusammen.

„Ich wollte nicht so sorglos klingen. Ich weiß, dass mein Verhalten nicht-“, begann Naoe seine Erklärung, aber er wurde dabei unsanft von Takaya unterbrochen.

„So?! Und welche deiner allein getroffenen Entscheidungen sind deiner Meinung nach fragwürdig?“, hakte Takaya erbarmungslos nach, der spürte, dass er es genoss, Naoe so unter Druck setzen zu können – aber zugleich stieß ihn sein eigenes Verhalten ab.

Takaya wäre es lieber gewesen, dass er mit Naoe in Ruhe darüber und über so vieles mehr hätte reden können, aber er schaffte es nicht. Er konnte seine aufbrausenden Gefühle einfach nicht im Zaum halten und hoffte, dass Naoes es ihm nachsah – so wie er es schon immer getan hatte.

„Keine meiner Entscheidungen war fragwürdig! Selbst als ich dich allein in der Hütte zurückließ, habe ich mit gutem Gewissen gehandelt!“, entgegnete Naoe mit fester Stimme.

„Verstehe.“, flüsterte Takaya verletzt, der sich wünschte, Naoe hätte ihm eine andere Antwort gegeben. Aber welche hatte er hören wollen? Dass Naoe ihm dennoch treu ergeben war? Dass er ihn trotz allem liebte? Dass es ihm Leid tat? Takaya war es aufgrund seines Gefühlschaos nicht möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Einzige, was er momentan wusste, war, dass er Naoes Gegenwart nicht länger ertragen konnte.

„Halt an.“, sprach Takaya unglücklich.

„Was?“ Naoe sah irritiert zu Takaya rüber, der sich anschickte, sich abzuschnallen.

„Du hast mich schon verstanden. Lass mich aus dem Auto raus!“, erwiderte Takaya ungeduldig, dessen Stimme wieder an Schärfe gewann.

„Warum? Nichts da! Ich fahre dich, wie vereinbart, nach Hause!“, antwortete Naoe mit zunehmender Besorgnis.

„Wenn du nicht sofort den Wagen anhältst, dann helfe ich dir gerne dabei!“, drohte Takaya, der nun Naoe in die Augen sah. Dieser erwiderte seinen Blick und presste angespannt die Lippen aufeinander.

„Ist es wirklich das, was du willst, Takaya?!“, fragte Naoe betrübt, der den Wagen auf leerer Straße wie befohlen an den Rand fuhr und anhielt.

„Muss ich darauf antworten?!“, entgegnete Takaya unberührt und öffnete die Beifahrertür. Als er begann, sich aus dem Sitz zu erheben, spürte er Naoes Hand auf seinem Arm, die ihn sanft daran hindern wollte. Er starrte auf sie hinunter und fühlte Unentschlossenheit in sich aufsteigen.

Takaya schloss für einen Moment die Augen, unterdrückte seine Sehnsucht und befreite seinen Arm von Naoes Hand. Er stieg aus und wollte die Tür schließen, als ihn Naoes Stimme davon abhielt.

„Takaya, warte...“, sprach Naoe wehmütig und stieg ebenfalls aus. Er sah über das Autodach hinweg zu Takaya, der ihn mit fragenden Augen anblickte.

„Es gibt einen Grund, warum ich dich allein treffen wollte.“, meinte Naoe miserable, da es ihm schwer fiel, dass bisherige Gesprächsthema einfach beiseite zu schieben. Er konnte Neugier in Takayas Blick erkennen.

„Chiaki hat mir gesagt, dass du wegen Yuzuru Bescheid weißt. Nun, was ich dir jetzt mitteilen werde, weiß bisher weder Kousaka noch Chiaki oder Haruie. Ich bin der Meinung, es sollte auch vorerst so bleiben.“, sprach Naoe leise, der aufmerksam die Umgebung musterte, bevor er erneut zu Takaya sah.

„Ich denke, dass es zwischen Shishido und der für uns noch unbekannten Seite, die es auf Yuzuru abgesehen hat, eine Verbindung gibt.“, berichtete er weiter, als Takaya ihn unterbrach.

„Was für eine Verbindung?“, wollte dieser alarmiert wissen.

„Es hat den Anschein, dass Shishidos Familie dahinter steckt. Shishido selber wird darüber wahrscheinlich nicht Bescheid wissen, da er mit seiner kompletten Familie gebrochen hat. Aber wenn die Informationen stimmen sollten, dann gibt es einen Grund mehr, ihn aufzusuchen.“

Naoe blickte abwartend zu Takaya rüber und versuchte, in dessen Gesicht eine Reaktion auf das eben Gehörte zu entdecken, aber seine Suche blieb erfolglos. Er spürte, dass seine innere Unruhe wuchs.

Ratlos verfolgte er, wie Takaya schweigend die Beifahrertür schloss und sich die Hände in die Jackentaschen steckte. Als er auf erneut auf Takayas Augen traf, sprühten diese nun förmlich vor Arroganz.

„Warum bist du der Meinung, dass die anderen erst einmal nichts über diese Verbindung erfahren sollten?! Ist das nicht kontraproduktiv? Nun, und dass Kousaka außen vor bleiben soll, kann ich noch nachvollziehen, aber unsere eigenen Leute? Das macht für mich keinen Sinn, Naoe.“, entgegnete Takaya skeptisch.

Naoe seufzte erleichtert, da er schon befürchtet hatte, dass Takaya überhaupt nichts dazu sagen würde.

„Kousaka vertraue ich nicht, aber das brauche ich nicht noch extra zu erwähnen. Und was unsere Leute angeht, nun, solange Kousaka sich in unserer Nähe aufhält, ist es besser, wenn wir ihm so wenige wie möglich potentielle Quellen zum Ausspionieren bieten. Nicht, dass ich an Chiakis und Haruies Verschlossenheit zweifeln würde. Ich denke aber, dass wir so die Angelegenheit besser im Auge behalten können und später, wenn nötig, werde die anderen eingeweiht.“, erklärte Naoe, der unter Takayas skeptischen Blick ein wenig unsicher wurde.

„Ich verstehe zwar noch immer nicht den Sinn und Zweck dieser Überlegung, aber wir werden es vorerst so machen, wie du es vorgeschlagen hast.“, stimmte Takaya Naoes Vorschlag zu.

„Wenn das dann alles war, werde ich mich jetzt auf den Weg machen!“, schloss Takaya eisig die Unterhaltung und war im Begriff sich umzudrehen, als ihm Naoes Stimme einen Schauer über den Rücken laufen ließ.

„Takaya...ich... Ich wollte nur noch sagen, dass ich...“, brachte Naoe stockend hervor, der das Gefühl hatte, dass ihm seine Sehnsucht nach Takaya den Hals zuschnürte. Er wollte Takaya umarmen, ihn küssen und ihn niemals mehr allein lassen, aber all diese Bedürfnisse fanden nicht den Weg in Form von Worten über seine Lippen. Frustriert über die eigene Schwäche brach er ab. Er blickte entschuldigend in Takayas Augen, die sich für einen Moment überrascht geweitet hatten. Naoe begann zu lächeln, als er erneut das Wort an Takaya richtete.

„Wenn ich dich wirklich nicht nach Hause fahren soll, dann werde ich mich hier jetzt verabschieden. Also bis morgen Abend, Takaya!“, sprach Naoe leise, der die eigene Niedergeschlagenheit nicht aus seiner Stimme fernhalten konnte. Takaya nickte stumm und drehte Naoe den Rücken zu, als er endgültig davonging. Naoe schaute ihm eine Weile verloren nach.

„Ich liebe dich...“, flüsterte er.

Naoe setzte sich anschließend schweigend zurück in den Wagen, wendete und fuhr davon.

Aufbruch

Arakawa starrte angespannt auf die Uhr an seinem Handgelenk, als er durch die Gänge der Privatklinik schritt. Es war kurz nach 23 Uhr, und wie es die späte Uhrzeit vermuten ließ, war trügerische Ruhe in die Klinik eingekehrt – lediglich die vereinzelten Stimmen des Nachtpersonals waren zu hören, die gedämpft aus den Aufenthaltsräumen hervor drangen.

Er schloss gewissenhaft die Jacke seines Anzuges und richtete die Krawatte, um seinem Herrn eine späte, aber erwartete Aufwartung zu machen.
 

Inzwischen konnte er den Weg zum Zimmer seines Herren mit erleichterten Schritten zurücklegen, da ihm die Ärzte mehrfach versichert hatten, dass es Shishido den Umständen entsprechend gut ginge und daher kein Grund zur Sorge bestünde. Arakawa war ein Stein vom Herzen gefallen, als er diese Worte gehört hatte, und Shishido zudem wieder zu Bewusstsein gekommen war.

Arakawa konnte noch immer nicht fassen, dass sein Herr in einen ernsthaften Unfall verwickelt worden war und er, als sein engster Vertrauter, diesen nicht hatte vorhersehen können. Noch mehr irritierte es ihn, dass Shishido selbst nichts getan hatte, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Arakawa kannte Shishido gut genug, um zu wissen, dass es eine Leichtigkeit für seinen Herrn gewesen wäre, den Wagen zu stoppen und sich in Sicherheit zu bringen. Aber aus irgendeinem Grund hatte dieser das nicht getan, und genau dieser Punkt war es, der Arakawa Kopfzerbrechen bereitete.

Sein Herr war stark, und hatte zudem eine Vielzahl an loyalen Untergebenen in allen Teilen des Landes – ganz zu schweigen von der Unterwelt. Dennoch spürte Arakawa ab und an eine Leere in seinem Herrn, die er weder mit Worten fassen noch füllen konnte. Er glaubte zwar nicht, dass Shishido sein Leben leichtfertig auf Spiel setzen würde, aber er musste sich eingestehen, dass sich erneut in der hintersten Ecke seines Herzens Furcht ausgebreitet hatte, von der er glaubte, sie hätte sich längst aufgelöst.

Shishido musste sich bei dieser riskanten Aktion etwas gedacht haben, aber er war noch nicht bereit, ihn an seinen Gedanken teilhaben zu lassen.
 

„Nobutsuna...“, zischte Arakawa angewidert, der dessen arrogante Unterweisung am Telefon nicht vergessen konnte. Dieser Mann war ihm von Anfang an zuwider und er konnte, oder besser, wollte seinen Herren in dieser Sache nicht verstehen. Warum sich mit Naoe abgeben, wenn es einfachere Wege gäbe, Kagetora herauszufordern?!

Arakawa war sich bewusst, dass Eifersucht und Besitzdenken seine Gedanken und Gefühle bestimmten, aber er war auch nicht in der Lage, diese abzulegen. Dafür schaffte er es aber meisterhaft, alles hinter einer neutralen Maske zu verstecken, wenn er zum Beispiel nicht allein mit Shishido war. Niemand war daher bisher in der Lage gewesen, hinter seine Fassade zu blicken, um dadurch seine wahren Gefühle zu entdecken – nun, niemand bis auf sein Herr selbst. Dieser hatte ihn längst völlig durchschaut, und seinen Vorteil aus dieser Sache gezogen.

Arakawa war seinem Herrn absolut loyal ergeben und nahm jede noch so fiese Behandlung in Kauf, so lange er dabei die Möglichkeit besaß, Shishido damit näher zu kommen als andere. Wenn er sich in diesem Zusammenhang Naoe ins Gedächtnis rief, der nicht nur einmal mit seinem Herrn geschlafen hatte, auch wenn hierbei nicht von freiem Willen gesprochen werden konnte, so spürte er doch sofort den heißen Stachel seiner Eifersucht – Eifersucht und Mordgelüste. Diese zwei sich gefährlich ineinander schlingenden Gefühle, brodelten zurzeit besonders unnachgiebig in ihm, so dass er die Befürchtung hatte, sich bald nicht mehr unter Kontrolle zu haben.
 

Arakawa seufzte kraftlos, während er in den nächsten Gang einbog, auf dem das Zimmer seines Herrn lag. Die Vorfreude, Shishido ein weiteres Mal an diesem Tag sehen zu können, veranlasste ihn dazu, die finsteren Gedanken zu verdrängen und seinen Schritt zu beschleunigen. Während er sich mit zunehmender Selbstsicherheit Shishidos Zimmer nährte, stahl sich unbewusst ein attraktives Lächeln auf sein Gesicht.
 

Shishido stand mit neu gewonnener Kraft am Fenster seines schwach beleuchteten Zimmers, und starrte gedankenverloren hinaus in die Nacht. Er kippte das Fenster, und lehnte sich seitlich davon an die Wand, um die kühle Nachtluft einatmen zu können.

Erleichtert schloss er seine Augen und dachte an morgen. Da würde er endlich die Klinik verlassen können, und anschließend sein Anwesen aufzusuchen. Dort hatte er genug Zeit, und vor allem Ruhe, um über die weiteren erforderlichen Schritte nachdenken zu können.

„Naoe...“, flüsterte er wehmütig, als ihm die letzten Minuten vor dem Unfall wiederholt in den Sinn kamen.
 

Shishido hatte eigentlich viel früher mit dem Aufbegehren Naoes gerechnet und war umso überraschter, dass dieser sich so lange Zeit gelassen, und dann einen äußerst riskanten Weg der Flucht gewählt hatte. Aber andererseits erwartete er nichts anderes von einem Mann, der seit mehr als 400 Jahren einer einzigen Person bedingungslos ergeben war - gut, vielleicht nicht bedingungslos, denn diese erhoffte sich von Kagetora nichts anderes als die Erwiderung der eigenen Gefühle.

Damit hatte Naoe aber bisher wenig Erfolg gehabt, und Shishido nahm an, dass sein kleines aufregendes Intermezzo mit ihm deren Entwicklung gehörig zurückgeworfen hatte – zumindest war ein kleiner Teil seines Planes aufgegangen.

Dennoch musste er sich eingestehen, dass er Kagetora ungewollt unterschätzt hatte. Wer konnte auch ahnen, dass dieser es tatsächlich schaffen würde, Naoe aufzuspüren und zudem ohne große Anstrengung in der Lage war, seinen Ring der Versiegelung zu brechen. Natürlich wusste Shishido, dass Kagetora nur deshalb leichtes Spiel gehabt hatte, weil er durch den Unfall körperlich geschwächt war, trotzdem war er von dem beeindruckt, was dieser ihm geboten hatte.

„Kagetora... Ich freue mich auf unser nächstes Zusammentreffen! Bei diesem werde ich DIR dann ohne Zweifel überlegen sein...“, sprach Shishido mit Entschiedenheit, der einer erneuten Begegnung voller Zuversicht und wachsender Erregung entgegen blickte.
 

Shishido öffnete seine Augen und sah seitlich über seine Schulter hinweg erneut zum Fenster hinaus, als er ein leises Klopfen an der Zimmertür vernahm.

„Wenn das mal nicht Arakawa ist...“, sagte er leise und blickte neugierig zur Tür, die einen Augenblick später geöffnet wurde.

Shishido erkannte den Umriss seines vertrauten Untergebenen, und lächelte für einen Moment zufrieden. Dieser Mann würde alles für ihn, sogar sterben, wenn er es ihm befehlen würde. Diese Situation war ihm nur zu bekannt und er fragte sich, ob es tatsächlich reiner Zufall war, der dazu geführt hatte, dass er es im Hier und Jetzt mit Kagetora und dessen verkorkster Beziehung zu tun bekam.

Ob Zufall oder nicht, spielte letztendlich für Shishido keine Rolle, denn der Weg, den er eingeschlagen hatte, war der seine, und an Schicksal glaubte er nicht – nicht mehr, seit dem Tod Houjou Ujiteru.
 

„Shishido-sama.“

Shishido hörte Arakwas vertraute Stimme, dessen attraktiver Klang unter anderem dazu geführt hatte, dass er sich diesen vor langer Zeit zu sich ins Bett geholt hatte. Somit war Arakawa die einzige andere Person, der er es je erlaubt hatte, ihn „zu nehmen“ – und das tat dieser mehr als geschickt.

Arakawas Berührungen, deren Basis Erfurcht und bedingungslose Liebe war, brachten Shishido jedes Mal in einen Zustand völliger Ausgeglichenheit, die er heimlich genoss. Arakawa hatte von seinem Einfluss keine Ahnung, und so sollte es Shishidos Meinung nach auch bleiben. Er befürchtete nämlich, dass das die bestehende Grenze zwischen ihnen nicht aushalten würde, und ihr Umgang miteinander eine lästige Richtung einschlagen würde.

Die akuten Anzeichen solch einer beschwerlichen Entwicklung waren für Shishido nicht zu übersehen – er musste dabei nur an Naoe denken.

Shishido wusste, dass Naoes Anwesenheit in seinem Bett ein Dorn in Arakawas Auge gewesen war, und dieser seine aufbegehrenden Gefühle vorsorglich hinter der aufgesetzten Maske versteckt hatte – diese Maßnahme funktionierte aber nicht in seine Richtung.

Shishido nahm an, dass es Arakawa große Selbstbeherrschung gekostet hatte, nach dem Unfall nicht eigenhändig nach Naoe zu suchen, um diesen seinen Schmerz und seine Angst spüren zu lassen.

Shishido senkte seufzend den Kopf, als Arakwa erneut sprach.
 

„Shishido-sama? Fühlt Ihr Euch nicht wohl? Vielleicht solltet Ihr Euch noch etwas ausru-“, begann Arakawa besorgt, der aber von Shishidos beherrschender Stimme grob unterbrochen wurde.

„Komm her!“

Arakawa zögerte nicht einen Moment, und ging einen weiteren Schritt auf seinen Herrn zu. Dieser hatte seinen Kopf inzwischen wieder gehoben, und blickte Arakawa nun mit funkelnden Augen entgegen.

„Noch näher... Ich will dein Gesicht deutlich sehen können.“, flüsterte Shishido begierig, der wusste, das er mit seinem Verhalten Arakawa in die Ecke drängte.

„Ich kann auch das Licht-“

Was als nächstes geschah, wurde Arakawa erst hinterher bewusst, als dieser sich enttäuscht und voller Verlangen an die Wand lehnte.

Während er dabei gewesen war, Shishido seinen Vorschlag zu unterbreiten, sah er dessen Hand nach vorne schnellen, um ihn am Kragen zu fassen und zu sich zu ziehen. Eine Sekunde später befand er sich auch schon mit dem Rücken zur Wand und spürte die weichen Lippen seines Herrn, die eine heiße Spur in seinem Gesicht und auf seinem Hals hinterließen.

Arakawa war nicht in der Lage gewesen zu reagieren, so sehr war er erstaunt über Shishidos Aktion, an die er eigentlich gewöhnt sein müsste. Dennoch, es war schon eine Weile her, seit ihn dieser das letzte Mal geküsst hatte. So tat er nichts Weiteres, als die körperliche Nähe seines Herrn in sich aufzusaugen, da er nicht wusste, wann er diesem das nächste Mal so nah kommen würde.
 

„Er ist dir überhaupt nicht ähnlich...“, sprach Shishido unerwartet nüchtern, der sich Richtung Bett begab, und seinen Vertrauten allein an der Wand stehen ließ.

Arakawa, den Shishidos Worte irritierten, trat von der Wand weg und räusperte sich leise. Er atmete tief ein, und spürte seine wiederkehrende Selbstsicherheit. Arakawa begann zum zweiten Mal an diesem Abend seine Kleidung zu richten, bevor er erneut das Wort an Shishido richtete.

„Ich habe Neuigkeiten, Shishido-sama. Wollt Ihr sie jetzt hören, oder morgen auf der Fahrt zum Anwesen?“, fragte Arakawa unentschlossen, der seinen Herrn nicht aus den Augen ließ, während es sich dieser unter der Bettdecke gemütlich machte.

„Seit wann so unsicher, Arakawa? Ich hatte dir, wenn ich mich recht erinnere, doch befohlen, mich umgehend über Neuigkeiten zu informieren. Wenn ich es anders haben wollte, hätte ich es dich wissen lassen. Nun, aber aufgrund der späten Uhrzeit und meiner unbefriedigten Stimmung, halte ich es für besser, wenn du dich kurz fasst, ja?“, erwiderte Shishido gereizt.

„Wie Ihr es wünscht, mein Herr. Es gibt zwei neuere Entwicklungen, über die kurz berichten werde. Die erste betrifft Naoe. Dieser hat seine Suche nach Euch unterbrochen, und hat sich auf den Weg nach Matsumoto gemacht. Ich gehe davon aus, dass er sich dort mit Kagetora und dem Rest der Gruppe treffen wird. Wir wissen bisher noch nicht, welche ihre nächsten Schritte bezogen auf Euch sein werden, aber wir arbeiten dran. Die zweite Neuigkeit, die mich persönlich und aus ganz anderer Richtung erreicht hat, ist sehr unerwartet, wie ich finde. Euer Vater scheint starkes Interesse an Narita Yuzuru zu zeigen, der unter dem Schutz der Kagetora-Gruppe steht.“

Während Arakawa gewissenhaft seinen Vortrag hielt, studierte er das Gesicht seines Herrn aufs Genauste. Er war sich sicher, dass die überraschende Erwähnung dessen Vaters etwas in seinem Herrn auslösen würde und wollte bereit sein, ihn, falls nötig, aufzufangen.
 

Arakawa kannte nicht alle Details aus Shishidos bisherigem Leben. Am wenigsten wusste er über dessen Kindheit Bescheid, aber auch ihm blieb nicht verborgen, dass sein Herr auf seine Familie, und vor allem auf den eigenen Vater nicht gut zu sprechen war. Arakawa hatte natürlich die Gerüchte vernommen, die sich um deren Beziehung gesponnen hatten. Er schenkte den meisten davon wenig Aufmerksamkeit, dennoch, das ein oder andere beruhte auf tatsächlichen Begebenheiten, die Shishido ihm unerwartet im Laufe seiner Arbeit unter ihm bestätigt hatte.

Alles, was Arakawa gehört hatte, war von Gewalt durchdrungen. Jeder Aspekt des damaligen Lebens seines Herrn beinhaltete Folter und Grauen, so dass es für Arakawa noch immer ein Rätsel war, dass Shishido noch keine rachegeleiteten Schritte gegenüber seiner Familie unternommen hatte.

Arakawa wusste, dass sie Houjou Ujiteru zu großem Dank verpflichtet waren. Wäre dieser Mann nicht im Leben seines Herrn aufgetaucht, dann würde Arakawa sehr wahrscheinlich nicht hier stehen und Shishido bereitwillig dienen können.

Shishidos mürrische Stimme unterbrach Arakawas Gedanken.
 

„Narita Yuzuru?“, fragte Shishido, der zwar gelangweilt gähnte, aber, dem ungeachtet, Arakwa einen äußerst neugierigen Blick zuwarf.

„Ja, mein Herr. Wie Ihr wahrscheinlich wisst, hat dieser junge Mann immense Kräfte, deren Herkunft noch ungeklärt ist. Etliche Kriegsfürsten der Unterwelt sind an jenen mehr als nur interessiert. Kagetoras Gruppe hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, Narita Yuzuru zu beschützen. Wir wissen nicht, ob sie selbst insgeheim planen, dessen Kräfte im Kampf gegen die Kriegsfürsten einzusetzen.“, erläuterte Arakwa erleichtert, da er nicht das Gefühl hatte, dass die Neuigkeit über den Vater Shishido quälten.

„Und mein Vater will diesen jungen Mann benutzen, um was zu tun?“, richtete Shishido seine Frage im verächtlichen Tonfall an Arakawa, der für einen Moment nicht wusste, was er erwidern sollte. Arakawa war die Veränderung der Stimmung seines Herrn völlig entgangen.

„Nun, also... Es gibt bisher noch keine Anhaltspunkte diesbezüglich, aber ich denke, dass-“

Shishidos laute Stimme ließ Arakawa zusammenfahren.

„Arakawa! Ich habe dich nicht nach deiner MEINUNG gefragt. Ich will, dass du mir FAKTEN bringst, und zwar so schnell wie möglich. Du kannst gleich damit anfangen...“, donnerte Shishido, dem Arakawas betroffenes Gesicht etwas Befriedigung verschaffte.

„Wie Ihr wünscht, Shishido-sama. Ich werde mich sofort darum kümmern.“

„Gut. Ich habe nichts anderes erwartet. Ich werde hier auf deine Ankunft warten und hoffe, dass du mir auf der Fahrt nach Wajima Interessantes berichtest. Du kannst jetzt gehen.“, entgegnete Shishido, dessen Stimme nun wieder von Langeweile geprägt war. Er sah seinem engsten Vertrauten nach, wie dieser das Zimmer verließ und leise die Tür hinter sich schloss.

„Das könnte interessant werden. Oder was meinst du, Kagetora?“, sprach Shishido amüsiert zu sich selbst, dem die unerwartete Entwicklung seitens seiner Familie, der er vor langer Zeit den Rücken gekehrt hatte, überhaupt nicht störte. Im Gegenteil, so bekam er die Möglichkeit, gleichzeitig zwei störende Aspekte seines Lebens auszulöschen.
 


 

Der Mann, der auf der Rückbank der schwarzen Limousine saß, war alt. Dennoch, die, die ihn besser kannten, wussten, dass das Äußere jener Person trügerisch über dessen wahre Fähigkeiten hinwegtäuschte.

Der unbekannte ältere Herr sah seitlich interessiert aus dem Fenster, hinauf zu einem Untergebenen, der gerade dabei war, ihn über die letzten Neuigkeiten zu informieren.

„So? Ihr habt ihn endlich aufgespürt. Dann vergeudet keine Zeit, und bringt ihn zu mir – unversehrt natürlich.“, sprach der alte Mann mit einer wohlklingenden tiefen Stimme, und wandte sich nach seinen Worten von dem jungen Mann ab, der seinen Befehl entgegen genommen hatte.

„Ja, mein Herr.“, antwortete dieser eifrig, als er sich ehrerbietig verbeugte und in dieser Haltung ausharrte, bis der Wagen seines Herrn abfuhr. Wenige Sekunden später richtete er sich auf und gab harsche Befehle.

„Ihr habt es selbst gehört. Wir werden uns sofort auf den Weg machen. Kobayashi-kun! Du und deine Männer begebt euch sofort zur vereinbarten Stelle. Dort wartet ihr auf mein Zeichen. Ich werde mich persönlich an die Ferse des Jungens heften, sobald dieser die Schule verlässt. Wenn unsere Quelle recht behält, dann müsste er heute allein unterwegs sein. Seht zu, dass ihr eure Arbeit gescheit ausführt, denn ein Versagen werde ich nicht tolerieren! Los, Abmarsch!“, rief der junge Mann tatendurstig, während er seine Männer dabei beobachtete, wie diese in den geparkten Autos verschwanden und in verschiedene Richtungen davonfuhren. Er schlug begeistert die Faust in die Handfläche und machte sich auf zum letzten verbliebenen Wagen, in den er einstieg und den Motor startete. Er sah für einen Moment sich versichernd auf den Beifahrersitz, auf dem eine große halbgeöffnete Tasche stand, aus der der schwarze Lauf eines Gewehres hervorragte. Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht, während er fröhlich pfeifend den abgelegenen Parkplatz hinter sich ließ.
 


 

Yuzuru sah zum vertrauten Fluss hinab, auf dessen Oberfläche sich das Sonnenlicht in der leichten Wellenbewegung des Wassers brach. Er saß an der sanft abfallenden Böschung im Grass, und aß Gedanken versunken einen Schokoriegel.
 

In seinem Kopf drehte sich alles um die letzten Minuten vor Takayas gestrigen Aufbruch. Yuzuru hatte sich über die ausgelassene Stimmung gefreut, obwohl er wusste, dass diese Takayas Innerstes nicht wirklich erreicht hatte. Dennoch wagte er zu behaupten, das sein bester Freund durchaus etwas von seiner Anspannung verloren und die Zeit mit ihm genossen hatte.

Yuzuru war sich der Verschlossenheit Takayas nur zu bewusst, gleichwohl war er in der Lage, eine kleine Veränderung in Takayas Verhalten diesbezüglich zu entdecken, die ihm große Freude bereitete. Er würde der langsamen Wandlung mit Zuversicht entgegen blicken und Takaya, falls nötig, hilfreich zur Seite stehen, auch wenn er sich noch nicht ganz sicher darüber war, wie er das anstellen sollte.

Yuzuru seufzte leise, während er erneut in seinen süßen Riegel biss.
 

„Wenn er dir nicht schmeckt, dann gib ihn mir!“

Yuzuru sah im Augenwinkel eine Hand heranschnellen, und brachte grinsend seinen Riegel in Sicherheit.

„Hey! Habe ich das etwa gesagt!?“ entgegnete er vergnügt, während er angestrengt mit einer Hand versuchte, Takayas attackierende festzuhalten.

„Hm... Theoretisch nicht, aber wer praktisch so desinteressiert und seufzend einen Schokoriegel isst, dem kann er nicht schmecken. Also, bevor er verkommt... Gib ihn schon her!“, antwortete Takaya amüsiert. Er warf Yuzuru verspielt auf den Rücken und drückte ihn sanft mit einer Hand zu Boden, um mit der anderen Hand den Riegel erreichen zu können.

„Ey! Was machst du da? Nicht, lass das! Der ist mir, und natürlich schmeckt der! Was ist denn das für eine bescheuerte Erklärung von dir! Warte, ich ha-“

Yuzuru konnte nicht zu Ende sprechen, das sich Takaya plötzlich auf seinen Oberkörper setzte und mit den Knien seine Oberarme fixierte.

„Woah... Das tut weh, Takaya!“, brachte Yuzuru halb vergnügt, halb gequält hervor, als er fühlte, dass Takaya ihm den angebissenen Riegel aus der Hand schnappte. Dieser steckte sich den Rest des Riegels vor seinen Augen komplett in den Mund. Während Takaya genüsslich kaute, grinste er schelmisch von einem Ohr zum anderen, so dass Yuzuru in seiner Überraschung nicht anders konnte, als laut loszulachen.

Yuzuru lachte noch immer, als sich sein bester Freund schon längst wieder neben ihn gesetzt hatte, und ihm einen mürrischen Blick zuwarf.

„Also echt, Takaya... Manchmal verhältst du dich wie ein Grundschüler...“, meinte Yuzuru fröhlich lachend, der sich wieder unter Kontrolle hatte und ein weiteres Mal zum Fluss starrte.

„Das sagt der Richtige, wenn ich mir da so die Verpackung des Riegels ansehe, auf dem ein grinsender Doraemon abgebildet ist... Aber ich muss zugeben, der ist lecker!“, meinte Takaya zufrieden, der sich das bunte Papier in seine Jackentasche steckte.

„Ja ja, schon gut. Ich habe noch einen ganzen, falls der halbe deine Gelüste nicht gestillt haben sollte.“, bot Yuzuru gutgelaunt an, der in seiner Tasche nach dem zweiten kramte.

„Nee. Lass mal. Heb ihn dir für später auf!“, schlug Takaya Yuzurus Angebot dankend ab, und stand auf. Yuzuru sah fragend zu ihm hoch, als sie beide von einer leichten Windböe erfasst wurden, die Takaya die dunklen Haare aus dem Gesicht wehte. Yuzuru starrte fasziniert zu seinem Freund hinauf, der seine Augen gedankenverloren auf den Fluss gerichtet hatte. An Takayas melancholischem Gesichtsausdruck konnte Yuzuru erkennen, dass dieser weit, weit weg an einem Ort war, den er niemals sehen würde.

Yuzuru spürte für einen winzigen Augenblick Traurigkeit in sich aufsteigen, die sich mit dem Gefühl des Ausgeschlossen-Seins vermischte. Er unterdrückte diese Gefühle so gut es ihm möglich war, und wollte sich ebenfalls hinstellen, als er Takayas lautes Brüllen vernahm, dass in dem Geräusch eines Schusses unterging.

„Bleib unten und leg dich flach hin! Sofort!“, befahl Takaya, der sich im gleichen Moment an den Arm fasste und ein gequältes Stöhnen von sich gab. Er kniete sich neben Yuzuru nieder, und sah sich suchend um.

„Takaya?! Alles in Ordnung? War das ein-“

Yuzuru konnte nicht zu Ende sprechen, da er erneut das Geräusch hörte, und im nächsten Moment der unsichtbare Schutzschild um sie herum aufleuchtete, als die Patrone auftraf.

„Verdammt! Ich kann den Schützen nirgends sehen. Du etwa?“, fragte Takaya angespannt, der sich wieder aufrichtete.

„Hey! Nicht, was ist, wen-“, brach Yuzuru angsterfüllt ab und sah, dass Takaya noch immer seinen Arm hielt.

„Bist du verletzt?“, rief er besorgt und wollte sich ebenfalls hinstellen, als ihn Takayas gebieterische Stimme innehalten ließ.

„Ich habe gesagt, dass du unten bleiben sollst! Mir geht es gut, und der Schutzschild ist mehr als genug für derlei Waffen. Wenn ich bloß-“

Takaya blickte sich ein weiteres Mal aufmerksam suchend um, als er auf der Brücke, die sich in 50 Meter Entfernung befand, zwei schwarze Wagen entdeckte. Der eine setzte sich gerade langsam in Bewegung, und kam in ihre Richtung, während aus dem Fahrerfenster des zweiten Wagens der Scharfschütze erneut auf sie schoss. Auch dieses Mal glühte der Schutzschild um sie herum auf und Yuzuru meinte, ein leises elektrisches Knistern zu hören.

„Das ist nicht gut. Wir müssen hier weg, so schnell wie möglich.“, beschloss Takaya alarmiert, der Yuzuru mit seinem unverletzten Arm zu sich hochzog.

„Ich kann zwar nichts Außergewöhnliches bei ihnen entdecken, aber ich bin mir sicher, die werden nicht die einzigen bleiben. Bleib ganz dicht bei mir, hörst du? Wir werden jetzt gemeinsam hoch zum Weg gehen und-“

Die quietschenden Reifen eines Motorrades ließen Takaya abrupt stoppen. Er sah beunruhigt die Böschung hinauf und entdeckte dort Haruie, die ihm erleichtert zuwinkte, während sie sich selbst mit einem Schutzschild umgab. Sie zog sich anschließend den Helm vom Kopf, und lächelte ihnen ermutigend zu.
 

„Hey Kagetora! Alles okay da unten?“, rief sie besorgt, als sie einen Blick auf dessen Arm geworfen hatte.

„Kümmere dich nicht um mich, sondern sieh zu, dass du dem Wagen, der auf dem Weg hierher ist, etwas entgegensetzen kannst, damit ich Yuzuru in Sicherheit bringen kann.“, befahl Takaya befreit, dem ein Stein vom Herzen gefallen war, als er Haruie erkannt hatte. Er wusste, dass er ihr die Sache hier vorerst überlassen konnte, wenn nicht unerwartet noch mehr auftauchen würde.

„Okay. Aber ich denke, ihr solltet noch einen Moment warten, da Naoe mit dem Wagen auf dem Weg hierher ist. Ihr seid besser beraten, wenn ihr mit dem Auto verschwindet.“

Als Naoes Name fiel, zog sich Takayas Brust für den Bruchteil einer Sekunde schmerzhaft zusammen, aber er war froh zu hören, dass sie ihre Flucht dadurch erleichtern konnten.

„Verstanden. Wir kommen jetzt hoch!“, sprach Takaya mit belegter Stimme, der zusammen mit Yuzuru den Rest der Böschung nahm.
 

Takaya sah, dass Yuzuru mit jedem Geschossaufprall zusammen zuckte. Er überlegte für einen Moment, ob er mit seiner Kraft vorauszugreifen sollte, um die Patronen vor ihrem Aufschlag zu stoppen, aber er entschied sich dagegen. Takaya wusste noch nicht, wie viel Energie er für ihre Flucht benötigen würde und hielt es daher für besser, so wenig wie möglich zu verbrauchen.

In dem Augenblick, als sie den Weg oberhalb des Abhangs erreicht hatten und neben Haruie zum Stehen gekommen waren, raste von hinten ein Auto heran, welches Takaya nur zu bekannt vorkam.

„Kousaka...“, presste er zerknirscht hervor, als der Wagen dicht vor ihnen hielt und Naoe aus der Beifahrertür sprang. Takaya erweiterte augenblicklich den Radius seines Schutzschildes, so dass dieser Naoe und den Wagen ebenfalls umfasste.

„Kagetora-sama!“, rief Naoe mit einem erleichterten Gesichtsausdruck, der sich aber sofort verdüsterte, als er den Blick auf Takayas Arm richtete.

„Eine Verletzung?!“, fragte er leicht besorgt und kam einen Schritt auf sie zu.

„Uns geht es gut. Wir sollten fahren.“, meinte Takaya gereizt, als er erneut einen Blick auf Kousaka warf, der ihm unverschämt aus dem Wagen entgegen grinste.

Naoe folgte Takayas Blick, und für einen Moment nahmen seine Augen einen bekümmerten Ausdruck an.

„Takaya, ich-“, begann Naoe unsicher, der aber durch Takayas ignorierende nächsten Worte grob unterbrochen wurde.

„Haruie! Ich kann dich hier allein lassen, oder?“, fragte dieser ernsthaft, als er mit Yuzuru zum Fahrzeug lief.

„Yepp! Kein Problem, aber ihr solltet euch schleunigst losmachen. Ich werde hier die Stellung halten, und anschließend zu Chiaki fahren. Ich hoffe, dass ihr bis dahin zum sicheren Unterschlupf gelangt seid, damit wir später die nächsten Schritte in Ruhe besprechen können. Bis dann!“, meinte Haruie selbstbewusst, während sie sich den Helm wieder aufsetzte und davonfuhr.

Takaya sah ihr noch kurz hinterher, bevor er sich neben Yuzuru auf die Rückbank setzte. Er beobachtete von seinem Sitz aus Naoe, der einen Moment zögerte, ehe er ebenfalls zurück in das Auto stieg.
 


 

Yuzuru sah besorgt aus der Rückscheibe des Fluchtautos und unterdrückte ein Zittern. Im Geiste konnte er noch immer das Geräusch der Schüsse hören, das ihm selbst jetzt noch eine Gänsehaut verursachte. Warum auf sie geschossen wurde, wusste Yuzuru nicht, aber er ging davon aus, dass Takaya und Naoe mehr darüber wussten, als sie bisher bereit waren zu erzählen.

Er versuchte sich zu entspannen und blickte nach vorn zu Naoe auf den Beifahrersitz, der sich gerade mit Kousaka über eine mögliche Abkürzung ihres Fluchtweges stritt.
 

Naoe. Yuzuru freute sich, Naoe nach so langer Zeit endlich wiedersehen zu können und war froh, dass es diesem gut zu gehen schien – ungeachtet der Tatsache, dass jener ein trauriges Gesicht machte, wofür wohl die überraschend kühle Haltung Takayas verantwortlich war. Yuzuru erlaubte sich diesbezüglich kein Urteil, da er nämlich keinerlei Ahnung davon hatte, was in den letzten Wochen generell, und vor allem zwischen den beiden, vorgefallen war. Er konnte zwar mit Bestimmtheit sagen, dass Naoe in dieser Zeit in Gefahr geschwebt hatte, da seine damaligen Alpträume und Takayas extrem verschlossene Haltung im Hinblick auf Naoe keine anderen Rückschlüsse zuließen, was einer Bestätigung gleichkam. Aber was letztendlich genau mit Naoe in diesem Zeitraum geschehen war, wusste er bis heute noch nicht. Er überlegte ernsthaft, Naoe ganz gezielt darauf anzusprechen, aber er befürchtete, dass dabei keine befriedigende Antwort herauskommen würde, denn Naoe stand mit seiner selbstauferlegten Verschlossenheit Takaya um nichts nach.
 

Yuzuru strich sich gedankenverloren ein paar Strähnen seines hellen Haares hinter das Ohr und seufzte hörbar.

„Alles in Ordnung?!“, fragten Takaya und Naoe gleichzeitig mit besorgt klingender Stimme.

Yuzuru blickte erst zu Naoe, der zu ihm nach hinten sah, und anschließend zu Takaya, der seinen Blick schief grinsend erwiderte. Er lachte beschwichtigend.

„Ich bin okay, soweit zumindest... Obwohl ich mich schon frage, ob ich überhaupt okay sein kann, da ja gerade auf mich geschossen wurde. Hm, bin ich okay? Ich denke schon... Vielleicht ein wenig nachdenklich, aber okay...“, sprudelte es etwas zu locker aus Yuzurus Mund, wie Takaya fand.

„Wow! So oft habe ich dich noch nie das Wort ‚okay’ sagen hören! Ich würde fast meinen, du bist nicht okay! Und was deine eventuellen Fragen angeht, die werden später beantwortet...“, scherzte Takaya plötzlich vergnügt, da ihn Yuzurus entspannt dahergesagten Worte angesteckt hatten.

Yuzuru sah erleichtert zu seinem besten Freund, und boxte ihm freundschaftlich, die Schusswunde vergessend, auf den Oberarm. Takaya verzog daraufhin schmerzverzerrt das Gesicht, und konnte ein leichtes Stöhnen nicht unterdrücken.

„Oh scheiße! Stimmt ja, du bist verletzt! Tut mir leid, Takaya! Aber hey, warte mal...du blutest!? Und das nicht mal zu knapp! Es tropft dir sogar von der Hand... Naoe tu etwas!“, rief Yuzuru aufgelöst, der Takaya nicht aus den Augen ließ.

„Halb so wild, wirklich...“, entgegnete Takaya gequält, der sah, dass Naoe sich zu ihm umgedreht hatte, und ihn fragend anblickte.

„Die Wunde ist dabei sich zu schließen, also keine Sorge.“, presste Takaya unwirsch hervor, der Naoes Blick nicht ertragen konnte.

„Dennoch sollten wir nachsehen und sie verbin-“

Kousaka fuhr Naoe heftig ins Wort, und warf dabei einen schlecht gelaunten Blick in den Rückspiegel.

„Ey Kagetora! Ich steh nicht so auf Blut – und schon gar, wenn es sich auf meinem Autositz befindet! Also seh zu, dass du deine kostbare Flüssigkeit bei dir behältst und den Wagen so verlässt, wie du ihn vorgefunden hast!“, knurrte dieser angepisst, dem Takayas Anwesenheit ein Dorn im Auge war.

„Kousaka!? Was fällt dir ein, so mit ihm zu reden?“, entgegnete Naoe aufgebracht, der sich nun Kousaka zugewandt hatte.

„Wieso? Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Ich habe lediglich den Wunsch geäußert, dass meine Sitze sauber gehalten werden sollen – und überhaupt, das ist MEIN Auto und ICH fahre! Daher gebührt mir wohl etwas Respekt, würde ich meinen...“, sprach Kousaka anmaßend, der Naoe nicht eines Blickes würdigte.

„Kousaka, du-“, begann Naoe völlig verblüfft zu sprechen, aber er wurde erneut, dieses Mal durch Yuzurus wütende Stimme, unterbrochen.

„Sagt mal, geht es euch noch ganz gut da vorn?! Hier sitzt jemand, der ernsthaft blutet, und ihr streitet euch über den Umgang untereinander und über die Sauberkeit des Wagens?! Haltet mich nicht für respektlos, wenn ich hier jetzt so verärgert spreche. Aber ich bin der Meinung, dass ihr euch mal zusammenreißen könntet, und vielleicht lieber darüber nachdenken solltet, was-“

Nun war es Takaya, der seinerseits Yuzurus temperamentvolle Belehrung unterbrach.

„Lass gut sein, Yuzuru! Keine Chance, dass du damit etwas erreichst. Hilf mir lieber mal...“, sprach Takaya nicht weniger arrogant als Kousaka, während er seine Jacke auszog und den blutdurchtränkten Ärmel seines Pullovers vorsichtig hochschob. Er konnte hören, wie Yuzuru neben ihm scharf die Luft einsog.

„Schau, die Wunde hat sich beinah wieder geschlossen. Nun, und es war nur ein Streifschuss... Also kein Grund zur Panik!“, meinte Takaya versichernd, der einen kurzen Blick nach vorn warf, und dabei auf Naoes beschämten Blick traf. Er unterdrückte das Bedürfnis, Naoe zuversichtlich zuzulächeln, und sah stattdessen wieder zu Yuzuru, der inzwischen sein Taschentuch gezückt hatte.

„Okay. Aber ich denke, wir sollten sie dennoch verbinden. Also, halt bitte still!“, erwiderte dieser besänftigt, der, während er behutsam den Arm verband, Takaya für einen Moment leise lachen hörte.

„Wieso lachst du?“, wollte Yuzuru neugierig wissen, der seinem Freund nun half, die Jacke wieder überzuziehen.

„Du hast schon wieder ‚okay’ gesagt...“, meinte Takaya abgelenkt.

Yuzuru, noch immer leicht aufgebracht, starrte nun in Takayas Richtung und konnte beobachten, wie dieser gerade überprüfte, ob der ein oder andere Blutstropfen auf dem Sitz gelandet war. Enttäuscht musste dieser aber feststellen, dass dem nicht so war, und Yuzuru konnte sich ein Schmunzeln über dessen unzufriedenen Gesichtsausdruck nicht verkneifen.

Takaya dagegen, der von Yuzurus Observation nichts mitbekommen hatte, spielte kurz mit dem Gedanken, seine noch blutverschmierte Hand absichtlich am Sitz abzuwischen, aber er entschied sich dagegen. Er wollte Kousaka nicht noch mehr zusetzen, da es seine Anwesenheit hier ohnehin schon tat. Takaya grinste teuflisch amüsiert.

„Was ist an einem ‚Okay’ bitte so außergewöhnlich, dass es dich so zum Grinsen bringt?“, erkundigte sich Yuzuru, der begonnen hatte, in seiner Tasche nach etwas zu kramen.

„Was?“, meinte Takaya fragend, der interessiert aufsah. Er konnte sehen, dass Yuzuru den zweiten Schokoriegel, von dem sie vorhin sprachen, herausgeholt hatte und ihn öffnete.

„Ich habe dir eben nicht zugehört. Was wolltest du wissen?“, sprach Takaya erneut, und nun im ganzen Satz, während er hungrig den Riegel nicht aus den Augen ließ.

„Schon gut. Ist nicht mehr so wichtig. Vielmehr interessiert es mich, wohin wir überhaupt fahren?!“

Yuzurus Frage lag geschlagene fünf Minuten unbeantwortet in der Luft, als er die Hoffnung auf eine Antwort aufgab. Seufzend sah er von einem Insassen zum anderen. Als erstes blickte er vom Fahrer zum Beifahrer, die beide stumm nach vorn schauten und offensichtlich ihren Gedanken nachhingen. Anschließend sah er zu Takaya, der seinem Blick unerwartet mit unergründlichen Augen begegnete. Fragend hob Yuzuru eine Augenbraue.

„Ist was?“, entgegnete Yuzuru offen, dem ein wenig unbehaglich zu Mute wurde.

„Wie war das mit dem zweiten Schokoriegel? Gilt das Angebot noch?“, fragte Takaya eifrig, der Yuzuru den Riegel am liebsten sofort aus der Hand gerissen hätte.
 

Takaya war erstaunt darüber, dass ihn die Erlebnisse der vergangenen Minuten so hungrig haben werden lassen. Vielleicht war es auch der körperliche Heilungsprozess, wer wusste das schon. Ihm war in jedem Fall klar, dass sie vorläufig nicht anhalten konnten, um etwas zu essen. Zumal es sich inzwischen als noch schwieriger gestalten würde, da sie dabei waren, die Stadt zu verlassen.

Takaya sah kurz nach vorn zu Kousaka, der genervt mit den Fingern auf das Lenkrad trommelte. Sein Blick wanderte anschließend von diesem hinaus durch die Windschutzscheibe in die Ferne. Er nahm an, dass sie sich auf dem Weg zu einem mit Chiaki ausgemachten Ort befanden, an dem sie zur Ruhe kommen konnten, um anschließend das weitere Vorgehen zu planen.

Während seine Augen unbestimmt in die Weite sahen, kam ihm Haruie in den Sinn. Er hoffte, dass sie keine größeren Schwierigkeiten mit den Unbekannten gehabt hatte, und inzwischen auf dem Rückweg zu Chiaki war. Takaya vertraute auf ihre Fähigkeiten. Dennoch hinterließ es immer ein ungutes Gefühl, wenn er die eigenen Leute allein zurücklassen musste.

Er unterdrückte die körperliche Unruhe, und richtete seine hell schimmernden Augen auf Yuzuru, der ihm seinerseits ein Lächeln schenkte.
 

„Die Hälfte kann ich dir geben. Ich hoffe, das ist okay- Ah...verdammt, du bringst mich völlig durcheinander! Irgendwie brauche ich jetzt echt was für meine Nerven. Da soll Schokolade doch ganz hilfreich sein, habe ich mal gehört. Na ja, die Hälfte also...“, meinte Yuzuru über die eigenen Worte verlegen, als er den Riegel teilte und Takaya das eine Stück entgegen hielt.

Während dieser es grinsend annahm, schaltete sich Kousaka erneut ein, dem deren Unterhaltung gehörig auf die Nerven ging.

„Ihr benehmt euch wie zwei Schulkinder!“, frotzelte dieser missgestimmt, der alle Hände voll mit dem dichten Straßenverkehr vor sich zu tun hatte.

„Hey! Wir sind Schulkinder! Schon vergessen? Wir gehen doch in die Oberstufe! Ah?! Wolltest du vielleicht auch etwas Schokolade? Wie unachtsam von mir...“, rief Yuzuru belustigt mit vollem Mund.

„Ich bin hier echt im Kindergarten...“, murmelte Kousaka ärgerlich, der am liebsten auf die Bremse getreten wäre, und die zwei hinteren Fahrgäste rausgeschmissen hätte.

Kousaka sah zu Naoe rüber, der schon seit einiger Zeit schweigend und mit einem zerknirschten Gesichtsausdruck dasaß. Er nahm an, dass dieser sich den Kopf über Kagetoras abweisendes Verhalten zerbrach.

Idiot! Wieso machst du es dir auch so schwer... Schieß diesen lausigen Herrn endlich ab..., dachte Kousaka zornig, dem das einfache Rausschmeißen von Kagetora nun viel zu milde erschien.
 

Kousaka dachte an die letzten Tage, die er zusammen mit Naoe auf der Suche nach Shishido verbracht hatte. Diese gemeinsame Zeit hatte er, trotz Naoes offenkundiger Befangenheit, genossen, und daher kam ihm diese Situation nun wie eine nachträgliche Entweihung vor.

Er blickte durch den Rückspiegel auf Yuzuru, der nun verträumt aus dem Fenster sah, während Takaya mit geschlossenen Augen und einer konzentrierten Miene neben diesem saß. Kousaka nahm an, dass Takaya mittels seiner Macht die Umgebung überprüfte.

Er richtete seinen Blick wieder auf den inzwischen nachlassenden Verkehr vor ihm, als Naoes Handy zu klingeln begann. Kousaka konnte aus dem Augenwinkel heraus sehen, dass sein Beifahrer, komplett aus den Gedanken gerissen, nach dem Telefon suchte, und den Anruf entgegen nahm.

„Chiaki. ... Hm. ... Nein. Es geht allen gut. ... Ja, so ist es. ... Wir befinden uns, wie geplant, auf dem Weg. ... Nein, bisher sind wir auf keine nennenswerten Schwierigkeiten gestoßen. ... Bitte? ... Wie kommst du darauf, dass ich versuche witzig zu sein? ... Verstehe. ... Ich habe sie gehört. ... Gut, dann bis später. ... Ja, mache ich.“

Naoe beendete das kurze Telefonat und blickte noch einen Augenblick abgelenkt auf das Display, als ihn nun Takayas Stimme aufschreckte.

„Wie geht es Haruie?“, war dessen einfache Frage, die aber aufgrund des befehlenden Untertones ihre Einfachheit gänzlich verlor.

Naoe atmete tief ein, und schloss dabei für einen Augenblick seine Augen. Er ermahnte sich innerlich, seine Ruhe wiederzufinden, da er spürte, dass ihn die unentrinnbar quälenden Gedanken erneut zu überwältigen drohten.

Die ganze Situation wäre wohl leichter zu ertragen, wenn Kousaka nicht anwesend wäre. Aber daran ließ sich nun nichts mehr ändern. Naoe hoffte einfach, dass er in den nächsten Stunden die Möglichkeit bekam, allein und ausführlich mit Takaya sprechen zu können. Dieser Gedanke gab ihm neue Zuversicht, während er sich Takaya zuwandte und dessen Frage beantwortete.

„Ihr geht es gut, soll ich ausrichten. Wenn wir am Ziel angekommen sind, wird es die Möglichkeit geben, genaueres zu erfahren.“, antwortete Naoe aufrichtig, der aber das Gefühl hatte, Takaya mit dieser Antwort nicht zufrieden stellen zu können. Er rechnete daher mit einem unnachgiebigen Einwand.

„Gut. Und wo genau fahren wir hin?“, fragte Takaya unerwartet duldsam, was Naoe überraschte. Das hatte er nicht erwartet.

„Wir fahren zu einem kleinen Haus, das sich am Rand der Stadt Ikusaka befindet. Die Unterkunft liegt etwas abgelegen in den Bergen. Sie war ein Vorschlag meinerseits, da ich sie selbst häufiger auf der Durchreise benutzt habe.“, erwiderte Naoe zuverlässig.

„Verstehe. Wie lange werden wir dorthin noch brauchen, Kousaka?“

Takaya richtete seine weitere sachliche Frage nun an den Fahrer, der einen unverschämten Laut von sich gab.

„Nun. Ich selbst war da noch nie, und kenne daher den Weg nicht. Ich vertraue hier völlig auf Naoes einmalige Fähigkeiten, von denen ich mich in den letzten Tagen zu genüge überzeugen konnte. Zu schade aber auch, dass eine gewisse andere Person dieses Vertrauen nicht besitzt...“, antwortete Kousaka übertrieben herablassend, der sich damit einen wütenden Blick von Naoe einfing.

„So? Und von deinen Fähigkeiten kann dann umso weniger die Rede sein, wenn andere alles für dich erledigen, oder sehe ich das falsch?“, schoss Takaya arrogant zurück, der spürte, dass die Stimmung im Auto schlagartig gesunken war. Ihm entging nicht, dass Kousaka aufgrund seiner Bemerkung das Lenkrad fester umklammerte und dieser mit seiner Beherrschung rang. Dieser Anblick zauberte Takaya ein zufriedenes Lächeln auf die Lippen, und er ließ sich entspannt in den Rücksitz sinken.

„Wie dem auch sei, weckt mich, wenn wir angekommen sind.“, meinte er gelassen, während er seine Augen schloss.

„Wie Ihr wünscht, Kagetora-sama.“
 

Takaya hatte mit keiner Antwort gerechnet, schon gar nicht mit einer von Naoe. Er fühlte, dass das Schweregefühl in sein Herz mit einem Mal zurückkehrte, von dem er glaubte, es erfolgreich verbannt zu haben. Der Druck auf seiner Brust nahm zu, und raubte ihm zugleich den Atem. Er spürte, dass seine Körperspannung nachließ, und er in sich zusammensank.

Takaya hoffte, dass sich sein Gefühl nicht nach außen zeigte, und presste verbissen die Lippen aufeinander. Wenige Sekunden später aber machte sich Erleichterung in ihm breit, da er hörte, wie sich Yuzuru mit Naoe zu unterhalten begann, und diese ihn nicht mit einbezogen.

Takaya seufzte lautlos und versuchte Naoe zumindest so lange aus seinen Gedanken zu vertreiben, bis sie an ihrem Zielort angekommen waren.

Beginn

Chiaki blickte ungeduldig in den Rückspiegel und beobachtete aufmerksam den Eingang des Supermarktes, in dem Haruie vor mehr als einer viertel Stunde verschwunden war. Er begann unruhig mit den Fingern auf die Armlehne zu trommeln, und brummelte unzufrieden vor sich hin.

„Komm schon... Was machst du da drin, Haruie?! Es wird doch wohl nicht so schwer sein, ein paar Lebensmittel für eine Abendmahlzeit und ein Frühstück zusammenzusuchen... Wäre ich bloß mitgegangen...“, murmelte Chiaki angespannt, der ein weiteres Mal enttäuscht die Augen vom Rückspiegel abwandte, da aus der sich öffnenden Tür des Marktes nur eine Mutter mit zwei Kindern heraustrat. Chiaki konnte die fröhlichen Stimmen der Kinder hören, die sich aufgeregt über ihre Einkaufsgeschenke unterhielten.

„Wir sind eh schon spät dran, aber so wird’s noch später. Ich hoffe bloß, dass die sich in Ikusaka nicht die Köpfe einschlagen. Warum musste Naoe auch gerade mit Kousaka unterwegs sein, als die Sache für Kagetora und Yuzuru brenzlig wurde...“, sprach Chiaki laut zu sich selbst, als unerwartet die Beifahrertür aufgerissen wurde und eine entnervte, mit Tüten vollgepackte, Haruie einstieg.

„Eh?! Woher kommst du denn jetzt? Ich habe doch noch vor zwei Sekunden zum Eingang geseh-“

„Das ist eine Frage, die du eventuell noch mal überdenken und dich vielleicht fragen solltest, ob es sich überhaupt lohnt, sie zu stellen!“, antwortete Haruie gereizt, die aufgebracht ihre braune Mähne zu einem Knoten band und sich anschließend in den Sitz fallen ließ, während die Einkaufstüten zu ihren Füßen raschelten.

Chiaki sah erstaunt zu ihr rüber.

„Sehr schönes Wortspiel, aber warum so wütend?“, wollte er neugierig wissen, während er den Motor startete.

„Nun, ich hatte beim Einkaufen bisher selten das Glück, mal als Einkaufsberaterin oder eher als Einkaufshilfe zu dienen. Mir scheint, heute sollte sich das in doppelter und dreifacher Hinsicht auszahlen. ‚Junge Frau, könnten sie mir vielleicht vom obersten Regal...’, oder ‚Entschuldigen Sie, ich habe meine Brille vergessen, wären Sie so nett...’ oder noch besser ‚Könnten Sie mich vielleicht vorlassen? Meine Kinder müssen ins Bett...’! Also, bei der letzten Dame wäre ich dann beinah geplatzt! Warum nimmt sie die überhaupt so spät noch mit in den Laden. Ich glaube, ich kriege Kopfschmerzen...“

Während Haruie zum Ende ihres verärgert vorgetragenen Berichtes kam, begann Chiaki vergnügt zu lachen. Er war inzwischen vom Parkplatz runter gefahren, und hatte sich in den fließenden Verkehr eingereiht.

„Das muss dir ja sehr lustig erscheinen...“, motzte Haruie, die im Außenspiegel aufmerksam die hinteren Wagen überprüfte.

„Ganz und gar nicht! Ich hatte mich nur gefragt, was du so lang da drin machst. Mir sind zwar die kompliziertesten Antworten eingefallen, aber auf die banalsten bin ich nicht gekommen...“, meinte Chiaki noch immer lachend, der kurz einen Blick auf seine Beifahrerin warf, die ihn nun schief angrinste.

„Ja ja, red dich nur raus. Das nächste Mal gehst du eben einkaufen.“, entgegnete Haruie gespielt beleidigt, die sich gleichzeitig ihre pochenden Schläfen massierte.

„Hast du wirklich Kopfschmerzen?! Ich dachte, das sei nur so dahergesagt gewesen. Vielleicht kannst du dich ja auf der Fahrt ein wenig ausruhen. Ich habe glatt vergessen, dass du heute schon eine anstrengende Auseinandersetzung hattest. Tut mir leid...“, sprach Chiaki aufrichtig besorgt.

„Schon gut. Der Versuch, sich zu entspannen, wäre eh zwecklos, wenn ich da an das bevorstehende Aufeinandertreffen mit Kousaka denke. Das raubt mir jetzt schon den letzten Nerv...“, klagte Haruie, die ihre Hände in den Schoß legte und die Augen schloss.

„Da hast du nicht ganz unrecht. Ich glaube aber, dass es Kagetora im Moment viel schwerer hat, oder doch Naoe?! Vielleicht ein Unentschieden?!“, rätselte Chiaki gedankenverloren.

„Erinnere mich bloß nicht daran. Hatten die beiden es jemals leicht gehabt? Gut, irgendwie sind sie auch selbst daran schuld! Warum machen sich die beiden auch alles viel schwerer, als es eigentlich sein müsste?“, fragte Haruie leicht betrübt.

„Das sagt sich so leicht, Haruie...“, meinte Chiaki, dessen Gesicht ebenfalls einen bekümmerten Ausdruck angenommen hatte.

„Ich weiß! Und ich weiß auch, dass Dinge vorgefallen sind, die letztendlich nicht zu entschuldigen sind. Aber das trifft ja auf beide zu... Die machen mich noch krank! Was wäre ich glücklich, wenn ich noch einmal den Mann sehen könnte, dem ich meine unendliche Liebe geschenkt habe...“, sprach Haruie immer leiser werden, so dass Chiaki die letzten Worte kaum verstand. Er sah kurz fragend zu ihr rüber, ehe er sich wieder auf die Straße konzentrierte und überlegte, wie er dem gegenwärtigen Stimmungstief ein Schnippchen schlagen konnte.

„Ach genau! Was hast du eigentlich eingekauft? Nicht, dass es wirklich eine Rolle spielt, aber vielleicht bringt uns ja der Gedanke ans Essen auf andere Gedanken! Ich hätte an einer Abwechslung nichts auszusetzen – also bezüglich der Gedanken jetzt. Im Hinblick auf das Essen hoffe ich aber, dass sich Naoe in die Küche stellt, und uns mit seinem Können beglückt. Yuzurus kann ich nämlich nicht einschätzen, auf Kagetoras kann ich verzichten und über Kousakas will ich gar nicht erst nachdenken.“, scherzte Chiaki, der noch immer froh darüber war, dass sie, oder eher Kagetora, Naoe fast unversehrt aufspüren konnten.

Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen und tadelte sich innerlich für seine sich noch immer um Naoe und Kagetora drehenden Gedanken – trotz des eigenen gestarteten Ablenkungsversuchs. Es war zum Verrücktwerden. Chiaki konnte sie einfach nicht abstellen, oder gerade weil er es krampfhaft versuchte, missglückte es ihm kläglich. Seufzend gab er auf, und ließ in seinem Kopf Naoe und Kagetora erneut in den Vordergrund treten.

Er dachte an die Wochen der Ahnungslosigkeit in Bezug auf Naoes Verbleib, die allen gehörig an den Nerven gezerrt hatten – von den extrem brutalen Videobotschaften mal ganz zu schweigen. Es war eine Zeit der Unruhe und Anspannung gewesen, und Chiaki konnte noch immer nicht glauben, dass sie sich einander nicht gegenseitig an die Kehle gesprungen waren, als sich letztendlich das ganze Ausmaß der Angelegenheit gezeigt hatte.

Am meisten hatte ihn aber Kagetoras Verhalten geängstigt, welches nach außen ruhig und besonnen erschien, aber innerlich einem brodelnden Vulkan gleichkam. Chiaki hatte die ganze Zeit mit einem unkontrollierbaren Ausbruch Kagetoras gerechnet, aber der war nicht erfolgt – zumindest nicht in seiner Gegenwart. Er wollte lieber nicht wissen, was beim ersten Aufeinandertreffen der beiden nach Naoes riskanter Flucht geschehen war. Zudem war er nach wie vor besorgt über Naoes Verhalten, der sich in ihrer Gegenwart beinah so normal wie eh und je gab. Chiaki wollte nicht glauben, dass die Erlebnisse spurlos an Naoe vorbeigegangen waren. Er befürchtete, dass jener zu einem unerwarteten Zeitpunkt einen Zusammenbruch erleiden könnte, der sie alle, aber vor allem jenen selbst, in Gefahr brachte...
 

„Hey Chiaki! ... Chiaki? ... Chiaki, es ist grün!“, rief Haruie lauter werdend, die dessen Frage nach dem Eingekauften ignorierte und froh war, dass sich kein wartendes Auto hinter ihnen befand.

„Äh...was? Ach so! Entschuldige, da habe ich wohl geträumt...“, entgegnete Chiaki verlegen, der weiter fuhr und sich die Brille zurecht schob.

„Wie war das mit ‚auf-andere-Gedanken-kommen’? Klappt wohl nicht ganz, was? Aber fühl dich getröstet, mir geht’s genauso. Damit ich nicht an die beiden denken muss, rufe ich mir lieber Kousaka vor Augen, dem ich die ganze Zeit gehörig eine verpasse. Bescheuert, oder?“, meinte Haruie lachend.

„Ja, bescheuert, aber bestimmt zufriedenstellend!“, erwiderte Chiaki schief grinsend.

„Hm, etwas. Aber ich würde das ganze in Realität bevorzugen...“

Chiaki sah aufgeheitert zu Haruie rüber, die mit einem entrückten Lächeln im Gesicht nach vorn blickte, während eine Hand mit einer sich gelösten Haarsträhne spielte.

„Machst du wirklich nur DAS mit Kousaka, was du eben erwähnt hast?“, fragte Chiaki unverschämt grinsend, der sich damit einen ungläubigen Blick von Haruie einfing.

„Was soll das heißen: ‚nur das’? Willst du mich etwa ärgern, Chiaki!?“, drohte diese erzürnt und boxte dem Fahrer unernst auf den Oberarm.

„Nein, nein! Auf diese Idee würde ich niemals kommen! Aber vielleicht werde ich mal diese Technik des Abreagierens ausprobieren, nur dass ich mir Kagetora dabei vorstellen. Der hat meines Erachtens ab und zu ebenfalls eine Abreibung verdient...“, sprach Chiaki belustigt.

„Ich glaube, der ist dir selbst dabei überlegen!“, scherzte Haruie, die sich entspannt in den Sitz sinken ließ und die Augen schloss.

„Wir werden sehen...“, murmelte Chiaki, der sein Vorhaben in die Tat umzusetzen versuchte, während er schweigend das Auto ihrem Ziel näherbrachte.
 


 

Yuzuru lief die wenigen Räume der Unterkunft ab, und schüttelte verwundert den Kopf.

„Wo steckt er bloß...“, sprach er leise empört, der seinen besten Freund nun schon eine Weile suchte – Grund seiner Suche war der dringende Wunsch, dessen Wunde noch einmal zu begutachten. Yuzuru ahnte zwar, dass Takaya sein Vorhaben dankend ablehnen würde, aber das wäre ihm egal – zur Not würde er sich Naoe als Unterstützung in seinem Bestreben heranziehen.

Er seufzte hörbar und ging zurück in das größte Zimmer, welches als Tagungsraum dienen sollte und fand dort Kousaka und Naoe, die beide stumm für sich in einer Ecke des Raumes saßen. Naoe sah auf und lächelte, als er den Raum betrat, während Kousaka ihn offensichtlich ignorierte.

Kousaka. Dieser junge Mann war ihm schleierhaft. Yuzuru wusste, dass Kousaka nicht Takayas Gruppe angehörte und es daher ein Risiko war, mit einer Person zusammenarbeiten zu müssen, von dessen wahrer Intention nichts bekannt war. Aber die Tatsache, dass dieser Mann etwas über Naoes damaligen Verbleib gewusst hatte, hatte ihn zu einer unentbehrlichen Informationsquelle für Takaya gemacht. Dass sein bester Freund darüber ganz und gar nicht erfreut gewesen war, konnte Yuzuru auch jetzt noch sehen.

Kousakas unverschämtes Verhalten gegenüber Takaya, und dessen nicht weniger rücksichtvollen Reaktionen, machten die Sache nicht angenehmer. Lediglich Naoe gegenüber schien Kousaka milder gestimmt zu sein, wenn nicht sogar unterwürfig.

Yuzuru wagte nicht, sich eine Meinung über die ganze Angelegenheit zu bilden, da er über die undurchsichtigen Beziehungen untereinander einfach zu wenig wusste.

Er schob die unbefriedigenden Gedanken zur Seite und wandte sich an Naoe, der ihn noch immer anblickte.

„Weißt du vielleicht, wo Takaya ist? Ich habe jetzt schon das ganze Haus durchsucht, aber ich finde ihn nirgends. Ich wollte seine Wunde doch noch mal überprüfen...“, meinte Yuzuru fragend, der sich verlegen an der Schläfe kratzte.

„Er hat zwar gesagt, dass alles okay wäre, aber ich wollte mich dennoch da-“

Yuzuru konnte nicht zu Ende sprechen, weil auf einmal Kousakas lautes Lachen den Raum erfüllte.

„Es ist mir echt ein Rätsel, wie dieser Grünschnabel zu solch einer Macht fähig ist...“, brachte Kousaka zynisch hervor, der seinen Blick auf Yuzuru gerichtet hatte, der nun mit hochrotem Kopf mitten im Zimmer stand.

„Wie- also, was meinst du?“, stammelte dieser, was Kousaka noch mehr zum Lachen brachte.

„Hey Kousaka! Ich finde, das reicht!“, rief Naoe, der entschuldigend in Yuzurus Richtung sah.

„Warum? Fragst du dich nicht manchmal selbst, warum dieser Mann solch eine Gewalt über dich hat? Nun, ich würde-“

Nun war es Naoe, der Kousaka lachend ins Wort fiel.

„Dann solltest du dich vielleicht mal fragen, warum du hier bist...“, entgegnete Naoe spöttisch, der aufstand und Yuzuru dabei beobachtete, wie dieser irritiert zwischen ihm und Kousaka hin und her sah.

„Ich werde draußen nach ihm suchen, Yuzuru.“, sprach Naoe wieder mit ruhiger Stimme, und blickte Yuzuru versichernd in die Augen. Yuzuru wollte gerade entgegnen, dass er ebenfalls mit nach draußen kommen wollte, als ihm Naoe mit einer Antwort zuvorkam.

„Du wartest bitte hier. Wenn ich ihn gefunden habe, schicke ich ihn zu dir, okay?“, meinte Naoe tröstend, der Kousaka anschließend einen zornigen Blick zuwarf, da dieser bei seiner Bemerkung erneut zu lachen begonnen hatte.

„Verstanden.“, murmelte Yuzuru noch immer enttäuscht, der Naoe hinterher blickte, als dieser ohne ein weiteres Wort den Raum verließ. Yuzuru starrte noch einen Moment betrübt zur Tür, bevor er sich Kousaka fragend zuwandte, da er dessen schaulustige Augen auf sich spürte.

„Ist was?“, fragte er diesen unsicher und sah, dass sich ein hinterhältiges Grinsen auf dessen Gesicht breitmachte.

„Warum erzählst du mir nicht etwas über dich und Kagetora!?“, sprach Kousaka süffisant, und sah Yuzuru weiterhin neugierig in die Augen.

„Nun, nur wenn du mir im Gegenzug etwas über Naoe und Kagetora verrätst, plus du fängst an!“, erwiderte Yuzuru brüsk, dem der Gedanke äußerst falsch vorkam, andere nach seinem besten Freund und dessen wichtigster Bezugsperson auszuhorchen. Aber vielleicht würde er dabei etwas über Kousaka erfahren, was sich eventuell als hilfreich herausstellen könnte.

„Abgemacht. Dann werde ich anfangen...“, meinte Kousaka freudig, der sich aufrecht hingesetzt hatte und Yuzuru nun mit ernsten Augen anblickte.
 

Naoe stand gedankenversunken am Wagen und blickte sich besorgt um. Die Sonne war vor wenigen Minuten untergegangen, daher ließ die Dunkelheit nicht auf sich warten und machte die Fernsicht jetzt schon zu einem Problem. Naoe presste unzufrieden die Lippen aufeinander

und richtete seinen Blick auf seine direkte Umgebung. Dass sich Takaya nicht am Auto aufhalten würde, hatte er längst vermutet. Dennoch wollte er sicher gehen und war als erstes hierher gegangen, um seine Vermutung mit den Augen zu bestätigen.

Naoe fluchte leise und sah zurück zum Haus. Er hoffte, dass Kousaka nicht auf dumme Gedanken kam, jetzt, wo dieser sich mit Yuzuru allein befand. Aber Naoe kannte Kousaka so gut, um zu wissen, dass dieser solch eine Situation nicht ungenutzt verstreichen lassen würde, und er daher seine Hoffnung auch begraben konnte.

Er sah vom Haus weg zum Garten, von dem aus ein kleiner Verbindungsweg in den angrenzenden Wald führte. Er wusste zwar nicht, ob Takaya diesen Weg eingeschlagen hatte, aber Naoe ging davon aus, das dieser allein und ungestört sein wollte und sich daher einen Ort gesucht hatte, der sich nicht unmittelbar in der Nähe des Haus befand. Mit einem sanften Lächeln schlug Naoe den Pfad ein und hoffte, dass Takaya die gleichen Schritte vor ihm auch gegangen war.
 

„Irgendwie habe ich geahnt, dass du kommen würdest...“

Naoe erschrak für einen Moment, da er nicht damit gerechnet hatte, Takayas Stimme so kurz nach Betreten des kleinen Hains zu hören. Er sah auf und entdeckte Takaya, der in zwei Meter Entfernung auf einem umgefallenen Baumstamm saß und ihm freundlich entgegenblickte. Die letzte Tatsache überraschte Naoe mehr, als das unerwartet schnelle Finden.

„Yuzuru schickt mich. Er hat sich Sorgen gemacht, weil er dich im Haus nicht finden konnte.“, erwiderte Naoe mit fester Stimme, der zwei weitere Schritte auf Takaya zuging.

„So?! Dann sollte ich wohl zurückgehen. Ist bestimmt keine gute Idee, ihn allein mit Kousaka zu lassen. Wie ich den kenne, nutzt er diese Möglichkeit gnaden-“

„Geh noch nicht!“

Takaya, der sich gerade erheben wollte, hielt inne und sah überrascht zu Naoe, der ihn beschämt anblickte.

„Ich meinte, ich möchte gern die Wunde ansehen.“

Takaya hob fragend eine Augenbraue.

„Ich habe doch schon gesagt, dass alles in Ordnung ist. Sie hat sich fast vollständig verschlossen, also kein-“

„Bitte, Takaya...“, wisperte Naoe flehentlich Takaya unterbrechend, dem Naoes Worte eine leichte Röte ins Gesicht steigen ließen.

„Wenn es sein muss. Okay...“, brummelte Takaya leise, der spürte, dass seine Aufregung zunahm, von der er alles andere als begeistert war.
 

Takaya zog nervös seine Jacke aus, während sich Naoe neben ihn auf den Baumstamm setzte. Das zusätzliche Gewicht ließ den Stamm sanft schwingen, so dass Takaya grinsen musste. Für einen kurzen Augenblick hatte er das Bild eines zusammenbrechenden Stamms mit zwei drauf sitzenden Menschen im Kopf, die lachend ins Grass fielen.

Woah... Noch peinlicher ging’s jetzt nicht, Takaya! Reiß dich zusammen..., dachte er, als er Naoes fragende Stimme hörte.

„Warum grinst du?“

„Äh, nichts. Ich habe mich nur gefragt, warum du unbedingt die längst verschwundene Wund sehen willst, obwohl es schon recht düster ist. Wirklich viel sehen wirst du nicht mehr...“, entgegnete Takaya, der nebenbei den Ärmel hochschob und es vermied, Naoe in die Augen zu sehen.

„Nun, wenn sie, wie du sagst, sich längst geschlossen hat, kann ich sowieso nichts mehr sehen – da spielt die Dunkelheit dann auch keine Rolle mehr!“, meinte Naoe sachlich, der behutsam Yuzurus Taschentuch von Takayas Arm nahm.
 

Takaya sah auf und hielt den Atem an, als er Naoes warme Finger auf seinem Oberarm spürte. Seine Aufgeregtheit schwoll weiter an, während ihm ein wolliger Schauer nach dem anderen über den Rücken fuhr. Er unterdrückte erfolgreich ein Aufstöhnen, aber befürchtete, dass sein Erfolg nicht lange anhielt, wenn sie noch länger in dieser Position verharren würden.

Er beobachtete Naoe dabei, wie dieser seinen Arm inspizierte und mit dem Zeigefinger sanft über die Stelle fuhr, an der vor kurzem noch eine Verletzung zu sehen war. Takaya biss sich auf die Lippe, um einen klaren Kopf zu behalten, aber es war zwecklos.

Naoes Gesicht erneut von so nahen sehen zu können, ließ ihn an sein Verhalten in der Hütte vor wenigen Tagen denken. Takaya spürte, wie die Röte im Gesicht zunahm und er plötzlich das Bedürfnis hatte, beschämt wegzulaufen.

In dieser halbzerfallenen Behausung, welche Naoe als Rastort während seiner Flucht diente, hatte er ihn geküsst – mehr oder weniger. Er hatte sich in seinem Zorn, seiner Verzweiflung und Angst sowie seiner Freude auf ihn gestürzt, um sich von seiner inneren Anspannung endlich befreien zu können. Aber er hatte sofort gespürt, dass er damit das Gegenteil bewirkte. Sein Gefühlschaos war mit dieser Aktion nicht abgeebnet, sondern hatte sich nur weiter in die Höhe geschraubt. Er hätte nicht sagen können, wo das Ganze hingeführt hätte, wenn nicht plötzlich Kousaka aufgetaucht wäre.
 

Takaya schloss aufgewühlt die Augen und versuchte, seine innere Ruhe wiederzufinden, als er eine sanfte Berührung auf den Lippen spürte. Er öffnete irritiert die Augen und wäre wohl überrascht nach hinten ausgewichen, wenn nicht Naoes rechte Hand gewesen wäre, die eben noch seinen Arm berührt hatte. Diese spürte er nun an seinem Nacken, wo sie zärtlich, aber bestimmend, jede Rückwärtsbewegung unterbot.

Naoe löste die Lippen von seinen und sah ihn mit einer Mischung aus Scham, Verlangen und Liebe an. Takaya konnte nur zurück starren – zu nichts anderem war er fähig. Er hoffte, dass sich seine Gefühle nicht ebenso offen in seinem Gesicht zeigten, wie es bei Naoe der Fall war, und schluckte berauscht. Er sah, dass Naoes Gesicht wieder näher kam, und spürte ein weiteres Mal Naoes weiche Lippen.

Takaya hatte das Gefühl, sein Herz müsse stehen bleiben, als Naoe ihn mit Hilfe seines linken Armes sanft zu sich heranzog. Er spürte erneut die sanfte Bewegung des Stammes und schloss erlöst die Augen.
 

Takaya rang nach Atem, als sich ihre Lippen zum wiederholten Male voneinander lösten. Er wusste nicht wann, aber irgendwann hatte er unbewusst die Arme um Naoe geschlungen und jeden seiner Küsse fordernder erwidert. Takaya suchte begierig nach Naoes Blick und spürte ein innerliches Beben, als dieser seinem mit glühenden Augen begegnete.

Seine zitternden Hände legten sich schüchtern um Naoes Kinn, um ihn auf diese Weise zu sich heranzuziehen. Takaya sah, dass sich Naoes Augen vor Überraschung leicht weiteten und begann zu lächeln.

Erst berührte er leicht Naoes Oberlippe mit seinem Mund, bevor er anschließend sanft seine Stirn an dessen Kinn legte. Takaya atmete tief ein und genoss die körperliche Nähe. Er spürte Naoes warme Hand, die sanft seinen Rücken nach oben fuhr, um kurz im Nacken innezuhalten, bevor sie von dort aus in seine Haare fasste, um so seinen Kopf sanft nach hinten ziehen zu können. Takaya stöhnte leicht und schloss verlegen die Augen.

„Nicht...öffne deine Augen...“, flüsterte Naoe mit belegter Stimme.

Takaya fühlte beim Klang von Naoes Stimme das eigene Verlangen wachsen und blickte ihn an. Er sah Naoe lächeln, so wie er ihn noch nie zuvor hatte lächeln sehen und öffnete leicht seine Lippen, um etwas zu entgegnen, als Naoes Mund wiederholt seinen fand.

Einen Moment später spürte er dessen feuchte Zunge, die sanft über seine Lippen wanderte, bevor sie sich zwischen sie hindurchzwängte, um seine Mundhöhle auszukundschaften. Takaya stöhnte leise, während sich seine Arme gierig um Naoes Oberkörper schlangen, und er diesen unbeholfen an sich presste.

Er wusste, dass mit jeder weiteren Sekunde, die er Naoe so verboten nah war, sich seine Befürchtungen in Luft auflösten und er dabei war, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Aber er konnte nicht aufhören. Er sehnte sich nach Naoes Nähe. Er wollte nicht, dass dieser ihn freigab – noch nicht. Takaya umschlang Naoe fester.
 

Die Scheinwerfer eines heranfahrenden Autos ließen Takaya zusammenzucken. Er hatte das Gefühl, er würde aus einem Traum erwachen und blickte irritiert zu Naoe hoch, der sich rasch hingestellt hatte und seinen Blick auf Haus gerichtet hielt. Er folgte dem Blick und sah, dass Haruie und Chiaki endlich angekommen waren.

Takaya wurde bewusst, was er hier tat, und stand hastig auf. Er blickte wehmütig zu Naoe rüber, der noch immer zu den Neuankömmlingen schaute und unterdrückte das Bedürfnis, diesen erneut in seine Arme zu ziehen. Er seufzte lautlos und wandte Naoe stattdessen den Rücken zu, um sich mit großen ernüchterten Schritten in die entgegen gesetzte Richtung zu entfernen – ihm entging auf diese Weise Naoes bitterer Gesichtsausdruck, als dieser sich wieder umdrehte und ihm fragend hinterher sah.
 


 

„Chiaki!?“, rief Haruie empört, die diesem einen ungläubigen Blick zuwarf.

„Was soll das? Hör gefälligst mit dem Blöd-“

Chiakis charmantes Lächeln hätte den Raum zum Leuchten gebracht, wenn sich nicht Haruies wütender Schatten darüber ausgebreitet hätte. Sie warf gekonnt das große Messer, mit dem sie gerade die Tomaten kleingeschnitten hatte, in die Luft und zielte, nachdem sie es elegant gefangen hatte, mit einem brutalen Grinsen auf Chiaki. Dieser trat zur Sicherheit zwei Schritte rückwärts, und wäre fast mit Yuzuru zusammengestoßen, der gemeinsam mit Kousaka einen breiten Tisch in die Mitte des Raumes trug.

„A..a- Achtung, Chiaki!“, rief Yuzuru irritiert, der sich, nachdem er Haruies furchteinflößende Miene entdeckt hatte, möglichst schnell aus Chiakis Umgebung bringen wollte.

„Oh...komm schon, Haruie! So verängstigst du nur Yuzuru! Schau! Der ist ganz blass geworden!“, witzelte Chiaki ausgelassen.

„Was? Bin ich gar nicht!“, schoss Yuzuru ungläubig dazwischen, der zwar keine Ahnung hatte, warum Haruie so aufgebracht war, aber er wollte Chiakis belustigte Aussage auf keinen Fall auf sich sitzen lassen.

Yuzuru stand neben dem inzwischen in der Mitte des Raumes platzierten Tisch, und sah neugierig zu den beiden unmerklich älteren Menschen rüber, die einander noch immer mit funkelnden Augen anblickten.

Während Chiakis Augen vor Freude blitzten, umspielten Haruies dagegen nackter Ärger. Yuzuru kam nicht umhin sich einzugestehen, dass er froh war, dass Haruie nicht auf Seiten ihrer Gegner arbeitete.

Hm... Gegner... Aber welche? Wer hat es auf Takaya abgesehen... Und was ist mit Naoe gewesen? Was mache ich hier überhaupt? Hat es etwa mit mir zu tun, dass auf uns geschossen wurde...

Yuzuru wandte nachdenklich seinen Blick von Haruie und Chiaki ab und begegnete Kousakas, der ihm ein geheimnisvolles Lächeln schenkte.

Kousaka..., dachte Yuzuru angespannt, dem augenblicklich das Gespräch mit diesem wieder einfiel.
 

Sehr lange hatte ihr Gespräch nicht gedauert, da Chiakis und Haruies Ankunft sie unterbrochen hatte. Dennoch, er erfuhr in dieser kurzen Zeit einige überraschende Dinge über seinen besten Freund. Nur leider konnte er seinem Gesprächspartner nichts entlocken, was irgendwie für sie – Kagetoras Gruppe – von großem Nutzen gewesen wäre. Yuzuru musste zugeben, dass er eigentlich auch keine Ahnung hatte, was unter ‚von großem Nutzen’ fallen würde. Nichtsdestotrotz hatte er nun die Möglichkeit, Takayas zerrissene Empfindungen Naoe gegenüber besser verstehen zu können, auch wenn er das ganze Ausmaß noch nicht wirklich begreifen konnte.

Yuzuru sah verstohlen an Haruie vorbei zu Naoe rüber, der gerade dabei war, den Topf mit den heißen Spaghetti abzugießen. Dieser schien sich von Chiakis und Haruies spielerischer Auseinandersetzung nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Yuzuru seufzte leise, und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, ohne Naoe dabei aus den Augen zu lassen.
 

Als Naoe vor mehr als 20 Minuten zurück ins Haus gekommen war, hatte dieser ihm umgehend mitgeteilt, dass er Takaya gefunden hatte, und dessen Wunde keinerlei Probleme mehr bereitete. Yuzuru war über diese Neuigkeit erleichtert gewesen, dessen ungeachtet, verspürte er aber zugleich Enttäuschung darüber, da Takaya die Absicht hatte, ihn hier noch eine Weile allein zu lassen. Weshalb Takaya noch nicht zurück ins Haus kommen wollte, hatte Naoe ihm nicht sagen können – oder wollen?

Yuzuru strich sich gedankenverloren die Haare aus dem Gesicht und fuhr fort, Naoe weiter zu beobachten. Seit er von Kousaka Näheres über die undurchsichtige Beziehung der beiden erfahren hatte, wusste er nicht mehr, wie er das Gehörte mit seiner bisherigen Vorstellung von Naoe in Einklang bringen sollte.

Du liebst Takaya oder Kagetora...oder wie auch immer, also?!, sprach Yuzuru in Gedanken zu Naoe, und versuchte sich dabei vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn Naoe und sein bester Freund ihre fortwährenden Schwierigkeiten beseitigten, und miteinander glücklich würden.

Könnte ich Takaya dabei aus vollem Herzen unterstützen? Ist ihm Naoe wirklich so nah, und gleichzeitig so fern? Bin ich ihm nicht ebenso wichtig? Hm, vielleicht verbindet uns weniger, als ich angenommen habe... Argh! Reiß dich zusammen, Yuzuru! Takaya würde dergleichen niemals denken! Er war schon immer verschlossen, also mal nicht den Teufel an die Wand, sondern gib ihm Zeit, so wie du es vorgehabt ha-

Yuzurus rasende Gedanken kamen augenblicklich zum Stillstand, als er Naoes Blick auf sich spürte. Er fühlte, wie sich seine Wangen rot verfärbten, und ihm der Atem stockte. Er sah, dass Naoe fragend eine Augenbraue hob, und weiterhin den Blick auf ihn gerichtet hielt.
 

Ein heiseres Lachen befreite Yuzuru aus der Erstarrung. Er wandte den Blick von Naoe ab, um in die Richtung zu schauen, aus der das Lachen kam, und traf auf Kousakas belustigte Miene.

Yuzuru spürte augenblicklich Wut in sich aufsteigen, da er plötzlich das Gefühl hatte, dass er genau das tat, was Kousaka von ihm erwartete.

Verdammt..., fluchte Yuzuru unhörbar und riss sich von Kousaka los.

„Äh, i- ich werde mal nach Takaya sehen. Das Essen ist schließlich gleich fertig.“, stammelte Yuzuru verlegen, der sich auf der Stelle umdrehte und zur Tür schlich. Er konnte hören, wie Kousakas Lachen schlagartig lauter wurde. Yuzuru ballte die Hand zur Faust, und biss die Zähne zusammen.

„Ey Kousaka! Du bist nach wie vor eine echt unausstehliche Person! Ich weiß zwar nicht, was dich so zum Lachen animiert hat, aber ich würde dich bitten, einen Gang zurück zu schalten, denn es tut mir in den Ohren weh...“, warnte Haruie ungeniert, die sich, nachdem sie die Schüssel mit dem Salat auf den Tisch gestellt hatte, drohend vor Kousaka aufbaute. Yuzuru konnte nicht sehen, wie dieser verärgert seine Augen verengte.

„Und Yuzuru, Takaya findest du auf der hinteren Veranda! Falls er sich weigern sollte, mitzukommen, zerr ihn von mir aus an seinen auf Durchzug gestellten Ohren herein!“, rief Haruie im ausgelassen Ton, dem aber die angespannte Haltung gegenüber Kousaka anzuhören war. Yuzuru nickte stumm ohne sich umzudrehen, und verließ den Raum.
 


 

Takaya lehnte mit geschlossenen Augen und angespannter Miene an der Hauswand auf der hinteren Veranda und versuchte, in seinem noch immer aufgewühlten Zustand einen klaren Gedanken zu fassen. Verärgert musste er feststellen, dass diese Versuche leider bisher erfolglos gewesen waren.

In seinem Kopf drehte sich nach wie vor alles um Naoe und dessen Verhalten im Hain. Takaya bekam diese Begegnung einfach nicht aus seinem Kopf. Schlimmer noch, das eigene Verhalten bei jenem Aufeinandertreffen bereitete ihm Entsetzen. Takaya stöhnte lautlos. Allein der Gedanke an Naoes Hände führte dazu, dass ihm erneut ein wolliger Schauer über den Rücken lief, was er zugleich verabscheute. Er wünschte sich, er hätte mehr Selbstbeherrschung in Gegenwart von Naoe gezeigt.

Er verdrängte vehement den Gedanken daran, was wohl noch passiert wäre, wenn Haruie und Chiaki nicht in jenem Moment aufgetaucht wären. Takaya ballte rastlos die Hände in seinen Hosentaschen zu Fäusten, und murmelte leise vor sich hin.

„Naoe... Naoe... Naoe... Du verdammter Schei-“

Takaya verstummte, als er bemerkte, dass sich jemand näherte. Er sah in die vermeintliche Richtung und erblickte Yuzuru, der nervös die Veranda betrat. Trotz fortschreitender Dämmerung, die allmählich der Nacht weichen musste, konnte er erkennen, dass sich sein bester Freund in schlechter Laune befand.

Takaya spürte, dass ihn Yuzurus unerwartetes Auftauchen in Ruhe versetzte, und sich die Wogen seiner sich überschlagenden Gedanken glätteten. Er war immer wieder aufs Neue überrascht, dass dieser Mensch vor ihm unbewusst solche einen Einfluss auf ihn ausübte. Er begann entspannt zu lächeln.

„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“, wollte Takaya aufrichtig wissen, der nun Yuzurus vor Ärger blitzende Augen erkennen konnte, als dieser dicht vor ihm stehen blieb. Yuzuru seufzte leise, bevor er sich neben Takaya an die Wand lehnte und zu sprechen begann.

„Nun, das Essen ist fertig...“, sprach er in unzufriedener Stimmung. Takaya sah Yuzuru von der Seite an, und hob fragend die Augenbrauen.

„So? Das Essen also... Dann nehme ich mal an, dass es etwas gibt, was dir gar nicht gefällt. Was ist es? Hühnchen? Oder doch eher grüne Bohn-“

Yuzuru fuhr Takaya ungehalten dazwischen, indem er ihm leicht den Ellebogen in dessen Seite rammte.

„Ey! Aua! Wie kannst du eine verletzte-“

Yuzuru grinste Takaya nun frech an, was jenem die Sprache verschlug.

„Ach ja? Da habe ich aber etwas anderes gehört!“, meinte Yuzuru erleichtert, der froh war zu sehen, dass es seinem besten Freund gut ging.

„Ich weiß zwar nicht, WAS du gehört hast, aber ich kann dir sagen, dass mir noch immer alles schmerzt, und du dich mir gegenüber gefälligst einfühlsamer verhalten solltest!“, log Takaya spielerisch, der das breite Grinsen dabei nicht aus dem Gesicht verbannen konnte.

„Ich mag Kousaka nicht.“, gab Yuzuru auf einmal leise zu, der dabei nun unbestimmt in die Ferne starrte.

Takaya sah seinen Freund überrascht an. Ihm fiel wieder ein, dass Yuzuru und Kousaka eine kurze Weile allein im Haus gewesen waren, und er keine Ahnung hatte, was in dieser Zeit vorgefallen war – und Yuzurus überraschender Aussage nach musste etwas vorgefallen sein. Takaya spürte Unbehangen in sich aufsteigen. Er hoffte, dass Kousaka Yuzuru nicht mit unnötigen Dingen belastet hatte, aber irgendwie wusste er, dass dies reines Wunschdenken war. Takaya konnte nur hoffen, dass Yuzuru keine falschen Schlüsse zog, und sich an ihn wenden würde, wenn er mit dem, was auch immer er gehört haben sollte, nicht klarkommen würde. Yuzurus ratlose Stimme riss Takaya aus seinen Gedanken.

„Ich mein, ich kenne Kousaka nicht, und bevor ich mir eine Meinung über einen Menschen bilde, will ich ihn selbst kennenlernen. Nun, was ich sagen will, ist... Also, ich habe ja mitbekommen, dass ihr alle nicht sehr gut auf ihn zu sprechen seid. Aber wie ich schon gesagt habe, will ich mir meine eigene Meinung bilden. Und wenn ich jetzt ehrlich bin, dann will ich diesen Menschen gar nicht kennenlernen. Ganz schön blöd, was?“, beendete Yuzuru laut seine ehrlichen Gedanken, und warf Takaya einen frustrierten Blick zu.

Dieser war über die Offenheit seines Gegenübers nicht überrascht, da er Yuzurus Wesen inzwischen sehr gut kannte. Er konnte auch verstehen, warum jenem diese Situation schwer zu schaffen machte.

Yuzuru sah in allen Menschen das Gute. Daher behandelte er alle mit gleichem Respekt, unabhängig davon, wie sich die Gegenseite ihm gegenüber verhielt. Takayas Hochachtung vor dieser Haltung kannte keine Grenzen, dennoch, er wusste, dass Yuzuru mit dieser Einstellung, die viele als naiv abstempelten, hin und wieder an seine eigenen noch vorhandenen Grenzen stieß. Dass dieser Weg kein einfacher war, musste Yuzuru oft genug spüren, aber das hatte nicht dazu geführt, dass jener einen anderen Pfad einschlug.

Takaya holte tief Luft, bevor er mit verkrampfter Miene zu reden begann.

„Kousaka mag zwar undurchsichtig erscheinen, um es mal NETT auszudrücken, aber ich glaube, er sucht eigentlich auch nur nach etwas, was ihm Frieden verschafft.“

Takaya musste sich regelrecht zwingen, diese Worte auszusprechen, aber er wollte Yuzuru etwas Trost in seiner misslichen Lage schenken.

„Takaya! Das war ein Satz für die Ewigkeit! Ich wusste gar nicht, dass du zu so etwas fähig bist!“, antwortete Yuzuru belustigt mit aufgerissenen Augen. Takaya wollte schon mit der Faust drohen, als er eine Veränderung in Yuzurus Körpersprache bemerkte.

„Danke.“, sprach dieser aus tiefstem Herzen.

„Keine Ursache...“, murmelte Takaya mit sanfter Stimme. Yuzuru und er verstummten, und blickten gemeinsam für eine Weile in den vor ihnen liegenden Garten.

Die sich inzwischen vollends ausgebreitete Dunkelheit erlaubte es lediglich, dunkle Umrisse und Schatten zu erkennen, so dass sie die Augen schlossen, und geräuschvoll die kühle Nachtluft einsogen. Die beiden schenkten den Geräuschen um sie herum verstärkte Aufmerksamkeit, und genossen die Anwesenheit des anderen.

„Oh... Das Essen! Wir sollten uns beeilen, Takaya! Ich glaube, Haruie wird sonst-“

Eine unerwartete, aber bekannte, wohlklingende Stimme aus dem Nichts, stoppte Yuzurus plötzlichen Ausbruch, und ließ die beiden zusammenzucken.
 

„Haruie hat sich inzwischen mit eurem Fortbleiben angefreundet, und angefangen zu essen. Ihr solltet euch also beeilen, wenn ihr noch etwas abbekommen wollt!“, klärte Naoe sie im amüsierten Tonfall auf, der nun ebenfalls die Veranda betrat. Takaya spürte sein Herz schneller schlagen, als sich Naoes Gesicht aus der Dunkelheit schälte. Dieser widmete ihnen ein freundliches Lächeln, während er zu ihnen trat.

Die verdrängten Gedanken an jene Berührungen im Wald schossen Takaya mit voller Wucht zurück ins Gedächtnis. Er fühlte Hitze in sich aufsteigen, und verfluchte sich innerlich dafür. Die Tatsache, dass es dunkel war, verschaffte ihm ein wenig Erleichterung, denn so würde seine veränderte Gesichtsfarbe unentdeckt bleiben. Er hoffte, dass ihn auch seine Stimme nicht verraten würde, als er sich zusammenriss und zu sprechen begann.

„Wir waren gerade auf dem Weg, also kein Grund, extra hierher zu kommen.“, antwortete Takaya übertrieben gereizt, der es vermied, Naoe in die Augen zu sehen. Er bemerkte, dass Yuzuru ihn mit einem unbestimmten Ausdruck in den Augen anstarrte und fühlte, dass sich die Wärme in seinen Wangen schlagartig erhöhte. Takaya senkte den Blick.

„Äh, also. Wir waren wirklich gerade auf dem Weg! Tut uns leid...“, stammelte nun Yuzuru unsicher, der sich der ansteigenden Spannung seines besten Freundes bewusst war.

Er blickte bekümmert zwischen Naoe, der seinen Blick auf Takaya gerichtet hielt, und Takaya, der noch immer zu Boden starrte, hin und her, ehe er einen Schritt in die Richtung machte, aus der er, und nun auch Naoe, vor einiger Zeit gekommen war.

Yuzuru sah, dass sich Takaya ebenfalls in Bewegung gesetzt hatte, aber einen Moment später, beim Klang von Naoes Stimme, wie angewurzelt stehen blieb.

„Kagetora-sama. Kann ich dich einen Moment sprechen? Allein?“

Yuzuru sah erschüttert zu Naoe rüber, der seine Augen weiterhin auf Takaya gerichtet hielt, während er sprach. Ein schmerzvoller Ausdruck lag auf dessen Gesicht, der Yuzuru den Hals zuschnürte. Während er die eigenen aufgewühlten Gefühle ausblendete, verabschiedete er sich hastig von beiden und ging schnellen Schrittes den gekommenen Weg, erneut allein, zurück. Yuzuru hoffte, dass er, bevor er wieder das Haus betrat, seine Ruhe wiederfinden würde.
 


 

Takaya hielt noch immer den Blick gesenkt. Es fiel ihm schwer, den Kopf zu heben, und zu Naoe zu schauen, der weniger als einen Meter von ihm entfernt stand. Bei seiner zu Boden gerichteten Sicht, konnte er wage dessen Schuhe erkennen, die so schwarz wie die Nacht um sie herum waren.

Verdammt! Reiß dich zusammen, Takaya! Schwäche ist jetzt nicht das, was du gebrauchen kannst...

Takaya holte tief Luft, richtete sich mit lautloser Ermunterung auf, und traf unerwartet auf Naoes vor Leidenschaft funkelnde Augen, die sich nur noch wenige Zentimeter von seinen entfernt befanden.

„Wa-“

Takaya konnte nicht zu Ende sprechen, da Naoe ihn sanft an die Hauswand drückte, und dessen Lippen ungestüm ein weiteres Mal an diesem Abend seine suchten. Als sie ihr Ziel gefunden hatten, blieb Takaya nichts anderes übrig, als sich verzweifelt an Naoes Rücken zu klammern, um nicht den Halt zu verlieren.
 

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als Naoe von ihm abließ, und einen Schritt zurücktrat. Takaya spürte noch immer Naoes weiche Lippen auf den eigenen, sowie die Wärme der Hände, die sich sanft um seine Wangen gelegt hatten. Schmeckte den flüchtigen Zigarettenrauch, als sich dessen Zunge einen Weg in seine Mundhöhle gebahnt hatte, und ihm damit einen erregenden Schauer nach dem anderen über den Rücken gesandt hatte.

Takaya presste aufgewühlt die Lippen aufeinander und zwang sich, Naoe anzublicken. Als er dessen Gesichtsausdruck sah, stockte ihm der Atem. Es schien, als könnte sich dieser zwischen Liebe, Schmerz und Schuld nicht entscheiden, und setzte somit seinem Besitzer so stark zu, dass dessen liebevoll gemeintes Lächeln eher einer Grimasse glich. Würden sie ein unbeschwertes Leben führen, hätte dieser Anblick Takaya dazu veranlasst, bereitwillig seine Arme nach Naoe auszustrecken, um diesen, ohne wenn und aber, tiefer in sein Leben hineinzuziehen. Aber die Realität sah anders aus.

Takaya spürte, dass sich mit der zurückkehrenden Fassung, in ihm die vertrauten aufgebrachten Gefühle ausbreiteten, die es ihm unmöglich machten, entspannt mit Naoe umzugehen.

„War es DAS, worüber du mit mir reden wolltest? Wenn ja, dann sind wir hier wohl fertig, und können zu den anderen gehen.“, zischte Takaya herablassend, dem diese Worte sogleich leidtaten, als er den schmerzlichen Ausdruck in Naoes Augen erblickte. Dieser senkte für einen kurzen Moment den Kopf, ehe er Takaya erneut, nun mit ausdrucksloser Miene, ansah.

„Verzeiht, Kagetora-sama.“, sprach Naoe leise, der Takaya am Gehen hinderte.

„Was!? Lass mich-“

Während Naoe zögerlich seine Hand zurückzog, begann er zu sprechen.

„Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie unser weiteres Vorgehen aussehen soll?“, fragte Naoe nun mit gewohnt ruhiger, aber ernster Stimme.
 

Takaya starrte Naoe verwundert an und überlegte, ob er wütend oder erleichtert über diese Frage sein sollte.

Er war ihr Anführer, und von daher hatte er sich natürlich schon weitere Gedanken gemacht. Lediglich die jüngsten Ereignisse um Yuzuru herum, hatten ihn seinen bereits gefassten Plan erneut überdenken lassen.

Es blieb ihnen nun keine andere Wahl, als Yuzuru zu seinem Schutz vorerst bei ihnen zu behalten. Das bedeutete, dass sich dieser gemeinsam mit ihm, Naoe und Kousaka auf den Weg nach Wajima begeben musste, um dort möglicherweise auf Shishido zu treffen, was nicht weniger gefährlich war. Vor allem dann, wenn sich herausstellt, dass Shishidos Familie wirklich hinter dem heutigen Angriff stand.

Ob Shishido selbst darin involviert war, konnten sie noch nicht mit Bestimmtheit sagen, da momentan alles dagegen sprach. Dennoch, dieser mysteriöse Mann, der Naoe als Geisel genommen hatte, um ihn herauszufordern, war mit Vorsicht zu genießen. Leider zwangen sie aber die neuen Entwicklungen um Yuzurus Person, genau diesen Mann aufzusuchen – und nicht nur deswegen.

Takaya sah in Naoes durch die Dunkelheit überschattete Augen und fragte sich, was in diesem wohl vorging. Hegte dieser Rachegefühle? Verlangte er zuviel von Naoe, wenn er befahl, Shishido unter allen Umständen erneut zu treffen?

Chiaki hatte davon gesprochen, dass es durchaus passieren könnte, dass Naoe zu irgendeinem späteren Zeitpunkt zusammenbrechen könnte, aber das war reine Vermutung. Takaya wollte sich darüber jetzt nicht den Kopf zerbrechen und hoffte, dass Naoe wusste, was er tat – auch wenn ihm klar war, dass Naoe in seinen Entscheidungen nicht wirklich frei war.
 

„Willst du mich mit dieser Frage demütigen?“, wollte Takaya unnachgiebig, trotz seiner besorgten Gedanken, wissen, und baute sich drohend vor Naoe auf.

„Ich kann mich nicht daran erinnern, solch ein Verhalten jemals toleriert zu haben...“, knurrte Takaya, dem Naoes sich plötzlich weitende Augen nicht entgangen waren.

„Wie auch immer...“, fuhr Takaya im gemäßigten Ton fort,

„...du, Yuzuru, ich und Kousaka, wenn dieser nicht schon etwas anderes vorhaben sollte, werden gemeinsam nach Wajima fahren. Geplant hatte ich diese Reise ursprünglich zu dritt, aber unter diesen Umständen möchte ich Yuzuru nicht in Matsumoto zurücklassen – selbst nicht unter dem Schutz von Chiaki und Haruie. Und was das Zurückhalten von Informationen gegenüber Chiaki und Haruie angeht, nun, da bin ich nicht deiner Meinung. Die beiden werden über alles in Kenntnis gesetzt, zumal Kousaka, wenn er uns begleiten sollte, sowieso nicht mit ihnen in Kontakt kommen wird. Yuzuru hingegen werde ich selbst nur das Nötigste erzählen und hoffe, dass er sich auf diese neue Situation ohne Schwierigkeiten einstellen kann. Chiaki wird sich darum kümmern, dass sich dessen Eltern nicht unnötig sorgen werden, und die Sache mit der Schule regeln.“

Takaya verstummte, als er am Ende der Erläuterung seines Planes angekommen war. Er blickte neugierig zu Naoe rüber, gespannt auf dessen Reaktion, die aber anders ausfiel, als er erwartet hatte – er konnte sehen, dass Naoe lediglich wortlos nickte, sich anschließend umdrehte, um sich dann mit lautlosen Schritten von ihm zu entfernen.

Takaya starrte verblüfft auf den sich entfernenden Rücken und musste zugeben, dass er nicht wirklich wusste, was er eigentlich erwarten konnte, denn schließlich waren seine Anweisungen Gesetz. Trotzdem fand er ein sich-wortloses-Zurückziehen völlig daneben, und spürte seinen Ärger erneut aufflammen.

„HEY!“, rief er aufgebracht, obwohl er innerlich über seine Schwäche – seine emotionale Abhängigkeit – fluchte. Takaya sah, dass Naoe stehenblieb, und sich ihm zuwandte.

„Kagetora-sama?!“, rief dieser fragend, während Takaya bei diesem Namen für einen Moment zusammenzuckte, ehe er, seinen Ärger unterdrückend, mit selbstbewussten Schritten auf den älteren Mann zutrat.

„Damit das klar ist... Ich denke, ich muss dich nicht darauf hinweisen, dass du gewisse DINGE in nächster Zeit unterlassen solltest, wenn wir nach Wajima fahren. Verstanden?“, sprach Takaya mit fester Stimme, der dabei Naoes Berührungen vor Augen hatte und sich bemühte, seine wachsende Aufregung zu verbergen. Er trat an Naoe vorbei, und ließ nun seinerseits diesen wortlos zurück.

Ungewollt

Der Wagen bog langsam um die Ecke, und verschwand aus Takayas Sichtfeld. Dieser stand, beide Hände in die Jackentaschen gesteckt, auf dem Parkplatz vor dem Haus. Er blickte noch einen Moment in jene Richtung, bevor er sich gedankenverloren umwandte, und zurück zum Gebäude ging.

Der Sonnenaufgang war erst wenige Minuten alt, und hatte daher die nächtliche Kühle noch nicht vertrieben. Takaya fröstelte und vermochte nicht zu sagen, ob es die kalte Luft war, die ihm eine Gänsehaut verursachte, oder es die bevorstehenden Ereignisse waren.

Unbewusst beschleunigte er mit der Sonne im Rücken seinen Schritt, um wenige Augenblicke später in der Lage sein zu können, eine der beiden Möglichkeiten auszuschließen.
 

Takayas früher Aufenthalt hier draußen im Freien hatte eine einfache Erklärung. Vor ein paar Minuten verabschiedete er Haruie und Chiaki, die sich nun auf dem Weg zurück nach Matsumoto befanden. Dieses hatten sie am Vorabend gemeinsam abgesprochen, doch der Beschluss dazu, wurde schon viel früher von ihm allein getroffen. Lediglich die Einzelheiten, zumindest diese, welche in Gegenwart von Kousaka offenbart werden konnten, wurden lang und breit erörtert.

Takaya hatte seine Freunde zum Abschied noch einmal zur Vorsicht gemahnt, und ihnen gleichzeitig versichert, dass sie sich keine Sorgen machen brauchten. Haruie musste er mehrmals versprechen, keine Dummheiten zu begehen, und bloß nicht Kousaka aus den Augen zu lassen.

Bei ihren ernsthaften Belehrungen hatte er sich das Lachen nicht verkneifen können. Das hatte dazu geführt, dass Haruie ihm einen ärgerlichen Blick zugeworfen hatte. Leider hatte ihr strafendes Verhalten eine für sie ungeplante Wirkung auf ihn gehabt – er hatte nur noch mehr lachen müssen.

Grund seines belustigten Verhaltens waren Bilder von ihr gewesen, die ihm ungewollt durch den Kopf geschossen waren. Diese zeigten Haruie und Kousaka, wie sie sich am vergangenen Abend mehr als einmal heftig in die Haare bekommen hatten.

Die Auslöser dieser Auseinandersetzungen waren eigentlich zu unbedeutend, um sie überhaupt als solche bezeichnen zu können. Aber da sich die beiden auf den Tod nicht ausstehen konnten, war es ihnen daher umso leichter gefallen, beim kleinsten Anzeichen der Schwäche des anderen zuzuschlagen.

Takaya war uneins darüber, ob Kousaka nicht vielleicht nur so empfindlich tat. Er wurde das Gefühl nicht los, dass dieser absichtlich versuchte, Haruie auf die Palme zu bringen, um sich dann insgeheim über ihre Entrüstung zu amüsieren.

Solch ein Verhalten entspräche genau dem Kousaka, den er schon seit einer kleinen Ewigkeit kannte – nett war es dennoch nicht. Aber was war auch schon nett, wenn es um Kousaka ging. Takaya musste nur an dessen unfreundliches Verhalten in der Waldhütte denken, als er nach Wochen der Angst und des Zorns endlich Naoe wieder gegenüberstehen konnte. Der Gedanke an diese unschöne Begegnung löste nach wie vor große Wut in ihm aus.
 

Mit diesem wieder aufflammenden Gefühl betrat Takaya die Veranda, und war im Begriff, das Haus zu betreten, als er drinnen zwei Stimmen hörte, die sich leise miteinander unterhielten. Seine Vorwärtsbewegung kam zum Stillstand, und er musterte aufmerksam die Tür vor sich. Er hatte nicht gedacht, dass noch jemand so früh wach wäre – am allerwenigsten hatte er das von Kousaka erwartet.

Takaya überlegte einen Moment, ob er die Unterhaltung mit seinem Eintritt unterbrechen, oder ihr weiter im Verborgenen lauschen sollte. Er war unentschlossen. Als dann jedoch unerwarteter Weise sein Name fiel, traf er eine Entscheidung, und hielt für einen Augenblick gespannt den Atem an.
 

„... was willst du von mir hören, Naoe?! Glaubst du etwa, ich wüsste das nicht? Es war nicht meine Idee gewesen. Aber wie gesagt, es hat ihn zumindest nicht verrückter gemacht, als er es eh schon-“

„Spar dir deinen Kommentar, Kousaka. Ich kann mir gut vorstellen, wie es dich insgeheim gefreut haben muss, Kagetora so zu sehen. Aber glaube mir, wenn ich nur das geringste Anzeichen eines Verrates spüre, war es das für dich.“

„Hooo?! Spricht da jetzt der Liebende, oder der treudoofe Hund aus dir?“

„Wage es nicht...“
 

Takaya vernahm das Rascheln von Kleidung, kurze Schritte und anschließend ein dumpfes Geräusch, was ihn schlussfolgern ließ, dass die zwei Personen innerhalb des Hauses in ein Handgemenge verwickelt waren. Dieses schien damit zu enden, dass sich eine der beiden nun mit dem Rücken an der Wand befand.

Er hörte, wie die beiden älteren Männer ihre Unterhaltung fortsetzten.
 

„Du müsstest dich selbst sehen, Naoe. ... Dieser Mann ist dein Untergang, aber du verschließt die Augen davor. Hat es sich nicht gut angefühlt, allein unterwegs zu sein, frei darüber entscheiden zu können, was du als nächstes machst?“

„...“
 

Takaya riss überrascht die Augen auf. Er hatte keine Ahnung, wie das Gespräch der zwei begonnen hatte. Noch wusste er, worum es ging. Dennoch packte ihn Furcht, als er Kousaka so leidenschaftlich reden hörte. Was hatte dieser Mann wirklich vor?
 

„Ist es nicht an der Zeit, loszulassen?“
 

Er nahm erneut Schritte wahr.
 

„Naoe... Verwechselst du nicht Liebe mit Hass? Treue mit Abhängig-“

„Was weißt du schon, Kousaka?! Nichts, überhaupt nichts. Alles was du kennst, sind deine eigenen tiefen Abgründe. ... Du bist nur dir selbst ergeben. Komm mir also nicht mit Erklärungen über zwischenmenschliche Beziehungen, von denen du keinerlei Ahnung hast...“

„ ... So? Denkst du das? Da muss ich dich leider enttäuschen. Es gibt einen Menschen, der mir wichtig ist, schon immer wichtig gewesen war. Und es gab Zeiten, in denen ich mich dafür gehasst habe. Diese sind zwar vorbei, aber besser geht es mir trotzdem nicht. Nicht, bis ich eine Antwort gefunden habe.“
 

Takayas Unbehagen verstärkte sich. Gleichzeitig breitete sich große Neugier in ihm aus. Wer war diese Person, von der Kousaka sprach? Es fiel ihm äußerst schwer auch nur annährend zu glauben, dass diesem Mann noch etwas anderes wichtig wäre als er selbst.
 

„Ich weiß nicht, was du sagen willst, Kousaka. Aber bei deiner Suche nach der Antwort werde ich dir wohl kaum helfen können. ... NICHT HELFEN WOLLEN, trifft es da besser.“
 

Naoes kalte Lachen erfüllte den Raum vor der Tür. Takaya schluckte. Er hatte Naoe noch nie so mit einer anderen Person reden hören.

Gegen ihn selbst gerichtet, war ihm dieses Verhalten nicht neu. Oft genug hatten sie miteinander gerungen, und den anderen dabei völlig bloßgestellt. Dennoch, solch eine Auseinandersetzung als Unbeteiligter mitzuerleben, traf Takaya hart.
 

„Wer hat gesagt, dass ich deine Hilfe haben will?! Aber nett, dass du darüber nachgedacht hast.“
 

Takaya hörte nun Kousaka spöttisch lachen.
 

„Aber ich kann dir etwas verraten, Naoe! Ob du es willst oder nicht, du hilfst mir bereits bei meiner Suche.“
 

Ein eiskalter Schauer lief Takayas Rücken hinab. Er war über den eingeschlagenen Weg seiner Gedanken alles andere als erfreut. Es wäre absurd, würden seine rasenden Gedanken der Wahrheit entsprechen.
 

„Verschon mich damit, Kousaka. Ob ich dir nun helfe oder nicht, ist mir völlig gleich. Aber ich rate dir eins, versuch nicht, mich vollends gegen dich aufzubringen. Und vor allem, lass deine Finger von Yuzuru. Ich weiß, dass es ein Fehler war, ihn mit dir allein zu lassen. Ich kann mir auch gut vorstellen, worüber ihr gesprochen habt. Aber erwische ich dich dabei, dass du erneut versuchst, ihn unbewusst zu beeinflussen, dann werde ich nicht um Erlaubnis fragen, dich aus deinem jetzigen Körper zu befördern. Haben wir uns verstanden?“

„Unterschätzt du da vielleicht nicht wen? Ist dir mal in den Sinn gekommen, dass Yuzuru auch von selbst aus die treibende Kraft sein könnte? Der Junge, und was auch immer in ihm schlummern mag, ist zu weit mehr fähig, als du es je sein wirst, Naoe. Aber das muss ich dir nicht sagen.“
 

Takaya dachte an Yuzuru. Es stimmte, dass sie sich dem Anschein nach wenig um dessen Besonderheit kümmerten. Aber das geschah nicht, weil sie absichtlich verkanten, dass Yuzuru etwas Außergewöhnliches war. Nein. Es war ihre Absicht, es so aussehen zu lassen.

Je weniger Informationen über Yuzurus Kräfte nach außen drangen, desto mehr konnte dieser ein halbwegs normales Leben führen – aber sie würden Yuzuru niemals allein lassen können.

Takaya und seine engsten Vertrauten waren nicht blind. Sie wussten um die verborgenen Machenschaften einiger machthungriger Familien, die seinen besten Freund nur zu gerne in die Hände bekommen würden.
 

„Ich wiederhole mich ungern. Halte dich von Yuzuru UND Kagetora fern.“
 

In Naoes Stimme schwang ein bedrohlicher Unterton mit, der Takaya erneut bewusst machte, was für ein gefährlicher Mann dieser eigentlich war. Gefährlich, aber zugleich ungemein fähig – fähig auf gleicher Ebene mit ihm stehen zu können, wenn er, Takaya, es nur zulassen würde.

Er hörte Schritte. Es schien, als kämen diese der Tür näher. Takaya spürte für einen Moment Panik in sich aufsteigen. Sollte er sich unbemerkt entfernen? Er verfluchte sich innerlich für dieses Gefühl. Warum sollte er flüchten? War er nicht die alles entscheidende Person hier, und musste sich für nichts rechtfertigen – schon gar nicht für ein durch Zufall mitgehörtes Gespräch?! Das Geräusch der Schritte stoppte.

Takaya biss sich zwiespältig auf die Unterlippe, und verharrte weiter vor der Tür. Er vernahm Kousakas Stimmer ein weiteres Mal.
 

„Wenn du mich so ansiehst, dann frage ich mich manchmal wirklich, warum Kagetoras Seele überhaupt noch unter uns weilt! Aber egal. Solange ich nicht der Grund für den Ausdruck auf deinem Gesicht bin, sollte ich mich glücklich schätzen. ... Obwohl ich mir manchmal...“
 

Takaya konnte Kousaka nicht mehr hören, da dieser zum Ende hin immer leiser sprach. Er hätte seine Macht einsetzen können, um dessen Stimme deutlicher wahrnehmen zu können, aber damit hätte er sich verraten.

Vielleicht hatte Kousaka auch gar nicht weiter gesprochen. Dennoch verstärkte dessen halbgehörter Satz seine absurden Gedanken, aber Takaya verdrängte sie vehement. Er wollte sich damit nicht zusätzlich belasten.

Takaya unterdrückte ein müdes Seufzen, und wandte sich von der Tür ab. Er wollte weder weiter Zuhörer sein, noch Opfer seiner eigenen aufbegehrenden Gefühle und Gedanken werden.
 

Während er sich entschlossen entfernte und um die Hausecke trat, stand er dem Garten gegenüber. Dieser lag im Dunklen, da sich der Schatten des Hauses noch immer machtvoll über diesen ausgebreitet hatte.

Aber Takaya konnte sehen, dass dessen Macht schrumpfte, und der Geltungsbereich unaufhaltsam kleiner wurde.

Er zog die Jacke enger um sich, und atmete tief ein. Die Gänsehaut, die er nun verspürte, hatte nichts mit der kalten Luft um ihn herum zu tun.
 


 

Arakawa Sasuke beendete das Telefongespräch, und fuhr sich erleichtert durch sein dunkles volles Haar. Es war jedes Mal das Gleiche. Da spielte es auch keine Rolle, dass DIESE Telefonate mit seinem älteren Bruder nun schon regelmäßig seit vier Jahren stattfanden. Vielleicht würde er sich dabei entspannter fühlen, wenn es Gespräche wären, bei denen es einzig und allein um ihn und Kaito ging, aber so?

Er steckte das Handy wieder in seine Jackentasche, und starrte aus der Windschutzscheibe seines Wagens. Seine Gedanken wanderten zu seinem Bruder Kaito.
 

Arakawa Kaito war sein drei Jahre älterer Bruder, der im Dienste von Shishido Kiyoshi, ehemals Sakamoto Isamu, arbeitete, und diesem Mann völlig ergeben war.

Sasuke verzog bei dem Gedanken das Gesicht. Es fiel ihm nach all den Jahren noch immer schwer zu akzeptieren, dass ihn sein Bruder damals zurückgelassen hatte, um dem Sohn seines Herren die Treue zu schwören – oder eher die Liebe, wie Sasuke bissig dachte.

Alles begann, er und Kaito nach dem Tod ihrer Eltern gemeinsam in die Obhut der Familie Sakamoto gelangten. Dessen Oberhaupt, Sakamoto Kyosuke, bot ihnen die Möglichkeit, ein Leben lang im Dienste des Familienclans arbeiten zu können, um auf diese Weise zu Ruhm und Ehre zu gelangen.

Sasuke war zu diesem Zeitpunkt gerade mal 12 Jahre alt gewesen. Sein Bruder Kaito 15. Ihm waren die Wörter Ruhm und Ehre damals nur ein Begriff im Zusammenhang mit den Büchern, die er bis dahin gelesen hatte. Er hatte keinerlei Ahnung gehabt, mit was diese letztlich in der Realität gefüllt waren.

Sein Gefühl hatte ihn zu jener Zeit davor gewarnt, der Familie die Treue zu schwören. Aber er hatte macht- und ahnungslos neben seinem geliebten Bruder gesessen, der den Schwur einging, und ihn auf diese Weise mit verpflichtete, da er auf keinen Fall von diesem getrennt werden wollte.

Seit jenem Tag waren 15 Jahre vergangen, von denen er 10 gemeinsam mit seinen Bruder in der Familie verbracht hatte. Sie durchliefen eine strenge und harte Ausbildung, die sie am Ende zu den fähigsten und ergebensten Männern innerhalb des Familienverbandes machten.

Kaito und er waren unzertrennlich gewesen. Sie hatten bei jedem Auftrag zusammen gearbeitet, und jeden einzelnen erfolgreich beendet. Obwohl sie damals keine führende Rolle in der Familie innehatten, wurden sie voller Respekt behandelt, und häufiger zu Rate gezogen, als es dem ein oder anderen in einer höheren Stellung lieb war.

Das Schwinden ihres brüderlichen Bundes begann drei Jahre bevor Kaito die Familie unerwartet verließ. In dieser Zeit beschäftigten sie sich während ihrer Ausbildung gerade mit Studien zur Familiegeschichte der Sakamotos, die Generationen zurückreichte. Dabei hatte sein Bruder von Isamu erfahren, der der verbannte Sohn des Clanoberhauptes war.

Dieses Kapitel war ein schwarzes, und ungern erzähltes der Familie. Sasuke war aufgefallen, dass sein Bruder besorgniserregend viel Zeit über diesen Aufzeichnungen verbrachte. Er konnte sich erinnern, dass Kaito häufiger davon gesprochen hatte, diesen Isamu unbedingt kennenlernen zu wollen.

Sasuke hatte dieser Aussage nie viel Bedeutung beigemessen. Schließlich war Isamu ein Verbannter, und niemand hatte auch nur annährend eine Ahnung, wo er sich befinden könnte. Als Kaito dann wortlos verschwand, wurde er eines Besseren belehrt.

Der Aufschrei innerhalb des Clans war groß, aber niemand, auch nicht er, wurde gesandt, um seinen Bruder zurückzuholen. Aber genau das hatte er sich gewünscht gehabt. Er wollte seinem Bruder folgen. Er wollte ihn finden. Und wenn das passiert wäre, hätte er genauso die Familie verraten, da er nicht zurückgekehrt wäre. Aber das war nicht geschehen.

Ein Jahr lang hatte er weder etwas gehört, noch etwas gesehen von seinem älteren Bruder. Dann, völlig unerwartet, war dieser bei ihm aufgetaucht, als er gerade allein wegen eines Auftrages unterwegs war. Zu seiner Verblüffung kam Kaito nicht allein, sondern war in Begleitung jenes Mannes, nach dem sich dieser in den letzten drei Jahren vor seinem Verlassen der Familie gesehnt hatte.

Shishido Kiyoshis Bekanntschaft, wie sich der Sohn des Oberhauptes nun nannte, war beängstigend, aber zur gleichen Zeit faszinierend für ihn gewesen. Den Mann hatte eine Aura der Macht umgeben, die ihm schmerzlich vertraut vorgekommen war, und der er sich damals, wie auch heute noch, nicht hatte entziehen können.

Sasuke wusste um die Besonderheit der Familie Sakamoto. Ihm war bekannt, dass deren Einfluss auf Stärke beruhte, die keinen irdischen Ursprung hatte, denn Sakamoto Kyosuke war ein vergangener Kriegsfürst, dessen Machthunger es nicht zuließ, dass die Jahrhunderte überdauernde Seele endlich zur Ruhe kam. Und Isamu war sein Sohn, der ihm um nichts nachstand.

Die Ähnlichkeit in der Macht, die Sasuke zwischen seinem Herren und dessen Sohn verspürt hatte, half ihm zu jener Zeit dabei, ohne große Schuldgefühle den Eid gegenüber dem Oberhaupt zu brechen, und einen neuen auf dessen Sohn zu schwören.

Insgeheim hatte er aber, zu dieser Schlussfolgerung war er erst viel später gekommen, seinem Bruder die Treue geschworen, denn er wollte auf keinen Fall weiteres Mal verlassen werden. Ungeachtet also der Tatsache, dass er und sein Bruder an unterschiedlichen Orten lebten, waren sie nun durch Kiyoshi bis in alle Ewigkeit miteinander verbunden.
 

Sasuke lachte spöttisch, während er müde seine Augen schloss.

„Bis in alle Ewigkeit als Spion zu arbeiten, klingt eigentlich weniger verlockend, Shishido. Aber wenn du schon meinen Bruder an dich gebunden hast, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als dir zu folgen, damit ich ihn nicht wieder verliere.“

Er öffnete seine grünen Augen, und starrte für einen Moment entschlossen in die Ferne.

„Für immer zusammen... Nun denn, dann will ich mal meinem Herrn einen Besuch abstatten.“

Sasuke startete das Auto, um sich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt zu machen. Während er unnötig schnell anfuhr, verrutschte die große Tasche im Fußraum des Beifahrersitzes, aus der der Lauf seines schwarzen Gewehres ragte.
 


 

Yuzuru starrte über den Rand seiner Teetasse hinüber zu Takaya, der sich gerade heftig mit Kousaka über den Reiseweg nach Wajima – oder besser gesagt, über einen ungeplanten und nicht abgesprochenen Halt in Nagano stritt. Beide hatten ihre Stimmen inzwischen erhoben, hielten stur an ihrer Meinung fest, und waren zudem vom Gegenüber maßlos genervt.
 

„Ein letztes Mal, Kousaka! Wir werden in Nagano anhalten. Basta!“

„Es ist MEIN Auto! ICH bin der Fahrer! Du kannst mir also nicht befehlen, mein Auto in Nagano zu parken!“

Kousaka lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, und funkelte Takaya wütend an.

„Und ob ich das kann! Wenn es dir nicht passt, musst du es nur sagen, und wir werden ohne dich mit einem anderen Auto fahren“, entgegnete Takaya nicht weniger aufgebracht.
 

Yuzuru ließ seinen Blick zur Tür wandern, aus der Naoe vor wenigen Minuten gegangen war, um im Garten, wie er sagte, eine Zigarette zu rauchen. Yuzuru nahm an, dass der wahre Grund für dessen Verschwinden die Diskussion um Nagano, und einer Frau Namens Takahashi Eri war, der Takaya unbedingt vorher einen Besuch abstatten wollte.

Yuzuru hatte keine Ahnung, wer diese Person war, aber Naoes Gesicht hatte nichts Gutes ahnen lassen. Dieses war, als Takaya ihnen sein Vorhaben unterbreitete, kreidebleich geworden.

Dieses Verhalten hatte ihn neugierig werden lassen, und er beschloss, Takaya später nach dieser Frau zu fragen. Jetzt aber würde er erst einmal abwarten und weiter aufmerksam der Diskussion folgen, um durch diese vielleicht noch das ein oder andere zu erfahren.
 

„Ach ja? Und wie wollt ihr ohne mein Auto von hier wegkommen? Schon mal darüber nachgedacht? Und überhaupt, was du willst du dort ein weiteres Mal? War es beim ersten Mal nicht genug, Kagetora? Es ist ja nicht so, dass ich nicht wüsste, dass du drauf stehst, zu leiden und andere leiden zu lassen, aber... Könntest du diesmal nicht deinen Drang etwas zügeln, und vielleicht einmal an Naoe denken?“, erwiderte Kousaka plötzlich mit ernster Stimme, der Takaya mit einem undurchdringlichen Blick bedachte. Dieser starrte für einen Moment schweigend zurück.

„Wir fahren nach Nagano. In einer halben Stunde brechen wir auf. Keine weitere Diskussion, Kousaka. Seht zu, dass ihr bis dahin fertig seid.“, sprach Takaya mit unerwartet befehlerischer Stimme, der Kousaka nichts mehr entgegensetzen konnte. Mit einem respektlosen Gemurmel schenkte Kousaka sich ablenkend eine weitere Tasse Tee ein, und blickte anschließend Takaya verächtlich hinterher, der mit großen Schritten den Raum verließ.
 

Yuzuru sah zu Kousaka, der seinen Blick inzwischen von der Tür abgewandt hatte, und stumm auf die vor ihm stehende Teetasse stierte. Einen Moment später seufzte dieser laut, und richtete seine Augen auf ihn. Kousakas stechender Blick ließ Unbehagen in ihm aufsteigen.

„Willst du wissen, wer Takahashi Eri ist?“

Kousakas plötzliche Frage ließ Yuzuru zusammenschrecken. Er wusste nicht, ob er bleiben sollte, um aus dessen Mund die Antworten auf seine Fragen zu erhalten. Oder ob er einfach wartete, um Takaya die Möglichkeit zu geben, seine wachsende Neugier zu stillen.

Seine Gedanken begannen zu rasen. Er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob Takaya das auch tatsächlich tun würde. Unentschlossenheit breitete sich in ihm aus.

„Ich gehe mal davon aus, dass keine Antwort auch eine Antwort ist.“, hörte er Kousaka sagen, der ihm nun ein breites Grinsen schenkte. Dieser begann einfach unaufgefordert zu erzählen, und traf auf diese Weise seine Entscheidung.
 

Naoe steckte sich eine weitere Zigarette an. Er starrte dabei unbestimmt in die Ferne, und hing seinen aufgewühlten Gedanken nach.

Takayas Vorhaben hatte ihn eiskalt getroffen. Es fiel ihm schwer zu verstehen, warum dieser Takahashi unbedingt ein weiteres Mal aufsuchen wollte. Schließlich gab es zum einen keinen zwingenden Grund dafür, und zum anderen würde das ihre Fahrt nach Wajima nur verzögern.

Eigentlich wollte Naoe es auch gar nicht verstehen. Die kurze Zeit, die er mit ihr zusammen in Shishidos Gefangenschaft verbringen musste, war schmerzhaft gewesen. Es hatte kaum einen Moment während jener Zeit gegeben, in der sich seine Gedanken nicht um Kagetoras Geliebte aus dem vorherigen Lebens gedreht hatten. Er wollte das alles hinter sich lassen, aber es war ihm nicht erlaubt.

Naoe griff in seine Hosentasche, und beförderte einen filigranen Gegenstand zutage, der in der Vormittagssonne schicksalhaft zu glitzern schien. Als er die Kette vor sich in die Luft hielt, wurde sie sanft durch den Wind in Bewegung versetzt.

Er seufzte wehmütig. Zu seinem Bedauern war die sich bewegende Luft nicht in der Lage, seine schuldbewussten Gedanken einfach fortzutragen. Dafür riss sie aber gnadenlos den Rauch mit sich, der seine Lunge beim Ausatmen wieder verließ. Naoe wünschte sich, dass sich seine quälenden Gedanken ebenso leicht von ihr davontragen lassen würden. Er steckte die Kette zurück in seine Tasche, und zuckte einen Wimpernschlag später zusammen, als er Takayas Stimme hinter sich vernahm.

„Ich kann mich daran erinnern, dass du einmal gesagt hast, du würdest nur rauchen, wenn du frei hast. Hat sich das inzwischen geändert?“
 

Naoe wandte sich langsam um, und sah dem Mann in die Augen, der sein ganzes Sein bestimmte.

„Ich weiß nicht... Mir war einfach danach.“, antwortete Naoe nach einem kurzen Moment leise, bevor er seinen Blick langsam wieder abwandte und abermals an seiner Zigarette zog. Er bemerkte, dass er nervös mit der Kette in seiner Hosentasche spielte, und dabei Takayas bohrenden Blick spürte. Dieser gab einen genervten Ton von sich.

„Ich hoffe, Kousaka wird sich nicht jedes Mal so aufspielen. Seine spezielle Persönlichkeit ist so schon schwer auszuhalten. Wie dem auch sei, ich habe beschlossen, dass wir in einer halben Stunde aufbrechen. Wir werden etwas mehr als eine Stunde bis Nagano brauchen. Wir werden den Stopp dort auch dazu nutzen, um etwas zu Essen für die Weiterfahrt zu besorgen.“, erklärte Takaya, der spürte, dass seine Aufregung bezüglich Kousaka nachließ, während er hier draußen zu Naoe sprach. Gleichzeitig aber fühlte er Unbehagen in sich aufsteigen. Ihm war bewusst, dass seine Entscheidung, Takahashi ein weiteres Mal aufzusuchen, Naoe ziemlich aufgewühlt haben musste.
 

Aufgewühlt in zweifacher Hinsicht. Denn Takahashi erinnerte Naoe nicht nur an die brutale Gefangenschaft unter Shishido, sondern auch an die Verzweiflungstat, die das Leben jener Schwester gekostet hatte.

Takaya hatte bestimmt nicht vor, sich oder Naoe mit diesem erneuten Besuch zu quälen, wie es ein gewisser junger Mann vor wenigen Minuten behauptet hatte. Dennoch konnte er aber auch nicht mit Bestimmtheit sagen, warum er Takahashi noch einmal sehen musste. Er hatte einfach so ein Gefühl. Natürlich konnte Takaya ihr nach wie vor nichts über die Wahrheit bezüglich des Todes ihrer Schwester sagen. Dafür wollte er aber Takahashi zumindest über Naoes erfolgreiches Auffinden in Kenntnis setzen. Vielleicht wollte er sie aber auch nur erneut sehen, weil sie ein lebendes Verbindungsstück zur verstorbenen Minako war.

Es war kompliziert. Seine Gefühle waren kompliziert. Je länger er darüber nachdachte, desto unsicherer fühlte er sich mit seiner getroffenen Entscheidung.
 

Takaya betrachte Naoe, der mit einer Hand in der Hosentasche neben ihm stehend gelassen seine Zigarette aufrauchte, und dabei unbestimmt in die Ferne sah. Während sein Blick auf Naoes Mund fiel, der ein weiteres Mal den Zigarettenfilter umschloss, musste er an ihre leidenschaftlichen Küsse vom Vortag denken. Naoes Arme, in denen er sich unbeherrscht hatte fallen lassen. Die Berührungen ihrer Lippen. Die Wärme ihrer verschlungenen Zungen. Naoes heißer Atem, der wie eine sanfte Brise seinen Hals gestreift hatte. Und nicht zuletzt Naoes Lächeln... Ein sanftes Lächeln, dessen Wärme sich in den vor Leidenschaft brennenden Augen widerspiegelte.

Dieser seltene Ausdruck auf Naoes Gesicht hatte Takaya kaum Schlaf finden lassen. Denn immer wieder hatte sich ihm dieser aufgedrängt, sobald er seine Augen schloss. Takaya wurde das Gefühl nicht los, dass er etwas gesehen hatte, was er nicht hätte sehen sollen. Oder besser, er definitiv nicht hatte sehen wollen. Er verdrängte diese Gedanken und die damit verbundenen Gefühle aus seinem Denken, und sah ebenfalls schweigend in die Ferne.

Nach kurzer Stille, die lediglich durch vereinzelte ferne Vogelschreie unterbrochen wurde, ergriff Naoe das Wort.

„Ich denke, Kousaka wird sich noch häufiger aufspielen. Daran führt kein Weg vorbei, außer natürlich, ihn von dieser Reise auszuschließen. Aber das willst du ja nicht...“

„’Nicht wollen’ stimmt nicht ganz, und das weißt du.“, antwortete Takaya defensiver als beabsichtigt, und richtete seine Augen wieder auf den neben ihm stehenden Mann. Sein Blick fiel auf Naoes Hände, denn dieser war gerade dabei, mit seinen schlanken Fingern die aufgerauchte Zigarette im mitgebrachten Aschenbecher auszudrücken. Damit fertig, konnte Takaya sehen, wie Naoe diesen in der Jackentasche verschwinden ließ, und sich nun beide Hände in die Hosentaschen steckte. Er riss seinen Blick los, und setzte seine Entgegnung mit unerschütterlicher Stimme fort.

„Kousaka hat, genau wie wir, viel zu verbergen und somit auch viel zu verlieren. Soll uns also recht sein, wenn ihm vielleicht das ein oder andere unbewusst über die Lippen rutscht, während er mit uns unterwegs ist.“

„Das mag stimmen, aber Yuzurus Gegenwart lässt die ganze Angelegenheit komplizierter werden. Ich nehme an, du hast den Blick deines besten Freundes gestern Abend auch gesehen?! Ich denke, Kousaka wird sich ein Spaß daraus machen, Yuzuru über Dinge aufzuklären, die dieser vielleicht noch nicht, oder besser überhaupt nicht erfahren sollte. Wir werden nicht in der Lage sein, ständig in dessen Nähe zu sein, um aufzupassen. Genau wie jetzt...“

Naoe blickte Takaya wissend in die Augen. Dieser erwiderte fest den Blick, und ließ dabei das Gesagte auf sich wirken.
 

Natürlich war ihm Yuzurus befangenes Verhalten aufgefallen, als Naoe unerwartet bei ihnen auf der Veranda aufgetaucht war, um sie zum Essen zu holen. Im ersten Moment konnte er sich dieses nicht erklären. Später aber wurde ihm bewusst, dass Kousaka etwas über seine und Naoes schwierige Beziehung zueinander gesagt haben musste, das weit über das Offensichtliche hinausging.

Es hatte ihn verärgert, und er war wütend auf Kousaka geworden, da dieser über Sachen mit Yuzuru sprach, die er seinem Freund irgendwann selbst erzählen wollte. Gleichzeitig hatte er dabei aber große Wut auf sich selbst verspürt, und sich innerlich über seine Unfähigkeit aufgeregt, nicht absolut offen und ehrlich mit Yuzuru umgehen zu können. Er hatte sich vorgenommen, zu einem späteren Zeitpunkt gewisse Dinge anzusprechen, um damit Yuzurus Neugier zu stillen, und die eigene Unruhe und Schwäche Kousaka gegenüber abzulegen.
 

„Ich vertraue Yuzuru und denke, Kousaka hat hier einen Fehler gemacht. Ich glaube, er wird sich mit seinem Verhalten früher oder später ins eigene Fleisch schneiden, und dadurch durchschaubarer für uns werden. Meinst du nicht auch?“

„Vielleicht.“, entgegnete Naoe unbestimmt, der plötzlich den Wunsch verspürte, Takayas Gesicht zu berühren. Er wollte ihm durch die dunkle Haare fahren, und dessen Mund mit seinem bedecken. Sein Verlangen beschleunigte unbewusst seinen Herzschlag, und ließ seine innere Anspannung steigen. Es drohte ihm die Kehle zuzuschnüren, so dass er sich gezwungen sah, das Bedürfnis nach Takayas körperlicher Nähe zu unterdrücken. Er schloss für einen Moment hilflos die Augen, als das Klingeln eines Telefons erklang.

Naoe sah zu Takaya, der entschuldigend das Gespräch annahm, und sich einige Schritte entfernte. Er sah ihm sehnsuchtsvoll nach, und versetzte sich innerlich dafür eine Ohrfeige, damit sein unterdrücktes Verlangen nicht die Oberhand gewann, und er wieder zu einem kühlen Kopf kam.

Was hat er so schön gesagt... ‚Ich soll mich zu gewissen DINGEN in nächster Zeit nicht hinreißen lassen...’ Heißt das jetzt, dass es generell okay ist, nur nicht jetzt... Verdammt, Kagetora, wie soll ich das jetzt aushalten, nachdem du so etwas sagst...
 

„Die beiden sind sicher in Matsumoto angekommen.“

Takayas wieder näherkommende Stimme riss Naoe aus den Gedanken.

„Außerdem befindet sich Takahashi, wie von mir erhofft, zu Hause in Nagano, so dass wir den Besuch wie entschieden durchführen können.“

Takahashis Name ließ Naoe für einen Moment zusammenzucken, während sich seine Hand um die Kette verkrampfte.

„Hör zu, Naoe... Ich weiß, dass es für dich nicht einfach ist, ebenso wenig wie für mich, aber ich muss unbedingt noch einmal zu ihr. Ich verlange nicht, dass du mich verstehst, denn ich begreife mich selbst nicht einmal. Aber ich hoffe, dass das jetzt nicht irgendeine Kurzschlussreaktion auslöst. Ich mein, also... Chiaki hat da so etwas erwähnt.“

„Kein Grund, sich zu Sorgen, Kagetora-sama.“, erwiderte Naoe mit unerwartet kühler Stimme, die nun Takaya zusammenfahren ließ. Dieser suchte in Naoes Gesicht nach Anzeichen für dessen plötzlichen Stimmungsumschwung.

„Bevor ich es vergesse, hier...“

Takaya sah, dass Naoe eine Hand aus der Hosentasche nahm, und dabei einen silbern schimmernden Gegenstand hervorzog, den dieser ihm anschließend entgegenhielt. Er erkannte, dass es sich um eine Kette mit einem Anhänger handelte, und fragte sich gleichzeitig, wieso Naoe so etwas besaß. Noch mehr wunderte ihn natürlich die Tatsache, dass er diese nehmen sollte.

„W- was?“, stammelte er verlegen, als Naoe sanft aber bestimmt nach seiner Hand griff, und die Kette auf die geöffnete Handfläche gleiten ließ.

Takaya sah von Naoes Gesicht zu der Hand, und hielt für einen Moment überrascht den Atem an. Der Anhänger der Kette bestand aus drei kunstvoll ausgearbeiteten silbernen Rosenblüten, in deren Mitte sich jeweils ein roter Edelstein befand. Auch wenn er sich bisher nicht viel aus Schmuck gemacht hatte, musste er zugeben, dass er diesen Anhänger wunderschön fand. Takaya blickte verwundert zurück in Naoes Gesicht, und entdeckte dort für einen Moment einen schmerzlichen Ausdruck, den dieser aber sofort wieder verschwinden ließ.

Zur Verwunderung gesellte sich Sorge und Takaya hoffte, dass Naoe sich von allein erklärte, so dass er keine Fragen stellen musste. Er sah forschend in Naoes Augen und geriet beinah aus der Fassung, als dieser sanft die Finger seiner Hand um die Kette schloss. Naoes warme Hand war für einen Augenblick alles, was sein Denken ausfüllte.

„Könntest du diese bitte Takahashi geben, wenn du sie triffst? Es ist ihre.“

„W- wie, es ist ihre?! Warum hast du sie dann?“

„Sie hat sie mir gegeben.“

„Nun, dann hatte sie einen Grund, oder? Du kannst sie doch nicht einfach wieder zurückgeben.“

„Wenn du sie ihr nicht geben willst, werde ich sie eben in den Briefkasten werfen.“, entgegnete Naoe leicht gereizt, und wollte die Kette wieder an sich nehmen, was ihm aber nicht gelang, da Takaya seine Hand nun fest geschlossen hielt.

„Schon gut. Ich werde sie ihr geben. Soll ich ihr auch etwas sagen?“

„Nein. Gib sie ihr einfach, das reicht schon.“

Mit diesen letzten Worten drehte Naoe Takaya den Rücken zu, und ging mit eiligen Schritten und einem fragenden Blick im Rücken zurück zum Haus.
 

„Was sollte das, Naoe?“, murmelte Takaya unbefriedigt, der seine Augen über die Kette in seiner Hand wandern ließ.

„Ich würde zu gern wissen, warum dir Takahashi diese Kette gegeben hat. Aber wenn du es mir nicht sagen willst, dann vielleicht sie...“

Takaya ließ die Kette in seiner Hosentasche verschwinden, und zügelte seine Neugier. In etwas mehr als einer Stunde würde er Takahashi persönlich danach fragen können, wenn er den Mut dazu aufbringen würde. Er seufzte leise und folgte Naoe, der inzwischen im Haus verschwunden war.

Abschied

Dunkelgraue Augen sahen angespannt in den Rückspiegel des Wagens, um das Wohlbefinden der schweigsamen Person auf der Rückbank zu überprüfen. Arakawa konnte sehen, dass Shishido die Augen geschlossen hielt, und dabei ungewohnt zufrieden aussah. Obwohl sein Herr noch immer mit den Verletzungen des Unfalls zu kämpfen hatte, ließ dieser sich nichts davon anmerken.
 

Zusammen hatten sie heute bei Tagesanbruch die Privatklinik verlassen. Viel zu früh, wie Arakawa persönlich dachte. Aber er kannte Shishido gut genug, um zu wissen, dass dieser einer weiteren Nacht im Krankenhaus nicht zugestimmt hätte. Arakawa war daher keine andere Wahl geblieben, als ein letztes Mal mit dem behandelten Arzt zu sprechen, um auf diese Weise mit wenigstens einer Person seine Besorgnis über die Reise zu teilen. Gleichzeitig hatte er jenen zusätzlich um Rat gebeten, damit er in der Lage war, im Ernstfall richtig zu reagieren.

Wohl fühlte sich Arakawa mit dieser medizinischen Einweisung keinesfalls. Denn es wäre sicherer gewesen, wie er fand, einfach einen Arzt mitfahren zu lassen, aber sein launischer Herr hatte die Pläne ohne ihn gemacht. Bis zum jetzigen Zeitpunkt konnte Arakawa nicht sagen, ob Shishidos Entschluss auf reinem Leichtsinn, oder großer Zuversicht beruhte. Einmal mehr führte ihm dieses Verhalten vor Augen, wie wenig er wirklich über seinen Herrn wusste.
 

Die angeschlagene Verfassung seines Herrn und der Verzicht auf medizinisches Personal hatte Arakawa dazu veranlasst, besondere Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um ihre Fahrt so risikolos wie möglich zu gestalten. Das fing bei der Wahl der Reiseroute an, reichte über Unterschlupfmöglichkeiten, und hörte bei einem unauffällig agierenden Begleitschutz auf.

Ein aufmerksamer Blick in den Seitenspiegel offenbarte Arakawa zwei der insgesamt vier Fahrzeuge, die für ihre Sicherheit sorgen sollten. Die anderen beiden Autos konnte er vor sich erspähen. Eins unmittelbar vor ihm, während das andere in einem etwas größeren Abstand vorausfuhr. Verbunden war er mit allen Fahrern durch ein nach außen abgeschirmtes Funksprechgerät, welches er am linken Ohr trug. Dessen dazugehöriges Mikrofon hatte er vorübergehend abgeschaltet.

Arakawa fragte sich zum wiederholten Male, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, die Reise nach Wajima unter diesen Umständen anzutreten. Denn obwohl ihre Fahrt bisher friedlich verlaufen war, bedeutete das nicht, dass sie sie auch automatisch ohne Zwischenfälle beenden würden.

Er war zwar im Geiste alle möglichen Störfaktoren von außerhalb durchgegangen und hatte sich und seine Männer bestmöglich darauf eingestellt, aber hier, innerhalb des Wagens, verspürte er eine ungewohnte und stetig wachsende Unruhe in sich, der er kaum etwas entgegensetzen konnte. Grund für seine Beunruhigung war Shishidos schweigende Gegenwart, mit der er, selbst nach all der Zeit, die er nun schon mit ihm verbracht hatte, noch immer nicht umgehen konnte.

Es hatte Momente gegeben, wo ihn dieses Verhalten weniger in Aufruhr versetzt hatte. Aber seit sein Herr Naoes Bekanntschaft gemacht hatte, musste er sich eingestehen, dass er nun Angst verspürte. Angst, die aus dem unerträglichen Gedanken erwuchs, dass Shishido sich von ihm entfernen könne, und ihn nach all der Zeit nicht mehr brauchen würde.

Arakawa war sich bewusst, dass diese Gedanken irrational waren, und allein seinem radikalen Besitzdenken entsprangen. Aber er spürte, dass jenes Denken, vereinigt mit seiner brennenden Eifersucht, einen unberechenbaren Weg einschlug, der es ihm unmöglich machte, einen klaren Kopf zu bewahren.

Er war zwar fest davon überzeugt, dass Shishido ihm wie keinem anderen vertraute. Dennoch, die Angst und die Verlustgefühle nagten an ihm und forderten, wenn er sie nicht bald in Griff bekommen sollte, unweigerlich ihren Tribut.
 

Arakawa umfasste das Lenkrad fester, während sein leises Seufzen die Stille kaum hörbar durchbrach.

„Wenn du schon so armselig seufzen musst, dann tu es wenigstens laut...“

Shishidos Stimme ließ Arakawa zusammenzucken. Er warf augenblicklich einen Blick in den Rückspiegel, und traf auf die dunklen Augen seines Herrn, die ihm spöttisch entgegenstarrten.

„Darf ich den Grund für deine rührselige Stimmung erfahren?“

Arakawa schluckte, und richtete seine Augen wieder auf die Straße vor sich.

„Bin ich der Grund dafür, oder etwa... Hmmm... Lass mich mal überlegen. Was könnte dich zum Seufzen bringen...? Ah! Sexuell frustriert?!“

„...“

„Oh?! Lag ich etwa richtig?“

Shishidos spöttische Bemerkung ließ Arakawas Herz höher schlagen. Gleichzeitig breitete sich Verlegenheit in ihm aus.

„Selbst wenn du schweigst, verraten dich deine glühenden Ohren. Eine äußerst ungewöhnliche, aber außerordentlich süße Reaktion für eine erwachsene Person, die als mein engster Vertrauter arbeitet. Meinst du nicht auch?“

Arakawa linste erneut in den Rückspiegel, um den Mann anzusehen, dem sein Herz gehörte, aber er konnte ihn nicht entdecken. Irritiert zog er die Augenbrauen in die Höhe und war im Begriff sich kurz nach hinten umzudrehen, als er unerwartet eine warme Hand im Schritt spürte. Arakawa schreckte ein weiteres Mal zusammen, und hatte Mühe ein Aufstöhnen zu unterdrücken.

„Shishido-sama... Ich fahre.“, brachte Arakawa heiser hervor, der nun im Augenwinkel Shishido erkennen konnte, der sich zu ihm nach vorne gebeugt hatte.

„Im Ernst? Jetzt, wo du es sagst...“

Mit diesen Worten sank Shishido zurück auf den Rücksitz, und ließ Arakawas entfachte Glut achtlos zurück.

„Da wir das ja jetzt geklärt hätten, bist du bestimmt so freundlich, mich über die neusten Entwicklungen aufzuklären? Hm. Vielleicht ist das ja auch der Grund für deine Verstimmung? So wie ich dich nämlich kenne, brennst du gewiss schon seit Beginn der Fahrt darauf, mir den aktuellen Stand mitzuteilen?“

Arakawa, der sich gerade wehmütig von den letzten Gefühlsregungen unterhalb der Gürtellinie verabschiedete, räusperte sich leise.

„Wie Ihr wünscht. ... Ihrem Vater ist es nicht gelungen, Narita Yuzuru in seine Gewalt zu bringen. Und so, wie es aussieht, wird es nun für ihn merklich schwieriger werden, denn Narita hat zusammen mit der Kagetora-Gruppe Matsumoto verlassen. Der derzeitige Aufenthalt ist unbekannt.“

„Hat dein kleiner Bruder diese Mission absichtlich in den Sand gesetzt?“, hörte Arakawa Shishido neugierig fragen.

„Natürlich nicht! Aber er scheint Kagetora, oder besser, Kakizaki Haruie unterschätzt zu haben. Sie, oder eigentlich er, war für die erfolgreiche Flucht ihrer Freunde verantwortlich. Als ich mit Sasuke telefoniert habe, war dessen Verdruss über den Misserfolg nicht zu überhören.“

Ein liebevolles Lächeln erschien auf Arakawas Gesicht, dessen Gedanken zu seinem jüngeren Bruder wanderten. Dieser war mehr als verärgert gewesen. Er konnte jetzt noch die aufgebrachte Stimme Sasukes hören, die eine Verwünschung nach der anderen in sein Ohr gebrüllt hatte.

„Dieser Ausgang macht die Sache für uns schwieriger.“

Shishidos nachdenkliche Stimme riss Arakawa aus seinen Gedanken.

„Leider. Hätte Ihr Vater Narita in seine Gewalt gebracht, wüssten wir, dass Kagetoras nächster Schritt gegen Ihren Vater gerichtet wäre, aber so...“

„Früher oder später wird Kagetora so oder so gegen meinen Vater vorgehen müssen. Ich gehe davon aus, dass er inzwischen weiß, dass dieser hinter dem Angriff steckt. Die Frage ist nur, ob er weiß, dass diese Person gleichzeitig mein Vater ist. Wenn ja, dann würde es mich nicht wundern, wenn Kagetora in Wajima auftaucht, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.“

Arakawa sah in den Rückspiegel, um einen Blick auf seinen Herrn zu erhaschen. Dieser schaute nachdenklich aus dem Seitenfenster, und biss sich dabei unbewusst auf die Unterlippe. Dieser Anblick ließ Arakawas erloschene Glut erneut emporlodern. Er wandte rasch den Blick ab, und versuchte sich wieder auf das Autofahren zu konzentrieren.

„Vergeltung für Naoe und Informationen über Ihren Vater...“, sprach Arakawa leise.

„Du sagst es. Wie lange wird es noch dauern, bis wir Wajima erreichen?“

„Wir erreichen gleich Itoigawa. Dort ist eine kurze Pause eingeplant, bevor wir anschließend unseren Weg fortsetzen werden. Insgesamt sind wir noch ungefähr fünf Stunden unterwegs – sofern unsere Weiterfahrt natürlich weiterhin wie geplant verlaufen wird, und sich Ihre körperliche Verfassung nicht verschlechtert.“
 


 

Sasuke starrte schweigsam auf die vertraute Schiebetür des Raumes, auf deren Papier mit wenigen aber begnadeten Strichen eine Berglandschaft gemalt war. Täler, in denen sich Flüsse tummelten, die nach kurzer Verweildauer ihren Weg zum nahen Ozean aufnahmen. Sanfte Bergrücken, deren Gipfel teilweise oder ganz in einem Meer aus Wolken verschwanden. Eine knorrige alte Kiefer seitlich im Vordergrund. Aber allen voran monopolisierte der Schwarm Kraniche in der Mitte des Bildes. Dieser zog auf unwirkliche Weise den Blick in die Szenerie hinein und ließ das Gefühl entstehen, nicht mehr nur Betrachter, sondern selbst Teil des Bildes zu werden.

„Frei und ungezähmt. Genau das Gegenteil von mir...“, murmelte Sasuke gedankenverloren. Er kniete wartend in der Mitte des Empfangszimmers seines Herrn. Ungewohnte Nervosität füllte Sasukes Inneres aus – und diese hing nicht nur mit dem bevorstehenden Treffen zusammen. Das Telefonat mit seinem Bruder vor wenigen Stunden ließ ihn ebenfalls nicht zur Ruhe kommen.

Im Grunde war bei ihrem Gespräch nichts gesagt worden, was Sasuke nicht bereits wusste. Denn dass er seit geraumer Zeit unter verschärfter Beobachtung des eigenen Clans stand, war ihm nicht neu. Obwohl Sasuke seinem Herrn Sakamoto Kyosuke nach wie vor guten und dem Anschein nach loyalen Dienst leistete, überschattete seit einiger Zeit Misstrauen ihre einst vertrauensvolle Beziehung. Ihm war bewusst, dass sein Bruder Kaito dieses unweigerlich mit seinem unerwarteten Fortgang gesät hatte.

Das Misstrauen war zu Beginn kaum spürbar gewesen. Aber inzwischen stach es heraus, und Sasuke waren die Anzeichen nicht entgangen, dass sein Herr dabei war, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Und dass er bei diesen nicht besonders gut wegkommen würde, musste ihm keiner sagen – schon gar nicht sein Bruder.

Eigentlich war er sogar ein wenig froh über die unerwünschten Entwicklungen. Sie würden zweifellos dazu führen, dass er den Clan früher oder später verlassen würde. Die Frage war natürlich, ob tot oder lebendig. Falls lebend, so dachte Sasuke, könnte er endlich an die Seite seines älteren Bruders zurückkehren. Er müsste diesen dann zwar mit Shishido teilen, aber das war ihm immer noch lieber, als ein Leben ohne ihn zu verbringen.

„Falls ich überlebe...“, sprach Sasuke leise, der sich keine Illusion darüber machte, ob ihm sein Bruder zur Hilfe eilen würde, wenn es tatsächlich brenzlig werden würde. Er ging nämlich davon aus, dass sein neuer Herr, Shishido Kiyoshi, der nebenbei auch noch der verschwundene Sohn des Clanoberhauptes war, ihn definitiv in Stich ließe, wenn das dessen eigene Sicherheit garantiere. Aber vor allem würde Shishido auf keinen Fall billigen, dass die engste Vertrauensperson, die dieser besaß, sich wagemutig dem einstigen Clan entgegenstellen würde, um den kleinen Bruder zu retten.

Ganz sicher nicht, dachte Sasuke verächtlich, der Shishido zwar als seinen neuen Herrn anerkannt hatte, sich aber insgeheim seine Loyalität für den Bruder aufhob.
 

Das Geräusch der Schiebetür riss Sasuke aus den Gedanken. Er beobachtete angespannt, wie Sakamoto Kyosuke den Raum betrat und vor ihm auf dem Holzpodest Platz nahm. Die Erfurcht gebietende Aura des Mannes erfüllte den Raum. Sasuke schluckte und mahnte sich innerlich zur Gelassenheit. Er verbeugte sich und wartete.

„Ich habe deinen Bericht gelesen, Sasuke. Nun, ich weiß gar nicht, ob ich jetzt erfreut, oder enttäuscht sein sollte...“ Sakamotos tiefe Stimme gesellte sich zu Furcht einflößenden Aura im Raum.

„Sakamoto-sama.“, sprach Sasuke untergeben, der den Kopf hob, um seinen Herrn ansehen zu können.

„Ich mache dir keine Vorwürfe, aber es überrascht mich zu erfahren, dass eine einzelne Frau für die erfolgreiche Flucht von Narita Yuzuru verantwortlich ist.“

„Mein Herr, es war nicht irgend eine Frau, sondern eine Anhängerin Kagetoras. Wäre sie nicht aufgetaucht, hätte ich leichtes Spiel gehabt, aber so...“ Sasuke verstummte, als er die Augen seines Herrn wütend aufflackern sah.

„Es war mein Fehler. Ich habe diese mögliche Entwicklung nicht bedacht. Ich bitte um Vergebung.“, beendete Sasuke einen Augenblick später mit ruhiger Stimme seine Erklärung. Er verbeugte sich erneut und wartete angespannt in dieser Haltung auf die nächsten Worte seines Herrn. Diese ließen ihn augenblicklich erstarren.

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass mein missratener Sohn aufgetaucht sein soll. Und nicht nur er. Dein verschwundener Bruder hält sich zudem an dessen Seite auf.“

Sasuke hielt in der bebeugten Haltung für einen Moment den Atem an. Er war ausgesprochen froh über diese Körperhaltung, denn die Gefühlsregungen auf seinem Gesicht hätten ihn im ersten Moment verraten.
 

Im Kopf war er diese Situation schon hunderte Male durchgegangen, aber es war nichts im Vergleich zur Wirklichkeit. Sasuke atmete tief ein und kämpfte seine innere Angst nieder. Er hatte sich immer wieder gefragt, warum Sakamoto niemals Macht in seine Richtung eingesetzt hatte, um an verborgene Antworten zu kommen. Es wäre so einfach für jenen gewesen. Diese Tatsache irritierte Sasuke nicht erst seit heute. Er war nicht so vermessen zu glauben, dass Sakamoto ihm blind vertraute, und er ihn daher gewähren ließ. Das war es auf keinen Fall. Es schien vielmehr so, mutmaßte Sasuke, dass sein Herr mit ihm spielte, auf etwas wartete, denn Sakamoto tat seit Jahrhunderten nichts ohne Grund.

„Wie ich sehe, lässt dich diese Neuigkeit kalt. Oder irre ich da?“

Sasuke holte ein letztes Mal zur Beruhigung tief Luft und richtete dich auf. Sein Blick traf auf Sakamotos dunkle Augen, die ihn machtgeschwängert musterten.

„Mit Verlaub, mein Herr, da irrt Ihr euch. Ihr wisst genau, dass ich damals unbedingt meinen Bruder suchen wollte. Mich in meiner Wut und Verzweiflung sogar beinah Ihrem Befehl widersetzt hätte. Nun zu hören, dass er lebt, erfüllt mich mit Jagdhunger.“

„Ganz so, wie ich mir das gedacht habe, Sasuke. Daher gebe ich dir einen neuen Auftrag.“

Sasuke verengte unmerklich die Augen, während er Sakamoto mit ihnen fixierte. Er hatte eine böse Vorahnung. Würde sein Herr jene bestätigen, war er sich sicher, dass ihn dieser testete. Er hoffte inständig, dass seine Befürchtung nicht zur Realität wurde, denn das würde alles nur noch komplizierter machen, aber sein Wunsch wurde gnadenlos zerschlagen.

„Ich will, dass du deinen Bruder findest, und ihn zu mir bringst. Aber noch mehr will ich, dass du meinen Sohn hierher führst. Wenn Kaito meinem Sohn wichtig ist, dann wird er ihm folgen, wenn du ihn gefangen nimmst. Mir sind natürlich die erschwerten Umstände klar, denen du gegenüberstehen wirst. Immerhin ist mein Sohn nicht irgendeine Person. Ich werde dir daher eine meiner engsten Vertrauenspersonen zur Verfügung stellen. Die Art und Weise, wie du meinen Befehl ausführst, liegt in deiner Hand. Aber ich warne dich, enttäusche mich nicht ein weiteres Mal.“
 


 

Naoe musterte neugierig den Eingangsbereich des vor ihm liegenden Hauses, in dem vor wenigen Augenblicken zwei junge Männer verschwunden waren.

Er, Kagetora und Yuzuru waren zusammen mit einem schlecht gelaunten Kousaka als Fahrer des Wagens vor wenigen Minuten hier in Nagano angekommen.

Kousakas miese Laune war zwar nicht ansteckend, aber Naoe musste zugeben, dass er ebenfalls unter gedrückter Stimmung litt. Diese war mit jedem schrumpfenden Kilometer zwischen dem Versteck und ihrem Bestimmungsort gewachsen. Wer konnte es ihm auch verübeln? Immerhin standen sie vor dem Wohnsitz jener Frau, deren Schwester er ohne zu zögern geopfert hatte, um seinen Herrn an einen neuen unversehrten Körper zu binden.

Naoe hatte keinerlei Interesse ein weiteres Mal auch nur in die Nähe von Takahashi Eri zu kommen, aber sein Herr wollte ihr unbedingt erneut einen Besuch abstatten. Dessen Beweggründe dafür hatten sich ihm bisher nicht erschlossen, aber zumindest nötigte dieser ihn nicht, als Begleitperson das Haus betreten zu müssen. Diesen Platz hatte bereitwillig Yuzuru angenommen, der sehr neugierig auf die Frau war und es kaum erwarten konnte, sie kennen zu lernen.

Ihm und Kousaka blieb nun also nichts anderes zu tun, als ungeduldig im Auto auf die Rückkehr der beiden Freunde zu warten.
 

In Gedanken rief Naoe sich Takahashis Gesicht vor Augen und fragte sich, was diese tun würde, wenn sie wüsste, dass die Seele des jungen Mannes, den sie gerade zum zweiten Mal traf, dem ehemaligen Geliebten ihrer verstorbenen Schwester gehörte. Würde sie dieser ungeheuerlichen Geschichte Glauben schenken?

Naoe vermutete, dass sie das täte. Er hielt sie für eine intelligente Frau, der selbst Shishidos Macht einflößende und geheimnisvolle Persönlichkeit nicht entgangen war. Es würde ihr daher bestimmt leicht fallen, der Wahrheit glauben zu schenken.

Bis zum Zeitpunkt seiner Gefangennahme war Takahashi nur eine einfache Frau für ihn gewesen, die im Tempel um Hilfe in einer persönlichen Angelegenheit gebeten hatte. Aber ab jenem Moment, wo sie ihn im Zimmer aufsuchte, hatte sich ihre Beziehung zueinander schlagartig verändert. Takahashi gab sich unerwartet als Minakos Schwester zu erkennen und hatte Antworten über deren Tod verlangt.

Naoe spürte noch immer Kälte in sich aufsteigen, wenn er an die Offenbarung zurückdachte. Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt geglaubt, dass er seine Qual gut im Griff hatte, ihn die Erwähnung jener 30 Jahre zurückliegenden Tat nicht mehr erschüttern würde, aber er wurde eines Besseren belehrt. Selbst der Kontakt zu Kagetora ließ sein Gewissen nicht so aufbegehren, wie es die Bekanntschaft mit Takahashi getan hatte.

Er nahm an, dass seine Liebe und Begierde Kagetora gegenüber alle anderen Gefühlsregungen verdrängten. Es ihm daher leicht fiel, in dessen Gegenwart seine grausame Tat uneinsichtig zu rechtfertigen – sie rechtfertigen konnte. Aber vor Takahashi zerbröckelte seine unerschütterliche Fassade der Gefühle.

Er knirschte mit den Zähnen. Der beiläufige Gedanke an seine Gefangenschaft ließ ihn erschaudern. Shishidos Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf. Das Messer, mit dem dieser ihn gequält hatte. Die wohlgeformten Lippen des jüngeren Mannes, die sich mehr als einmal heiß auf seine gepresst hatten.

Naoe wusste, dass er noch immer unter den Folgen jener sadistischen Behandlung litt. Körperlich war er inzwischen wieder unversehrt, aber zur bleibenden Narbe auf seinem Bauch gesellte sich eine frische in seiner Seele. Naoe weigerte sich vehement, sich mit der Vergewaltigung auseinander zu setzen.

Es schnürte ihm die Kehle zu, wenn er daran dachte, dass Kagetora diese Bilder gesehen hatte. Naoe hatte nicht im Leisesten geahnt, dass Shishido seine Tat aufzeichnen und diese seinem Herrn zukommen lassen würde – Chiaki hatte ihn nach seiner erfolgreichen wie riskanten Flucht am Telefon darüber in Kenntnis gesetzt. Ihm war dabei alle Farbe aus dem Gesicht gewichen und er war froh darüber gewesen, dass Chiaki ihm während des Sprechens nicht gegenüber gestanden hatte. Naoe wollte auf keinen Fall, dass dieser, aber vor allem Kagetora, ihn jemals in solch einen aufgelösten Zustand sah.

Es verlangte zwar große Anstrengung von Naoe, sich im Kreise seiner Gruppe unbeschwert zu geben, aber da bisher niemand ein Wort über diese Angelegenheit fallen ließ, fiel ihm alles ein wenig leichter. Zudem hatte Yuzurus Anwesenheit einen überraschend heilsamen Einfluss auf seine Seele – vielleicht war das Teil von Yuzurus seltsamer Kraft, von der Kagetora immer sprach.

Naoe konnte zwar nicht mit Bestimmtheit sagen, was der Grund für sein Empfinden war, aber er fühlte sich in Yuzurus Gegenwart unbeschwerter und war schlicht froh darüber. Dennoch gab es flüchtige Momente, in denen er das Gefühl hatte die Kontrolle über sich zu verlieren, wenn er sich nicht zusammenriss.
 

Yuzuru Narita. Der beste Freund seines Herrn, dachte Naoe eifersüchtig, der für einen Moment die Augen schloss. Yuzuru hatte sehr viel Zeit mit Takaya verbringen können. Für diese Tatsache, aber vor allem für seinen neiderfüllten Gedanken versetzte er sich innerlich eine Ohrfeige.

Naoe hatte lange gebraucht, um Kagetoras Seele, die sich Takayas Körper ausgesucht hatte, ausfindig zu machen. Seine Suche war erst erfolgreich gewesen, als Takeda Shingens Seele den Körper von Yuzuru als Gefäß missbrauchte und dieser Umstand unweigerlich dazu führte, dass Naoe auf dessen besten Freund Takaya traf.

Naoe konnte sich noch genau an den Augenblick erinnern, als er nach so langer Zeit endlich wieder in Kagetoras unnachgiebige Augen blicken konnte. Es war ein berauschendes Gefühl gewesen. In seinem Inneren war ein Wechselbad der Gefühle losgebrochen. Zuneigung, Hass, Machtgelüste, Besessenheit und Furcht hatten sich rasend schnell miteinander abgelöst und es schien, als hätte keines die Oberhand gewinnen wollen, aber dann war er nur noch von bedingungsloser Liebe erfüllt gewesen. Liebe, die selbst nach 400 Jahren nicht vergangen war. Lediglich Kagetoras zurzeit gespaltene Persönlichkeit ließ ihn hin und wieder irritiert nach Luft schnappen. Aber er musste zugeben, dass der Teil der Seele, der sich Takaya nannte, äußerst interessant und wie eine frühere Version von Kagetora wirkte, bevor dieser so viel Leid erdulden musste.
 

Naoe griff nach seinen Zigaretten in der Jackentasche. Er entnahm der Schachtel eine und warf einen Zustimmung suchenden Blick auf Kousaka, der knapp nickte und sich ebenfalls eine ansteckte.

Nachdem Kousaka zwei tiefe Züge genommen hatte, blickte er neugierig zu Naoe, der abwesend in die Ferne sah und dabei mit gleichmäßigen Zügen die Zigarette zum Schrumpfen brachte.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich meinen, dass dich die Tatsache, dass du gerade vor dem Haus stehst, deren Bewohnerin dich zweifellos töten würde, wenn sie wüsste, was wir wissen, äußerst kalt lässt...“

„Spar dir deinen Kommentar, Kousaka.“

Kousaka ignorierte Naoes Worte und redete unbeirrt weiter.

„Aber dein untypisches Verhalten verrät dich, Naoe. Selten habe ich dich so viel Rauchen sehen, noch dazu mit ständig angespannter Miene. Du solltest echt aufpassen, sonst werden deine attraktiven Gesichtszüge in Mitleidenschaft gezogen. Wer weiß, ob Kagetora-“

„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dir deinen Kommentar sonst wo hinstecken?“, unterbrach der Angesprochene Kousaka mit wütender Stimme, der sich beherrschen musste, nicht noch ausfallender zu werden.

Bevor Naoe seinen Zigarettenstummel ausdrückte, zündete er sich damit eine weitere an. Einen tiefen Zug nehmend hing er nun wieder ungestört seinen Gedanken nach.
 

Naoe wusste selber, dass er zurzeit alles andere als so gelassen wie sein früheres Selbst war. Dafür verfluchte er Shishido und dessen Auftauchen. Wäre dieser Mann nie auf ihrer Bildfläche erschienen, hätte sich die Beziehung zwischen ihm und Kagetora mehr oder weniger weiter entspannt und vielleicht eine neue Ebene erreicht.

Naoe blies nachdenklich den Rauch zum halb geöffneten Seitenfenster hinaus.

Hatte sie sich nicht dennoch verändert?

Kagetora hatte ihm mit seinem Verhalten anschaulich gezeigt, dass dieser ihn begehrte – ihn womöglich liebte?! Denn die Küsse, die sie miteinander getauscht hatten, sprachen, wie Naoe fand, eine eindeutige Sprache.

Es hatte Zeiten gegeben, in denen er sich seinem Herrn nur bis auf wenige Meter nähern durfte. Nie hatte er ihn berühren dürfen. Und wenn er es doch tat, endete es meistens unschön. Vor allem dann, wenn erkennbar war, dass die Berührung eine gewisse Grenze überschritten hatte.

Aber jetzt? Kagetora hatte ihn in der Hütte von sich aus geküsst. Hatte seinen Kuss im Hain hinter ihrem Unterschlupf für die Nacht erwidert. Interpretierte er das vielleicht alles falsch? Sein Gefühl sagte ihm, dass er richtig lag, aber die Unsicherheit blieb.

Einmal mehr verfluchte Naoe Shishido für alles, was dieser angerichtet hatte. Anstatt durch halb Japan zu reisen, hätte er vielleicht jetzt ein klärendes Gespräch mit Kagetora führen können. Sie hätten gemeinsam einen einfachen Auftrag erledigen und währenddessen ihr Gefühlschaos ein wenig ordnen können. Aber so, unter diesen Umständen...

Naoe richtete seinen Blick wieder auf das Haus, in dem sich Kagetora und Yuzuru aufhielten und fragte sich, worüber diese wohl gerade sprachen. Neben sich vernahm er Kousaka, der noch immer wegen der bösen Erwiderung ärgerlich vor sich hin murmelte.
 


 

Mit gemischten Gefühlen blickte sich Yuzuru im Raum um. Dieser war zwar bis auf einen halbhohen Tisch, an dem er und Takaya gerade saßen, leer. Aber dafür entschädigte das wandgroße Fenster, mit Blick auf einen atemberaubenden Garten dahinter, diese traurige Leere des Ortes. Die Besitzerin all dessen, Takahashi Eri, hatte sich für einen Moment bei ihnen entschuldigt, um Tee vorzubereiten.
 

Yuzuru war Takayas wachsende Anspannung nicht entgangen, während sie Nagano immer näher gekommen waren. Er wusste nichts aus eigener Hand über dessen Verbindung zu dieser Frau. Lediglich das, was ihm Kousaka gestern darüber erzählt hatte. Aber Yuzuru ging davon aus, dass dieser Zustand der Unwissenheit nicht mehr länger andauern würde, denn nun befand er sich selbst im Haus jener Person. Mit eigenen Augen und Ohren konnte er sich jetzt selbst ein Bild von ihr machen, und seinem besten Freund in dieser schwierigen Situation beistehen.
 

Diese Situation als schwierig zu bezeichnen, war stark untertrieben, wenn Yuzuru an Kousakas Offenbarungen dachte. Es kam ihm unwirklich und sogar ein wenig pervers vor, dass sich sein Freund freiwillig hier aufhielt.

Wenn Kousaka ihm die Wahrheit gesagt hatte, wovon er letztendlich ausging, war diese Frau die Schwester der verstorbenen Geliebten Kagetoras, die vor 30 Jahren von Naoe umgebracht oder besser gesagt, ihre Seele von Kagetoras aus deren Leib verdrängt wurde. Allein der Gedanke daran ließ Yuzuru einen Schauer über den Rücken laufen.

Er wollte Kousaka erst gar nicht glauben schenken, denn so ungeheuerlich waren die Zusammenhänge – ungeheuerlich und überaus traurig, aber er war nicht blind. Das verkrampfte Verhältnis zwischen Kagetora und Naoe war nicht zu übersehen und sprach Bände. Nach Kousakas Worten fiel es ihm nun deutlich leichter nachzuvollziehen, warum die beiden so unnachgiebig und grausam miteinander umgingen.

Yuzuru konnte noch immer schwer zu glauben, dass sein Jugendfreund eigentlich Kagetora war. Dass, wie Kousaka ihm versucht hatte zu erklären, Takaya Teil von Kagetoras Seele war. Kousaka mutmaßte, dass sich Kagetora aufgrund des Vorfalls von vor 30 Jahren tief in das Bewusstsein zurückgezogen hatte, um vor der erlittenen Grausamkeit zu fliehen. Diese Erfahrung war wohl der Auslöser gewesen, die zu Takayas „Geburt“ geführt hatte.

Yuzuru musste erleben, wie Kousaka während seiner vielen Erklärungen angewidert gelacht und sich über alles, was Kagetora betraf, lustig gemacht hatte. Dieses Verhalten war schwer zu ertragen gewesen und hatte Yuzuru unendlich wütend gemacht. Kousakas ganzes Auftreten ließ keinen Platz für Zweifel. Dieser konnte Kagetora auf den Tod nicht ausstehen. Warum es sich so verhielt, wusste Yuzuru bisher nicht.

Er konnte natürlich weder wissen, wie die bisherigen Begegnungen zwischen Kousaka und Kagetora, die verteilt über die letzten vierhundert Jahre stattgefunden haben mussten, abgelaufen waren, noch konnte er mit Bestimmtheit sagen, ob sein bester Freund Kousakas abwertendes Verhalten nicht selbst heraufbeschworen hatte.

Yuzuru hätte zu gern gewusst, was zu dieser verzwickten Lage geführt hatte, in der sich Takaya, Kousaka und Naoe augenscheinlich befanden. Er nahm sich fest vor zu einem günstigen Zeitpunkt seinen besten Freund danach zu fragen.
 

Yuzuru verdrängte den unberechenbaren Kousaka aus seinen Gedanken und warf einen sorgenvollen Blick zu Takaya, der schweigsam mit beiden Händen in den Jackentaschen neben ihm saß.

Wenn er seinen Freund so betrachtete, konnte er nicht glauben, dass dessen Seele alt und mächtig sein soll – auch wenn er längst Zeuge dieser Macht geworden war. Für ihn war Takaya seither einfach nur der starke und unerschütterliche Freund gewesen, der häufig die Schule geschwänzt, sich rührend um die Schwester gekümmert und ihn mehr als einmal aus seinem langweiligen einsamen Alltag gerettet hatte. Aber jetzt, in diesem Moment, erschien Takaya einfach nur zerbrechlich. Die machtvollen Augenblicke, in denen sein Freund um ihn oder für sich selbst gekämpft hatte, rückten geradezu in weite Ferne und schienen völlig falsch.

„Hey Takaya, alles in Ordnung?“

Yuzuru sah, dass Takaya beim Klang seiner Stimme zusammenzuckte. Er nahm an, dass dieser völlig in Gedanken gewesen sein musste. Zu seiner Überraschung bekam er eine unerwartet ehrliche Antwort.

„Nein. Nichts ist in Ordnung.“ Während Takaya unglücklich antwortete, rutschte dieser unruhig auf dem Sitzkissen herum.

Yuzuru fragte sich ernsthaft, was sein Freund hier eigentlich wollte, wenn doch offensichtlich war, dass diesem die Situation nicht behagte. Die Erwiderung, die ihm auf den Lippen brannte, erlosch, als sich die Tür öffnete und Takahashi zurückkam.

„Entschuldigt bitte, dass es so lang gedauert hat.“
 

Takahashi stellte das mitgebrachte Tablett auf den Tisch und nahm den beiden Besuchern gegenüber Platz. Schweigsam füllte sie drei Tassen mit duftendem Jamintee, und stellte jeweils eine vor Takaya, Yuzuru und sich selbst.

„Um ehrlich zu sein, ich bin überrascht, dich wiederzusehen, Takaya.“

Takahashi nahm einen Schluck Tee und beobachtete Takaya über den Rand der Tasse hinweg.

„Gibt es einen Grund?“

Takaya umfasste angespannt seine Teetasse mit beiden Händen und verfolgte für einen Moment mit den Augen den flüchtigen Wasserdampf, der sanft von der Tasse aufstieg.

„Ich will ebenfalls ehrlich sein.“, entgegnete Takaya mit ausdrucksloser Stimme.

„Ich weiß nicht, warum ich erneut hierher gekommen bin. Spielt wohl auch keine Rolle. Dennoch hatte ich das Bedürfnis, Sie darüber aufzuklären, dass ich Naoe gefunden habe und er wohlauf ist.“

Takaya nahm nun ebenfalls einen Schluck, stellte die Tasse wieder lautlos ab und erwiderte anschließend Takahashis wachsamen Blick.

„Ich nehme an, er hatte keine Lust mich zu sehen?“, fragte Takahashi, der es schwer fiel nicht enttäuscht zu klingen. Obwohl sie ihre Hoffnung auf Antworten längst begraben hatte, ließen Takayas Worte sie unbewusst wünschen. Zu gerne hätte sie ein weiteres Mal mit Naoe gesprochen, der mehr verbarg als offenbarte, wie sie fühlen konnte. Takahashi fragte sich, ob dieser sich in der Nähe ihres Hauses aufhielt und was der wirkliche Grund war, weshalb er sich so unnahbar gab. Die Tatsache, dass sie ihn an Shishido verraten hatte, konnte nicht der alleinige Anlass sein.

„So ist es. Er wollte Sie nicht sehen. Ich weiß nicht, was zwischen ihnen beiden vorgefallen ist, aber er bat mich, Ihnen diesen Gegenstand wiederzugeben.“

Takaya griff in seine Hosentasche und holte die silberne Kette mit dem Anhänger hervor, die er von Naoe bekommen hatte, und legte sie in die Mitte des Tisches. Als er seinen Blick auf Takahashi richtete, konnte er für einen Moment einen schmerzlichen Ausdruck auf ihrem Gesicht sehen, während sie schweigsam die Kette betrachtete.

Takaya wusste nicht, was für eine tiefere Bedeutung der silberne Gegenstand für Takahashi haben musste, aber ihr gepeinigter Gesichtsausdruck ließ ihn frösteln und sorgte dafür, dass sich eine schmerzliche Erkenntnis seiner bemächtigte.

„Er hat sie dir anvertraut…“ Takahashi sprach so leise, dass die beiden Anwesenden sie kaum verstanden.

„Das indes ist eine Überraschung.“, sprach sie nun wieder mit voller Stimme, die nichts mehr über ihre wahren Empfindungen verriet.

„Ich habe diese Kette Naoe geschenkt. Nun, vielleicht sollte ich ehrlicherweise ‚aufgezwungen’ sagen, als ich ihn nach unserem ersten Treffen als Gefangenen wiedergesehen habe. Er hat sich damals geweigert, mir auf meine Fragen bezüglich meiner Schwester zu antworten, was mich auch jetzt noch unheimlich wütend macht. Ich glaube noch immer, dass er etwas weiß, es aber nicht sagen will. Mehr noch habe ich das Gefühl, dass er etwas oder jemanden mit seinem sturen Verhalten beschützen will. Vielleicht sich selber, vielleicht aber auch dich, Takaya. Ich kenne weder dich, noch eure Beziehung zueinander, aber die Tatsache, dass er dir diese Kette anvertraut hat, spricht von einem außergewöhnlichen Band zwischen euch.“ Takahashi unterbrach sich lachend und nahm einen Schluck Tee. Sie sah neugierig zu Yuzuru, der ihrem Blick nur einen Moment standhalten konnte, ehe dieser betroffen die Augen abwandte. Takahashi bemerkte, dass der junge Mann für einen Augenblick so ausgesehen hatte, als hätte er einen Geist gesehen.

„Meine Vermutungen mögen vermessen klingen… Vielleicht hat mich auch die Trauer um meine Schwester all die Jahre verblendet, dennoch, ich werde das Gefühl nicht los, dass ich all meine Antworten vor Augen habe, sie aber nicht fassen kann.“ Während Takahashi sprach, griff sie nach der Kette. Ein wehmütiger Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, als sie die Kette in ihrer Hand betrachtete.

„Ich möchte, dass du sie Naoe wiedergibst, Takaya. Sie soll ihn an unsere Begegnung erinnern. Wenn er sie nicht sofort zurücknehmen möchte, dann bewahre sie bitte solange für ihn auf.“ Sie hielt ihm die Kette in ihrer ausgestreckten Hand entgegen und wartete.

Takaya sah von ihrer Hand rauf zu ihren Augen, die lediglich dunkel schimmerten und keine Rückschlüsse auf ihre innere Gefühlswelt zuließen. Er blickte zurück zum silbernen Gegenstand und streckte zögernd seine rechte Hand aus. Einen Moment später spürte er die vertraute Kälte der Kette auf seiner Handfläche und unterdrückte ein Aufstöhnen. Die Gewissheit, dass dieses Schmuckstück einst seiner Geliebten gehört hatte, zerfraß ihn innerlich und ließ unbändige Wut Naoe gegenüber in ihm aufsteigen.

Es war grausam, dass Naoe ihm diese Kette anvertraut hatte, ohne ein Wort über deren Bedeutung zu verlieren. Es war grausam, dass eine unwissende Takahashi ihn bat, sie aufzubewahren. Aber letztlich war er der grausamste von allen, weil er sie nahm. Takaya hätte am liebsten laut aufgelacht, als er sich der Tragweite als dessen bewusst wurde. Er hatte das Gefühl, dass die Vergangenheit ihn nie in Ruhe lassen würde – es beinah unmöglich schien, mit Naoe einen neuen und gewaltloseren Weg einzuschlagen.

Takaya spürte mit jeder weiteren verstreichenden Sekunde seine Hoffnungslosigkeit ansteigen. Er fühlte Übelkeit aufsteigen und die Leere des Raumes um ihn herum übte nun einen unangenehmen Druck auf ihn aus, der ihn zu einer überstürzten Flucht anstiftete.

„Wir sollten jetzt gehen.“, rief Takaya, der einen kurzen Blick auf Yuzuru warf.

„Vielen Dank für die Gastfreundlichkeit.“ Mit diesen Worten erhob sie Takaya. Yuzuru und Takahashi taten es ihm nach. Er sah für einen Moment durch das große Fenster auf den dahinter liegenden Garten und wünschte sich, er hätte Takahashi unter anderen Umständen kennengelernt.

„Wir finden allein hinaus.“ Takaya lief zur Tür, dicht gefolgt von Yuzuru, der die innere Anspannung seines Freundes förmlich greifen konnte.

Yuzuru starrte auf den Rücken vor ihm und wusste nicht, was er von all dem halten sollte, was er gehört und gesehen hatte. Er beschloss, Naoe bei nächster Gelegenheit dazu zu befragen.

Bevor Yuzuru die Tür nach Takaya passierte, hörte er Takahashi hinter sich ein letztes Mal leise sprechen.

„Ich wünschte, er würde nicht so selbstzerstörerisch sein.“ Das Gehörte ließ ihn die Stirn runzeln, denn er wusste nicht, wen genau Minakos ältere Schwester mit dieser Aussage meinte.
 

Kousaka sah nervös durch die Frontscheibe des Combini rüber zum Parkplatz, auf dem er Naoe und Takaya neben seinem Wagen stehen sehen konnte. Naoe rauchte erneut eine Zigarette, während Takaya telefonierte.

„Zumindest ist die Stimmung zwischen den beiden noch eisiger geworden, seit wir Takahashi verlassen haben…“, murmelte er sich versichernd und griff nach abgepackten Sandwichs, die so künstlich aussahen, dass er sie beinah wieder weglegte hätte, wenn nicht plötzlich Yuzuru neben ihm aufgetaucht wäre, und sich an seiner Auswahl erfreute hätte.

„Ah, die sind lecker. Takaya mag besonders diese hier…“, rief Yuzuru und griff nach einer weiteren Packung, die er anschließend in seinem Einkaufskorb verschwinden ließ.

„Hast du eine Ahnung, was Naoe gerne isst?“

Kousaka starrte Yuzuru an, der ihm einen fragenden Blick zuwarf. Wenn er nicht so genervt von der Tatsache wäre, dass Takaya ihn zum Einkaufen verdonnert hatte, hätte er jetzt Spaß daran finden können, Yuzuru für dessen fürsorgliches Verhalten aufzuziehen. Stattdessen aber musste er sich beherrschen, seinen Unmut Takaya gegenüber im Zaum zu halten, um ihre gemeinsame Reise nach Wajima nicht zu gefährden.

„Gute Frage. Ich glaube, er steht zurzeit auf Sandwich mit Rauchgeschmack.“, entgegnete Kousaka spaßig, der an Naoes steigenden Tabakkonsum dachte, und erntete damit Yuzurus verblüfften Blick.

„Etwas Geräuchertes also…“, murmelte der jüngere Mann grübelnd und griff nach einem Sandwich mit geräuchertem Fisch.

Kousaka zog überrascht die Augenbrauen nach oben und überlegte ernsthaft, ob Yuzuru seine scherzhaft gemeinte Antwort wirklich nicht verstanden hatte, aber ein Blick in dessen nun grinsendes Gesicht ließ ihn unbewusst aufatmen.

„Ob Naoe unseren Wink mit dem Zaunpfahl wohl verstehen wird? Er scheint in der Tat mehr zu rauchen, wie zu der Zeit, als ich ihn kennengelernt habe. Aber ein wirkliches Urteil darüber kann ich wohl schlecht abgeben, denn schließlich kenne ich ihn, im Gegensatz zu euch, erst seit sehr kurzer Zeit.“

„Keine Sorge! Ich werde schon dafür sorgen, dass er unseren lieb gemeinten Rat versteht.“, rief Kousaka lachend, der sich dabei über sich selbst wunderte. Er bemerkte, dass sich seine innere Anspannung löste, und er sich augenblicklich befreiter fühlte.

Kousaka warf erneut einen Blick raus zu Naoe und Takaya, und musste an deren Vermutungen über Yuzurus nach wie vor geheimnisvoller Kraft denken. War das, was er hier in dessen Gegenwart erlebte, ein Teil dieser Macht? Eine besänftigende Wirkung auf die Personen um diesen herum? Geschah dies bewusst oder unbewusst vonseiten Yuzurus? Kousaka kam nicht umhin sich einzugestehen, dass es sich gut anfühlte, es aber dennoch überhaupt nicht zu ihm passte. Wer kaufte schon lachend Sandwich für einen Mann, dessen Herz längst - und wohl bis in alle Ewigkeit - von einer einzigen Person erfüllt war? Wer machte sich schon Sorgen über die Gesundheit einer solchen Person? Wer lief einer solchen zudem freiwillig nach? Angewidert presste Kousaka die Lippen aufeinander.

Er bestimmt nicht – zumindest konnte er das von einem Teil von sich behaupten. Aber er musste feststellen, dass dieser in unerreichbare Ferne zu rücken schien, wenn er sich, wie jetzt gerade, in Yuzurus Gegenwart befand und dieser scheinbar unbeabsichtigt seine befriedende Macht fließen ließ. Es war schon erstaunlich, wie dieser junge Mann ihn beeinflusste, dachte Kousaka zynisch.

Er beobachtete Takaya und Naoe dabei, wie diese wieder in den Wagen stiegen. Auch wenn ein Teil von ihm Naoe nicht ausstehen konnte, er diesen für seine unterwürfige Art Kagetora gegenüber verachtete, musste er zugeben, dass ein weit größerer Teil seiner selbst Naoe begehrte, ihn blind und schwach werden ließ – für dieses Empfinden hasste er sich beinah selber, aber mehr noch Kagetora, der den Platz innehatte, denn er selbst unbedingt einnehmen wollte.
 

„Kousaka, kann ich dich mal etwas fragen?“

Yuzurus besorgt klingende Stimme riss Kousaka aus den Gedanken. Er blickte zu dem jüngeren Mann rüber, der ihn mit ernsten Augen entgegen sah.

„Klar, nur raus damit.“

„Also, nun, nicht lachen, auch wenn es vielleicht blöd klingt, was ich sage… Ähm, kann es sein, dass es Geister gibt, die nur von bestimmten Menschen gesehen werden können? Nicht, dass ich an Geister glaube, obwohl, wenn ich daran denke, was ich bisher so alles erlebt habe. Aber, sind Geister und wandernde Seelen eigentlich das gleiche?“

Während Yuzuru nervös seine Frage stellte, konnte Kousaka im Augenwinkel erkennen, dass Takaya und Naoe im Auto aufgebracht miteinander redeten – oder stritten, wie er es sich insgeheim wünschte.

Kousaka richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Yuzuru, dessen neugierige Augen noch immer auf ihm ruhten. Er seufzte leise und überlegte, wie er auf diese Frage reagieren sollte. Es musste einen Grund dafür geben, dass Yuzuru sie stellte, aber er konnte eine Frage nicht gleich mit einer Gegenfrage beantworten. Er würde warten und hoffen, dass dieser sie von selbst beantwortete.

„Schwer zu sagen. Nun, ein Geist ist ein körperloses Wesen, dessen Seele nicht aufsteigen mag. Dafür kann es wohl unterschiedlichste Gründe geben, und na ja, nicht jeder, oder besser, die meisten Menschen sind überhaupt nicht in der Lage Geister zu sehen. Zudem kann unter dem Begriff Geist auch der bewusste Teil unseres Daseins verstanden werden, wohingegen der Begriff Seele für das Unterbewusstsein steht. Diese Erklärung findest du in der Psychologie. In etlichen Religionen kannst du nachlesen, dass der Geist Teil der menschlichen Hülle ist und zurückbleibt, wenn sich die Seele beim Tod löst und aufsteigt. Im Leben sind Seele und Geist also miteinander verbunden. Ich denke, eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. Ich persönlich denke, dass Geister in einem unveränderten Zustand auf irgendeine Form der Erlösung warten. Sie entwickeln sich nicht weiter, egal wie lange sie in der irdischen Welt verweilen. Anders dagegen verhält es sich mit wandernden Seelen, zu denen du wohl Kagetora und seine Gruppe zählen kannst. Sie haben ihre einstige körperliche Hülle längst hinter sich gelassen, und besetzen nun in regelmäßigen Abständen bewusst fremde Körper, derer sie sich bemächtigen, indem sie deren Seelen der Hülle verweisen oder diese bei Geburt gar nicht erst in die Lage kommen, den zugedachten Körper einzunehmen. Wandernde Seelen entwickeln sich außerdem weiter. Damit ist gemeint, dass sie auf all ihre erlebten Erfahrungen zurückgreifen und daraus lernen können. Im Fall von Takaya ist das etwas komplizierter, wie du wohl schon bemerkt hast.“ Kousaka stoppte für einen Moment, als er Yuzurus verlorenen Gesichtsausdruck sah. Er begann zu grinsen.

„Ähm, um zurück zu deiner Frage bezüglich des Geister-Sehens zu kommen. Ich denke, dass es durchaus sein kann, dass manche Geister nicht von allen gesehen werden können – vielleicht auch nicht gesehen werden wollen. Gibt es einen Grund für diese Frage?“, fragte Kousaka möglichst unbeteiligt, der bemerkte, dass sich Yuzurus Gesichtszüge augenblicklich verhärteten. Er bereute seine Frage sofort.

„Nein, es gibt keinen Anlass. Ich bin einfach nur neugierig. Außerdem über alle Maßen unwissend – ich kenne mich ja selbst noch nicht einmal wirklich. Diese Tatsache macht mir von Zeit zu Zeit einfach Angst. Egal. Danke für die Erklärungen. Was sollen wir noch einkaufen?“

Kousaka kniff skeptisch die Augen zusammen, während er Yuzuru hinterhersah, der sich rasch zu den Getränken aufgemacht hatte.

„Wenn das mal nicht eine Lüge war…“, murmelte Kousaka unzufrieden, der zu gerne wissen wollte, was Yuzuru beschäftigte.
 


 

„Wie soll ich das verstehen, Kagetora-sama?!“

Naoe starrte fassungslos zu Takaya auf den Rücksitz, dessen Augen ihm wütend entgegen funkelten.

„So, wie ich es gesagt habe. Wir werden, bevor wir unsere Fahrt fortsetzen, vorher dem erwähnten Friedhof einen Besuch abstatten, und du wirst mich dabei begleiten. Das ist ein Befehl!“, rief Takaya mit eisiger Stimme.

„Was soll das werden? Ein verspäteter Abschied?“ Während Naoe sprach, fühlte er Kagetoras Präsenz bedrohlich anwachsen und bereute seine Worte zutiefst.

Er wusste, dass er mit seinen harschen Worten die Stimmung zwischen ihnen nur weiter verschlechterte, aber er konnte sich nicht anders helfen. Takayas ungezierte Mitteilung hatte ihn schlichtweg überrumpelt. Er fühlte sich vor den Kopf gestoßen, verunsichert und hatte große Schwierigkeiten die innere Ruhe wiederzufinden, geschweige denn nach außen ruhig aufzutreten.

„Entschuldigt meine Worte, Kagetora-sama.“

Naoe wandte geschlagen seinen Blick ab. Er ließ sich tief in den Fahrersitz sinken und starrte nachdenklich zur Windschutzscheibe hinaus. Er griff zitternd nach seiner Zigarettenschachtel und öffnete das Seitenfenster.
 

Seit Takaya und Yuzuru vor weniger als einer halben Stunden zum Auto zurückgekehrt waren, spürte er eine unausgesprochene Drohung in der Luft liegen. Naoe hatte zu Beginn nicht sagen können, ob sie allein gegen ihn gerichtet war, aber inzwischen lag die Sache klar auf der Hand – Minakos Grab besuchen zu müssen, ließ ihn frösteln.

Es war nicht sein erster Besuch. Denn nachdem er im Körper von Tachibana Yoshiaki wiedergeboren wurde und alt genug war, sämtliche Wege allein zu gehen, hatte er ihr Grab schon einmal aufgesucht. Er konnte nicht sagen, warum er das damals getan hatte. Vielleicht hatte er gehofft, dort einen Hinweis auf den Verbleib von Kagetoras Seele zu bekommen. Vielleicht wollte er auch einfach nur sein Gewissen beruhigen.

Letztendlich spielten die wahren Beweggründe nicht wirklich eine Rolle. Minako war tot. Er trug die Schuld. Kagetora war wieder an seiner Seite. Der Kreislauf aus Hass und Liebe konnte also weiter ungebremst seine Runden drehen.
 


 

„Hey Naoe! Was machst du auf dem Fahrersitz? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir getauscht haben?“

Meckernd öffnete Kousaka die Beifahrertür und ließ sich schwer in den Sitz fallen. Er warf einen kurzen Blick nach hinten zu Takaya, der in der in der mitgebrachten Einkaufstüte wühlte. Nach wenigen Sekunden nahm er genau das Sandwich heraus, welches Yuzuru für ihn ausgesucht hatte. Genervt richtete Kousaka seine Augen wieder auf Naoe, der inzwischen die aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher verschwinden ließ und dabei war, den Wagen zu starten.

„Wir fahren nicht direkt nach Wajima weiter, sondern werden einen weiteren Zwischenstopp einlegen. Da ich den Weg dorthin kenne, ist es wohl auch angebracht, dass ich fahre. Wenn es dir nicht passt, musst du das mit Kagetora-sama klären.“

Naoes emotionslose Stimme überraschte Kousaka. Es schien in der Tat so, als hätten die beiden eben eine harte Auseinandersetzung geführt. Kousaka konnte Naoes deprimierte Stimmung an dessen Gesicht ablesen. Er hatte zwar keine Ahnung, worüber die beiden gestritten hatten, aber er vermutete, dass es etwas mit Takahashi zu tun haben musste. Es lag schließlich förmlich auf der Hand.

Kousaka schnallte sich an und bat Yuzuru, ihm ein Sandwich zu reichen.

„Was soll’s. Dann kann ich wenigstens in Ruhe essen. Wie lange werden wir JETZT unterwegs sein?“, fragte er resigniert, da er keine Lust mehr auf eine Konfrontation mit Naoe oder gar Kagetora hatte. Ihm blieb zurzeit einfach nichts anderes übrig, als sich in seine Rolle des Mitreisenden ohne Entscheidungsgewalt zu fügen.

„Zwei Stunden.“

Grenzen

Ein warmer Wind fuhr sanft durch die wenigen Laubbäume, die gemeinsam mit den vorherrschenden Rotkiefern um die Aufmerksamkeit der Besucher dieses ruhigen Ortes konkurrierten. Während der Windhauch das Laub zum Singen brachte, entlockte er den Kiefern ein tiefes Knarren, welches hin und wieder von einem lauten Vogelschrei begleitet wurde.

Takaya schloss befreit die Augen und genoss die angenehme Briese, die mit ihrem verliebten Spiel vor seinen dunklen Haaren keinen Halt machte. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Er nahm einen tiefen Atemzug und öffnete seine Augen. Er strich mit der Hand die in das Gesicht gewehten Haarsträhnen zur Seite, und richtete wehmütig seinen Blick auf den Mann vor ihm. Naoe schritt schweigsam einige Meter voraus, und hatte die Jacke lässig über die Schulter geworfen.

Takaya starrte für einen Moment über Naoe hinweg in die Ferne, und konnte den Umriss des Tateshina Berges erkennen, der sich blass in der trüben Luft abzeichnete. Er hatte diesen schon während der letzten Kilometer mit dem Auto hierher ständig im Blickfeld gehabt und dafür gesorgt, dass ungewollt alte Erinnerungen wach wurden – nicht nur schöne, wie er feststellen musste.
 

Der Berg Tateshina gehörte zu dem nördlichen Ausläufer der Yatsugatake Gebirgskette, die sich in den Süden erstreckte und mit dem Berg Amigasa ihren Abschluss fand. Takaya konnte sich entsinnen, einmal einen Schulausflug zum Berg Tengu gemacht zu haben, der ebenfalls ein bekannter Berg dieser Gebirgskette war und mittig in ihr lag.

Damals war er einfach nur Takaya gewesen. Hätte ihm seinerzeit jemand gesagt, dass er eine über 400 Jahre alte Seele war, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Neuzeit vor überdauernder Seelen machthungriger Kriegsfürsten zu schützen, hätte er die Absurdität dieser Offenbarung durchaus auf die Höhenluft schieben können. Aber heute, einige Jahre später, gab es nichts mehr, was die Wahrheit um seine Person verschleiern konnte.

Er war Lord Uesugi Saburo Kagetora, der aufgrund schrecklicher Erfahrungen ihn, Ougi Takaya, in seiner Seele geboren hatte, um sich auf diese Weise, unauffindbar von allem Schmerzlichen, tief zurückziehen und die Aufgabe des reinen Überlebens an ihn abgeben konnte. Takaya fühlte, wie sich dieser zurückgezogene und gänzlich unbekannte Teil seiner Seele immer weiter in ihm ausbreitete, ohne aber seine bisherigen Erfahrungen und Gedanken auszulöschen.

Die Menge dieser neu hinzugewonnen Informationen war für ihn zum jetzigen Zeitpunkt schlicht und ergreifend überwältigend und kaum zu ertragen. Noch immer machte ihm die unbändige Wut Kagetoras Angst, die ihn mehr und mehr auszufüllen drohte und, wie er zugeben musste, auch durchaus nachvollziehbar war. Dennoch konnte er dieses Empfinden nicht akzeptieren. Er wollte diese Wut umwandeln, damit weder er noch Naoe in Zukunft weiter darunter leiden mussten, aber es war schwer – unendlich schwer, und er fragte sich, ob er überhaupt je in der Lage war, dieses Empfinden bewusst steuern zu können. Manchmal kam er sich wie eine Marionette vor, die keinen eigenen Willen besaß, obwohl das natürlich nicht zutraf. Er besaß einen, oder wohl eher zwei, die sich langsam übereinander schoben und für ein innerliches Chaos sorgten.
 

Takaya seufzte leise und versuchte sich wieder auf den Weg zu konzentrieren. Er, Naoe und Yuzuru befanden sich auf dem Pfad zu einem kleinen Friedhof oberhalb einer alten Siedlung, deren Namen er schon vergessen hatte. Einzig Kousaka war nicht bei ihnen. Dieser hatte entschieden abgelehnt sie zu begleiten, als er erfahren hatte, wohin ihre Fahrt ging. Er hatte, wie er erklärte, auf diese perverse Rührseligkeit keine Lust und war im Auto geblieben.

Tatsächlich wäre es Takaya lieber gewesen, mit Naoe allein zum Grab gehen zu können, aber er wollte Yuzuru so wenig wie möglich mit Kousaka allein lassen, und hatte daher dessen Mitkommen regelrecht befohlen. Zum Glück hatte sein bester Freund ohnehin Interesse gezeigt, so dass die harschen Worte rasch vergessen waren.

Takaya warf einen Blick über seine Schulter und sah neugierig zu Yuzuru, der einige Meter entfernt an einer sehr alten und ergrauten knorrigen Kiefer stehen geblieben war und die Hände zum Beten erhoben hatte. Auf dessen Gesicht konnte er einen ungewöhnlich sanften Ausdruck erkennen, der Takaya in seinem eigenen befriedeten Empfinden bestätigte.

Er wartete, bis sich sein Freund wieder in seine Richtung gedreht hatte, bevor er ihm etwas zurief.

„Hast du zufällig noch einen Schokoriegel einstecken?“, fragte Takaya grinsend, der einen Augenblick später mit seiner Hand einen Riegel fing. Während er ihn auspackte, gesellte sich Yuzuru an seine Seite und gemeinsam folgten sie Naoe, der wartend an der nächsten Wegbiegung stand und ihnen einen unergründlichen Blick zuwarf.

„Du solltest deinen Zuckerkonsum vielleicht etwas zurückfahren, sonst ist dir der Zahnarztbesuch sicher, Takaya!“, scherzte Yuzuru.

„Sei doch froh, so haben deine Eltern wenigstens etwas zu tun.“, meinte Takaya lachend, den halben Riegel längst verschlungen hatte.

„Ist das wirklich okay?“, fragte Yuzuru unerwartet nach einigen schweigsamen Schritten nebeneinander.

Yuzurus besorgt klingende Stimme ließ Takaya innehalten. Er hatte das Gefühl, dass sich dessen Frage nicht auf die Nebenwirkungen von Süßigkeiten bezog. Ihn erfasste auf einmal unbewusst tiefe Trauer, die ihn nach Luft schnappen ließ.

„Alles in Ordnung?“, wollte Yuzuru wissen, der sich ihm unerwartet in den Weg stellte und fest den Blick auf ihn gerichtet hielt. Takaya erwiderte ruhig dessen fragenden Blick.

„Was soll nicht in Ordnung sein? Kein Grund zur Sorge.“

„Ich finde, dass eine ganze Menge nicht in Ordnung ist! Und das HIER kommt mir reichlich grausam vor – für dich und für Naoe. Warum-“

Yuzuru spürte plötzlich für einen Moment Takayas kühle Hand auf seinen Lippen, die einen sanften Druck ausübte. Er verstummte.

„Ich weiß nicht, was Kousaka dir erzählt hat. Aber du kannst mir glauben, dass ich mir das hier gut überlegt habe. Dies ist ein Schritt, den ich früher oder später mit Naoe sowieso gehen wollte. Nun geschieht es eben etwas frühzeitiger, und leider völlig unausgesprochen mit Naoe.“, antwortete Takaya wehmütig.

„Kousaka hat mir zwar einige Dinge erzählt, aber ich möchte sie lieber von dir hören! Es fühlt sich einfach nicht richtig an, nur seine Sicht der Dinge erfahren zu haben. Du bist mein bester Freund, Takaya, und er nur ein Fremder für mich.“, rief Yuzuru aufgewühlt, der spürte, dass Takaya nicht bereit war zu reden. Enttäuscht ließ er den Kopf hängen.

„Weißt du, ich will dir damit einfach nur einen Teil deines Schmerzes nehmen…“, murmelte Yuzuru kaum hörbar, der eine Sekunde später einen schmerzhaften Schlag gegen seine Schulter spürte, der ihn überrascht nach hinten stolpern ließ – begleitet von Takayas freundlichem Lachen.

„Anstatt sich Sorgen um mich zu machen, solltest du zur Abwechslung mal lieber über deine Lage nachdenken!“ Während Takaya sprach, trat er seufzend auf Yuzuru zu und tippte diesem sanft mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.

„Echt… Was würde ich nur ohne dich machen?!“

„Verhungern? Vereinsamen? Verblö-“ Yuzuru konnte nicht zu Ende sprechen, da er sich auf einmal im Schwitzkasten von Takaya wiederfand, der ihn gespielt mit maßlos übertriebenen Verwünschungen überschüttete.

„Hey! Takaya... Lass mich lo-“

Yuzuru begann zu lachen und spürte Erleichterung in sich aufsteigen. Selbst wenn Takaya jetzt nicht mit ihm reden wollte, hatte er zumindest die Gewissheit, dass dieser es eines Tages tun würde. Ihm lief ein entzückter Schauer über den Rücken, der augenblicklich stoppte, als er Naoes genervte Stimme vernahm.
 

„Könnt ihr mir mal verraten, was ihr da macht?

Takaya und er sahen gleichzeitig nach vorn zu Naoe und begannen zu grinsen. Yuzuru wusste, dass die Situation alles andere als lustig war, denn schließlich befanden sie sich auf dem Weg zum Grab von Minako. Dennoch wollte er sich das berauschende Gefühl der Verbundenheit mit seinem besten Freund nicht nehmen lassen – auch nicht von Naoe.
 


 

Shishido blickte gedankenverloren auf den Fluss, der sich unterhalb der Anhöhe entlang bewegte, auf der er seit einigen Minuten allein stand. Er verfolgte das fließende Wasser, welches sich auf dem Weg zum Meer befand, das sich am Horizont abzeichnete. Er genoss die Ruhe, die ihn hier umgab und dachte für einen Moment an sein Anwesen in Wajima, das unmittelbar an jenem Meer lag. Trotz aller widrigen Umstände freute er sich auf sein Zuhause. Er hoffte, noch ein wenig Zeit für sich zu haben, ehe Kagetora und Naoe eintrafen.

Denn dass sich diese auf dem Weg nach Wajima befanden, stand außer Frage, auch wenn die letzten Informationen zu deren derzeitigem Verbleib eher dürftig ausgefallen waren. Bisher war die kleine Gruppe auf keiner Straße Richtung Norden entdeckt worden, was aber nicht hieß, dass sie es nicht dennoch war.

Shishido konnte nur darüber rätseln, zu was Kagetora fähig war. Ihr kurzes Aufeinandertreffen war erschreckend, aber zugleich berauschend gewesen. Er hatte einen kleinen Vorgeschmack auf dessen Macht erhalten können, welcher wahrscheinlich lediglich die Spitze des Eisberges war, der aber dafür gesorgt hatte, dass er sich nach einem erneuten Treffen verzerrte. Er konnte nicht sagen, ob er Kagetora gewachsen war, aber er war zu weitaus mehr fähig, als es ihm sein verletzter Zustand bei ihrem ersten Aufeinandertreffen erlaubt hatte.

Es wäre reines Wunschdenken von ihm, wenn er glaubte, Kagetora würde ihn einzig und allein anhand dieser einen Begegnung einschätzen. Dieser Mann war nicht weniger intelligent als er selbst, was die ganze Angelegenheit interessant werden ließ. Aber nicht nur diese Tatsache sorgte für Aufregung bei allen Beteiligten. Das Interesse seines gehassten Vaters an Kagetoras Freund Yuzuru erzeugte ungeheuren Druck auf diese Gruppe, von dem er hoffte, dass er diesen für sich nutzen konnte. Bisher ging es ihm lediglich darum, Kagetora zu zerstören, wie es dieser mit dem eigenen Bruder getan hatte. Inzwischen aber formte sich der Gedanke in ihm, Kagetora mit Hilfe von Yuzuru in die Knie zu zwingen. Wenn ihm Naoe schon entschlüpft war, konnte er sich vielleicht auf Yuzuru konzentrieren, der, den Aussagen seiner Leute nach, keinerlei Kontrolle über die in diesem innewohnende Kraft hatte und somit ein leichteres Opfer darstellte. Auf diese Weise würde er seinem Vater ebenfalls den Weg durchkreuzen, was ihm große Befriedigung verschaffen könnte.

Shishido richtete seinen Blick nach innen und überprüfte seinen körperlichen Zustand. Alle Wunden waren inzwischen verheilt und er fühlte sich gut. Die übertriebene Vorsicht seines engsten Vertrauten war ihm lästig, aber nachvollziehbar, denn schließlich konnte Arakawa nicht in ihn hineinsehen. Er seufzte leise und sah erneut zum Horizont. In weniger als drei Stunden würden sie in Wajima ankommen und seine Reise vorerst ein Ende finden. Vielleicht würde er sich dann ein paar vergnügliche Stunden mit Arakawa schenken, die dieser sich sicherlich schon seit Wochen wünschte.

Ein Lächeln begann Shishidos Lippen zu umspielen, wenn er an seinen Vertrauten dachte. Arakawa würde ihn zu Bett tragen und ihn sanft, aber mit besitzergreifender Bestimmtheit lieben. Der Gedanke an dessen warme Hände ließ ihm einen erregenden Schauer über den Rücken laufen.

Die Stunden, die er mit Naoe verbracht hatte, hatten ihm durchaus Befriedigung verschafft, aber mehr auf geistiger Ebene und in Bezug auf Kagetora. Es war Shishido nicht verborgen geblieben, dass Arakawa die ganze Zeit über eifersüchtig auf Naoe gewesen war. Was sein engster Vertrauter aber nicht wusste, war, dass nur dieser in der Lage war, ihn in völlige Hochstimmung zu versetzen. Diese Tatsache wollte er Arakawa aber nicht auf die Nase binden, denn es würde ihren derzeitigen Umgang miteinander schwer verändern. Vielleicht ergab sich zu einem späteren Zeitpunkt die Möglichkeit, Arakawa über seine wahren Gefühle aufzuklären, aber im Moment war dieses Vorgehen vorerst undenkbar.
 

Shishido spürte das Herannahen der Person, die eben noch seine Gedanken bestimmt hatte. Er wartete stumm mit dem Rücken zu Arakawa, der im kurzen Abstand hinter ihm zum Halt kam.

Ein leichter Wind umspielte sie beide, und zerrte sanft an ihren Haaren und Kleidungsstücken. Shishido schloss erneut die Augen und ergab sich für einen Augenblick seinem Gefühl des Verlangens, das er in gleicher Intensität hinter sich lodern spürte und ihm unaufhörlich entgegenschlug.

„Es gibt keine neuen Informationen über Kagetora und dem Verbleib der Gruppe. Kakizaki Haruie und Shuuhei Chiaki befinden sich noch immer in Matsumoto. Es hat nicht den Anschein, dass sie erneut zur Gruppe stoßen werden.“

Während Arakawa sprach, drehte sich Shishido langsam zu diesem um und starrte in dessen dunkelgraue Augen, in denen er Sorge erkennen konnte. Sein engster Vertrauter erwiderte seinen Blick für wenige Sekunden, ehe dieser die Augen abwandte und nervös an ihm vorbei unbestimmt in die Ferne sah. Shishido registrierte dieses Verhalten mit Genugtuung und schenkte dem jungen Mann vor ihm dafür ein Lächeln.

„Dann sollen die Männer in Wajima in Stellung gehen. Wenn Kagetora vor uns ankommen sollte, dann sollen sie die Gruppe beschatten und ihnen freien Zugang zum Anwesen lassen, falls dieses deren Vorhaben sein sollte. Ich wünsche keine Konfrontation.“

„Wie Ihr wünscht, Shishido-sama.“, entgegnete Arakawa angespannt.

Shishido hob neugierig die Augenbraue. Er überlegte, ob er warten sollte, bis ihm Arakawa von allein den Grund für dessen Unruhe mitteilte, oder ob er gleich danach fragen sollte. Die Entscheidung wurde ihm aber in der nächsten Sekunde abgenommen.

„Ich habe einen Anruf von Sasuke erhalten.“, sprach Arakawa mit fester Stimme, der sich bemühte, seine Besorgnis aus der Stimme fernzuhalten.

„Euer Vater lässt nicht nur nach Yuzuru suchen, sondern nun auch gezielt nach Euch.“

„Lass mich raten. Kopf dieser Mission ist niemand anderes als Sasuke.“, meinte Shishidos herablassend, der sah, dass sich Arakawas Augen dabei für einen Moment wütend verengten.

Shishido wusste, dass sich die beiden Brüder sehr nahe standen, und Sasuke als Spion eine gefährlichere Aufgabe zu meistern hatte als Arakawa. Diese Tatsache belastete seinen engsten Vertrauten mehr, als dieser es zugeben würde. Shishido hatte mit diesem Schritt seines Vaters schon viel früher gerechnet. Denn es wäre vermessen gewesen zu glauben, dass Sakamoto Kyosuke die Veränderung Sasukes nicht bemerkt hätte.

Für Shishido stand schon seit geraumer Zeit fest, dass sein Vater Sasuke nur aus dem Grund am Leben ließ, weil dieser sich dadurch erhoffte, ihn irgendwann mittels dieser Verbindung aufspüren zu können. Er ging davon aus, dass Arakawa dieser Umstand auch bekannt war, auch wenn sie bisher nicht offen darüber gesprochen hatten. Dieser befürchtete nun, und das wohl auch zu Recht, dass Sasukes Zeit ablief und ihm die Hände gebunden waren.

„Es ist so, wie Ihr es sagt. Er hat zwar freie Hand, was die Mission angeht, aber einer der engsten Vertrauten Ihres Vaters soll ihm dabei zur Hand gehen – ihn wohl eher dabei überwachen. Sasuke erwartet Eure Anweisung.“

Während Arakawa sprach konnte Shishido erkennen, dass dieser Mühe hatte, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Er konnte sich gut vorstellen, dass dieser hoffte, er würde augenblicklich Sasukes Rückzug befehlen und damit für dessen Sicherheit sorgen, aber so einfach ging das natürlich nicht. Sasuke stand unter Beobachtung. Würde er jetzt fliehen und zu ihnen stoßen, hätte sein Vater genau das erreicht, was sich dieser womöglich mit diesem Auftrag an Sasuke erhoffte. Sie hatten im Moment keine andere Wahl, als abzuwarten und zu hoffen, dass der jüngere Bruder Arakawas in seiner Funktion als Spion nicht das Leben verlor.

Bei längerer Überlegung kam Shishido zudem zu der Feststellung, dass Sasukes Leben vorerst nicht in größerer Gefahr schwebte als noch vor dem neuen Auftrag des alten Clanoberhauptes. Er ging sogar soweit zu glauben, dass es seinem Vater nicht wirklich um Sasuke ging, sondern um dessen älteren Bruder Arakawa, seinem besten Mann. Denn zum einen hatte dieser eine wichtigere Position innerhalb seines Machtgeflechts inne, und zum anderen besaß Arakawa großen Einfluss auf ihn, mehr als es seinem engsten Vertrauten selbst klar war. Sein Vater hatte sich also die beste Strategie ausgesucht, Arakawa und somit auch ihn selbst aus der Reserve zu locken. Lediglich der Zeitpunkt kam Shishido sehr ungelegen. Er hatte mit Kagetora und dessen Gruppe schon alle Hände voll zu tun, und wollte sich daher nicht auch noch mit seinem verhassten Vater einlassen.

„Sasuke soll die Stellung halten und wenn möglich, den Aufbruch nach Wajima so lange wie möglich herauszögern. Viel Zeit wird ihm mein Vater wohl nicht lassen, aber vielleicht reicht es aus, um vorher die Sache mit Kagetora erledigt zu haben.“

Während Shishido sprach, spürte er, dass Arakawa Mühe hatte, schweigsam den Befehl entgegen zu nehmen. Dieser öffnete mehrmals stumm den Mund, presste diesen aber im nächsten Augenblick wieder angespannt aufeinander. Doch dann verschaffte Arakwa seinem Unmut letztendlich Platz, was Shishido nun mit wachsendem Ärger registrierte.

„Sollte sich Sasuke nicht sofort zurückziehen und vorerst untertauchen? Ich meine, er hat lange genug die Ste-“

Arakawa kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn Shishidos unsichtbare Macht erfasste ihn und stieß ihn unerwartet hart nach hinten, so dass es diesem schwer fiel, sich auf den Beinen zu halten. Er ging in die Knie und fasste sich an die schmerzende Brust, wo er noch immer den dumpfen Aufschlag der Macht spüren konnte. Er blickte überrascht zu Shishido hoch, der nähergekommen war und verärgert auf ihn hinabstarrte.

„Ich wusste gar nicht, dass ich meine Befehle wiederholen muss, damit sie gehört und ausgeführt werden?“, sprach Shishido, dessen Stimme von einem unheildrohenden Ton begleitet wurde. Arakawa senkte den Blick.

„Verzeiht. Ich werde mich sofort darum kümmern. Wenn Ihr mich entschuldigt, da-“

Arakawa wurde erneut ohne Vorwarnung unterbrochen – nun aber völlig gegensätzlich zur ersten Unterbrechung. Shishido griff sanft nach seinem Oberarm und half ihm auf. Anschließend entließ ihn dieser aber nicht aus dem Griff, sondern zog ihn sogar näher zu sich heran, so dass sich ihre Lippen beinah berührten. Arakawa hielt gespannt die Luft an und spürte einen Moment später den warmen Atem seines Herrn am Ohr, als dieser zu sprechen begann.

„Ich kann nachvollziehen, dass dir dein Bruder wichtig ist, aber vergieß niemals, dass das du mein engster Vertrauter bist und MIR deine absolute Loyalität gehört. Zudem glaube ich, dass du eigentlich zum gleichen Ergebnis gekommen sein müsstest, was den Umgang mit Sasuke in dieser Situation angeht. Du bist nicht umsonst mein intelligentester Berater. Sieh also zu, dass dein Sachverstand wieder die Oberhand gewinnt, und vertrau auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten deines jüngeren Bruders.“

Shishido löste sich von Arakawas Ohr und sah ihm dann anschließend in das Gesicht. Er konnte erkennen, dass es diesem noch immer schwer fiel, den Blick zu erwidern.

„Arakawa, sieh mich an…“, sprach Shishido drängend.

Beim Klang der Stimme seines Herrn sah Arakawa auf. Einen Augenblick später spürte er dessen weiche Lippen auf seinen. Hätte er sich nicht mehr in Shishidos Griff befunden, wäre er überrascht einen Schritt zurückgetreten. So musste er aber in dieser Stellung verharren, was ihm im Grunde auch lieber war. Er genoss die Intimität und wünschte sich, sie würde nicht enden.
 

Shishido blickte Arakawa mit gemischten Gefühlen nach, als dieser nach dem beendeten Kuss zurück zum Wagen ging, um sich dort mit Sasuke in Verbindung zu setzen. Er zweifelte nicht an der Urteilskraft Arakawas, aber er musste ein Auge darauf haben, vor allem dann, wenn es wirklich brenzlig für seinen jungen Spion werden würde.

Shishido glaubte nicht, dass Arakawa ihn in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen würde, um den jüngeren Bruder zu retten, aber er musste auf der Hut sein. Blutsbande konnten durchaus Loyalitätsbande übersteigen. Dieser Gedanke bereitete ihm Sorgen und rief hässliche Gefühle in ihm wach. Shishido fragte sich, ob diese Gefühle aus Eifersucht auf Sasuke entstanden.

Im Moment konnte Shishido nur abwarten und die eigenen Gefühle wieder unter Kontrolle bringen. Er würde sich auf Kagetora konzentrieren und hoffen, dass sein bester Mann keine falsche Entscheidung traf.
 


 

„Ich werde hier auf der Bank warten.“

Naoe, Takaya und Yuzuru hatten den kleinen Friedhof erreicht, und standen nun unentschlossen am Eingang der überschaulichen Anlage. Diese befand sich an einer Böschung und war an drei Seiten von Bäumen umsäumt. Lediglich die Richtung zum Tal war offen und bot einen wunderschönen Anblick auf die Siedlung bergab, in der sich die hier Verstorbenen wohl zu Lebzeiten aufgehalten haben.

Das Friedhofsgelände wies nur einen breiten Hauptweg in der Mitte auf, von dem aus eine handvoll kleinere nach oben und nach unten abzweigten. Die Grabsteine standen dicht gedrängt entlang der Wege, und waren vereinzelt mit Blumen und entzündeten Räucherstäbchen geschmückt, was darauf hindeutete, dass den verstorbenen Familienangehörigen erst kürzlich mit einem Besuch bedacht wurde.

„Ich warte hier.“, sprach Yuzuru ein weiteres Mal bestimmend, dem die besorgten Blicke der beiden anderen nicht entgangen waren.

Es war für ihn in Ordnung gewesen, Naoe und seinen besten Freund hier herauf begleiten zu müssen, aber er hatte nicht vor, bis zum Schluss Teil dieses aufreibenden Vorhabens zu sein. Er wollte auf keinen Fall mit zum Grab von Minako gehen. Wenn Takaya das zu diesem schwierigen Zeitpunkt unbedingt durchziehen musste, dann sollte dieser die letzten Meter mit Naoe allein gehen.

Vielleicht würde diese Maßnahme tatsächlich dazu führen, dass sich die Beziehung zwischen Naoe und Takaya entspannt, und sie die bevorstehende Weiterreise nach Wajima dadurch unbeschwerter fortführen konnten. Aber letztendlich hatte Yuzuru keine Ahnung, wie es in Naoe oder Takaya aussah. Es konnte also auch sein, dass der Besuch ihre ohnehin verfahrene Situation verschlimmerte. Yuzuru blieb also im Moment nichts Weiteres übrig, als abzuwarten, den beiden Zeit allein zu geben und, falls nötig, Takaya aufzufangen, wenn im Anschluss dieses Besuches in seinem besten Freund ein emotionales Chaos loszubrechen drohte.

„Ich weiß zwar nicht, zu welcher Stelle ihr müsst, aber der Platz hier ist so klein, dass wir einander nicht aus den Augen lassen können, Takaya. Zudem sind wir allein, denn sonst hättest du bestimmt schon etwas bemerkt, oder? Und wenn uns jemand gefolgt wäre, hätte uns Kousaka Bescheid gegeben. Ich werde mich also einfach hier hinsetzen und die Aussicht genießen.“

Yuzuru sah den beiden nacheinander in die Gesichter und konnte noch immer Bedenken erkennen.

„Na los, geht schon!“, rief er und setzte sich demonstrativ auf die Bank. Nach einigen Sekunden des Zögerns seufzte sein bester Freund geschlagen und ermahnte ihn, sich bloß nicht von der Stelle zu bewegen. Denn auch wenn Yuzuru mit seiner Einschätzung richtig lag, dass sie hier tatsächlich allein waren, blieb dennoch ein Restrisiko vorhanden, das sie zur Vorsicht zwang.

Yuzuru sah Takaya und Naoe mit gemischten Gefühlen hinterher, die mit langsamen Schritten den breiten Hauptweg bis nahe an das gegenüberliegende Ende des Friedhofs gingen, um dann dort auf den letzten abzweigenden Pfad nach unten abbogen. Naoe ging voraus, weil dieser schon einmal hier zu Besuch gewesen war, und daher den Weg und das Grab kannte. Nach einigen Schritten blieb dieser stehen. Yuzuru konnte die Anspannung an Naoes verkrampfter Körperhaltung ablesen. Takaya trat neben den älteren Mann und senkte einen Moment später den Kopf.

Diese, aufgrund des erschreckenden Hintergrundes, beinah unwirkliche Vereinigung am Grab war schlichtweg zu grausam, um sie sich anzusehen. Daher zwang sich Yuzuru wegzusehen, und konzentrierte sich daher auf die Umgebung in seiner Nähe. Er las im Geiste die Inschriften der Grabsteine und hoffte, dass es seinem besten Freund dort drüben mit dessen selbst gewählten Besuch nicht allzu schlecht erging.
 

„Wir sind da.“, sprach Naoe mit leiser Stimme. Er warf einen kurzen Blick auf Takaya neben sich, der den Kopf gesenkt hielt, und schwieg anschließend. Naoe würde sich nicht hinreißen lassen, mit seinem Herrn über das Geschehene zu streiten. Er bereute seine damalige Entscheidung nicht. Dennoch nagten hin und wieder Zweifel an ihm, die sich seit dem Auffinden und des Kennenlernens Takayas, der im Grunde eine verborgene und überraschend freundliche Seite Kagetoras war, vermehrt hatten, und ihn somit häufiger quälten, als er es sich wünschte.

Naoe vermochte nicht zu sagen, wie es Takaya gerade erging. Er wusste, dass Takaya mit der an sich selbst neu entdeckten aggressiven und kompromisslosen Seite, die ein bezeichnendes Merkmal Kagetoras war, noch immer nicht umgehen konnte, geschweige denn sie zu kontrollieren, wenn sie in den Vordergrund trat. Naoe spürte, dass Takaya sich mit diesem

Unvermögen unwohl fühlte, sich sogar für diese überwältigenden Gefühle schämte.

Es war schwer für Takaya, keine Frage, aber es war nicht weniger schwer für ihn selbst. Und jetzt an diesem Grab zu stehen, setzte dem allen die Krone auf, auch wenn Naoe durchaus Verständnis für Takayas Wunsch hatte. Trotzdem befürchtete er, dass der gewählte Zeitpunkt nicht der passendste war und er nicht sagen konnte, wie Takaya in den nächsten Minuten reagieren wird.

„Kagetora-sama?“, fragte Naoe unsicher. Er konnte noch immer keine Reaktion Takayas erkennen, der nach wie vor schweigsam mit gesenktem Kopf da stand. Ihm wäre es lieber, wenn der junge Mann sprach, sich bewegte, irgendeine Gefühlsregung zeigte und ihn somit nicht völlig allein mit den eigenen Gedanken ließ. Er hatte keine andere Wahl, als ungeduldig auf das zu warten, was auch immer da kommen mochte.
 

„Naoe.“

Der Angesprochene zuckte beim Klang der Stimme zusammen. Naoe sah, dass Takaya den Kopf hob und ihn mit unergründlichen Augen anblickte. Er schluckte nervös. Was Naoe dort entdeckte, verhieß nichts Gutes. Takayas Augen begannen machtintensiv zu glühen und verengten sich. Alles deutete nun auf eine unschöne Auseinandersetzung hin, auf die er lieber verzichtete hätte.

„Gibt es nichts, was du zu sagen hast, Naoe Nobutsuna?“

„Gibt es etwas, was Ihr hören wollt, Kagetora-sama?“, antwortete Naoe beinah gleichgültig, der sich für diese leichtsinnige Antwort innerlich eine Ohrfeige verpasste. Er sollte besser versuchen, die Situation zu entspannen, als sie weiter zu verschärfen.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Kagetora-sama.“, ergänzte Naoe aufrichtig und hoffte, dass sein Herr ihm glaubte.

„Wie, du weißt nicht, was du sagen sollst? So sprachlos kenne ich dich überhaupt nicht.“, erwiderte Takaya arrogant.

„Wie wäre es mit einem stummen Gebet? Der Bitte um Vergebung? Einem Kniefall vor Minako und mir?“

Takayas harte Worte verfehlten ihre grausame Wirkung nicht. Naoe spürte für einen Moment Reue in sich aufsteigen, die aber im nächsten Moment von unbändiger Wut und Begierde verdrängt wurde.

„Könnte ich nicht das gleiche von dir verlangen?“, entgegente Naoe ungestüm, der zu betroffen war, sich um die formale Anrede in diesem Moment zu kümmern. Er erwiderte Takayas intensiven Blick, der bei seinen Worten merklich bedrohlicher geworden war. Aber das war ihm nun egal. Sein Vorhaben, sich nicht auf diese schwierige Auseinandersetzung einzulassen, war ohnehin dahin. Er war aufgebracht, verletzt und voller Gewissensbisse.

Naoe vermutete, dass diese Konfrontation für ihn weniger schlimm wäre, wenn aus Takaya lediglich der alte Kagetora sprechen würde.

Die Person nämlich, die er über die Jahrhunderte begleitet hatte.

Die Person, die wenige nette Worte in all der Zeit für ihn übrig hatte.

Die Person, bei der er nur wenige Momente des Friedens erleben durfte. Aber so, unter diesen neuen Umständen, die seinen alten Herren völlig zu verändern drohten, fiel es ihm besonders schwer, den alten Stolz und die Gleichgültigkeit in Bezug auf Minako aufrecht zu erhalten. Vor Kagetora blieb er hart und gleichgültig, aber vor Takaya schämte er sich für seine Tat, obwohl im Grunde aber ein und dieselbe Person vor ihm stand. Es war erstaunlich, welch widersprüchliche Gefühle das in ihm auslöste. Er stöhnte innerlich auf.

„Du wagst es, so mit mir zu reden?“, zischte Takaya gefährlich, was Naoe zwar einen Schritt zurücktreten ließ, seinen Mut aber nicht bezwang.

„Bin ich etwa auf meine alten Tage hin nachlässig geworden? Vielleicht helfen ein paar Disziplinarmaßnahmen, um-“

„Wirklich? Und was ist mit deinem Versprechen, dass du mir erlauben würdest dich zu halten, wenn ich mich bessere? Habe ich das nicht getan? Tue ich nicht seit jeher alles für dich? Habe ich denn nicht langsam deine Gnade verdient? Was muss ich denn noch tun, damit du mir gehörst?“, rief Naoe aufgebracht ohne zu überlegen dazwischen und sah, dass sich Takayas Augen für einen Augenblick überrascht weiteten, sich aber im nächsten Moment noch bedrohlicher verengten. Er kannte und verehrte diesen Blick. Seine Sehnsucht, diesen Mann vor sich endlich bedingungslos halten zu können, schoss explosionsartig in die Höhe und schnürte ihm beinah die Kehle zu. Er streckte seine Hand nach Takaya aus.

„Ich liebe dich.“
 

Takaya spürte, wie die Macht weiter unkontrolliert in ihm anwuchs, sich an dem Gesagten nährte und darauf drang, sich nach außen Platz zu verschaffen. Wütend schleuderte er ungewollt eine erlösende Salve auf Naoe, die diesen mehrere Meter nach hinten stieß, und ihn anschließend zu Boden sinken ließ. Er konnte Naoes schmerzhaftes Aufstöhnen zeitgleich mit Yuzurus entsetztem Aufschrei hören. Takaya sah von Naoe rüber zu Yuzuru, der von der Bank aufgesprungen und einige Schritte in ihre Richtung gelaufen kam. Er konnte schieres Entsetzen in dessen Gesicht erkennen, was seine hemmungslose Wut auf Naoe erneut anfachte. Takaya ignorierte Yuzuru und ging langsam auf Naoe zu, der noch immer auf dem Boden saß und nicht in der Lage war, aufzustehen. Er blieb unmittelbar vor diesem stehen und blickte schweigsam hinab. Der am Boden sitzende Mann versuchte zurückzuweichen, aber dessen Körper schien nicht zu reagieren.

Naoes Reaktion erfüllte Takaya mit Wohlwollen, aber zugleich mit Abscheu über sich selbst. Es war erschreckend, wie diese widersprüchlichen Gefühle in ihm um die Vormachtstellung kämpften, sein achtsames Verhalten, was er für gewöhnlich an den Tag legte, regelrecht ausschalteten.

Takaya spürte, dass er noch immer Schwierigkeiten hatte, die sich überlappenden Gefühle von ihm und Kagetora zu vereinigen, um dadurch eine positive Wirkung zu erzielen, so dass diese nicht immer wieder zu einer Gefahr für ihn selbst, aber vor allem für Naoe wurden. Ihm war durchaus bewusst gewesen, dass dieser Besuch ein Risiko darstellte, aber er hatte dennoch auf diese gemeinsame Reise hierher bestanden. Er konnte nicht sagen, ob er sich oder Naoe damit einen Gefallen getan hatte, aber insgeheim fühlte er, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Er würde heute hier stellvertretend von einer Frau Abschied nehmen, die er nicht gekannt hatte, dafür aber der andere Teil seiner Seele.

Kagetoras Schmerz war auch sein Schmerz.

Sie waren eine Person.

Sie beide liebten Naoe, aber konnten dieses Gefühl nicht zulassen – noch nicht, wie er ehrlicherweise zugeben musste, denn tief in ihm drin spürte er die unaufhörlich wachsende Veränderung dieser Haltung.

Sie beide konnten so nicht weitermachen. Es war an ihm, ihre Beziehung zueinander zu verändern. Diesen bisher vehement bekämpften Teil endlich zuzulassen, um gemeinsam einen neuen Weg beschreiten zu können. Aber Takaya fühlte, dass sie Zeit brauchten – er Zeit brauchte, eins mit Kagetora zu werden, um so die Wut, aber auch die Liebe ihrer beider Willen aufzuarbeiten.

Er schloss die Augen und atmete tief ein. Für einen Moment verharrte er, rief sich innerlich zur Ruhe, bevor er sich Naoe wieder zuwandte.

„Alles in Ordnung, Naoe?“, sprach Takaya sanft, während er einen weiteren Schritt auf den älteren Mann zuging, um diesen mit seiner Hand Hilfe beim Aufstehen anzubieten. Ihm entging dabei nicht das Wechselspiel der Gefühle, welches sich ausdrucksvoll auf dem Gesicht seines alten Freundes abzeichnete – dem schmerzvollen Ausdruck folgte Unglauben und fand seinen Abschluss im Ausdruck der vollkommenen Liebe. Takaya hielt einen Moment den Atem an.
 

„Geht schon, Takaya.“, presste Naoe schmerzhaft hervor, der sich noch immer die Stelle der Brust rieb, wo ihn die entfesselte Macht Kagetoras getroffen hatte. Er langte mit seiner Hand nach oben, und ließ sich aufhelfen.

Zurück auf beiden Beinen, stand er einem gefassten Takaya gegenüber, der keine Anstalten machte, seine Hand loszulassen. Überrascht blickte Naoe auf seine Hand, denn er fühlte einen kühlen Gegenstand innerhalb der Berührung ihrer Hände, der zurückblieb, als Takaya seine Hand aus ihrer Vereinigung löste.

„Warum-“, begann Naoe zu fragen, aber Takaya kam ihm mit der Antwort zuvor.

„Takahashi wollte, dass ich sie behalte, um sie dir irgendwann wiederzugeben. Das tue ich hiermit. Ich schreibe dir nicht vor, was du mit ihr machen sollst, aber vielleicht ist es das Beste, sie hier beim Grab zu lassen.“

„Und was ist, wenn Takahashi sie hier findet?“, entgegnete Naoe unsicher.

„In Anbetracht der Tatsachen, ist es nur gerechtfertigt, wenn sie sie findet und ihre Schlüsse daraus ziehen kann. Ich glaube nicht, dass sie dabei der Wahrheit nur annährend nahe kommen wird. Dennoch ermöglicht es ihr zumindest eine Antwort auf ihre vielen unbeantworteten Fragen. Vielleicht wird sie die Wahrheit auch irgendwann von mir erfahren.“

Während Takaya sprach, betrachtete Naoe die Kette in seiner Hand. Der Vorschlag seines Herrn war in jeder Hinsicht die beste Lösung. Denn zum einen wollte er dieses Erinnerungsstück nicht haben, und zum anderen könnte er es auch nicht ertragen, wenn Takaya es weiterhin für ihn aufbewahren müsste.

Er sah von der Kette auf und traf auf Takayas schimmernde Augen, die ebenfalls seine suchten. Naoe konnte für einen erregenden Moment in ihnen verweilen, ehe diese sich abwandten, um zu Yuzuru rüber zu sehen. Er tat es Takaya nach und erblickte den blassen jungen Mann, der noch immer angespannt an der Stelle stand, wo er zuvor hingelaufen war. Naoe konnte Takaya dabei beobachten, wie dieser eine beschwichtigende Geste in Richtung des besten Freundes machte.

„Ich werde mit Yuzuru vorausgehen. Lass dir hier Zeit, wenn du sie brauchst, oder auch nicht. Sobald wir wieder bei Kousaka sind, werden wir unverzüglich nach Wajima aufbrechen. Direkt durchfahren sollten wir nicht mehr, denn dafür ist es zu spät und zu viel passiert. Wir werden unterwegs übernachten, und dabei Haruie und Chiaki nach dem neuesten Stand der Dinge fragen, sofern es einen gibt.“, erklärte Takaya nüchtern, der sich danach abwandte und ihn allein zurückließ.

Naoe nickte stumm und verfolgte Takaya mit den Augen, der auf dem Weg zu Yuzuru noch einmal am Grab von Minako stoppte, und die Hände zum Beten erhob. Anschließend ging dieser ohne zurückzublicken nach vorn.

„Ich liebe dich…“, flüsterte Naoe mit bebender Stimme ein weiteres Mal, dem noch immer Takayas außergewöhnliches Verhalten in den Knochen steckte.
 


 

Die drei Männer standen angespannt auf dem Parkplatz vor dem älteren Gebäude, das mit einer schäbigen Leuchtreklame um Gäste für die freien Betten warb. Takaya murmelte ungeduldig vor sich hin, während sich Yuzuru und Kousaka neugierig im Abendlicht die Umgebung ansahen.

Zur Pension gehörte ein weiträumiger Parkplatz, der bis auf ihr und ein weiteres Auto vollkommen leer war. Neben der Gaststätte, abseits der Hauptstraße, auf der sie vor wenigen Minuten noch selbst gefahren waren, führte ein Weg die Böschung hinauf, wo sie, im Kontrast zum alten Gebäude, einen relativ neu aussehenden überdachten Freisitz entdecken konnten. Hinter diesem befand sich eine überraschend gut gepflegte Apfelbaumplantage, dessen Ernteertrag wohl für die kaum vorhandenen Gäste der Pension entschädigte. Der Plantage folgte Wald, der sich in der Dämmerung als schwarze Fläche ausdehnte und in weiter Ferne, im Anstieg am dortigen Gebirge, lichtete und schließlich gänzlich verschwand.
 

„Das ist jetzt schon der dritte Versuch. Wenn es wieder nicht klappt, werden wir im Auto übernachten. Ich bin es leid, weiterzusuchen. Also, stellt euch eventuell auf eine unbequeme Nacht ein.“

Takaya wandte seinen Blick vom Eingang ab und sah zu Yuzuru und Kousaka, die ihm zwar nicht widersprachen, deren Gesichter aber Bände sprachen. Er musste grinsen.

„Keine Sorge, Yuzuru! Wir werden uns den hinteren Raum mit umgeklappter Rückenlehne teilen, während sich die beiden älteren Herren vorne begnügen können.“

„Ach ja? Ich wusste gar nicht, dass ich dir mein Auto vermacht habe, so dass du frei darüber entscheiden kannst, Kagetora?!“, maulte Kousaka, dem es seit einem heftigen Anschnauzer seitens Naoe kurz nach Beginn ihrer Weiterfahrt nicht besonders gut ging.

„Ich würde sagen, angesichts meiner heut extremst geschundenen Seele werden ich und Yuzuru die Nacht im Auto verbringen, DU und Naoe außerhalb. Ihr könnt von mir aus zum Schlafen auf Bäume klettern. Dort dürftet ihr euch wohl auch ganz wie zu Hause fühlen.“

Während Kousaka sprach, winkte er mit dem Autoschlüssel in Takayas Richtung, und betätigte anschließend den Knopf der Zentralverriegelung. Ein boshaftes Grinsen machte sich auf seinen Lippen breit.

„Damit ist es wohl entschieden!?!“, sprach er arrogant und steckte den Autoschlüssel weg.

„Noch kindischer geht’s wohl nicht, Kousaka?“, entgegnete Yuzuru lachend, der sich von dessen schlechter Laune nicht anstecken lassen wollte. Im Gegenteil, dieser hatte sogar sein Mitgefühl, denn Naoe war wirklich hart mit ihm ins Gericht gegangen, als sie vom Besuch des Friedhofs zurückgekehrt und unmittelbar losgefahren waren.

Yuzuru konnte Naoe aber auch verstehen, denn Kousaka hatte ab der ersten Sekunde, wie sie alle wieder gemeinsam im Auto saßen, ununterbrochen gestichelt, und ihnen damit den letzten Nerv geraubt – was bei Takaya und Naoe ziemlich schnell gegangen war, denn diese beiden waren, trotz der kurzen Aussprache nach dem unkontrollierten Wutausbruch, noch immer sehr angespannt und leicht reizbar gewesen. Er selbst hatte ja eine ganze Weile gebraucht, die erschreckende Szene auf der Begräbnisstätte zu akzeptieren, und die Angst um beide wieder abzulegen.

Es war also kein Wunder gewesen, dass es Naoe irgendwann zu bunt geworden war, und dieser sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als Kousaka verbal anzugreifen. Natürlich hatte er Naoes Wortwahl und Ton als eine Spur zu bissig empfunden, aber nun war es nicht mehr zu ändern. Yuzuru hoffte, dass sich Kousakas nachtragendes Verhalten bald in Luft auflöst, und sie alle wieder ein wenig gelassener miteinander umgehen konnten.

„Wir sollten erst einmal abwarten, mit was für einem Ergebnis Naoe zurückkommt. Vielleicht haben wir ja diesmal Glück und bekommen Zimmer. Es kann ja nicht jede Herberge etwas gegen vier Männer haben, die auf der Durchreise sind.“

Yuzuru sah schlichtend zwischen Kousaka und Takaya hin und her, die ihrerseits nichts mehr hinzufügen wollten. Er schloss sich ihrem Schweigen an und blickte zum Eingang der Pension, aus dem wenige Sekunden später ein erleichterter Naoe trat. Mit geschmeidigen Schritten kam dieser auf sie zu.
 

„Es hat zwar etwas gedauert, aber wir haben zwei Doppelzimmer bekommen. Außerdem können wir vor dem Essen das Bad benutzen. Falls Fragen kommen, dann solltet ihr drei erwähnen, dass ihr meine Adjutanten für einen meiner priesterlichen Aufträge seid. Ich glaube, dass das der ausschlaggebende Punkt gewesen war, dass sie uns überhaupt Zimmer gegeben haben. Wie dem auch sei, ich würde vorschlagen, dass sich Kousaka und ich ein Zimmer teilen, sowie Takaya und Yuzuru.“

Yuzuru freute sich über Naoes Neuigkeit, und war damit nicht alleine. Kousaka, der eben noch auf Konfrontation aus war und sich und ihn für die Nacht im Auto einquartieren wollte, starrte nun mit einem geheimnisvollen Lächeln zu dem älteren Mann.

Kousakas Verhalten gegenüber Naoe war mehr wie rätselhaft, wie Yuzuru fand. Dieser schien sich einzig und allein an Naoe zu orientieren, und ignorierte im Gegenzug dafür den eigentlichen Kopf dieser Gruppe. Takaya war davon natürlich ersichtlich genervt, wie auch jetzt an dessen Gesicht abzulesen war. Yuzuru konnte sehen, wie sein bester Freund Kousaka nicht aus den Augen ließ, diesen regelrecht mit dem Blick durchbohrte.

„Na, das ist ja mal was. Ich würde sagen, Glück gehabt, ihr beide!“, meinte Yuzuru froh, der sich damit Naoes fragenden Blick einfing.

„Wie muss ich das verstehen?“

„Nun, Takaya hatte eigentlich die Platzaufteilung für die Nacht im Auto schon geklärt, bei der du nicht besonders gut weggekommen bist. Aber dann hat Kousaka alles über Bord geschmissen, und dich und Takaya des Autos verwiesen. Wie du siehst, hätte dir dann eine noch unbequemere Nacht gedroht. Daher Glück gehabt. Aber ich frage mich natürlich, warum Kousaka mich nicht ausquartiert hat…“

Yuzuru sah neugierig zu Kousaka, aber erwartete keine Antwort. Er war darum umso verblüffter, als der junge Mann mit den schulterlangen Haaren ihm ein breites Grinsen schenkte.

„Ganz einfach, Yuzuru. Ich mag dich eben!“, offenbarte Kousaka lächelnd, der sich daraufhin umdrehte, und allein zum Eingang ihres Nachtquartiers ging.

„Äh… Muss ich mir jetzt Sorgen machen? Nicht, dass ich etwas dagegen hätte… Also, ich meine…Kousaka?!? Und dann solche Worte!?! Ich bin schockiert.“, witzelte Yuzuru, der sich noch nicht entschieden hatte, wie ernst er Kousakas Antwort nehmen sollte.

„Ich würde gar nicht weiter drüber nachdenken. Ist wahrscheinlich wieder nur einer seiner seltsamen Scherze!“

Yuzuru sah zu seinem besten Freund, der Kousaka aufmerksam mit den Augen verfolgte und beiläufig das Gesagte kommentierte.

„Hm. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wer weiß schon, was in dessen Kopf passiert. Ich glaube, Kousaka ist immer für eine Überraschung gut. Wir sollten uns daher ebenfalls auf den Weg machen und schauen, ob dieser Mann heute noch mehr Unerwartetes tun wird.“, entgegnete Naoe ernsthaft und starrte dabei zu Takaya, der dessen Blick nicht bemerkte, da dieser noch immer gedankenverloren zum Eingang des Gebäudes sah.

Yuzuru ließ seine Augen von Takaya zu Naoe und dann zur sich schließenden Eingangstür wandern. Wieder einmal hatte er das Gefühl, absolut ahnungslos zu sein. In der Luft zwischen den drei Männern schien es unaufhörlich zu knistern und Yuzuru fragte sich, welche gemeinsamen Erlebnisse dazu geführt haben könnten.

„Geht ihr schon mal vor. Ich werde noch kurz mit Chiaki telefonieren.“

Während Takaya nach seinem Telefon kramte, entfernte er sich entschuldigend.

„Gut. Dann wollen wir mal.“ Naoe wandte sich ab und ging zur Tür.

“Ich bin schon sehr gespannt, was mich heute Nacht erwartet…“, fügte er murmelnd hinzu.

„Hast du was gesagt, Naoe?“, fragte Yuzuru, der dem älteren Mann gefolgt war.

„Äh, nein. Nichts.“, erwiderte dieser, ohne ihn dabei anzusehen. Yuzuru hob skeptisch eine Augenbraue, sagte aber nichts weiter. Er warf einen letzten Blick zurück auf Takaya, der in der Nähe des Autos leise sprach.
 


 

Yuzuru schlug die Augen auf und starrte auf eine fremde Zimmerdecke. Es war dunkel und vollkommen still um ihn herum. Beunruhigt setzte er sich auf, und versuchte sich zu erinnern, wo er war.

„Pension…“, wisperte er einen Moment später erleichtert und sah zum zweiten Bett rüber, auf dem Takaya liegen müsste. Er strengte sich an, damit er trotz Dunkelheit den Umriss seines besten Freundes unter dessen Bettdecke erkennen konnte, wurde aber nicht fündig.

„Takaya?“, rief er leise.

„Hey, Takaya?! Bist du da?“

Yuzuru hatte beim zweiten Mal lauter gesprochen, aber bekam auch diesmal keine Antwort. Er knipste das Licht der Nachttischlampe an und wartete, bis sich seine Augen wieder an die Helligkeit gewöhnt hatten. Er sah erneut rüber zur Stelle, wo sich Takaya eigentlich befinden müsste, und runzelte die Stirn.

„Vielleicht ist er zur Toilette…“, murmelte Yuzuru überlegend, während er auf seine Armbanduhr blickte.

„Kurz nach zwei. Das heißt, ich habe gerade mal drei Stunden geschlafen.“

Yuzuru schlug die Decke zurück und streckte sich. Er stand gähnend auf und ging zur Tür, um zur Toilette zu gehen.

„Ich weiß nicht wieso, aber ich habe so ein komisches Gefühl. Wollen wir doch mal sehen, ob ich recht habe…“ Während er zurück auf Takayas Bett zulief, suchte er die Umgebung nach der Kleidung seines besten Freundes ab. Nichts. Er griff unter die Bettdecke und spürte keinerlei zurückgelassene Körperwärme.

„Dachte ich es mir doch. Wo bist du hin?!“

Yuzuru beschloss, zuerst die Toilette aufzusuchen und dann nach Takaya zu suchen. Er konnte sich gut vorstellen, dass dieser ihm eine Strafpredigt halten wird, weil er allein mitten in der Nacht durch die Gegend lief. Aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Takaya an seiner Entscheidung nicht ganz unschuldig war. Seufzend zog er sich seine Sachen an, und verließ das Zimmer.
 


 

Takaya lag auf dem Rücken und starrte hoch zum Nachthimmel. Obwohl er seit mehr als einer Stunde hier im Grass lag und die Bewegung der Erde anhand der Sterne verfolgen konnte, war ihm nicht kalt. Im Gegenteil. Er glühte innerlich. Sein Kopf schien wegen der vielen Gedanken heißzulaufen, und er hatte keine Ahnung, wie er all die Dinge, die unaufhörlich auf ihn einströmten, stoppen konnte.

Naoe. Minako. Yuzuru. Shishido. Kousaka. Und wieder Naoe. Er seufzte und schloss geschlagen die Augen.

Er begann sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. Takaya spürte die unebene Wiese. Rief sich die Apfelbäume ins Gedächtnis, an denen er vorbeigegangen war, als er hier herauf gekommen war. Spürte den leichten Wind, und nahm den Duft und die nächtlichen Geräusche des nahen Waldes und dessen Bewohner wahr. Takaya atmete tief ein, und versuchte diese friedliche Atmosphäre mit Hilfe seiner Atemluft zu verinnerlichen.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er unerwartet die Präsenz einer weiteren Person fühlte. Seine mühsam errungene innere Ruhe war schlagartig fort. Takaya presste für einen Moment schmerzhaft die Lippen aufeinander, bevor er nach der Person rief.
 

„Was machst du hier draußen, Naoe?“

„Es fiel mir schwer mit Kousaka im Zimmer einzuschlafen. Da dachte ich mir, dass ich stattdessen genauso gut die Umgebung im Auge behalten könnte. Aber ich hatte nicht erwartet, dich hier draußen vorzufinden. Was ist mit Yuzuru?“

„Er hat fest geschlafen, als ich das Zimmer verließ.“, antwortete Takaya, der sich aufsetzte und zu dem Mann hochblickte, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Trotz Dunkelheit konnte er Naoes Gesicht erkennen und sah, dass dieser erwartungsvoll auf ihn hinunter schaute. Takaya spürte, dass unter Naoes Blick seine innere Hitze zurückkehrte, und er darauf gar nicht vorbereitet war.

„Wü- würdest du mich bitte nicht so anstarren?“, stotterte Takaya verunsichert. Naoes Anwesenheit begann sein Innerstes Stück für Stück zu vereinnahmen, und das fand er überhaupt nicht gut.

„Ist es dann in Ordnung, wenn ich mich neben dich setze und dir Gesellschaft leiste? Ich würde gerne noch etwas draußen bleiben.“

Takayas Gedanken begannen zu rasen. Natürlich wollte und musste er mit Naoe einiges klären, aber er war sich nicht sicher, ob jetzt der richtige Zeitpunkt dafür wäre.

„Wenn nicht jetzt, wann dann…“, flüsterte er letztendlich, und gab Naoe mit Handzeichen zu verstehen, dass dieser sich setzen durfte.

„Hoffen wir mal, dass wenigstens die anderen beiden schlafen können.“, meinte Takaya dann lauter, der sich nach hinten auf seine Arme stützte, um Naoe aus dieser Position heraus besser beobachten zu können. Dieser tastete gerade die Jackentaschen nach den Zigaretten ab.

„Stört es dich, wenn ich rauche?“, fragte ihn Naoe, nachdem dieser sie gefunden hatte.

„Nein. Mach nur. Aber mir ist aufgefallen, dass du neuerdings viel mehr als früher rauchst. Gibt es einen Grund?“

Takaya sah, dass Naoe kurz in seiner Bewegung innehielt, und unschlüssig zu ihm rüber blickte.

„Um ehrlich zu sein, mehrere.“ Naoe nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette.

„Willst du darüber reden?“

„Ich weiß nicht, ob du das hören willst, es überhaupt hören solltest.“

Damit könnte dieser durchaus recht haben, schoss es Takaya durch den Kopf, denn er fühlte sich in diesem Moment überhaupt nicht in Lage, ein normales Gespräch führen zu können – und von einem alltäglichen Gespräch war eben sicherlich nicht die Rede.

Er musterte Naoe intensiver und fragte sich, was diese starke und selbstbewusste Seele dazu brachte, sich ihm ohne wenn und aber unterzuordnen, ihm in jeder Situation zu folgen, auch wenn es die eigene Niederlage bedeutete. Es war ihm ein Rätsel, aber auch wieder nicht. Denn er brauchte nur an sich und das eigene Verhalten denken, als er Naoe endlich nach Wochen der Gefangenschaft verletzt in einer Hütte aufgespürt hatte. Dieser Moment hatte sich in seine zerrissene Seele gebrannt, und gleichzeitig die letzte Mauer des reinen Selbstschutzes einstürzen lassen. Takaya hatte sich damals von dem überwältigenden Gefühl der Liebe leiten lassen. Er hatte zwar harte Worte benutzt, aber nur, um nicht völlig die Kontrolle über sich und die Situation zu verlieren. Im Nachhinein hatte er sich mehr als einmal gefragt, was wohl passiert wäre, wenn Kousaka nicht aufgetaucht wäre.

Kousaka. Dieser Mann war gefährlich, wie Takaya immer wieder feststellen musste. Aber das dieser wenige Jahre ältere Mann Naoe zu lieben schien, sprengte jegliche Vorstellungskraft die er besaß. Auch wenn Kousaka es bisher nicht klar gesagt hatte, so spürte Takaya doch, dass es der Wahrheit sprach. Er fragte sich, ob Naoe es auch spürte.

„Takaya?“

Naoe sah ihn besorgt an.

„Alles okay?“

Takaya zähmte seine rasenden Gedanken, und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.

„Ich war in Gedanken. Entschuldige.“

„Verstehe.“

Schweigend betrachtete Naoe die glühende Zigarette, während Takaya Naoe anblickte und bei dessen nächsten Worten erstarrte.

„Ich habe mit Shishido geschlafen.“

Vereint

Takaya wusste nicht, was er sagen sollte. Musste er überhaupt antworten? Schließlich hatte Naoe keine Frage gestellt, sondern ihm eine Tatsache offenbart. Er war sich nur nicht sicher, ob der Mann dabei von der Vergewaltigung sprach, oder von etwas anderem. Aber es wäre erschreckend, wenn Naoe so über den sexualisierten Übergriff dachte. Was würde dieser damit bezwecken wollen? Naoes Worte erinnerten ihn zwangsläufig an die Videos, die dessen Folterungen festgehalten hatten. Allein der Gedanke an Shishidos Gräueltaten ließ seine Körpertemperatur vor Wut unkontrolliert ansteigen.

Takaya konnte nur spekulieren, was für psychische Spuren die gewalttätige Gefangenschaft bei Naoe hinterlassen haben musste – und sie musste Spuren hinterlassen haben. Dafür brauchte er sich nur die eigene Vergangenheit vor Augen zu führen, um zu wissen, dass Folter jeglicher Art Wunden hinterließ, die sich nur schwer schlossen.

Die Frage war also, ob Naoe bereit war, die Wunden zu teilen, um den Schmerz zu lindern. Oder dieser sie unaufgearbeitet verdrängte, und damit größeres Leid für sich selbst und andere erzeugte. Takaya selber hatte es nicht besser gemacht. Er hatte alles in der hintersten Ecke seiner Seele verborgen und mit einem Siegel zu versehen versucht, dass inzwischen in die Jahre gekommen war, und letztlich auseinanderzubrechen drohte.
 

Takaya musterte Naoe aufmerksam, der sich unterdessen die zweite Zigarette anzündete. Sein Freund saß schweigsam in kurzer Distanz neben ihm auf der Wiese. Dieser hatte zwar lässig die Beine aufgestellt und die Arme über die Knie gelegt, aber von Entspanntheit war bei dem älteren Mann nichts zu erkennen. Im Gegenteil, Naoes Unruhe war förmlich greifbar.

Seit Naoes irritierenden Worten waren inzwischen Minuten vergangen, und weder dieser noch er hatten die noch immer anhaltende Stille mit ihren Stimmen durchbrochen. Takaya konnte nicht einschätzen, ob Naoe auf etwas Bestimmtes wartete, oder dieser einfach nicht weiter darüber sprechen wollte. Was auch immer Naoe beabsichtigte, Takaya konnte dieses Schweigen nicht länger ertragen und beschloss, dieser erdrückenden Situation zu entkommen.

„Ich weiß nicht, ob bei einer Vergewaltigung von „miteinander schlafen“ gesprochen werden sollte…“, erwiderte er leise, und wartete nervös auf eine Reaktion. Wenn Naoe von sich aus nichts erzählen mochte, so hoffte Takaya, würde dieser vielleicht dann auf seine Fragen anspringen.

Erneut trat Stille ein und Takaya überlegte, ob Naoe ihn vielleicht nicht gehört haben konnte, weil er zu leise gesprochen hatte. Aber dieser Gedanke war unbegründet, denn er sah, dass Naoe mit zitternder Hand die Zigarette ausdrückte, und einen Augenblick später zu reden begann.

„Ich spreche nicht von der Vergewaltigung, Takaya. Ich meine die unzähligen Male, die ich danach freiwillig mit Shishido geschlafen habe.“

Takaya blickte sprachlos zu Naoe rüber, der die Schulter und den Kopf hängen ließ, und wieder verstummt war. Er wollte nicht glauben, dass Naoe eben tatsächlich das Wort ‚freiwillig’ in den Satz eingebaut hatte. Das ergab keinen Sinn. Takaya spürte die eigene Befangenheit aufgrund des brisanten Themas anwachsen, aber er hatte Naoe angeboten, darüber zu reden. Er konnte sich einen Rückzieher nun also nicht mehr erlauben.

„Bei dieser Sache von Freiwilligkeit zu sprechen verdreht völlig die Tatsachen! Du warst in Gefangenschaft, Naoe. Selbst wenn du später mit Shishido geschlafen hast, ohne dass dieser körperliche Gewalt androhen musste, heißt das noch lange nicht, dass das alles aus freien Stücken passiert ist. Verstehst du? Du warst während der Gefangenschaft zu keiner Zeit frei in deinen Entscheidungen!“, rief Takaya bebend, der das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er konnte nicht glauben, dass Naoe tatsächlich alle Schuld auf sich nahm.

„Und was ist, wenn ich doch frei entscheiden konnte? Statt mit ihm zu schlafen, hätte ich mich auch weigern können. Das habe ich aber nicht.“, entgegnete Naoe ernst.

„Und warum? Was war der Grund für deine Zustimmung? Es gibt einen, oder? Egal was du mir sagst, es war nicht freiwillig, auf keinen Fall, nicht unter diesen Umständen.“ Takaya mahnte sich innerlich zur Ruhe. Denn wenn er nicht aufpasste, würde er Naoe womöglich Dinge an den Kopf werfen, die unfair und wenig einfühlsam waren. Er wollte bestimmt nicht erreichen, dass sich Naoe aufgrund seiner Äußerungen veranlasst fühlt, diese Unterhaltung vorzeitig zu beenden.

Er schloss für einen Moment die Augen und versuchte sich vorzustellen, warum Naoe so über Shishidos Tat und das anschließende eigene Verhalten dachte. Es war nahezu unbegreiflich. Der ältere Mann war intelligent, und müsste es daher eigentlich besser wissen. Aber aus irgendeinem Grund wollte Naoe die Wahrheit nicht sehen.

Takaya musste zugeben, dass er bis zum jetzigen Zeitpunkt nichts weiter über die Gefangenschaft erfahren hatte – bis auf Shishidos Videobotschaften natürlich, die sehr wahrscheinlich nur die Spitze des von Gewalt durchdrungenen Eisberges gewesen sein musste. Er fühlte sich aufgrund seiner Unwissenheit in dieser Unterhaltung unterlegen und spürte, dass er dadurch zu bewertend sprach, und den eigenen Gefühlen viel zu viel Raum gab. Naoe half dies bestimmt nicht, aber es war ihm unmöglich, bei all dem gelassen zu bleiben. Letztlich wollte Takaya einfach nicht glauben, dass der Mann, der ihn liebte, freiwillig mit einer anderen Person geschlafen hatte.

„Du warst der Grund.“

Fassungslos sah Takaya zu Naoe, der ihn entschuldigend anblickte. Er erwiderte den Blick und hielt für einen Moment den Atem an, bevor er sprach.

„Wie meinst du das?“

„Ich wollte nicht gehen und dich zurücklassen. Hätte ich mich geweigert, wäre ich jetzt nicht hier.“

„Ja, aber… Ich mein... Du kannst doch nicht einfach so etwas auf dich nehmen, nur um-“

„Nur um was? Glaubst du etwa, ich will nach all der Zeit, die ich gebraucht habe dich endlich zu finden, einfach so gehen? Glaubst du wirklich, dass ich darauf warten kann, wiedergeboren zu werden, um dann wieder ganz von vorn anzufangen? Ich liebe dich! Und ich hasse mich dafür! Ich verachte es, mit Shishido geschlafen zu haben! Aber gleichzeitig habe ich es genossen! Denn während all der Male habe ich mir vorgestellt, mit dir zu schlafen. Ich habe nicht Shishido in den Armen gehalten, sondern dich!“, rief Naoe aufgewühlt dazwischen. Dieser hatte sich während des Sprechens Takaya vollends zugewandt, und fixierte diesen nun mit einem leidenschaftlichen Blick.

Takaya schluckte nervös. Naoes Geständnis kam unerwartet und tat weh. Nach wie vor war er der Meinung, dass dieser nicht aus freien Stücken gehandelt haben konnte. Aber zu hören, dass Naoe an ihn gedacht hatte, während dieser mit Shishido geschlafen hatte, erfüllte ihn mit Abscheu und Eifersucht. Da half es ihm auch nicht zu wissen, dass für Naoe alles nur ein Ausdruck von Widerstand gewesen war – eine Form des Überlebens, einzig allein um ihn in diesem Leben wiederzusehen.

„Taka- ya?!“, wisperte Naoe flehentlich, der befürchtete, dass sich der jüngere Mann zurückziehen könnte.

„A- also… Ich sollte zurück auf mein Zimmer gehen. Vielleicht ist jetzt doch nicht der richtige Augenblick, um darüber zu reden.“ Takaya vermied es Naoe anzusehen.

„So?! Und was war mit dem Friedhofsbesuch?“, erwiderte Naoe eindringlich. „Das war für mich auch nicht der richtige Zeitpunkt, trotzdem habe ich mich mehr oder weniger darauf eingelassen – um unser beider Willen.“

„Aber das war doch etwas ganz anderes gewesen!“

„War es das wirklich? Denkst du, dass es mir nichts ausgemacht hat, am Grab der Frau zu stehen, die ich getötet habe? Die Frau, der du es erlaubt hast, dich in den Armen zu halten? Glaubst du allen Ernstes, dass das spurlos an mir vorbeigehen würde? Ich bin wütend. Ich bin aufgewühlt. Ich fühl mich hilflos. Ich…ich habe einfach Angst! Hörst du! Ich habe Angst dich zu verlieren, Kagetora! … Ich ertrage diesen Zustand nicht mehr.“

Naoe sprach zum Ende hin immer leiser, so dass Takaya Schwierigkeiten hatte, die letzten Worte zu verstehen. Er sah fragend zu dem Mann rüber, der ihn mit erwartungsvollen Augen anblickte.

„Naoe… Ich weiß nicht, was ich sagen kann, damit es dir besser geht. Mir ist bewusst, dass du eine Menge durchgemacht hast, ich dir zudem keinen Moment der Ruhe gönnen kann, aber…aber ich bin genauso hilflos wie du! Ich habe das Gefühl, dass ich innerlich zerreiße, obwohl es eigentlich ein Prozess des Zusammenwachsens sein sollte. Und dennoch, wir soll-“

„Küss mich…“

Überrascht riss Takaya die Augen auf, und wich unbewusst ein Stück zurück.

„Was hast du gesagt?!“

„Küss mich! Küss mich so, wie du es bei unserem Zusammentreffen in der Hütte getan hast!“, antwortete Naoe fordernd, der die Distanz zwischen ihnen weiter verringerte.

„Wie… Da- das geht nicht! Und überhaupt, was sollte dir das bringen?!? Die Erinnerungen werden dadurch bestimmt nicht ausgelöscht!“

„Aber ich kann sie durch neue ersetzen! Mit jedem weiteren Kuss verblasst die Erinnerung an Shishido und Minako… Sie werden so zu einem akzeptierten Teil meiner Vergangenheit, mit dem ich mich nicht mehr beschäftigen muss.“, versuchte Naoe zu erklären, der bei jedem weiteren Wort näher an Takaya ranrückte.

Takaya starrte Naoe forschend in das Gesicht, welches nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt war. Darin sah er nichts außer reinem Verlangen, das, wenn er ehrlich zu sich selbst war, in diesem Moment auch in ihm die Oberhand zu gewinnen begann.

Die Erwähnung des Kusses in der Hütte nahm seine Gedankenwelt inzwischen völlig ein, so dass es Takaya mit jeder Sekunde schwerer fiel, rational zu denken und zu handeln. Er wusste, wohin dies zwangsläufig führen würde, wenn er nicht sofort die Notleine warf, um sich damit aus Naoes Reichweite zu ziehen.

„Darf ich dich… küssen?“

„Hatte ich nicht gesagt, dass du während unserer Reise nach Wajima so etwas unterlassen sollst?“

Takaya klammerte sich hilflos an die eigenen Worte, die ihm völlig sinnlos vorkamen, denn eigentlich wollte er nichts anderes als Naoe. Aber er hatte nicht den Mut, den Mann vor ihm aus eigenen Stücken zu küssen, wie dieser es sich wünschte. Dafür hoffte er, dass Naoe nicht auf ihn warten würde, sondern selbst die Initiative ergriff.

„Ich küsse dich jetzt… Ja?“, flüsterte Naoe, der sich keine weitere Sekunde mehr beherrschen wollte.
 

Takaya hielt berauscht die Augen geschlossen, und umfasste Naoes Rücken fester. Es waren erst wenige Augenblicke seit dem ersten Aufeinandertreffen ihrer Lippen vergangen, aber Takaya hatte das Gefühl, er würde schon seit Stunden in Naoes Armen liegen. Seine Erregung wuchs mit jedem innigen Kuss weiter an, und musste inzwischen auch von Naoe bemerkt worden sein. Verlegen verdrängte er diesen Gedanken, und versuchte sich auf Naoes Zunge zu konzentrieren, die selbstbewusst jeden Millimeter seines Mundes erforschte, und ihm damit einen elektrisierenden Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte.

Naoes Körper auf seinem zu spüren war unbeschreiblich. Wo sie einander berührten, bildeten sich unzählige Ausgangspunkte feuriger Wellen der Lust, die sich gleichförmig in alle Richtungen fortbewegten, sich überlappten und abschwächten, nur um im nächsten Moment an anderer Stelle neu zu entstehen.

Jede Gewichtsverlagerung Naoes ging mit verstohlenen Berührungen einher, denen Takaya mit klopfendem Herzen entgegenfieberte. Dessen letzte ließ ihn fühlbar zusammenzucken, denn Naoe zwängte ihm das Knie zwischen die Beine und schob es sanft nach oben.

„Ngh… A- ah, warte, nicht dorthin…“

„Wieso nicht? Es fühlt sich doch gut an, oder?“, hauchte Naoe Takaya erregt in das Ohr. Er sah, dass ihn der junge Mann für einen Moment wütend anblickte, im nächsten aber schon wieder die Augen schloss, und die Lippen bebend aufeinander presste. Naoe lächelte, und übte mit seinem Knie sanften Druck aus, der Takaya ein leises Stöhnen entlockte.

„Erregen dich meine Berührungen etwa so sehr?“

„I- ich habe lediglich, also, … Würdest du bitte aufhören, mir irgendwelche Fragen zu stellen, Naoe?“, antwortete Takaya gequält, dem es lieber wäre, wenn sich ihre Lippen wieder vereinigen würden. Lange musste er darauf nicht warten.

„Entschuldige. Wo war ich stehen geblieben…“
 

Naoe suchte erneut die warme Öffnung, und ließ seine Zunge hineingleiten. Er spürte Takayas leidenschaftliches Erbeben und genoss die Reaktion. Takayas Zunge schlang sich gierig um seine, und beide wetteiferten um die Vormachtstellung in der jeweiligen Mundhöhle. Naoe konnte Takayas warme Hände an seinem Nacken spüren, die dort sanft entlang strichen und sich einen Augenblick später schmerzhaft in seinen Haaren festkrallten. Das Aufstöhnen unterdrückend, ließ er seine Zunge aus Takayas Mund wieder hinausgleiten und zog mit kreisenden Bewegungen dessen Lippen nach, ehe er sie anschließend Richtung Ohr wandern ließ, um dort an dem Ohrläppchen zu knabbern.

„Takaya… Ist es in Ordnung, wenn ich…“

„Wenn du waaaaaahhh…“ Takayas Stimme brach, denn Naoe öffnete dessen Hose, und schob seine Hand hinein.

„Na- oe!?! Warte, halt… Ngh…“

„Lass dich einfach fallen, hörst du?! Du musst nichts machen…“, entgegnete Naoe verzückt, der begonnen hatte, mit der Hand sanfte Auf- und Abwärtsbewegungen zu vollführen. Er konnte spüren, wie sich Takaya unter seinen Berührungen zunehmend wand und erhörte den Druck seiner Hand.

„Hah…“
 

Takaya konnte ihn zwar nicht sehen, da er noch immer die Augen fest geschlossen hielt, aber er spürte Naoes lüsternen Blick, wenn sich ihre Münder zum Luftholen kurz voneinander lösten. Mehr noch aber fühlte er dessen Hand in seiner Unterhose, was seine Ohren vor Verlegenheit zum Glühen brachte.

Er war nicht unerfahren in diesen Dingen, aber Naoes Berührungen unterschieden sich von allem, was er bisher erlebt hatte. Die Wärme der Hand brachte ihn gefährlich nah an den Rand seines Verstandes. Er wusste nicht, ob das gut oder schlecht war, aber es war unbeschreiblich schön.

„Takaya?“

Der Angesprochene zuckte beim Ton der tiefen Stimme Naoes zusammen, aus der das Verlangen des älteren Mannes herauszuhören war. Takaya öffnete wonnetrunken seine Augen und suchte Naoes Blick. Dieser hatte sich etwas aufgerichtet und war gerade dabei, sich die Hose zu öffnen.

„Ja?“, antwortete Takaya lauter als beabsichtigt, da der Anblick Naoes ihn nervös werden ließ.

„Keine Angst. Ich werde jetzt nicht mit dir schlafen, aber dafür werde ich etwas anderes machen… Ich hoffe, das ist okay für dich?“

„Was meinst du?“

„Wirst du gleich sehen, oder eher spüren…“

„Naoe?“

Takaya stöhnte einen Moment später vor Lust laut auf, und schlug sich beschämt die Hand vor den Mund. Er hatte zwar gebadet, aber das war schon Stunden her. Hätte er gewusst, dass er sich später in Naoes Mund wiederfinden würde, hätte er dem Waschen größere Aufmerksamkeit geschenkt.

„Naoe, warte… Nicht…“, wisperte Takaya, der die Berührung kaum aushalten konnte. Er musste sich in den Handrücken beißen, um seiner Stimme die Möglichkeit zu nehmen, sich unkontrolliert über der Wiese auszubreiten. Seine freie Hand krallte sich Halt suchend im Grass fest, den er dort aber nicht fand. Takaya tauchte immer tiefer in den See der Lust ein und war unfähig, zurück an die Oberfläche zu kehren.
 


 

Yuzuru zog leise die Zimmertür hinter sich ins Schloss, und lehnte sich aufgewühlt gegen sie. Er hatte sich vor weniger als einer halben Stunde auf die Suche nach Takaya gemacht, und diesen zu seiner anfänglichen Freude auch gefunden. Aber diese währte nicht lange, denn sein bester Freund war weder allein gewesen, noch hatte sich dieser in einer Situation befunden, in der dieser offen angesprochen werden konnte. Er wollte noch immer nicht glauben, was er gesehen und gehört hatte. Irritiert schüttelte Yuzuru den Kopf.

„Es ist ja nicht so, als ob ich nicht wüsste, wie die beiden zueinander stehen. Aber das kommt jetzt schon ein wenig plötzlich, vor allem, wenn ich dabei an den Vorfall auf dem Friedhof denke…“, sprach Yuzuru leise zu sich selbst, und fuhr im nächsten Moment zu Tode erschrocken zusammen, als eine Stimme gedämpft durch die Tür zu ihm durchdrang.

„Was war auf denn auf dem Friedhof?“

„Ko- Kousaka?!“

„Wer sonst, wenn die anderen beiden gerade entflammt auf der Wiese herumtollen?!“, entgegnete Kousaka geringschätzig.

„Wie…was meinst du?“, antwortete Yuzuru ausweichend, der definitiv keine Lust hatte, mit Kousaka über diese Angelegenheit zu sprechen.

„Nun tu nicht so. Ich habe dich UND natürlich auch Kagetora und Naoe gese- ach halt, ich sollte lieber GEHÖRT sagen. Also kein Grund, um peinlich berührt zu sein, und den Unwissenden zu spielen.“

Yuzuru konnte hören, wie sich Kousaka von außen an die Tür lehnte.

„Es scheint, als ob die Friedhofsangelegenheit viel interessanter gewesen sein musste, wenn du sie unter diesen Umständen im Kopf hast. Willst du mir nicht verraten, was war?“

„Auf dem Friedhof? Warum willst du das wissen? Wenn es dich so brennend interessiert, dann hättest du eben mitkommen sollen!“, entgegnete Yuzuru hitzig, der spürte, dass seine Gefühle aus dem Ruder zu laufen drohten. Er musste sich zusammenreißen, um Kousaka nicht grundlos anzufahren – so gern, wie er diesem Gefühl auch nachgegeben hätte, wie er zugeben musste.

„Da magst du recht haben, aber ich hatte einfach keine Lust auf die perverse Bergtour. Ich bin noch nicht mal halb so sadistisch veranlagt, wie dein bester Freund! Das solltest du inzwischen geme-“

„Sprich nicht so über Takaya, hörst du! Du weißt doch gar nichts über ihn.“, rief Yuzuru wütend dazwischen.

„Oh, da irrst du dich aber gewaltig! Ich weiß weit mehr über ihn, als du es jemals erfahren wirst. Takaya ist nur ein winziger Bruchteil von Kagetoras Persönlichkeit, verstehst du? Aber ich muss gestehen, dass mir dieser Teil weitaus lieber ist…“

Yuzuru presste betroffen die Lippen aufeinander und ballte für einen Moment die Hände zu Fäusten. Jedes einzelne Wort Kousakas hatte gesessen, und erstickte gnadenlos sein inneres Aufbegehren gegen diesen.

„Warum so schweigsam, Yuzuru? Es ist nicht so, als wäre das alles völlig neu für dich, oder? “

„Sie haben gestritten.“

„Was?“, entgegnete Kousaka erstaunt, der mit einer Antwort auf seine Frage nicht im Geringsten gerechnet hatte.

„Sie haben am Grab gestritten. Ich weiß nicht, worüber, da ich am Eingang der Anlage warten wollte, und sie daher nicht verstehen konnte. Dann hat Takaya die Kontrolle verloren, und Naoe angegriffen.“

Yuzuru ließ sich seufzend die Tür hinabgleiten, und blieb anschließend resigniert sitzen.

„So etwas hatte ich mir schon gedacht. Ich konnte Kagetoras Machtausbruch spüren. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich erwartet, dass Kagetora mit dir allein zurückkommt. Jetzt weiß ich gar nicht, ob ich mich für Naoe freuen soll oder nicht. Na ja, zumindest ist er seinem großen Ziel ein ganzes Stück näher gekommen.“

„Inwiefern?“, fragte Yuzuru, der die Antwort eigentlich schon wusste.

„Was wohl?! Kagetora körperlich zu besitzen natürlich. Okay, ich weiß jetzt zwar nicht, wie weit er da auf der Wiese gehen wird, aber alles deutet darauf hin. Meinst du nicht auch?“

Yuzuru starrte müde zum Fenster, durch das ein wenig Sternenlicht fiel. Er konnte Kousaka vor der Tür leise lachen hören und wünschte sich, dieser würde endlich verschwinden. Sollte Takaya in den nächsten Stunden wieder hier im Zimmer auftauchen, hoffte er, dass er zu diesem Zeitpunkt schon fest schlief. Denn er könnte seinem besten Freund weder in die Augen sehen, noch ein unbeschwertes Gespräch führen – noch nicht.

„Yuzuru?“

„Ich werde mich jetzt hinlegen. Ich würde dich daher bitten, nicht weiter vor meiner Tür zu stehen und mir ein Gespräch aufzuzwingen.“

„Das ist aber nicht nett von dir. Da mache ich mir schon Sorgen, und du servierst mich so eiskalt ab. Na egal. Dann kann ich mir ja jetzt überlegen, ob noch einmal hoch zur Wiese gehe, und den beiden weiter zuschaue.“

„Wenn du das brauchst, dann tu dir keinen Zwang an. Ah, da fällt mir ein… Wenn du schon davon sprichst, dass sich mein bester Freund über alle Maßen sadistisch verhält, dann solltest du deinen Namen in diesem Zusammenhang ruhig auch nennen. Denn wenn mich nicht alles täuscht, würde ich sagen, dass du auf Takayas Platz eifersüchtig bist. Ich frage mich also, ob Naoe das auch weiß, oder etwas ahnt.“

Yuzuru hatte sich während des Sprechens wieder erhoben, und stand nun abwartend mit dem Gesicht zur Tür. Von Kousaka war nichts zu hören. Er überlegte, ob er vielleicht zuviel gesagt hatte und dieser daraufhin einfach wortlos gegangen war.

„Kousaka?“, fragte er leise, um sich so Gewissheit zu verschaffen.

„Manchmal wünsche ich mir, Naoe nie begegnet zu sein.“

„Alles in Ordnung?“

Kousakas Antwort, aber mehr noch dessen Stimme hatte Yuzuru überrascht aufhorchen lassen.

„Schlaf gut, Yuzuru!“

Yuzuru zögerte einen Moment, ehe er die Zimmertür öffnete, um neugierig nach dem jungen Mann zu sehen. Aber alles was er sah, war ein leerer Platz vor der Tür und von Kousaka weit und breit keine Spur.

„Dir auch eine gute Nacht…“, murmelte Yuzuru enttäuscht. Er schloss die Tür und wandte sich seinem Bett zu.
 


 

Naoe blickte untröstlich zum östlichen Horizont, der sich langsam erhellte und damit die Morgendämmerung ankündigte. Seine Hand lag sanft auf Takayas Kopf, der friedlich in seinem Schoß schlief. Wehmütig lächelnd sah er auf den jungen Mann hinab und fragte sich, ob die letzten Stunden nur ein Traum gewesen waren.

Sie hatten unzählige Küsse und Berührungen ausgetauscht, aber nicht miteinander geschlafen, was seine Freude über ihre innige Zweisamkeit nicht getrübt hatte. Dennoch, Naoe musste zugeben, dass es ihn eine Menge Beherrschung gekostet hatte, unter diesen Umständen nicht mit Takaya zu schlafen.

Es war das erste Mal, dass sie einander so nah gekommen waren, und es zudem von beiden Seiten gewollt war. Der Gedanke an die Berührungen ihrer Haut, das Verschmelzen ihrer Lippen sowie ihrer leidenschaftlichen Stimmen ließ ihn schwindeln. Naoe fühlte seine Lust neu erwachen, und mahnte sich daher innerlich zur Ruhe. Sie würden das Aufgesparte in einem privateren Rahmen nachholen, sobald es ihnen der Zeitpunkt erlaubte.

„Der passende Zeitpunkt…“, flüsterte Naoe unzufrieden. Er hatte keine Ahnung, wann das sein würde. Am liebsten hätte er sich Takaya geschnappt, ihn in ein Auto gesperrt und wäre irgendwohin gefahren, wo sie niemand finden würde. Die Zeit zu zweit allein würden sie dann nutzen, um endlich ungestört offen und ehrlich miteinander zu reden – und natürlich könnten sie dann ihrem Verlangen auf einer höheren Ebene Ausdruck verleihen.
 

Naoe seufzte leise und sah erneut in die Ferne. Ihm war bewusst, dass sie sich weit entfernt von solch einem friedlichen Zustand befanden. Denn, auch wenn sich Takaya der eigenen und seiner Begierde freiwillig hingegeben hatte, bedeutete das noch lange nicht, dass es ab nun anders zwischen ihnen werden würde. Im Gegenteil. Die Zurückhaltung seines Herrn und dessen kaum vorhandener Mut, sich den eigenen Gefühlen zu stellen, waren tief in dessen verletzter Seele verwurzelt und somit eine große Hürde.

Es tat weh, Takaya so zerrissen sehen zu müssen, aber es gab nichts, was Naoe dagegen tun konnte. Er musste warten und darauf vertrauen, dass der junge Mann in dieser Hinsicht seinen Weg von allein fand.

„Kagetora…“

Während Naoe leise den Namen rief, strich er behutsam die Haare aus der Stirn seines Herren, der unter seiner Berührung unverständlich zu murmeln begann.

„Kagetora…es wird Zeit. Wir sollten wenigstens die letzten zwei Stunden der Nacht in unseren Betten verbringen.“, sprach Naoe nun lauter. Er beugte sich vernarrt hinab, und küsste Takaya auf die Lippen. Dieser öffnete einen Moment später die Augen, und sah ihn unverständlich an. Überraschung breitete sich über dessen Gesicht aus, was mit einer dunkelroten Färbung der Haut einherging. Naoe lachte amüsiert.

„Naoe? … NAOE!?“, stieß Takaya entgeistert aus, der sich abrupt aufrichtete.
 

„Wie lange bist du schon wach? Und warum hast du mich nicht geweckt?“

Takaya starrte Naoe wütend an, der noch immer ein Lächeln auf den Lippen trug. Er konnte den Blick nicht von ihnen abwenden, und musste unweigerlich an dessen warme Berührung denken. Takaya überlegte, wie oft er sie wohl geküsst hatte, aber er konnte es nicht mehr sagen. Noch immer spürte er die innere Erregung, die nur darauf lauerte, erneut die Macht zu übernehmen, um ihm ein weiteres Mal den Verstand zu rauben.

„Noch nicht sehr lange, oder besser, ich habe nicht wirklich geschlafen. Und wecken konnte ich dich nicht, da mir dein schlafendes Gesicht viel zu sehr gefällt!“

„Na toll! Ich schlafe also seelenruhig, und muss mich dabei ungewollt beobachten lassen.“, entgegnete Takaya launisch.

„Das klingt fast so, als empfindest du das als weitaus schlimmer gegenüber den Dingen, die wir gemacht haben, bevor du eingeschlafen bist.“

„Da- das hat doch damit nichts zu tun! … Weder das eine, noch das andere empfinde ich als schlimm…“, flüsterte Takaya aufrichtig.

„So? Irgendwie verunsichert mich das jetzt… Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass du aufgebracht aufspringst, mir deine entzürnte Macht zeigst, anschließend zurück zum Zimmer rennst und vorerst kein überflüssiges Wort mehr mit mir wechselst.“, erwiderte Naoe lachend, der sich zu Takaya rüber lehnte. „Wenn das so ist, dann hast du bestimmt nicht dagegen einzuwenden, wenn-“

Naoe beendete den Satz mit einem innigen Kuss, der Takaya sprachlos machte. Er blickte in das Gesicht seines engsten Vertrauten, der die Augen bei ihrem Kuss geschlossen hielt, und fragte sich, seit wann er dessen Berührungen billigte.

Vielleicht war bei ihm unbewusst eine Veränderung eingetreten, als er Naoe nach Wochen der Sorge und dessen riskanter Flucht endlich gefunden hatte. Letztendlich konnte Takaya den Zeitpunkt nicht wirklich bestimmen, was im Grunde auch keine Rolle mehr spielte. Naoe und er waren sich ein gutes Stück nähergekommen, und das fühlte sich unbeschreiblich an.

Mit der eigenen noch immer vorhandenen Befangenheit bezüglich seiner Gefühle für Naoe, so wie mit vielen anderen Dingen auch, würde er sich noch auseinandersetzen müssen. Das brauchte natürlich Zeit, die er momentan nicht hatte. Denn wenn sie das Hotel heute früh in Richtung Wajima verließen, würde sich nunmehr alles um Shishidos und dessen Vaters Pläne drehen, denen sie noch immer nicht auf die Spur gekommen waren.

Takaya schob all diese Gedanken beiseite und besann sich auf die überaus anregenden Empfindungen in seinem Mund, in dem Naoes Zunge mit seiner gerade fangen spielte. Er genoss diese schnellen Berührungen, und zog Naoe dabei fester in seine Arme. Als Reaktion darauf, wurde Naoes Umarmung ungestümer und nahm ihm den Atem.

„Na- … kei-ne Luft… Naoe…“

„Oh, tut mir leid…“, wisperte Naoe bebend in Takayas Ohr, der diesem damit ein leises Aufstöhnen entlockte.

„Kagetora-sama!?!“

„Wi- wir müssen zurück.“, zwang sich Takaya zu erwidern. Wehmütig entzog er sich Naoes Wärme und stand auf. Fragend sah er auf diesen hinab, der sich nicht vom Fleck bewegte.

„Willst du nicht zurück?“

„Ähm, jetzt aufzustehen, könnte etwas unangenehm werden.“

„Wieso? Bist du vom langen Sitzen eingerostet, oder wa-“, witzelte Takaya, der beiläufig einen Blick auf Naoes Schritt warf und augenblicklich verstummte. Röte schoss ihm unkontrolliert in das Gesicht und er wandte sich ab.

„Da- dann geh ich eben schon mal vor. Wir sehen uns später zum Frühstück.“

„Kage-…“, setzte Naoe an, der dem jungen Mann enttäuscht hinterhersah.

„Wie Ihr wünscht…“
 


 

Erdrückendes Schweigen lag wie ein ausgebreiteter Teppich über den vier Personen, die sich um den kleinen Tisch in der Mitte des Raumes zum Essen versammelt hatten. Naoe starrte über den Rand seiner Kaffeetasse zu Takaya rüber. Dieser saß mit gesengtem Blick vor seiner Müslischale Yuzuru gegenüber, der wiederum verstohlen zwischen den beiden hin- und hersah. Lediglich Kousaka schien für die Anwesenden uninteressant zu sein, so dass dieser nach Lust und Laune jeden einzelnen beobachten konnte, und sich dabei prächtig amüsierte.
 

Kousaka schenkte sich eine weitere Tasse Tee ein und überlegte frech, ob er das lästige Schweigen in ein peinlich berührtes Schweigen verwandeln sollte, indem er gezielt die nächtlichen Aktivitäten zweier Personen hier am Tisch ansprach. Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht, während er ansetzte, die Stille zu durchbrechen.

„Habt ihr genauso gut geschlafen wie ich?“, fragte er gut gelaunt in die Runde. „Natürlich habe ich mir nachts noch ein wenig die Füße vertreten, schließlich müssen wir ja auf der Hut sein.“

Kousaka sah, dass Takaya mit dem Löffel auf dem Weg zum Mund kurz innehielt und feuerrote Ohren bekam. Naoe hingegen schoss einen vielsagenden Blick in seine Richtung, welchen er mit einem breiten Lächeln quittierte, das bei dem älteren Mann auf noch weniger Zustimmung traf.

„Ich habe trotz der Umstände sehr gut geschlafen… Ähm, also, damit meine ich, dass wir uns ja in einer Pension befinden, deren Betten nicht immer so prickelnd sind… Ah-“

Yuzuru verstummte. Er kam sich töricht vor, auf Kousakas doppeldeutige Aussage anzuspringen, und selbst dabei ins Fettnäpfchen zu treten. Natürlich hatte er keine Ahnung, ob Takaya und Naoe ahnten, dass sie von ihm und Kousaka gesehen worden waren. Der Anblick Takayas genügte, darin durchaus eine Bestätigung seiner Vermutung zu sehen, denn dieser war noch immer über das ganze Gesicht errötet.

„Dann nehme ich mal an, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gab? Sonst hättest du es uns doch bestimmt sofort wissen lassen, oder?“, wollte Naoe wissen, der Kousaka noch immer spannungsgeladen anblickte.

„Hm, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht, denn ich hätte es wohl kaum übers Herz bringen können, euren Bei- äh, Schlaf zu-“

Takayas plötzliches Aufspringen unterbrach Kousaka, der überrascht zu dem jungen Mann hochsah. Dieser vermied jeglichen Augenkontakt.

„Ich bin fertig mit dem Essen, und werde mich draußen mit Chiaki in Verbindung setzen. Sobald ihr bereit seid, können wir weiterfahren.“ Mit diesen Worten verließ Takaya den Raum, dem die drei Zurückgebliebenen mit unterschiedlichsten Gefühlen hinterher blickten.

„Aber seine Schüssel ist doch noch voll! Nicht, dass wir später wegen ihm an-“

„Ich denke, das reicht, Kousaka.“ Naoes Stimme bebte vor Zorn, und ließ Kousaka für einen Moment verstummen.

„Schon gut, schon gut! Kein Grund, gleich so furchteinflößend zu werden. Dann beende ich eben auch mein Frühstück, und werde einen kleinen Spaziergang an der frischen Luft machen.“, meinte Kousaka kleinlaut, der ebenfalls aufstand.

„Du brauchst keine Angst haben! Ich werde Takaya in Ruhe lassen.“
 

Yuzuru sah ein weiteres Mal innerhalb weniger Sekunden zur Tür des Raumes und fragte sich ernsthaft, wie wohl später die Fahrt im noch engeren Auto vonstatten gehen sollte, wo niemand einfach so zur Tür hinausspazieren konnte. Seufzend wandte er sich wieder seiner Brötchenhälfte zu und zuckte zusammen, als Naoe das Wort an ihn richtete.

„Alles in Ordnung?“

„Ja. Na ja, also, hm… Eigentlich schon.“, antwortete Yuzuru verlegen, dem plötzlich klar wurde, dass er nun mit Naoe allein war.

„Dann ist ja gut.“

Yuzuru biss langsam in das Brötchen und überlegte angestrengt, was er sagen könnte, damit nicht erneut eine unangenehme Stille aufkam. Ihm kam die geisterhafte Erscheinung in den Sinn, die er das letzte Mal bei ihrem gestrigen Besuch bei Takahashi gesehen hatte.

Wie auch die Male zuvor, hatte sich diese nach kurzer Zeit wieder in Luft aufgelöst. Aber irgendwie hatte Yuzuru das Gefühl gehabt, dass es diesmal anders als sonst gewesen war. Denn zu seiner Verwunderung hatte ihn die Frau für einen Moment direkt angesehen und Worte gesprochen, die anscheinend nur von ihm gehört werden konnten.

„Ich danke dir… Habe ein Auge auf die beiden…“, murmelte Yuzuru gedankenverloren, der nicht bemerkte, dass er laut sprach.

„Was meinst du damit?“

„Was?“

„Habe ein Auge auf die beiden… Ich danke dir… Was meinst du damit?“, fragte Naoe neugierig.

„Oh?! Habe ich etwa laut gesprochen?“

„Würde ich jetzt durchaus behaupten…“, entgegnete Naoe lachend.

Yuzuru blickte überrascht zu dem älteren Mann rüber, der wieder ersichtlich entspannter auf dem Sitzkissen saß, und ihn fragend ansah. Er musste zugeben, dass Naoe ein äußerst attraktiver Mann war, dessen Charme er durchaus auch erliegen könnte.

Während Yuzuru diesen unpassenden Gedanken kopfschüttelnd zur Seite schob, entschied er, Naoe von der Erscheinung zu erzählen.

„Diese Worte hat mir ein weiblicher Geist gesagt, den anscheinend nur ich sehen konnte.“, offenbarte Yuzuru, und musste beinah über die eigenen Worte lachen.

Jede normale Person hätte ihn jetzt wohl hochgenommen, aber er wusste, dass es bei Naoe nicht so sein würde. Es gehörte schließlich zu Naoes Aufgaben, sich mit überirdischen Dingen zu beschäftigen – ganz zu schweigen von dessen eigener Existenz, die nun schon seit über 400 Jahren hier auf Erden verweilte.

„Ein Geist sagst du? Inwiefern?“

„Ich habe bisher mit niemandem darüber geredet, auch nicht mit Takaya, den es eigentlich betrifft.“

„Jetzt machst du mich aber wirklich neugierig, Yuzuru. Erzähl genau, was vorgefallen ist.“, drängte Naoe.

„Im Grunde nicht viel, oder eher, nichts Schlimmes, was mir zumindest mein Gefühl gesagt hat, denn sonst hätte ich bestimmt schon viel früher darüber geredet. Also, es war kurz nachdem du wieder aufgetaucht bist, und Takaya abends bei mir zu Besuch war. Er hatte sich gerade verabschiedet, als ich hinter ihm eine Erscheinung wahrnahm, die er aber nicht bemerkte. Ich dachte daher, dass ich mir das nur eingebildet hatte. Aber danach ist die Erscheinung immer wieder aufgetaucht, ohne von irgendjemandem gesehen zu werden und ohne böse Absichten – natürlich bezogen auf Takaya, denn sie tauchte nur bei ihm auf. Dieser Geist war einfach nur da, und beobachtete Takaya mit einem sanften Lächeln im Gesicht. Das einzig verstörende an ihr waren die traurigen Augen, die ihren Blick nie von Takaya nahmen, bis gestern zumindest. Da hat sie nämlich plötzlich mich angesehen, und diese Worte gesagt. Daraufhin warf sie noch einmal einen Blick auf Takahashi und Takaya, bevor sie verschwand.“

Yuzuru verstummte und blickte zu Naoe, der ihn mit nachdenklichen Augen ansah.

„Kannst du die Erscheinung beschreiben?“, bat Naoe leise.

„Hm, es war eine schlanke Frau mit langen Haaren. Ich kann nicht sagen, welche Farbe ihre Haare hatten, da sie farblos und durchscheinend waren, wie eigentlich alles an der Erscheinung.“

„Was hattest du für einen Eindruck von ihr? Mal abgesehen davon, dass dem Anschein nach keine Gefahr von ihr ausging.“

„Ich glaube, sie kannte Takaya. Und ich behaupte, sie wusste auch, wer Takahashi war.“

„Wieso?“

Naoe sah ihm mit einem schmerzlichen Ausdruck im Gesicht entgegen, der ihn betroffen schlucken ließ. Er wusste auf einmal, wer diese Frau war. Geahnt hatte er es irgendwie schon die ganze Zeit, aber wollte nicht so recht daran glauben.

„Weil sie Takahashis Schwester war.“
 

Naoe betrachtete den jungen Mann, der ihn mit ernsten Augen ansah. Er hatte die Erscheinung zwar nie gesehen, aber es stand außer Frage, dass es jemand anderes als Minako gewesen sein konnte. Yuzuru besaß ein unglaubliches Einfühlungsvermögen, und war zudem im Besitz einer Macht, die ihnen noch immer Kopfzerbrechen bereitete. Wenn Yuzuru also das Gefühl hatte, in der Erscheinung Minako gesehen zu haben, obwohl dieser ihr nie begegnen konnte, hatte Naoe nichts mehr hinzuzufügen. Lediglich erstaunte ihn die Tatsache, dass Yuzuru die einzige Person gewesen war, die die Erscheinung hatte sehen können. Dafür fiel ihm keine Erklärung ein, zumindest nicht so schnell.

„Ich denke auch, dass es Minakos Geist, oder so etwas Ähnliches, gewesen ist. Dennoch verwundert es mich etwas. Denn wenn wir einen neuen Körper besetzen, sei es aus eigener Kraft, oder mit Hilfe einer anderen Person, so wie ich es damals mit Kagetoras Seele gemacht habe, verlässt die ausgetriebene Seele unverzüglich die irdischen Gefilde. Sie wandert dann an einem bestimmten Ort, um dort ohne Erinnerung auf einen neuen Körper zu warten, um es mal so vereinfacht auszudrücken. Vielleicht war das, was du gesehen hast, ja eine unbewusste sichtbare Widerspiegelung von Kagetoras Gedanken und Gefühlen. Hm…aber warum sollte sie einzig und allein auf dich wirken und reagieren? Ich glaube, hier bin selbst ich überfragt.“, gab Naoe zu, der nachdenklich seine Kaffeetasse austrank.

„Soll ich Takaya davon erzählen?“

Naoe starrte Yuzuru für einen Moment unschlüssig an, ehe er antwortete.

„Das kannst du selbst entscheiden.“

„Ja schon, aber ich bin mir so unsicher. Auf der einen Seite habe ich das Gefühl, er sollte es erfahren, aber auf der anderen möchte ich ihn nicht weiter mit dieser Sache quälen.“, entgegnete Yuzuru hilflos.

„Warum handhabst du es nicht wie bisher? Oder macht es jetzt einen Unterschied zu wissen, dass die Erscheinung einen Namen besitzt?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht werde ich einfach noch ein wenig darüber nachdenken. Außerdem glaube ich, dass sie nicht mehr auftauchen wird.“, vermutete Yuzuru.

„Wie kommst du darauf?“ Naoe blickte fragend zu Yuzuru, der sich mit einer Hand verlegen durch die hellen Haare fuhr.

„Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll… Hm... Also, in dem Moment, als Takaya das Schmuckstück in deinem Namen zurückgeben wollte, sah es so aus, als würde sich ein Kreis schließen. Nun, so würde ich das jetzt beschreiben, nachdem ich erfahren habe, dass die Erscheinung Minako war. Sie hatte in jenem Moment besonders glücklich ausgesehen, stärker als sonst…dann kamen, wie schon erwähnt, ihre Worte und weg war sie.“

„Verstehe.“

„Aber ich frage mich, was sie mit ihren Worten gemeint hat. Es gibt nichts, weswegen sie sich bedanken müsste, schließlich bin ich ihr nie begegnet.“, murmelte Yuzuru. „Und auf wen soll ich ein Auge haben? Takaya ist mir klar, aber wen meint sie noch? Takahashi? Dich? Wenn du gemeint wärst, dann würde ich meinen, dass sie trotz der grausamen Erfahrung keinen Groll heg-“ Yuzuru verstummte für einen Moment, als ihm bewusst wurde, was er da laut sagte. „Es tut mir leid, Naoe, ich wo-“

„Schon gut. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst. Es sähe Minako ähnlich, wenn sie trotz allem ihr gutes Wesen nicht verloren hat. Sie war ein wunderbarer Mensch gewesen.“, antwortete Naoe leise, dessen Blick in der Ferne ruhte. „Auch wenn es abartig klingt, wenn das der Mann sagt, der sie letztlich um ihr Leben mit Kagetora betrogen hat.“, fügte er ernst hinzu und sah, dass Yuzuru wortlos den Kopf senkte.
 

Naoe begrüßte dankbar die einkehrende Stille, und lenkte seine Gedanken fort von Minako und Yuzuru hin zu dem Mann, der die erstaunliche Fähigkeit besaß, fortwährend wundervolle Menschen um sich zu scharen.

Was den Aspekt der Loyalität gegenüber Kagetora betraf, so konnte Naoe von sich behaupten, diesem bedeutungsvollen Fundament ihrer Beziehung niemals auch nur die kleinste Erschütterung zugefügt zu haben. Aber er wollte sich hinsichtlich des gegenseitigen Vertrauens nicht auf eine Stufe mit Minako oder Yuzuru stellen. Dafür hatte er Kagetoras Toleranzgrenze auf erbarmungslose Weise einmal zu viel überschritten – auch wenn er damals nicht die Absicht gehabt hatte, seinen Herrn zu verraten. Im Gegenteil. Er hatte damals aus absoluter Loyalität heraus gehandelt, und daher sein Verhalten zu Beginn auch vor sich selbst und seinem Herrn vehement gerechtfertigt. Später aber musste er sich eingestehen, dass seine Treue durchwoben war von Gefühlen der Eifersucht und Besitzgier, die ihn blind werden ließen, und sein rücksichtsloses Verhalten bis zum Äußersten getrieben hatte – welches dann den Höhepunkt im Tod von Minako fand.

Bis heute kämpfte er mit den widersprüchlichen Gefühlen, die seine Tat ausgelöst hatte. Und Yuzurus Erzählung zu lauschen, wie auch Takahashi begegnet zu sein, gaben diesen Gefühlen einen neuen Nährboden. Naoe hatte nun also alle Hände voll zu tun, sein inneres Gefühlschaos zu zähmen. Aber gleichzeitig wollte er seinen Gefühlen freien Lauf lassen, vor allem in Hinblick auf die erstaunliche Entwicklung zwischen ihm und Takaya.
 

Naoe seufzte leise und sah zu Yuzuru, der ihn inzwischen wieder anblickte.

„Du machst deine Sache gut, Yuzuru! Weitaus besser als ich, wenn es um Takayas Unterstützung geht. Ich kann noch nicht einmal sagen, ob ich inzwischen aus meinen Fehlern gelernt habe. Damit will ich sagen, dass ich selbst jetzt noch mit abscheulichen Gefühlen hadere.“, gab Naoe zu. „ Ich bin ziemlich besitzergreifend, wenn es um Takaya geht. Und tue alles, um ihn nicht erneut zu verlieren. Natürlich muss ich nicht erwähnen, dass solch ein Verhalten absolut hinderlich ist für einen ehrlichen und vertrauensvollen Umgang miteinander. Aber ich arbeite daran, und ich glaube, ich bin auf dem richtigen Weg...“

Naoe verstummte und schenkte Yuzuru ein schiefes Lächeln, der dieses offen erwiderte.

„Entschuldigung. Ich rede hier von Dingen, die du vielleicht überhaupt nicht hör-“

„Nein! Ich muss mich entschuldigen, Naoe. Für mein Gefühl und meine Gedanken dir gegenüber, die nicht immer fair waren. Also, ich meine…ich habe nie wirklich schlecht von dir gedacht. Immerhin kenne ich dich inzwischen schon eine Weile, und habe einen Naoe erlebt, dem ich mein Leben völlig anvertrauen würde – es ja in diesem Moment auch schon längst tue. Deine Worte sind eigentlich nichts anderes als eine große Chance, dich und vor allem mich selbst besser kennenzulernen.“, rief Yuzuru ermutigt mit roten Wangen dazwischen.

„Ich danke dir.“

„K- keine Ursache!“, murmelte Yuzuru verlegen.

„Wollen wir uns ebenfalls auf den Weg machen? Takaya wartet bestimmt schon ungeduldig am Auto.“, erwiderte Naoe fragend, der sich erhob und suchend nach seiner Zigarettenschachtel tastete.

„Ja, sollten wir. Aber darf ich dir noch etwas sagen?“

„Nur zu.“

„Du rauchst eindeutig zuviel…“, meinte Yuzuru grinsend, der hoffte, Naoes Abtasten richtig eingeordnet zu haben.

„Du bist noch immer der jüngere von uns beiden, daher wäre ruhig ein wenig Respekt angebracht…“, erklärte Naoe lachend und schritt zur Tür, um dort auf Yuzuru zu warten.
 


 

Sasuke klopfte nervös mit den Fingern auf das Lenkrad, und sah immer wieder aus der Windschutzscheibe seines Autos zum Eingang des Hauptsitzes rüber.

Er wusste, dass seine Zeit hier unwiderruflich vorbei war, denn er hatte nicht lange gebraucht, um herauszubekommen, dass sein neuer Auftrag nur dazu diente, ihn als Spion zu entlarven und somit als Druckmittel gegen seinen neuen Herrn und dessen engsten Vertrauten einzusetzen.

Sasuke konnte zwar nicht von sich behaupten, dass er diesem ohnehin irgendwann fälligen Ende wehmütig gegenüber stand. Und dennoch, er würde lügen, wenn er sagte, dass ihn diese Situation völlig kalt ließe. Schließlich verdankte er, wie auch sein Bruder, der Familie Sakamoto eine Menge – wenn nicht sogar ihr Leben. In letzter Zeit hatte er sich sogar häufiger gefragt, was aus ihnen wohl noch hätte werden können, wenn sein Bruder damals nicht einfach fortgegangen wäre, um unerwartet für den Sohn ihres alten Herrn zu arbeiten.

Sasuke seufzte leise und verdrängte diese Gedanken. Er richtete sie stattdessen auf das Clanoberhaupt.

Aus dem Verhalten seines einstigen Herrn wurde er nicht schlau. Dieser müsste eigentlich wissen, dass sich Shishido niemals wegen eines entbehrlichen Spions unter Druck setzen lassen würde. Selbst Kaito würde sich davon nicht beeindrucken lassen. Nicht, solange dieser Shishidos Seite flankierte. Oder erhoffte sich der mächtige Vater seines neuen Herrn tatsächlich einen unerwarteten und emotionsgetriebenen Schritt Kaitos, der Shishido aus der Reserve locken sollte? Spekulierte Kyosuke auf die einflussreiche, aber unberechenbare Macht der Blutsverwandtschaft?

Seiner Meinung nach wäre das außerordentlich dumm, denn es würde nicht funktionieren. Sein Bruder würde niemals zu seiner Rettung eilen und wenn doch, dann würde Shishido definitiv nicht noch dümmer sein als sie alle, und ihm folgen. Was auch immer sich sein alter Herr dabei gedacht hatte, Sasuke würde es wohl jetzt nicht mehr erfahren. Aber das störte ihn recht wenig. Er musste sich nun lediglich überlegen, was er mit seiner verbleibenden Zeit hier vor Ort anstellen sollte.

Shishido hatte ihm durch Kaito ausrichten lassen, dass er selbst entscheiden konnte, wann er zu fliehen hatte, um sich in Sicherheit zu bringen. Das vereinfachte seine Arbeit ungemein, aber Sasuke wollte vorher noch ein paar nützliche Informationen sammeln.

Ihm war natürlich bewusst, dass diese unter den gegebenen Umständen sehr wahrscheinlich manipuliert waren, und der Aufenthalt hier daher lediglich das Gefahrenpotential seiner Situation drastisch in die Höhe schrauben würde, aber das nahm er alles in Kauf. Er hatte beschlossen, sich ein letztes Mal mit der ihm für den Auftrag zugeteilten Person zu treffen, um eine höchst interessante Unterredung zu führen. Der Ausgang dieses Treffen war noch offen, aber voraussichtlich würde es für die andere Person nicht gut enden.
 

„Wo bleibt dieser Kerl…“, murmelte Sasuke ungeduldig. „10 Uhr war abgemacht, und nun ist es schon halb elf. Passt ja perfekt mit seiner arroganten Art zusammen… Wie schaffen es diese Leute bloß immer wieder, so weit nach oben zu kommen?!“

Verächtlich schnaubend kramte er nach seinem Handy, und suchte die Nummer seines Bruders heraus. Sasuke wollte Kaito wissen lassen, dass er plante, später unterzutauchen. Er würde sich dann zu gegebener Zeit wieder melden, um endlich den Ort seines neuen Zuhauses erfahren zu können.

Sasuke hatte keine Ahnung, wie lange er abtauchen musste. Aber diese Ungewissheit machte ihm nichts weiter aus, denn als Belohnung wartete die längst überfällige Vereinigung mit seinem Bruder. Er konnte es kaum noch erwarten, wieder Seite an Seite mit Kaito zu arbeiten. Aber er wusste auch, dass es nicht mehr so sein würde wie früher. Sein Bruder war nun die rechte Hand seines neuen Herrn. Statt selbst Aufträgen oder Informationen nachzugehen, delegierte Kaito diese Arbeiten nun meist nach unten, begutachtete die Ergebnisse und setzte zu guter Letzt Shishido darüber in Kenntnis.

Bevor Sasuke Kaitos Nummer wählte, sah er sich überprüfend in alle Richtungen um. In der Nähe des Haupteingangs standen zwei Männer wache, die sich angeregt unterhielten und ihn dabei dem Anschein nach völlig ignorierten. Kobayashi, der Mann auf den er wartete, war noch immer nirgends zu sehen. Sasuke begann zu wählen.

„Kaito? ... Hm, soweit schon, aber es wird langsam brenzlig. ... Ja. Das denke ich auch. ... Und bei euch? ... Ihr seid also ohne Schwierigkeiten angekommen. ... Alles andere hätte mich auch gewundert. ... Verstehe. Dann mel-“

Sasuke verstummte und blickte erschrocken zum Fenster der Fahrertür hinaus, wo wie aus dem Nichts ein Schatten aufgetaucht war. Ehe er reagieren konnte, wurde die Tür aufgerissen, er hörte einen Schuss und im nächsten Moment spürte er einen stechenden Schmerz an der Schläfe, bevor er das Bewusstsein verlor.
 

Kobayashi griff nach dem Handy, das aus Sasukes Hand in den Fußraum gefallen war und aus dem ein besorgtes Rufen drang. Er lächelte zufrieden.

„Lange nichts voneinander gehört, Kaito!“

„…“

„Warum so schweigsam? Ach so, du fragst dich wahrscheinlich, was mit deinem kleinen Bruder ist. Nun, das kann ich dir gern sagen. Der sitzt hier zusammengesunken in seinem Auto und ist leider nicht mehr in der Lage, das Gespräch mit dir zu Ende zu führen. Ich hoffe, mein spontanes Einspringen stört dich nicht?“ Kobayashi drückte mit dem Lauf seiner Pistole Sasukes Kopf zur Seite und erfreute sich an dessen hilflosem Anblick. „Er ist selbst in diesem Zustand ein echter Hingucker, wobei ich ja mehr auf dich stand.“

„Es erstaunt mich, dass du noch immer für den Clan arbeitest. Irgendwie dachte ich, dich müsste schon längst das Zeitliche gesegnet haben – sei es nun aus eigenem Unvermögen oder auf dem Befehl des Alten hin. Aber vielleicht spricht das ja auch nur für die größer werdende Schwäche des Cla-“

„An deiner Stelle würde ich den verräterischen Mund nicht so weit aufreißen! Sakamoto-sama hatte von Anfang an ein Auge auf deinen missratenen Bruder gehabt. Da konnte dieser sich noch so gut verstellen wie er wollte.“

„Und du?“

„Was und ich?“

„Hast DU bemerkt, dass Sasuke euch für seinen neuen Herrn ausspioniert hat?“

„Na- natürlich! Was denn sonst!“, rief Kobayashi kleinlaut, der tatsächlich erst von seinem Herrn etwas über Sasukes abtrünnige Funktion erfahren hatte.

„Klingt aber nicht sehr überzeugend.“

„Spielt alles keine Rolle mehr, denn mit Sasuke ist es eh vorbei – oder fast. Bestell deinem Herrn familiäre Grüße von dessen Vater, der sich auf ein Treffen freut. Er würde ihm nämlich gern persönlich seinen Spion zurückgeben – noch lebend, wohlgemerkt. Je länger er aber auf sich warten lässt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er einen leblosen Gegenstand entgegennehmen muss. Wäre irgendwie echt schade drum.“

„Richte deinem Herrn aus, dass er in der Wahl seiner Vertrauenspersonen schwer nachgelassen hat.“

„Bastard, was fäll-“ Kobayashi riss überrascht die Augen auf und starrte verärgert auf das Handy in seiner Hand. Kaito hatte einfach aufgelegt.

„Das wirst du noch bereuen! Wir werden ja sehen, wer hier am längeren Hebel sitzt.“ Während er das Telefon in die Hosentasche steckte, winkte er die zwei Männer vom Eingang zu sich.

„Schafft ihn zum vorgesehenen Platz und ruft den Arzt, damit dieser die Platzwunde versorgt.“, befahl er den beiden. „Ich werde später noch mal nach ihm sehen, wenn ich Sakamoto-sama über den Erfolg dieser Aktion in Kenntnis gesetzt habe.“

Kobayashi wandte sich ab und lief mit großen Schritten zum Eingang.
 


 

Arakawa schloss aufgewühlt die Augen und versuchte die verkrampfte Hand um sein Telefon zu lockern. Er war froh, dass er sich allein in seinem Zimmer in Wajima befand und in dieser Situation von niemandem gesehen werden konnte. Wütend stieß er den Atem aus und schleuderte das Handy auf sein Bett.

„Verdammt, verdammt, verdammt…“ Er trat zum Fenster und sah hilflos hinaus aufs Meer. „Sasuke…“

Arakawa wusste, dass er sich nicht von seinen Gefühlen leiten lassen durfte. Dennoch spürte er den natürlichen Drang, alles stehen und liegen zu lassen, um zu Sasuke zu eilen. Er hoffte inständig, dass Kobayashi mit seinen wagen Andeutungen nicht gelogen hatte, und sein Bruder in diesem Moment noch lebte, aber sicher sein konnte er sich nicht.

Kobayashi war schon damals unberechenbar und jähzornig gewesen, so dass Arakawa es immer vorgezogen hatte, nie zusammen mit ihm in einer Einheit zu arbeiten. Und war es dann doch zu einer unfreiwilligen Zusammenarbeit gekommen, gab es immer ermüdende Kämpfe um die Rangordnung innerhalb der Gruppe, obwohl diese von vornherein festgestanden hatte. Kobayashi hatte sich nie damit abfinden können, dass er unter ihm arbeiten musste – erschwert durch die Tatsache, dass dieser fünf Jahre älter war, und daher schon länger für den alten Herrn tätig gewesen war.

Es hatte Arakawa wirklich überrascht zu hören, dass Kobayashi noch immer für seinen ehemaligen Herrn arbeitete. Aber mehr noch verblüffte ihn die Tatsache, dass es diesem gelungen war, seinen Bruder zu erwischen.

Sasuke stand ihm mit seinen Fähigkeiten um nichts nach. Und Arakawa musste sogar zugeben, dass Sasuke ihn in bestimmten Punkten längst überholt hatte, was letztlich auf seine mangelnde Praxis zurückzuführen war. Während sein Bruder eine schwierige Mission nach der anderen ergriff, hatte er Shishidos Seite kaum verlassen. Natürlich war er auch hier gefordert, schließlich war er nicht nur dessen engster Berater, sondern gleichzeitig auch Leibwächter, aber es war nicht vergleichbar mit seinen früheren Aufgaben. Arakawa seufzte leise.

„Du warst unvorsichtig, Sasuke… Ich habe keine Ahnung, ob wir dich lebend zurückbekommen werden.“

Arakawa wandte sich vom Fenster ab und beschloss, Shishido sofort von der unglücklichen Entwicklung zu berichten. Dieser hatte zwar befohlen, nicht gestört zu werden, aber Arakawa hatte das Bedürfnis, seine innere Qual zu teilen. Ihm war bewusst, dass die Worte seines Herrn wenig ausrichten konnten, sie seinen Kummer sogar vergrößern könnten. Dennoch wollte er Shishido unbedingt sehen und mit ihm sprechen. Er zog das Jackett wieder an, das er während dem Telefonat mit Sasuke ausgezogen hatte. Er sparte sich die Krawatte und das Zuknöpfen der oberen Knöpfe seines weißen Hemdes und verließ eiligen Schrittes sein Zimmer.
 

Arakawa erreichte den modernen Anbau des alten Gebäudes auf dem weitläufigen Grundstück, das an einer Seite seine Begrenzung an den Klippen fand, die hoch über dem Meer lagen. An den übrigen Seiten war das Grundstück von dichtem Wald umgeben, der eine freie Sicht auf das Gelände nicht zuließ. Es führte zudem nur eine kleine Straße zu ihrem Sitz, die, wie auch viele weitere Plätze dieses Ortes, überwacht wurde. Niemand würde sich ungesehen nähern können. Und falls diese Vorsichtsmaßnahmen doch versagen sollten, dann hätten sie mit den Fähigkeiten ihres Herrn dennoch die Möglichkeit, die Eindringlinge aufzuspüren und unschädlich zu machen.

Als Arakawa zum ersten Mal hierher gekommen war, hatten ihn die Lage und der Blick auf das Meer tief beeindruckt, aber mehr noch war er von dem Besitzer dieses Stück Landes fasziniert gewesen. Denn den verstoßenen Sohn seines alten Herrn nach langer Suche endlich selbst zu Gesicht zu bekommen, hatte einen Traum in Erfüllung gehen lassen.

Bis heute konnte Arakawa sich nicht erklären, warum er damals so versessen auf Shishidos Lebensgeschichte gewesen war und das Bedürfnis entwickelte, diesen finden zu müssen. Vielleicht spielten die eigenen familiären Erfahrungen eine Rolle, wer konnte das schon sagen. In einem war sich Arakawa jedenfalls sicher, er würde seinen neuen Herrn niemals mehr für einen anderen verlassen. Eher würde er sterben.

Arakawa stieg die Treppe hoch in den ersten Stock, vorbei an dem Raum, der in diesem Gebäudeabschnitt sein eigener war, den er aber selten nutzte. Wenn er sich hier aufhielt, dann immer in Shishidos Gemächern. Zum Übernachten zog er sein Zimmer in dem separaten Gebäude vor, außer er durfte die Nacht in Shishidos Bett verbringen.

Er erreichte die Tür und rief nach seinem Herrn. „Shishido-sama, verzeiht die Störung, aber ich habe Neuigkeiten. Ich werde jetzt eintreten.“ Arakawa spürte seine Anspannung wachsen, wie es jedes Mal der Fall war, wenn er diesen Raum betrat. Hier war er Shishido zum ersten Mal gegenüber getreten. Hier hatte er ihn das erste Mal geküsst und geliebt. Auch wenn dieses Zimmer nicht seins war, so war es doch auch mit seinen Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen angefüllt.

„Shishido-sama?!“ Arakawa schloss die Tür hinter sich und sah sich um. Shishido war nicht zu sehen. Er ging zur Mitte des Raumes, um von dort durch die geöffnete Tür ins Bad zu blicken, aber auch hier war niemand. Das Zimmer wirkte, als wäre sein Herr überhaupt noch nicht hier gewesen, aber ein angenehmer und vertrauter Duft in der Luft verriet, dass Shishido erst vor kurzem geduscht haben musste. Arakawa beschloss, hier auf seinen Herrn zu warten und hoffte, dass dieser es ihm nicht übel nahm.

Lange musste er nicht warten, denn wenige Sekunden später ging die Tür auf und im Rahmen erschien Shishido, der in einem roten Bademantel gekleidet war und die noch feuchten Haare offen trug. Überrascht blieb dieser stehen.

„Hatte ich nicht gesagt, dass ich vor heute Abend nicht mehr gestört werden möchte?“

Arakawa senkte beschämt den Blick, und versuchte sich innerlich von Shishidos wunderschöner Erscheinung loszureißen.

„Es tut mir leid, Shishido-sama. Aber es gibt Neuigkeiten von Sasuke, oder eher über Sasuke.“

„So? Und die muss ich unbedingt jetzt erfahren?“, erwiderte Shishido mit Absicht finsterer als nötig, da es ihn ärgerte, Arakawa so besorgt um dessen eigenen Bruder sehen zu müssen. Er spürte Eifersucht in sich aufsteigen, die ihn noch mehr erzürnte. Die Tür hinter sich schließend richtete er erneut das Wort an Kaito.

„Dem Anschein nach kann es ja nichts Gutes sein, wenn ich mir dich so anschaue. Ist er tot?“ Shishido sah, wie alle Farbe aus dem Gesicht seines engsten Vertrauten wich und freute sich darüber. Natürlich hoffte er, dass es Sasuke gut ging und nicht nur, weil dieser ein überaus fähiger Gefolgsmann war. Auch für Arakawas emotionales Gleichgewicht war der kleine Bruder äußerst wichtig.

„Shishido-sama“!?!“

„Leg dich aufs Bett.“

„Was?“

„Ich habe gesagt, du sollst dich aufs Bett legen.“, wiederholte Shishido arrogant lächelnd. Er sah, dass sich Arakawa nicht von der Stelle rührte. Seufzend trat er auf diesen zu und stieß ihn sanft in Richtung Bett. „Leg dich einfach hin, Kaito.“, raunte er dabei. „Schließ die Augen, und sieh es als Belohnung für die letzten Wochen.“
 

„Ngh… ahh, wa- warte. D- das…tu, tu das nicht, Shishido-sama…“, wisperte Arakawa erregt, der Shishidos warme Zunge spürte, wie diese liebkosend seinen Schaft hoch und wieder runter fuhr. Er konnte oder wollte an nichts anderes mehr denken, als an den Menschen, dem sein Herz gehörte. Shishido besaß alle Macht über ihn, aber das störte ihn nicht weiter. Selbst wenn dieser ihn auf der Stelle töten würde, wäre er dennoch der glücklichste Mann auf Erden.

Es fiel ihm mit jeder Sekunde schwerer, sich zu beherrschen. Der Gedanke, endlich wieder in Shishido eindringen zu dürfen, war dabei, ihm den Verstand zu rauben. Dennoch war die süße Verlockung gepaart mit einem schlechten Gewissen. Er war hierher gekommen, um mit seinem Herrn über Sasukes missliche Lage zu sprechen, stattdessen saugte ihm Shishido mit dem Mund all seine Sorgen um seinen Bruder aus.

„Du sollst mich Kiyoshi im Bett nennen. Schon vergessen? Oder bist du nicht mehr in der Lage, klar zu denken?“, fragte Shishido ungezügelt. Arakawa stützte sich auf seine Unterarme, und sah mit glühenden Augen zu seinem Herrn. Dieser schien schon genauso erregt zu sein wie er selbst, wie unschwer zu erkennen war, denn dessen Bademantel hatte sich geöffnet und ließ tief blicken.

„Ki- Kiyoshi…“, rief Arakawa vollends entfesselt. Er sprang auf, langte nach Shishido und warf diesen neben sich aufs Bett. Während er sich unbeholfen seiner Hose entledigte, Shishidos Protest mit einem ungestümen Kuss verstummen ließ, spürte er, dass er jeden Moment kommen würde. Aber so wollte er nicht zum Höhepunkt kommen. Arakawa wollte seinen Herrn ausfüllen, er wollte ihn.

„Tut mir leid, aber ich kann nicht mehr…Kiyoshi…“

„Warte…“ Shishido griff nach Arakwas Hand und nahm dessen Zeige- und Mittelfinger in den Mund. Wenige Augenblicke später gab er diese wieder frei. Arakawa hielt für einen Moment überwältigt den Atem an und hätte am liebsten sofort zugestoßen. Aber das erlaubte er sich nicht, da er seinen Herrn nicht noch mehr unnötig verletzen wollte – seine Vorbereitung für das Eindringen würde aufgrund der Umstände eh schon kürzer ausfallen als sonst.

Ungeduldig fand seine Hand die Öffnung und begann geübt die zugedachte Aufgabe. Er konnte spüren, wie Shishido unter der Berührung erbebte und ermahnte sich noch etwas zur Geduld. Auch wenn ihm nicht mehr viel Zeit blieb.

„Hah… Kai- to...“, flüsterte Shishido leidenschaftlich, der begonnen hatte, seine Hüfte zu bewegen.

„Ich dringe jetzt in dich ein…hörst du!“, warnte Arakawa liebevoll, der die Finger durch seinen Schaft ersetzte und ohne langes Fackeln zustieß.

Jeder seiner Stöße ließ Shishido wild aufstöhnen und riss ihn mit. Er bedeckte dessen Gesicht mit heißen Küssen, genoss ihre ungestüme Umarmung und ließ sich unkontrolliert zum Gipfel ihrer Ekstase treiben.
 


 

Shishido rollte sich dösend auf die Seite und musterte den Mann neben sich. Arakawa schlief lautlos mit einem entspannten Ausdruck auf dem Gesicht. Shishido lächelte aufrichtig, was er nur tat, wenn er sich sicher sein konnte, dass Arakawa es nicht bemerkte. Er kuschelte sich enger an den warmen Körper heran und versuchte einen Plan zu entwerfen, wie er das Leben eines seiner besten Männer retten konnte.

Brandung

Haruie parkte ihr Motorrad, zog die Handschuhe aus und nahm anschließend den Helm ab. Sie befreite ihr langes Haar aus der eng anliegenden schwarzen Motorradjacke, welches augenblicklich vom sanften Wind erfasst wurde. Es wehte seitlich ins Gesicht, und kitzelte ihr dabei ein glückliches Lächeln auf die roten Lippen. Sie wandte ihr Gesicht dem Wind zu, und schloss für einen Moment gedankenverloren die Augen.

Sie hatte die Fahrt hierher zum Stützpunkt schon lange nicht mehr so sehr genossen wie heute. Das sonnige Wetter, die kurvenreiche Straße, sowie die Aussicht auf eine interessante Unterhaltung mit Chiaki waren aber nicht Grund allein für ihre ausgezeichnete Laune. Es tat darüber hinaus einfach gut zu wissen, dass es den wenigen Mitgliedern ihrer Gruppe zum jetzigen Zeitpunkt hervorragend ging. Dessen ungeachtet hatte sie natürlich die nervenaufreibenden letzten Wochen nicht vergessen.

Die Sorge und Suche nach Naoe hatte ihnen allen zugesetzt – auch jetzt noch, selbst wenn es dem Ältesten ihrer Gruppe dem Anschein nach bestens ging. Haruie wollte sich nicht der Illusion hingeben, dass die brutale Gefangenschaft völlig spurlos an ihrem Freund vorbeigegangen war. Genau wie Chiaki, befürchtete auch sie, dass die Erlebnisse Naoe zu einem späteren Zeitpunkt einholen würden und sie wünschte sich inständig, dass er dann nicht allein war. Ihre Hoffnung lag hier bei Kagetora, der, wie sie mit Freude feststellen konnte, ein wenig seiner Schärfe Naoe gegenüber verloren hatte.

Haruie öffnete ihre Augen und nahm mit einem tiefen Atemzug ein Stück des Windes in sich auf, das sie im nächsten Moment mit einem zufriedenen Seufzen wieder frei gab. Sie stieg elegant von ihrem Motorrad und warf einen aufmerksamen Blick zur Straße, konnte aber nichts Beunruhigendes feststellen. Den Schlüssel in der Jackentasche verstauend, schritt sie eilig zur Eingangstür und betrat rufend das Haus.
 

„Mehr hat er nicht erzählt?“

„Du kennst ihn doch! Glaubst du im Ernst, er erzählt UNS, wie es war? Selbst Naoe hat sich kein Stück dazu geäußert. Tja, wir hätten da noch Yuzuru. Er könnte uns zumindest erzählen, wie der Umgang der beiden miteinander ist – so von außen betrachtet halt...“

„Das mag stimmen, aber ich denke, das sollte jetzt nicht unsere Sorge sein, Chiaki.“, entgegnete Haruie entschieden. „Shishidos Vater bereitet mir wirklich Kopfzerbrechen. Beinah noch mehr, als der Sohn. Eines haben die zwei gemeinsam: Sie greifen beide auf ein flächendeckendes Netz an Informationsquellen zurück, das interessanter nicht sein könnte. Ich wette mir dir, dass da der ein oder andere Doppelagent darunter ist.“

„Der Meinung bin ich auch.“, stimmte Chiaki Haruie zu. „Und das macht ihre Aktionen für uns umso undurchsichtiger. Vater und Sohn haben sich sicherlich auf diese Spion-berücksichtigende-Vorgehensweise des jeweils anderen eingestellt und handeln daher nicht so, wie wir es aufgrund der ermittelten Informationen annehmen würden.“, erklärte er weiter und blickte ernst zu Haruie, die auf der Couch gegenüber saß. Zwischen ihnen befand sich ein niedriger Beistelltisch, auf dem Tee, Gebäck und eine Schale Obst angerichtet dastanden, jedoch noch unberührt. Chiaki änderte diesen Zustand, indem er zum ersten Mal nach seiner Teetasse langte. Nach einem kleinen Schluck, sah er erneut zu Haruie, die sich ihrerseits einen Keks genommen hatte. „Wir können daher den weiter getragenen Botschaften innerhalb ihrer Netze nicht einfach trauen, sondern müssen sie hinsichtlich dieser besonderen Voraussetzung analysieren. Nicht einfach, aber uns bleibt nichts anderes übrig.“

„Die Erfolgsquote dürfte dabei nicht sehr hoch sein, befürchte ich.“, entgegnete Haruie unzufrieden. „Wenn ich bedenke, wie schwer wir es hatten, irgendetwas über Naoe herauszufinden.“

„Wer weiß… Wir sollten Kagetora nicht unterschätzen! Schließlich war er es, der Naoe gefunden hat. Ich frage mich nur, was sie machen werden, wenn sie Shishido gestellt haben. Sie können ihn schließlich nicht einfach so exorzieren – mal abgesehen davon, dass dieser es wohl kaum so leicht zulassen würde.“, gab Chiaki mit einem schiefen Grinsen zu bedenken.

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Auf jeden Fall wird das Aufeinandertreffen eine heikle Angelegenheit. Und nicht nur für Kagetora…“, mutmaßte Haruie, die sich ihre gute Laune von all diesen Gedanken nicht nehmen lassen wollte. Rasch griff sie nach einem Apfel und biss herzhaft hinein. „Lassen wir uns überraschen!“, sprach sie mit vollem Mund.

„Da fällt mir ein. Dieser Scharfschütze, der Kagetora und Yuzuru am Fluss ins Visier genommen hatte, und den du später in die Flucht geschlagen hast. Kannst du dich an ihn erinnern? Es hat den Anschein, als gäbe es da eine Verbindung zu Shishido. Wie genau die aussieht, kann ich noch nicht sagen. Sie scheint aber etwas mit dem engsten Mann Shishidos zu tun zu haben. Wie war noch gleich der Name… Genau, Arakawa oder so ähnlich. Vielleicht bringt uns das etwas weiter.“

Haruies Augen verengten sich für einen Moment zu wütenden Schlitzen, bevor sie antwortete. „Ach der… Erinnere mich bloß nicht an den. Der war wirklich eine zähe Nuss. Und in die Flucht konnte ich ihn auch nur schlagen, weil es einfach zu voll dort geworden ist. Weder er noch ich wollten uns zusätzlich mit der Polizei rumschlagen, wobei ich glaube, dass er da bessere Karten gehabt hätte – denken wir nur an ihre weitläufigen Verbindungen.“

„Möglich, aber es war schon eine Überraschung zu erfahren, dass diese Gruppe zu Shishidos Vater gehört. Wenn es stimmt, dass Shishido und sein Alter nicht miteinander können, dann macht mich dieser junge Mann noch neugieriger. Vielleicht ist er ja ein Doppelagent.“, fügte Chiaki grinsend hinzu, dem Haruies skeptischer Blick nicht entging. „Leider gibt es gerade keine neuen Informationen über ihn. Entweder untergetaucht, oder aber… Wer weiß…“, beendete er bedeutungsvoll seine Erklärung.

„Hm, selbst wenn er aufgeflogen ist, sofern er Shishidos Spion wäre, wüsste ich nicht, was es uns bringen würde, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen.“

„Kannst du nicht mal ein wenig mehr Interesse und Begeisterung für deine Widersacher entwickeln?“, motzte Chiaki scherzhaft, der sich gemütlich auf der Couch zurück lehnte. „Es kann uns eine ganze Menge bringen, Haruie! Selbst wenn es nur die Möglichkeit ist, unsere Fähigkeiten zu testen – sprich, UNSER Informationsnetz zu verbessern, auszubauen und natürlich für andere unangreifbar zu machen. Wobei das natürlich nie der Fall sein wird. Es wird immer jemanden geben, der dich für die Aussicht auf eine bessere Alternative verraten würde. Kousaka ist da das Paradebeispiel!“

„Na, der ist eigentlich DAS Maß aller Dinge in dieser Hinsicht!“, rief Haruie böse, der die Erwähnung dieses Mannes sauer aufstieß. „Ich kann Kagetora nicht verstehen, warum er diesen Kerl in seine Nähe lässt. Kousaka ist einfach unerträglich.“

„Ja, aber leider ist er nicht nur das. Für uns und Kagetora stellt er eine enorme Quelle an möglichen Informationen dar, auch wenn er sich verschlossen und unergründlich gibt. Kousaka ist nicht fehlerfrei, Haruie. Das heißt, früher oder später wird er sich verraten, was uns zugute kommen wird.“

„Ja ja, wenn er vorher nicht uns in den Rücken fällt. Ahhhh, lass uns bitte nicht weiter über diesen Mann sprechen!“, rief Haruie genervt. „Erzähl mir lieber, was Kagetora auf dem Weg nach Wajima plant!“

„Das hat er auch nicht erzählt.“, meinte Chiaki kleinlaut zu Haruie, die aufgrund des Gehörten mit den Augen rollte.

„Okay. Dann lass uns jetzt einfach über etwas ganz anderes sprechen, sonst platze ich hier noch. Sollen die doch machen, was sie wollen…“, rief Haruie übertrieben aufgebracht, was Chiaki ein amüsiertes Lachen entlockte.

„Na dann, wollen wir ins Kino gehen?!“, fragte dieser belustigt.

Haruie blickte zu dem lachenden Mann und zog irritiert die Augenbrauen hoch. Chiaki war ihr manchmal wirklich noch ein Rätsel. Yasuda Nagahide, so sein richtiger Name, war schon immer der unbeschwerteste unter ihnen gewesen. Sie mochte ihn für seine unkomplizierte offene und ehrliche Art. Außerdem war er unglaublich machtvoll in seinen Fähigkeiten, und nach Kagetora der Zweitstärkste in ihrer Gruppe. Einziges Manko war seine manchmal zu offen demonstrierte vorrangige Loyalität Naoe gegenüber, die dieser zwar begrüßte, Chiaki aber immer wieder vor den Kopf stoßen musste, indem er ihm erläuterte, wem die absolute Loyalität zu gelten hatte. Haruie lächelte bei diesem Gedanken. „Soweit wollte ich es dann doch nicht treiben! Wir sollten schon etwas arbeiten, Chiaki. Vielleicht rufe ich nachher noch Naoe, um zu hören, wie es ihm geht.“

„Da springt er bestimmt im Kreis, wenn du ohne ersichtlichen Grund anrufst!“, scherzte Chiaki gehässig.

„Und wenn schon! Du telefonierst doch ständig mit ihm, da kann eine Abwechslung nicht schaden.“

„Der Unterschied ist aber, dass ich meistens eine Neuigkeit weitergebe und mich nicht einfach nach dem Wohlbefinden erkundigen will – zumindest nicht vordergründig.“

„Sei still, dann soll er eben durchs Telefon springen!“, rief Haruie amüsiert. „Außerdem habe ich eine Neuigkeit für ihn!“

„So? Und die wäre?“

„Verrat ich nicht!“

„Wie jetzt? Raus mit der Sprache!“, setzte Chiaki nach, den nun die Neugier plagte.

„Nein. Da musst du dich noch etwas gedulden!“, antwortete Haruie entschieden, die innerlich lachte, denn eigentlich führte sie Chiaki nur an der Nase herum. Sagen würde sie ihm das jetzt aber noch nicht. „Also los, dann mal an die Arbeit mit uns zweien…“

„So soll es sein.“ Chiaki grinste Haruie an, die ihm ein breites Lächeln schenkte, und erhob sich vom Sofa.
 


 

Yuzuru blickte fasziniert auf das Japanische Meer, an dessen Küste sie seit der Stadt Joetsu seit nunmehr als zwei Stunden in südwestliche Richtung entlang fuhren. Gelegentlich wurde die raue Küstenlandschaft von kleinen Ortschaften abgelöst, die ihre Existenz allein der Fischerei verdankten. Die Einwohnerzahl dieser verschlafenen Orte dürfte häufig weit unter 100 liegen, wie Yuzuru stumm mutmaßte. Er sah zum Horizont und entdeckte dort Boote verschiedenster Größen, die auf der ruhigen See sanft vor sich hinschaukelten und ihm ein wehmütiges Lächeln auf die schmalen Lippen zauberten. Yuzuru sank tiefer in den Sitz hinein und schaute zum Himmel hoch. Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten und würde in nicht allzu langer Zeit im Meer versinken. Wenn es soweit war, würden sie Wajima längst erreicht haben.

Er wandte seinen Blick nach innen, und sah sich verstohlen im Auto um. Takaya saß vorn neben Kousaka, der den Wagen fuhr. Er selbst hatte hinten neben Naoe Platz genommen, als sie heute früh aufgebrochen waren. Wie zu erwarten, war die erste Stunde der Autofahrt nicht einfach gewesen. Die bedeutungsvolle Stille war hin und wieder durch verbalen Schlagabtausch einiger Insassen unterbrochen worden, die dieser Auseinandersetzungen nicht müde zu werden schienen.

Yuzuru hatte das Ganze schweigsam verfolgt. Es war erstaunlich, mit was für einer Unbeschwertheit Kousaka seine giftigen Bemerkungen austeilte, die wiederum mit einer unglaublichen Ruhe seitens Takaya und Naoe beantwortet wurden. Wenn er nicht wüsste, wie die drei tatsächlich zueinander standen, hätte ihr Verhalten durchaus auch als freundschaftliches Geplänkel durchgehen können.

Sein Blick blieb an seinem besten Freund hängen, der gerade das Handy wegsteckte und anschließend mit einer konzentrierten Miene tonlos Worte formte, die durch eine Reihe elegante Handbewegungen begleitet wurden. Yuzuru wusste zwar nicht, was Takaya da genau tat, aber er war sich sicher, dass es mit einer Art Beschwörung zu tun hatte. Vielleicht schickte er seine geisterhaften Helfer zum Auskundschaften voraus, oder ähnliches. Jedenfalls kam ihm Takaya in diesen Moment sehr fremd vor.

Yuzuru musste zugeben, dass er diese ungewohnte Seite Takayas noch immer nicht vollständig akzeptiert hatte. Kousakas Worte bezüglich Kagetoras Persönlichkeit hatten ihre Wirkung nicht verfehlt – und nicht nur bezogen auf seinen Freund. Selbst wenn er an Naoe dachte, spürte er noch immer eine gewisse Unruhe. Diese hatte sich aber nach dem befreienden Gespräch am heutigen Morgen mit dem älteren Mann etwas gelegt. Dennoch würde er Zeit brauchen, auch für sich selbst, da er am wenigsten sich und die geheimnisvolle Macht kannte, die in ihm schlummerte.

Yuzuru sah auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass sie inzwischen seit mehr als fünf Stunden im Auto saßen. Und es würden weitere drei dazukommen, ehe sie Wajima erreichten. Er dachte an ihre letzte Rast und überlegte, ob es nicht Zeit für eine weitere wäre, als sich ein unüberhörbares Magenknurren im Innenraum ausbreitete. Verlegen spähte Yuzuru um sich und traf auf Naoes belustigt aufblitzende Augen. Er schenkte dem Mann neben sich ein schiefes Grinsen, und hörte währenddessen Takayas amüsiertes Lachen. Yuzuru blickte nach vorn.

„Ist es wieder Zeit für eine Pause?“, fragte Takaya noch immer lachend.

„Was? Schon wieder? Die letzte ist doch noch gar nicht lange her!“, rief Kousaka unerfreut dazwischen. „So kommen wir niemals an.“

„Da muss ich dich leider enttäuschen, Kousaka. Die letzte Rast ist schon mehr als drei Stunden her. Mal abgesehen vom Hunger, mit dem nicht nur Yuzuru zu kämpfen hat, könnte es nicht schaden, sich mal eben die Beine zu vertreten. Stimmt´s, Yuzuru!?“

„Äh… Also, ich bin dabei.“, entgegnete dieser unsicher, dem Kousakas saure Miene im Rückspiegel nicht entging.

„Wenn wir die Toyama Bucht umrundet haben, können wir irgendwo auf dem Weg anhalten. Bis dahin sollte ich auch Rückmeldung über das haben, was vor uns liegt.“, entschied Takaya, der Kousaka mit einem eisernen Blick bestrafte, ehe er wieder gelassen nach vorn sah.

„Du hast Kagetora-sama gehört, Kousaka. Wenn ich mich richtig erinnere, dann liegt Himi recht günstig. Dort könnten wir anhalten und uns ein kleines Restaurant direkt am Strand suchen. Einen möglichen Angriff vom Meer her halte ich für sehr unwahrscheinlich. So können wir etwas entspannter sein…“ Naoe warf ebenfalls einen unnachgiebigen Blick in Kousakas Richtung, während er sprach. Dieser sah nur einmal kurz nach hinten und schnalzte unzufrieden mit der Zunge.

„Schön, dass ihr euch so einig seid! Und nicht nur mit euren Worten… Wenn ihr das also alle so wollt, dann bleibt mir wohl nichts anders übrig. Aber ich bin noch immer der Meinung, dass wir zügig durchfahren sollten.“, erwiderte Kousaka ärgerlich, der daraufhin verstummte.

„Ich weiß, dass das jetzt blöd klingen mag, aber ich freue mich aufs Meer und den Strand...“, gab Yuzuru aufrichtig zu.

„In der Tat, das ist echt kindisch.“, murmelte Kousaka unfreundlich.

„Ist überhaupt nicht blöd, Yuzuru! Ich freue mich auch drauf…“, erwiderte Takaya, der nach hinten blickte und seinen Freund neckisch ansah. „Aber baden geht nicht, damit das klar ist!“
 

Die Wellen rollten beharrlich den steinigen Strand hinauf, und zogen sich am Ende ihrer Kraft wieder dorthin zurück, woher sie kamen, um dann ihr Spiel von vorn beginnen zu können. Auch wenn dieser Vorgang monoton und unscheinbar wirkte, so ließ doch jede Woge etwas Neues zurück, das von aufmerksamen Beobachtern nur entdeckt werden musste.

Yuzuru griff nach einem rund geschliffenen roten Stück Glas, hielt es hoch und betrachtete es entzückt von allen Seiten. Die Brandung hatte der Scherbe ihre Schärfe genommen, und sie so in einen roten Edelstein verwandelt.

Mit rot gefärbter Sicht blickte Yuzuru neugierig rüber zu Naoe und Takaya, die in kurzer Entfernung beieinander standen und sich unterhielten. Ihre Worte konnte er nicht verstehen, denn diese wurden vom Wind hinaus aufs Meer getragen. Sein bester Freund hatte die Hände in die Jackentaschen gesteckt und den Kragen hochgeklappt, während Naoe erfolglos das Haar aus den Augen zu streichen versuchte. Yuzuru musste über diesen Anblick lächeln, wenn auch wehmütig. Denn der Gedanke, dass die beiden Männer einander liebten, dies aber aus vielerlei Gründen nicht frei leben konnten, stimmte ihn traurig. Stumm fragte er sich, ob es überhaupt einem Zeitpunkt geben wird, ab dem es für die zwei möglich war.

Yuzuru entschied, noch nicht zu den beiden zurückzugehen. Er wandte den Blick ab und sah zum Ozean hinaus.

Es verwunderte ihn schon ein wenig, dass sein Umgang mit der Tatsache, dass Takaya einen anderen Mann liebte, völlig vorurteilsfrei war. Schwieriger gestaltete sich da eher die Akzeptanz der fremden Persönlichkeitsanteile in seinem besten Freund. Allein schon, wenn jemand bewusst den Namen Kagetora benutzte, fühlte er sich unwohl. In diesen Momenten hatte er das Gefühl, er müsse die Namenswahl korrigieren – tat es aber nie. Für ihn käme es zumindest niemals in Frage, Takaya mit Kagetora anzusprechen. Seufzend steckte Yuzuru den roten Gegenstand in seine Hosentasche und wartete.
 

„Und? Gibt es Neuigkeiten aus Matsumoto?“

„Nein.“, antwortete Naoe leise, der einen sehnsuchtsvollen Blick auf den jungen Mann neben sich warf. „Haruie hat sich nur erkundigen wollen, wie es uns geht.“

„Verstehe. Es sieht also so aus, dass wir ohne Schwierigkeiten weiterreisen können. Es gibt keine Anzeichen für eine Falle. Shishido hält sich auf seinem Sitz in Wajima auf und scheint geduldig darauf zu warten, dass wir ankommen und höflich an seiner Tür klopfen.“ Takaya blickte auf und sah dem älteren Mann direkt in die Augen. „Ich weiß, dass es nicht einfach für dich ist. Ersparen kann ich es dir trotzdem nicht, Naoe. Ich brauche dich dabei, hörst du?! Shishido hat große Macht und ich kann noch nicht mal sagen, wie ungeheuerlich sie wirklich ist.“ Takaya nahm eine Hand aus der Jackentasche, und strich sich gedankenverloren die Haare hinter die Ohren. Dort blieben sie aber nicht sehr lange, denn der böige Wind peitschte sie ihm im nächsten Augenblick zurück in das Gesicht.

Naoe beobachtete Takaya dabei, und spürte sein Herz schneller schlagen. Die Worte seines Herrn hatten ihn glücklich gemacht. Zum ersten Mal hatte dieser ganz direkt eine Bitte geäußert, die ihm nicht das Gefühl gab, lediglich einem Befehl folgen zu müssen. Takaya schien aufrichtig um sein Wohlbefinden besorgt zu sein.

Naoe musste sich beherrschen, den Mann nicht stürmisch in seine Arme zu reißen und dessen Lippen mit seinen zu bedecken. Die Chance, dass sie dabei gesehen werden konnten – von Yuzuru mal abgesehen – war gering. Denn der Strandabschnitt, auf dem sie sich befanden, war klein und bloß durch einen schmalen abwärts führenden Pfad direkt von der Küstenstraße aus zu erreichen. Naoe sah hoch und konnte den Wagen erkennen, den Kousaka am Rand geparkt hatte, natürlich nicht ohne sich erneut lautstark über diesen Zwischenstopp zu beklagen. Der ungeliebte Zeitgenosse würde jetzt wohl unzufrieden auf ihre Rückkehr warten, wie Naoe stumm vermutete, und eines der Bentos verspeisen, auf die sie alle hatten zurückgreifen müssen, da das einzige Restaurant am Strand von Himi geschlossen hatte.

Naoe verdrängte den Gedanken an Kousaka, aber noch schwermütiger den an einen Kuss, und griff nach seinen Zigaretten. Er versuchte eine zu entzünden, was sich aber als schwierig gestaltete. Der starke Wind änderte ohne Vorwarnung die Richtung, und ließ seinem Feuerzeug damit keine Aussicht auf einen Erfolg. Sich damit schon beinah abgefunden, tauchten wie aus dem Nichts Takayas Hände auf, die sich schützend um seine legten. Naoe riss verblüfft die Augen auf und sah zu dem jüngeren Mann, der ihn mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht entgegen blickte.

„Damit das klar ist, vom Rauchen halte ich noch immer nicht viel…“, erklärte Takaya beinah verlegen. „Wenn ich gerade schon nichts anderes machen kann, als dich um eine schwere Aufgabe zu bitten, will ich dir wenigstens hier entgegenkommen.“

Naoe vergaß bei diesen Worten sein Vorhaben und langte betört mit einer Hand nach Takayas Gesicht, der unter dieser Berührung leicht erbebte. „Du tust schon mehr, als du dir vorstellen kannst, Kagetora…“, raunte er, während er innerlich vor Glück zerprang. Naoe konnte für einen kurzen Moment Wut in Takayas Augen aufblitzen sehen und fragte sich, welchem Persönlichkeitsanteil diese wohl mehr entsprang – Kagetora, weil dieser nach wie vor ungehalten auf diese Dinge reagierte, oder Takaya, der mit dem zweiten Namen so seine Schwierigkeiten hatte. „Komm nicht auf die Idee, mich zu küssen!“, zischte dieser, der seinem Blick auswich und fragenden auf die Zigarette starrte. Naoe stieß seufzend den Atem aus. „Natürlich.“, entgegnete er, während ein tiefer Atemzug die Zigarette zum Glühen brachte. Mit dem Entzünden verschwanden sogleich die Hände, deren Berührung Naoe noch immer spüren konnte. „Was gedenkst du zu tun, wenn wir da sind?“

Takaya presste die Lippen aufeinander und ließ den Blick rüber zu Yuzuru schweifen, der gerade etwas in die Hosentasche steckte und zum Meer hinausblickte. „Um ehrlich zu sein, weiß ich es selbst noch nicht genau. Natürlich will ich erfahren, warum er so sehr an mir interessiert ist. Dafür sogar nicht davor zurückschreckt, Menschen zu verletzen, die mir wichtig sind. Aber dieses Wissen allein ist nicht mehr genug. Ich will Informationen über seinen Vater und dessen Organisation. Und warum sie an Yuzuru interessiert sind.“

„Ich bezweifle, dass du damit Erfolg haben wirst. Wir brauchen Shishido nicht dazu, um herauszufinden, was dessen Vater plant – zumal die beiden, unseren Informationen zufolge, keinerlei Kontakt zueinander haben.“

„Da wäre ich mir mal nicht zu sicher. Chiaki hat berichtet, dass es eine vielversprechende Verbindung zwischen den beiden gibt – wenn auch nicht direkt, sondern über einen Dritten.“, entgegnete Takaya zuversichtlich, der seine Augen wieder auf seinen engsten Vertrauten richtete. „Natürlich macht das die Sache nicht unbedingt einfacher.“

„Und wie sieht diese Verbindung aus? Chiaki hat mir gar nichts erzählt!“ Naoes Frage ging mit einer betroffenen Miene einher, die Takaya arrogant lächeln ließ.

„In erster Linie reicht es, wenn ICH es erfahre.“, meinte dieser plötzlich schonungslos, und sah in Naoes Augen neben Reue Trotz aufblitzen. „Oder bist du da anderer Meinung?“ Takayas Stimme hatte nun einen scharfen Unterton angenommen.

„Nein, Kagetora-sama, bin ich natürlich nicht.“

„Gut. Ich dachte schon, ich müsste mich mit einem zweiten Kousaka rumschlagen. Der Mann raubt mir nämlich den letzten Nerv.“

Naoe starrte Takaya für einen Moment fassungslos an, ehe er erneut etwas sagen konnte. „Mich mit Kousaka zu vergleichen, ist mir, gelinde gesagt, etwas unangenehm. Ich hoffe doch, dass ich nicht die gleichen Gefühle in dir auslöse wie er…“

„Andere, um ehrlich zu sein. Aber das war nicht deine erste Frage, daher werde ich sie auch nicht beantworten. Die Verbindung, von der ich sprach, scheint ein Doppelagent zu sein, der für das Attentat auf Yuzuru und mich in Matsumoto verantwortlich ist. Auf wessen Befehl hin er gehandelt hat, sei dahingestellt. Schließlich würde es beiden mächtigen Männern in den Kram passen, wenn ich nicht mehr wäre.“

„Verstehe. Das würde bedeuten, wenn die Information stimmt, dass Shishido durchaus in der Lage wäre, uns etwas über seinen Vater zu erzählen. Dennoch sehe ich keinen Grund, warum er uns, vor allem aber dir, von ihm berichten sollte?!“

„Wirklich?! Ich denke, da gibt es wohl etwas, was mir seine Aufmerksamkeit schenken könnte.“

„Und das wäre?“ Neugierig blickte Naoe auf, der dabei war, seine aufgerauchte Zigarette zu verstauen.

„Houjou Ujiteru.“
 


 

Die beiden Männer rannten eingeschüchtert den Weg zurück, den sie gekommen waren, um umgehend wieder ihre vorgesehenen Positionen innerhalb des Verteidigungsnetzes einnehmen zu können. Letztlich wollten sie sich aber nur ganz schnell außer Reichweite ihres aufgebrachten Herrn bringen, der für seine unberechenbare Laune bekannt war.

Shishido starrte den beiden nach und seufzte nachgiebig – natürlich tat er es so, dass er dabei ungehört blieb. Er wandte ihnen den Rücken zu und entschied, zu seiner Lieblingsstelle am Rand der Klippen zu schlendern, die sich hoch über der verärgerten Brandung befand.

Genau wie die Wellen, die sich unter ihm den steilen Klippen geschlagen geben musste, hatte Shishido eine ebenso unüberwindbare Wand vor sich: Sasuke zu befreien, würde sich als beinah unmöglich erweisen. Arakawas gewaltsam unterbrochenes Gespräch mit dem jüngeren Bruder ließ nichts Gutes erahnen. Aber Shishido war davon überzeugt, dass Sasuke noch lebte und hoffte, dass seine Zuversicht dem engsten Vertrauten etwas von dessen Gefasstheit zurückgab. Denn einen aufgewühlten Arakawa könnte er beileibe nicht gebrauchen, wenn hier in Kürze Kagetora und seine Gruppe ankamen. Er würde alle Hände voll zu tun haben, und benötigte daher Entlastung durch seinen besten Mann, der seinem Rücken als lebender Schutzschild dienen würde – dienen wollte, wie dieser lieber zu sagen pflegte. Der Gedanke ließ ihn lächeln. „Wenn du wüsstest, wie viel Macht du schon über mich besitzt…“, flüsterte Shishido und sah, ein wenig verärgert über das eigene Gefühl, in die Ferne.

Die Sonne hatte beinah den Rand des Horizonts erreicht, und würde in weniger als einer Stunde blutrot im Meer versinken. Während Shishido zum scheinbaren Rand der Welt hinüberblickte, lehnte er sich entspannt an die knorrige Rotkiefer, die seinen bevorzugten Ort hier am Rand der Klippen verriet. Laut den neuesten Berichten, sah es so aus, dass Kagetora in zwei Stunden den äußersten Rand seines unmittelbar kontrollierten Bereichs erreichen würde. Shishido hatte seinen Männern befohlen, das Auto passieren zu lassen, damit es von Arakawa persönlich zum Hauptgebäude eskortiert werden konnte.

Ein reibungsloser Ablauf dieses Willkommen-Heißens würde zeigen, ob er den Mann richtig eingeschätzt hatte oder nicht. Denn wenn Kagetora aufgrund der Aktionen seines Vaters auf Informationen spekulierte, wie Shishido stark annahm, könnte er sich auf ein paar ruhige Stunden freuen. Sicher sein konnte er sich natürlich nicht. Aber das wäre auch nicht weiter schlimm, denn dann käme es eben sofort zu der aufregenden Auseinandersetzung, die er früher oder später sowieso erwartete und der er gespannt entgegensah.

Ersehntes Aufeinandertreffen

Shishido schloss die Augen und lauschte der Gewalt der Brandung, die sich an den Klippen zu seinen Füßen stur die Zähne ausbiss. Das ohrenbetäubende Geräusch verschluckte beinah jedes Geräusch in seiner Gegenwart und er war froh, dass er sich nicht allein auf seine Ohren verlassen musste, um bedrohliche Veränderungen in seiner Nähe zu registrieren. Wenn er sich öffnete, war es ein Leichtes für ihn, Personen oder Tiere in seiner unmittelbaren Umgebung zu lokalisieren. Würde er mehr Macht investieren, könnte er sogar jedes Lebewesen auf seinem Anwesen aufspüren. Das war natürlich weitaus effektiver und bot mehr Möglichkeiten, als es der einfache Gebrauch eines hochmodernen Überwachungsapparates verschaffte. Dennoch, wie auch jede andere seiner machtvollen Fähigkeiten, war auch diese auf die Dauer ermüdend und somit zeitlich begrenzt. Letztendlich wäre dieser Einsatz auch nicht von Nöten, denn Shishido konnte sich auf seine Untergebenen verlassen, und hatte mit Arakawa, als Kopf dieses Überwachungsapparates, einen zuverlässigen Partner.

„Kaito…“, flüsterte er seufzend, als ihm wieder bewusst wurde, in was für einer unvorteilhaften Situation sich dieser gerade befand. Shishido öffnete die Augen und strich eine sich gelöste Haarsträhne hinter das Ohr, mit welcher der böige Wind bis eben gespielt hatte. Sein Blick wanderte vom Horizont hinüber zum Weg an seiner linken, wo er das Auftauchen seines engsten Beraters beobachten konnte. Überraschung und Unmut gesellten sich zur unerwarteten Entdeckung. Arakawa war noch nicht einmal ganz bei ihm, als er diesem ungeduldig seine eiserne Stimme entgegenschleuderte. „Ich hoffe du hast einen guten Grund, warum du noch hier bist und nicht, wie befohlen, am Eingang auf unsere Gäste wartest!?“ Trotz der Entfernung konnte Shishido sehen, wie sich Arakawas Miene für einen Moment schuldbewusst verdunkelte.

„Verzeiht, Shishido-sama. Ich werde gleich dorthin aufbrechen.“ Arakawa kam vor seinem Herrn zum Stehen, und sah diesen mit gemischten Gefühlen an. „Ich wollte wissen, also, was unternehmen wir wegen Sasuke?“

Shishido starrte den kaum merklich größeren Mann vor ihm an und überlegte, ob er ihn scharf zurechtweisen oder hören sollte, was dieser zu sagen hatte. „Was willst du, das ICH tun soll?“, entschied er und blickte Arakawa direkt in die Augen. Er sah Hoffnung in ihnen aufblitzen.

„Ich weiß natürlich nicht, ob Ihr schon einen Plan im Kopf habt… Aber vielleicht können wir Yuzuru gegen Sasuke eintauschen? Kagetora kommt ja nicht in Fra-“ Arakawa brach mitten im Satz ab, als er sah, wie sich Shishidos Miene augenblicklich verfinsterte. Das ungute Gefühl zurückdrängend, fasste er erneut Mut, um seinen Vorschlag bis zum Ende vorzutragen. „Es setzt natürlich voraus, dass wir Yuzuru in unsere Gewalt bringen können, aber daran hege ich keinen Zweifel. Ich würde mich um den Austausch, also um die Kontaktaufnahme mit dem Kriegsfürsten kümmern. Ihr müsst nichts weiter tun.“ Diesen Worten folgte angespannte Stille, die es den Zweifeln Arakawas ermöglichte, sich die Plätze in der vordersten Reihe seiner Gedanken zurückzuerobern.

„Arakawa.“ Der Angesprochene zuckte beim Klang der Stimme zusammen. „Ich hoffe, du meinst das Gesagte nicht ernst und aus dir spricht, wie soll ich sagen, die reine Verzweiflung?“ Shishido sah, wie sich der Kopf seines engsten Vertrauten beschämt senkte. „Glaubst du ernsthaft, mein Vater würde sich darauf einlassen? Er will mich. Nun, und irgendwie auch Yuzuru, was ich mir durchaus auch zu Nutzen machen will. Aber bestimmt nicht, indem ich diesen gegen deinen Bruder eintausche.“ Shishido trat einen Schritt auf Arakawa zu. Er langte nach dessen Kinn und drückte es sanft nach oben. „Ich habe dir gesagt, dass ich einen Weg finden werde, aber zuerst muss ich mich um Kagetora kümmern. Hörst du? Und dazu brauche ich deine uneingeschränkte Aufmerksamkeit.“ In Arakawas dunklen Augen konnte Shishido die vertraute Besonnenheit zurückkehren sehen. „Wenn ich mich nicht auf dich verlassen kann, dann entbinde ich dich ab sofort von dieser Aufgabe. Es gibt durchaus die ein oder andere Person, die gerne deinen Platz einnehmen würde.“

„Nicht nötig, Shishido-sama.“, entgegnete Arakawa fest, der die Berührung seines Herrn heiß auf seiner Haut spürte. „Ich werde mich sofort auf den Weg machen, und Euch dann später, wie abgesprochen, mit unseren Gästen aufsuchen. Wenn Ihr mich also entschuldigt.“ Er war im Begriff, sich aus Shishidos Griff zu lösen, als dieser unerwartet eine weitere Berührung hinzufügte.

Die weichen Lippen lösten sich wenige Augenblicke später, und ließen einen überraschten Arakawa zurück. „Du bist hiermit entlassen.“ Shishido beobachtete, wie sich der jüngere Mann ehrerbietend verbeugte, und mit langen Schritten seiner zugedachten Aufgabe entgegeneilte – natürlich nicht ohne ihm einen letzten sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen. Beinah lästig winkte er Arakawa weiter und wandte sich erneut dem Horizont zu, der sich dem bevorstehenden Sonnenuntergang als unfertige Kulisse anbot. Während Shishido darauf wartete, dass das Schauspiel begann und jene unspektakuläre Kulisse in ein Meer aus Rottönen getaucht würde, flogen seine Gedanken Arakawa und dessen unbedachtem Verhalten zu.
 


 

Der Wagen steuerte den Straßenrand an, und kam härter zum Stillstand als eigentlich nötig. Keine zwei Sekunden später wurde die Fahrertür aufgerissen, und ein äußerst aufgebrachter Kousaka verließ wütend die Tür hinter sich zuschlagend das Auto. Er entfernte sich mehrere Meter, und blieb dort nach seinem Handy suchend stehen.

„Glaubst du, er tut, was du verlangst?“ Naoe wandte seinen Blick von Kousaka ab, und blickte skeptisch zu den beiden Personen auf der Rückbank. „Ich bin nach wie vor der Meinung, dass dieser Schritt nicht nötig ist. Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Es ist schon heikel allein, diese undurchschaubare Person dabei zu haben. Aber dass seine Männer nun ebenfalls mit von der Partie sein sollen, macht die ganze Angelegenheit schier unkontrollierbar für uns.“

„Findest du? Ich sehe es als Vorteil. Außerdem sind sie nicht mit von der Partie, sondern sollen sich zurückziehen.“, entgegnete Takaya gelassen, der an Naoe vorbei zu Kousaka sah. „Es reicht schon, dass wir uns mit Shishido rumschlagen müssen, der auf seinem Gelände klar im Vorteil ist. Es macht es definitiv leichter zu wissen, dass wir auf unserem Rückweg nicht auch noch auf Kousakas Leute treffen müssen.“

„Und was lässt dich glauben, dass er tut, was du verlangst? Wir kennen Kousaka doch. Er macht nur das, was ihm richtig erscheint. Außerdem frage ich mich, warum er uns überhaupt beschatten lässt.“

„Für letzteres fallen mir viele Gründe ein. Aber genug jetzt. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir unser Ziel erreichen. Von Kousakas Leuten mal abgesehen, gibt es keine Hinweise darauf, dass Shishido einen Hinterhalt geplant hat. Es sieht eher danach aus, dass er uns erwartet.“ Während Takaya sprach, wandte er sich Yuzuru zu, der der Unterhaltung stumm lauschte, und blickte diesen unsicher an.

„Willst du mir sagen, dass ich jetzt doch nicht mitkommen kann?“, fragte Yuzuru beinah vorwurfsvoll, nachdem sein bester Freund verstummt war.

„Natürlich nicht. Alles was ich will, ist, dass dir nichts passiert.“

„Wird schon nicht!“, rief Yuzuru zuversichtlich, dem unter Takayas ernstem Blick dennoch ein wenig mulmig zumute wurde. „Wenn es eben brenzlig wird, kann ich ja noch immer darauf vertrauen, dass meine Kräfte zum Vorschein ko-“

„Eben nicht! Gerade das soll nicht passieren!“, fuhr Takaya unsanft dazwischen. „Wir wissen nicht, was dann passieren könnte. Ich bitte dich daher, nicht bewusst auf sie zuzugreifen, auch wenn mir klar ist, dass du es nicht steuern kannst. Versuche es einfach, und bleib immer in meiner oder Naoes Nähe. Hörst du?! Und wenn es sich nicht vermeiden lässt, eben auch in Kousakas. Ich bezweifle, dass er dich tot sehen will.“ Er sah, wie Yuzuru blass um die Nase wurde und hoffte, dass seine Worte diesen nicht zu sehr verängstigt hatten. „Na komm schon. Ich passe auf dich auf! Ich will nur, dass du weißt, dass das hier keins unserer Spiele aus Kindertagen ist.“ Takaya konnte beobachten, wie sich eine Sturmfront auf dem Gesicht seines Freundes zusammenbraute.

„Für wen hältst du dich eigentlich? Glaubst du, ich hätte alles vergessen und würde es auf die leichte Schulter nehmen, was bisher passiert ist?“, rief Yuzuru aufgebracht, der seinem Unmut über Takayas Worte nicht anders Platz schaffen konnte. „Ich mag vielleicht nicht so stark sein wie du oder Naoe, aber selbst ich habe gelernt, auf mich aufzupassen. Behandle mich also nicht wie ein Schwächling, sondern gib auf dich selbst acht, denn immerhin bist es du, den Shishido haben will!“

Naoe lachte leise, während sein amüsierter Blick zwischen den beiden jungen Männern hin- und herwanderte, die sich nun betroffen ansahen. Besser hätte er es auch nicht sagen können. Yuzurus Worte hatten ihn wieder daran erinnert, wer das eigentliche Ziel Shishidos war. Das durften sie bei alle ihrer Sorge um Yuzuru und den Aktivitäten von Shishidos Vater nicht vergessen. Naoe würde Takaya um jeden Preis beschützen. Er würde selbst das Leben Yuzurus aufs Spiel setzen, wenn es sich nicht vermeiden ließe. Und damit würde er wohl endgültig seine zerbrechliche Beziehung zu Takaya zerstören.

Das Geräusch der sich öffnenden Autotür riss Naoe aus den düsteren Gedanken und ließ ihn aufblicken. Kousaka setzte sich mit mürrischer Miene neben ihn und startete den Motor. Naoe musterte das Profil des Mannes am Steuer. Kousaka war kein unbeschriebenes Blatt, dennoch war er für sie alle ein Rätsel. Niemand konnte sagen, was er als nächstes vorhatte, und ob er nicht doch für jemand arbeitete. Sie alle konnten nur äußerst wachsam sein und hoffen, dass das Wenige, dass sie durch die gefährliche Zusammenarbeit mit ihm herausfinden konnten, für sie von nutzen sein würde.

Während Naoe seine Gedanken um Kousaka kreisen ließ, vernahm er Yuzuru hinter sich. Dieser versuchte unbeholfen seinen wütenden Ausbruch zu erklären, und erntete dafür von dem besten Freund eine verständnisvolle Kopfnuss. Ein wenig neidisch blickte Naoe nach vorn auf die Straße. Er wünschte sich nichts sehnlichster, als endlich Zeit allein mit Takaya verbringen zu können.
 

Ein leises Seufzen stahl sich über Naoes Lippen, verstohlen beobachtet von einem Augenpaar. Kousaka, der noch immer wütend über Takayas Befehl war, zog ein wenig Kraft und Ruhe aus der Tatsache, dass der Mann, den er begehrte, direkt neben ihm saß. Er war so nah dran, ihn zu bekommen. Es würde nicht mehr lange dauern. Zuversichtlich konzentrierte er sich auf das, was vor ihm lag und ignorierte gekonnt die unausstehliche Person auf dem Rücksitz.
 


 

Dumpfer Schmerz ließ Sasukes Lippen beben, als er unsanft aus dem Dämmerzustand gerüttelt wurde. Er spürte eine kalte Hand an seinem Kinn, und vernahm immer deutlicher den Ruf seines Namens. Für den Bruchteil einer Sekunde überkam ihm die irrwitzige Hoffnung, sein Bruder wäre gekommen, aber das Gesicht, welches er wahrnahm, war ihm bekannt, aber alles andere als geliebt. Es gehörte Kobayashi.

Sasuke schlug stöhnend nach dessen Hand, die noch immer seinen Kopf malträtierte. Er hörte Kobayashis fies auflachen, bevor dieser ihn endlich losließ.

„Was willst du?“

„Tut der Kopf noch weh?“, kam es scheinheilig von dem älteren Mann, der sich einen Stuhl nahm, und sich damit neben das Bett des Gefangenen setzte.

„Vergeudest du damit nicht deine Zeit?“ Sasuke musterte Kobayashi, der sich nun eine Zigarette anzündete. „Der Alte hat dich bestimmt nicht geschickt. Du würdest dich sonst nämlich anders verhalten. Also, was willst du hier?“

„In der Tat. Dennoch war ich vor wenigen Minuten bei ihm. Ich könnte lügen und sagen, dass er dir herzliche Genesungswünsche schickt.“, entgegnete Kobayashi anmaßend. „Und selbst wenn, hätte ich sie dir bestimmt nicht ausgerichtet.“

Sasuke quittierte diese Aussage mit einem überlegenen Lächeln. „Und genau das ist der Grund, warum du nie mehr warst, und auch nie mehr sein wirst für den Alten.“ Er konnte beobachten, wie sich Wut auf dem Gesicht seines Gegenübers sammelte.

„Pass auf, was du sagst, Sasuke. Oder hast du schon vergessen, in was für einer Lage du dich befindest?“, zischte Kobayashi, der Mühe hatte, nicht die Fäuste sprechen zu lassen.

„Wie könnte ich? Aber die entscheidende Frage ist, ob der Alte wirklich denkt, dass er durch mich an seinen Sohn kommt. Shishi-“

„Ah ah... Wie kommst du bloß auf so etwas? Deine Arroganz ist dir wirklich zu Kopf gestiegen.“ Kobayashi triumphierte innerlich über die für einen Moment erkennbare Verunsicherung des jungen Mannes. „Nicht du bist es, sondern dein Bruder. Glaubst du, der Alte weiß nicht, wie viel du Arakawa bedeutest? Und wie viel dieser Shishido bedeutet, liegt klar auf der Hand.“

Sasuke starrte Kobayashi an, während seine Gedanken zu rasen begannen. Sein Bruder würde niemals wegen ihm Shishidos Seite verlassen. Das käme einem Verrat gleich, auch wenn er sich eingestehen musste, dass ihm dieser Gedanke warm ums Herz werden ließ. Schließlich hatte ihn sein Bruder damals ohne ein Wort zurückgelassen, als dieser sich auf die Suche nach dem verschwundenen Sohn ihres Herrn gemacht hatte. Erfolglos versuchte er diese Gedanken beiseite zu schieben, und richtete erneut das Wort an Kobayashi.

„Ich glaube, ihr setzt euer Vertrauen in die falsche Person. Auf diese Weise werdet ihr Shishido niemals kriegen. Er wird sich nicht von Gefühlen leiten lassen. Und wenn das alles ist, was du mir zu sagen hast, kannst du jetzt ja wieder gehen. Mein Kopf könnte noch ein wenig Ruhe vertragen, und deine Anwesenheit ist da weniger hilfreich.“

„Mein Anliegen hier war zwischen den Zeilen zu lesen, Sasuke.“, meinte Kobayashi selbstgefällig, der sich erhob und auf Sasuke nieder starrte. „Und ich denke, du hast es erfasst. Du bist nicht nur eine Geisel, nein, du bist viel weniger. Du bist Mittel zum Zweck. Namenlos. Ein Nichts.“

Mit diesen Worten verließ Kobayashi den Raum, und ließ einen aufgewühlten Sasuke zurück.
 


 

Arakawa starrte zum hundertsten Male gedankenverloren auf sein Handy, in der falschen Hoffnung, dass sich Sasuke bei ihm melden würde. Er war natürlich nicht wirklich so naiv, zu denken, dass sein ehemaliger Herr seinen Bruder einfach entwischen lassen würde, dennoch ließen ihn Sasukes außergewöhnliche Fähigkeiten daran festhalten. Es würde einiges erleichtern, käme sein Bruder ohne seine Hilfe frei. Aber Arakawa durfte nicht vergessen, wessen Geisel Sasuke war. Sakamoto war als Herr durchaus gerecht gegenüber seinen Gefolgsleuten, wovon er sich in seiner Zeit unter ihm immer wieder selbst hatte überzeugen können. Als Widersacher hingegen sah es schon anders aus. Da er beide Seiten kannte, war die Angst um seinen Bruder berechtigt.

Arakawa hoffte, dass der Plan, den er mit Sasuke vor Ewigkeiten und ohne das Mitwissen seines neuen Herrn für so eine Situation aufgestellt hatte, funktionieren würde. Er war froh darüber, dass er Shishido nicht mit in die Befreiungsaktion hineinziehen musste. Die Gespräche mit ihm ließen außerdem erkennen, dass sein Herr vorerst auch nichts anderes plante. Dafür war er Kagetora beinah dankbar, denn dieser war alles, woran Shishido zurzeit denken konnte. Und die Tatsache, dass die beiden mächtigen Männer hier aufeinandertreffen würden, wo sein Herr Heimvorteil genoss, ließ ihn mit ruhigen Gewissen an seinem Plan festhalten. Ein Hauch Unsicherheit verblieb dennoch, denn Arakawa konnte nicht mit 100-prozentiger Sicherheit sagen, dass sich Sasuke auch an ihre getroffene Abmachung erinnern würde. Viel Zeit war seit dem vergangen, und sie hatten es immer wieder versäumt, erneut darüber zu reden.

Diesen Gedanken verdrängend, steckte Arakawa das Telefon zurück in die Innentasche seines Anzuges, und blickte gespannt die schmale Straße hinab, auf der in wenigen Augenblicken das Auto ihrer Gäste erscheinen sollte. Ihm war berichtet worden, dass sich Kagetora vor 20 Minuten auf ihrem Gelände eingefunden hatte, und sich nun geradewegs auf dem Weg zu ihnen befand.

Arakawa konnte nicht sagen, was er von Kagetora hielt. Dafür hatte er bisher einfach zu wenige Berührungspunkte mit diesem Mann vorzuweisen. Was er aber mit Bestimmtheit wusste, ist, dass er dessen engsten Vertrauten dafür umso mehr hasste. Naoe erneut sehen zu müssen, auch wenn es nur für kurz war, wenn alles so klappte, wie er es geplant hatte, ließen in ihm unweigerlich Mordgelüste aufsteigen.

Dieser Mann hatte eine Seite von Shishido gesehen, die er nicht hätte sehen dürfen. Niemand, außer ihm selbst, sollte Shishido in leidenschaftlicher Ekstase sehen und erleben dürfen. Natürlich wusste Arakawa, dass dieser Gedanke von brennender Eifersucht verursacht wurde. Da half es wenig zu wissen, dass Shishido bisher nur wenigen Menschen solche Nähe erlaubt hatte. Neben ihm selbst gab es lediglich Houjou Ujiteru, der noch immer großen Raum in den Gedanken seines Herrn einnahm. Dieser machte ihm auch weniger zu schaffen, denn er war längst tot. Naoe hingegen lebte, und Arakawa fiel es schwer einzuschätzen, ob die besondere Behandlung, die dieser durch Shishido erfahren hatte, wirklich nur dem Zweck diente, Kagetora zu erzürnen.

Arakawa unterdrückte die aufsteigende Frustration und war über die Ablenkung, ausgelöst durch den Ruf einer seiner Männer, mehr als froh. Er konnte auch sofort den Grund für die Aufregung ausmachen. In weniger als 500 Meter Entfernung kam ein Wagen zum Vorschein, der sich ihnen mit langsamer Geschwindigkeit näherte.

„In Stellung gehen und nichts tun, bevor ich nicht ausdrücklich den Befehl dazu gebe. Wir sollen unsere Gäste unversehrt zu ihrem Gastgeber bringen.“ Die kleine Gruppe um Arakawa setzte sich in Bewegung. Den verborgenen Scharfschützen, die sich links und rechts von ihnen im Wald befanden, signalisierte Arakawa ebenfalls die Statusänderung. Mit wachsender Anspannung sah er dem Auto entgegen.
 

„Und was jetzt?“ Kousakas Frage durchbrach die Stille, die sich seit beinah einer halben Stunden ungehindert im Auto ausbreiten konnte. Er stoppte den Wagen, und sah nach hinten. Takaya blickte an ihm vorbei nach vorn zu der Gruppe wartender Autos, die von acht bewaffneten Personen flankiert wurde. Er murmelte leise eine Beschwörung und schloss die Augen.

„Kagetora?“ Naoes Stimme ließ ihn einen Moment später wieder aufblicken.

„Am Waldrand auf beiden Seiten befinden sich je zwei Scharfschützen. Wohl für alle Fälle. Dass sie mit zwei Autos warten, kann nur bedeuten, dass wir in ihrer Mitte im Konvoi fahren sollen.“ Während Takaya die anderen aufklärte, schnallte er sich ab und ignorierte Naoes fragenden Blick. „Fahr langsam an sie ran, und halt im Abstand von 20 Metern an. Naoe und ich werden wie abgesprochen aussteigen. Ihr beide werdet hier warten. Wenn es nicht so läuft, wie ich mir das hier vorgestellt habe, werden wir euch Rückendeckung geben. Sieh zu, dass du Yuzuru dann so schnell wie möglich zum vereinbarten Platz bringst und dort wartest, bis entweder wir oder Haruie auftauchen. Hast du verstanden?“ Nun sah Takaya Kousaka direkt an.

„Was gibt es daran nicht zu verstehen? Ich soll gleichzeitig Kindermädchen und Chauffeur spielen.“

Yuzuru war im Begriff, seinen Unmut über Kousakas Worte laut kundzutun, als er die Hand seines besten Freundes auf dem Unterarm spürte. Ein Blick auf das dazugehörige Gesicht ließ ihn verstummen.

„Ich sage es nur zu gern noch einmal: Wenn Yuzuru etwas in deiner Obhut zustoßen sollte, werde ich dich finden und ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Ich hoffe, ich habe mich deutlich genug ausgedrückt.“

Kousaka wollte dem Blick ihres Anführers keine Sekunde länger standhalten, und drehte sich wortlos wieder um.

„Ich interpretiere dies als ein Ja. Und nun fahr.“
 

Der Wagen kam ein weiteres Mal zum Stehen und Arakawa beobachtete, wie Bewegung in dessen Inneren entstand. Einen Augenblick später stiegen zwei Personen aus, von denen er die eine sehr gut kannte. Von der anderen nahm er an, dass diese Kagetora sein musste. Er musterte diesen Menschen eingehend und kam nicht umhin festzustellen, dass Shishido mit der zu den Fotos zusätzlichen Beschreibung nicht übertrieben hatte. Vor ihm stand in der Tat ein junger Mann, dessen machtvolle alte Seele ihn beinah ehrfürchtig werden ließ. Er sah Kagetoras Augen golden funkeln, während dieser einige Schritte, dicht gefolgt von Naoe, auf ihn zutrat und dann stehen blieb.

„Kagetora-dono, nehme ich an?“ Arakawa sah, wie sich Naoe bei seinen Worten für einen Moment versteifte. „Wenn es Ihnen recht ist, würden wir Sie und Ihre Gefolgsleute ab hier zum Haupthaus geleiten. Mein Herr erwartet Sie dort bereits.“ Die Anspannung, die in der Luft lag, war bis zum Zerreißen gespannt und Arakawa hatte das Gefühl, dass daran hauptsächlich Kagetoras engster Vertrauter schuld war. Dieser sah ihm mit unverhohlenem Hass entgegen.

„Wir hätten den Weg auch allein gefunden.“, entgegnete Takaya kühl.

„Daran hege ich auch keinen Zweifel. Aber es ist der Wunsch meines Herrn, dem ich nachkommen mö-“

„Dein Herr hat ziemlich ausgefallene Wünsche, wenn ich mich recht erinnere.“, fiel Naoe Arakawa ins Wort, der mit diesen Worten für rote Wangen sorgte.

„Naoe, lass gut sein. Dann sollten wir wohl aufbrechen, um deinen Herrn nicht warten zu lassen, nehme ich an?“

Arakawa drängte die Wut über Naoes Bemerkung zurück und nickte zustimmend. „Wir werden Sie und Ihren Wagen eskortieren. Wenn Sie dies Ihrem Fahrer bitte mitteilen würden.“

„Werde ich.“, sprach Takaya, der sich damit auf den Weg zurück zum Wagen machte. Erst als er bemerkte, dass sich Naoe nicht neben ihm befand, sah er alarmiert zurück. Dieser stand noch an gleicher Stelle und beobachtete mit bitterer Miene, wie Arakawa und dessen Männer wachsam ihre Autos bestiegen.

„Naoe?!“

Als der Angesprochene seinen Namen hörte, drehte er sich schuldbewusst um, und traf auf den fragenden Blick seines Herrn. Er setzte sich umgehend in Bewegung, um aufzuschließen.

„Shishido scheint wirklich an einem Gespräch mit dir interessiert zu sein.“ Naoe sah über das Auto hinweg zu Takaya, der ihn mit einem seltsamen Blick bedachte. „Was?“

„Beim nächsten Aussteigen werden wir Shishido gegenüber stehen. Kann ich mich auf dich verlassen?“

Naoe empfand diese Frage als Schlag ins Gesicht, obwohl er nachvollziehen konnte, warum sein Herr jene stellte. Warum blieb er auch gedankenversunken stehen, und sah dem Gegner hinterher.

„Natürlich. Entschuldige.“, antwortete er zuversichtlicher als er sich fühlte, während er selbst einstieg.
 


 

Shishido blickte zufrieden von seinem Handy auf und verließ einen Augenblick später seine Räume, um seine Gäste an der Eingangstür zu empfangen.

Wahrheiten

Längst hatte sich Dunkelheit über das Anwesen gelegt, als Haruie ihr Motorrad parkte und müde zur Tür schritt. Die Hoffnung, während ihrer Spritztour Neues über den Sakamoto-Clan in Erfahrung bringen zu können, hatte sich schneller zerschlagen, als sie für möglich gehalten hatte.

Während sie in den hell beleuchteten Flur trat, dachte sie an die letzten Stunden zurück.
 

Auf ihrem Weg zu ihrer zweiten Informationsquelle, hatte sie ihren Verfolger zum ersten Mal erblickt – auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt nicht dessen wahre Rolle kannte. Er war in einiger Entfernung aufgetaucht und fuhr, wie sie hatte zugeben müssen, eine hübsche schnelle Sportmaschine, die ihrer in PS um nichts nachstand. Ihr hatte es sofort in den Fingern gejuckt, jene in ein spielerisches Straßenrennen zu verwickeln. Diesen Gedanken aber verdrängend, hatte sie sich stattdessen um ihre eigentliche Aufgabe gekümmert und ihren zweiten Informanten kurze Zeit später mit wenig, aber neuem Wissen über den alten Kriegsfürsten verlassen. Als sie kurz darauf erneut die Maschine im Rückspiegel entdeckte, wusste sie, dass sie nun doch zu ihrem Rennen kommen würde, auch wenn es jetzt unter anderen Vorzeichen stattfinden würde.

Die Verfolgungsjagd zog sich länger hin, als Haruie gehofft hatte. Und das Ende war zudem noch viel aufsehenerregender als gewollt – zumindest für den anderen. Dieser hatte sich zu stark in eine Rechtskurve geneigt, sodass das Hinterrad zu schwimmen begann und anschließend Mensch wie Maschine unkontrolliert über den Asphalt geschlittert waren. Gebremst wurden beide erst durch niedrige Böschung am Straßenrand.

Der sichtlich benommene junge Mann hatte es Haruie bei der anschließenden Befragung nicht leicht gemacht. Immerhin hatte sie herausbekommen können, welchem Clan er angehörte.

Es hatte sie nicht verblüfft, den Namen zu vernehmen, nach dem sie heute schon den ganzen Tag gefragt hatte – Sakamoto. Mehr Informationen über dessen Vorhaben hatte sie leider nicht in Erfahrung bringen können. Das war auch keine Überraschung, denn der junge Gefolgsmann hatte seinen Platz in der untersten Reihe des Sakamoto-Clans, wo keine wichtigen Informationen hingetragen wurden.
 

Haruie seufzte frustriert, als sie den Raum betrat, in dem sie Chiaki vermutete. Sie lag richtig. Ihr Freund stand am anderen Ende am Fenster und telefonierte aufgeregt. Sie lauschte, während sie es sich auf dem Sofa gemütlich machte.

„Verstanden. Dennoch glaube ich noch immer, dass es keine gute Idee ist, Naoe. … Hm. … Hm. … Geht klar. … Ja, sie ist gerade reingekommen. Soll ich sie dir geben? … Okay. Ich melde mich dann wie vereinbart. … Ja, ihr auch. Bis dann.“

„Wieso wollte er mich nicht sprechen?“ Haruie warf Chiaki, der ihr gegenüber Platz genommen hatte, aus ihrer liegenden Position einen anklagenden Blick zu.

„Warum wohl!?! Er steht mehr auf meine sexy Stimme, als auf dein röhrendes Auspuffrohr.“

„Wie charmant! Aber jetzt mal ernsthaft, wie geht es ihnen?“

Chiaki stand wieder auf. „Soweit wohl gut.“ Er schritt zum Schreibtisch, um seine Aufzeichnungen zu holen, die er anschließend Haruie reichte. „Sie treffen sich in wenigen Minuten mit Shishido, daher wollte er es kurz halten. Sie sind ohne Schwierigkeiten angekommen, was Kagetoras Annahme bestätigte, dass Shishido sie erwarten würde.“

„Hm. Und wie geht es jetzt weiter?“, fragte Haruie, die sich aufsetzte und die Zettel aus der Hand legte. „Ich meine, das, was ich hier lese plus das, was ich heute erfahren habe, lässt alles noch rätselhafter erscheinen.“

„Was hast du herausgefunden?“ Chiaki griff nach den Blättern, um Haruies neue Informationen hinzufügen zu können.

„Eine Bestätigung dessen, was wir schon vermutet hatten. Ich habe mal ein wenig wegen diesem Scharfschützen nachgeforscht. Wie es aussieht, habe ich dabei die Verbindung zu Shishido entdeckt“, eröffnete Haruie überlegen grinsend. Chiaki gab nur ein Brummen von sich. „Sein Name ist Arakawa Sasuke. Zusammen mit seinem Bruder, Arakawa Kaito, ist er im Sakamoto-Clan aufgewachsen. Dort haben beide eine ordentliche Karriere hingelegt. Sie hatten früh ihr eigenes Operationsteam unter sich. Kaito als erster und Sasuke als zweiter Befehlshaber.“

„Sie haben also zusammen gearbeitet?“, warf Chiaki fragend dazwischen.

„Sieht so aus. Sie hatten ein sehr inniges Verhältnis.“

„Hatten?“

Haruie blickte strafend zu Chiaki. „Unterbrich mich nicht ständig!“

Entschuldigend hob der Angesprochene die Hand. „Tut mir leid. Mach bitte weiter.“

„Wenn es stimmt, was meine Quelle mir berichtete, dann hat Kaito vor längerer Zeit völlig überraschend den Clan und seinen Bruder zurückgelassen. Niemand hatte etwas gewusst oder geahnt. Und inzwischen wissen wir ja, wo er sich befindet. Ich frage mich, ob es nicht vielleicht ein Geheimauftrag des Kriegsfürsten selbst ist. Könnte ja sein, dass dieser Kaito mit dem Befehl, den verlorenen Sohn zu suchen und auszuspionieren, ziehen lassen hat.“

„Hm… Durchaus eine Möglichkeit. Aber irgendwie glaube ich eher, dass Kaito Shishido ergeben ist, und Sasuke ebenfalls für den neuen Herrn seines Bruders arbeitet. Das könnte den Anschlag auf Kagetora und Yuzuru erklären“, entgegnete Chiaki nachdenklich.

„Schon, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass Sasuke komplett auf eigene Faust hätte handeln können. Sakamoto muss da ebenfalls seine Finger im Spiel haben. Vielleicht begehrt er, wie viele weitere Kriegsfürsten auch, Yuzurus geheimnisvolle Macht“, gab Haruie zu bedenken.

„Schon klar, aber wenn Sasuke im Auftrag Sakamotos den Anschlag verübt haben soll, dann widerspricht das deiner Annahme, dass er an Yuzuru interessiert wäre. Tod nützt dieser ihm schließlich nicht viel. Außer er weiß mehr über Yuzuru als wir.“ Chiaki legte den Stift aus der Hand und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Außerdem könnte die Abwesenheit Sasukes erklären, dass dieser als Shishidos Spion aufgeflogen ist. Vielleicht geht aber auch etwas ganz anderes vor sich, wovon wir noch nichts wissen.“

„Halten wir also fest: Sasuke scheint die Verbindung zwischen Shishido und dessen Vater zu sein. Für wen von den beiden er wirklich arbeitet, ist nicht ganz geklärt, obwohl vieles für den Sohn spricht, nicht zuletzt wegen Kaito. Yuzuru scheint für Sakamoto wichtig zu sein. Shishido hat es auf Kagetora abgesehen. Und Kagetora erhofft sich Informationen über Sakamoto bezüglich Yuzuru zu erhalten. Habe ich etwas vergessen?“ Haruie blickte fragend zu Chiaki. Dieser runzelte die Stirn.

„Nein. So sieht wohl derzeit unsere dürftige Informationslage aus. Wir sollten uns also nicht im Spekulieren verlieren, sondern mehr beschaffen. Außerdem verursacht mir Kousaka weiterhin Kopfzerbrechen“, entgegnete Chiaki beunruhigt. „Wir kennen ihn zwar nur als Ein-Mann-Team, aber irgendwas sagt mir, dass wir hier etwas übersehen.“ Er bekam ein zustimmendes Nicken.

„Es würde mich nicht wundern, wenn Kousaka hinter all dem Stecken würde. Na ja, zumindest was den Kriegsfürsten angeht“, pflichtete Haruie ihm bei. „Vielleicht hat er diesen ja mit Informationen Yuzuru betreffend versorgt, natürlich mit einer entsprechenden Gegenleistung. Wobei es mir schwer fällt zu glauben, dass der sich mit einem Kriegsfürsten anlegen würde.“

„So abwegig ist das gar nicht“, meinte Chiaki, der eifrig nach dem Stift griff, um die neue Mutmaßung festzuhalten. „Die interessante Frage hierbei wäre ja, was er als Gegenleistung bekommen hat und, ob er noch immer in Kontakt steht. Wenn ja, dann weiß Sakamoto, wo sich die anderen gerade befinden.“

„Ich glaube, Kagetora hat solch eine Vermutung bestimmt auch auf dem Schirm, und wird Yuzuru nicht aus den Augen lassen. Er wollte ihn schließlich bei sich haben.“ Um ihren Worten mehr Gelassenheit zu verleihen, streckte sich die Frau erneut auf dem Sofa aus und schloss die Augen. „Yuzuru befindet sich derzeit am sichersten Platz, und der ist an Kagetoras Seite. Ihnen wird schon nichts passieren und wir werden für eine ordentliche Rückendeckung sorgen.“

„Nichts leichter als das“, witzelte Chiaki, „wenn ich bedenke, wie oft Kagetora alles allein geregelt hat, und wir praktisch nutzlos waren.“ Er stand auf. „Ich werde mal eben etwas überprüfen gehen. Ich würde sagen, falls du auch noch mal los willst, treffen wir uns hier in zwei Stunden wieder. Naoe werde ich von unterwegs aus kontaktieren. Melde dich bei mir, wenn irgendwas Wichtiges aufkommt. Hörst du?“ Damit verließ er den Raum, ohne auf Haruies Antwort zu warten.

„Aye-aye, Sir!“, brummte die Zurückgelassene ungehört. „Ich bewege mich vorerst keinen Zentimeter mehr.“ Gähnend drehte sie der Tür den Rücken zu. „Na ja, höchstens auf der Couch.“
 


 

Umgeben vom Dämmerlicht stand Shishido wartend am Eingang des Haupthauses und blickte ungeduldig auf die einzige Straße hinab, die hier herauf führte. Beinah vollkommene Stille umgab ihn. Lediglich das vertraute Rauschen der Brandung war zu hören. Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Es schien, als konnte er die herannahende Macht förmlich auf ihnen schmecken. Und damit meinte er nicht das Salz des Meeres, dessen Anwesenheit sich durch die unbändige Kraft der Flut an den Klippen bemerkbar machte. Er schloss die Augen.
 

Für die Männer, die unsichtbar um ihn herum Aufstellung genommen hatten, war seine Erregung nicht zu erkennen. Aber jenen, denen er gestattete, ihm ganz nah sein zu dürfen, die mehr als nur Befehle ausführen mussten, dürfte es nicht schwer fallen, sein Innerstes zu lesen. Die Anzahl dieser privilegierten Personen war an weniger als einer Hand abzuzählen. Natürlich gehörte Arakawa dazu, der gerade damit beschäftigt war, die sehnsüchtig erwarteten Gäste zu ihm zu eskortieren. Aber es gab auch Personen, die nicht mehr unter den Lebenden weilten und denen er sich geöffnet hatte.

„Houjou...“

Der Klang des Namens ließ Shishidos Herz schneller schlagen. Der Gedanke an den Verstorbenen, seinen Freund, seinen Geliebten entfaltete noch immer seinen Zauber über ihn, auch wenn er nun schon seit längerem fort war.

Die Bekanntschaft mit diesem außergewöhnlichen Mann hatte ihn gerettet. Vieles, was ihm in und durch sein Elternhaus verwehrt gewesen war, hatte er durch Houjou erfahren dürfen. Er konnte sich noch ganz genau an ihren ersten zaghaften Kuss erinnern, der von Schuld, Begierde und nicht zuletzt Liebe getrieben war. Das Leben an der Seite des kaum älteren Mannes war ihm wie ein Traum erschienen, der die Zeit zum Stillstand gebracht hatte. Umso mehr traf ihn die Ermordung, die plötzlich alles veränderte, und ihn erneut in die längst zurückgelassene Einsamkeit katapultierte.

Shishido wusste, dass selbst, wenn er Rache genommen hatte, es nicht mehr wie vorher sein würde – er nicht mehr zu seinem früheren Selbst zurück konnte, das bedingungslos mit Liebe überschüttet wurde und diese selbst furchtlos verschenkte. Houjou war seine einzige Vergangenheit, die er billigte und der er bereitwillig Raum in seiner Seele ließ. Die Zeit davor zählte nicht. Und die Zukunft stimmte ihn unsicher, auch wenn er mit Arakawa an seiner Seite etwas Zuversicht verspürte.

Es war nicht schwer gewesen, den Mann ausfindig zu machen, der für Houjous Tod verantwortlich war. Zu erfahren, dass dessen eigener Bruder der Mörder war, hatte seine Wut ins Unermessliche steigen lassen. Erinnerte ihn das doch an die eigenen Erlebnisse innerhalb seines Familienclans, dem er den Rücken gekehrt hatte.

Er war sich fast sicher, dass Houjou sein Vorhaben nicht billigen würde, denn zu sehr war dessen Person durch und durch mit der Achtung vor dem Leben erfüllt. Dennoch konnte Shishido keine Ruhe bei dem Gedanken finden, dass der Mann, den er einst liebte, nicht mehr lebte, und niemand etwas gegen diese Ungerechtigkeit unternahm.

Houjou hatte ihm nie viel über seine Familie erzählt, was letztendlich auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie beide hatten sich dafür entschieden, unabhängig und frei von ihren Familien, ihrem Clan zu leben. Die Gründe und der Zeitpunkt dafür mögen unterschiedlich gewesen sein, dennoch brachten diese unausgesprochenen Geheimnisse sie einander näher.

Trotz ihres wundervollen Zusammenlebens, scheinbar frei vom Schatten ihrer beider Vergangenheiten, war ihm nicht verborgen geblieben, dass sein Geliebter von Angelegenheiten des Clans behelligt wurde, die diesem zunehmend große Sorgen bereiteten. Shishido musste hilflos mit ansehen, wie sich Houjou immer mehr verschloss und eines Tages einfach verschwand.

Die Todesnachricht hatte ihn kurze Zeit später erreicht. Überbracht wurde sie von einem Familienmitglied, das seinen Unmut über diese undankbare Aufgabe nicht verborgen hielt. Shishido erfuhr zudem, dass Houjou ihm all seinen Besitz vermacht hatte, dazu gehörte auch dieses Anwesen an den Klippen in Wajima. Erst hatte er vorgehabt, das Erbe auszuschlagen, aber er entschied sich zuletzt dafür.

Vielleicht war das der Moment, wo er zum ersten Mal seit dem Verlassen des Clans wieder zerstörerische Gedanken hegte. Shishido wollte der Familie, die offensichtlich nicht in der Lage gewesen war, Houjou zu beschützen, nichts überlassen. Er verabscheute den Gedanken, ihnen auch nur einen winzigen Teil anvertrauen zu müssen. Er hasste sie für ihre Vergangenheit mit Houjou, die er nicht kannte. Er hasste sich dafür, dass er nicht in der Lage gewesen war, seinen Geliebten zu beschützen. Er hasste Uesugi Kagetora, der ihm Houjou Ujiteru genommen hatte. Und in wenigen Minuten würde er diesem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten können.
 

Shishido öffnete seine Augen und leerte gleichzeitig seinen Geist. Er durfte nicht zulassen, dass ihn die Gedanken an Houjou unaufmerksam werden ließen. Dies konnte er sich nicht leisten – nicht gegen den außergewöhnlich starken Anführer von Uesugi Kenshins auserwählter Armee der Unterwelt, deren Aufgabe es war, die nicht ruhenden Seelen der rachsüchtigen Kriegsfürsten des alten Japans zur Strecke zu bringen.

Als die ersten Lichtkegel auf der Straße auftauchten, wandte er sich rasch mit den vereinbarten Zeichen an seine Männer, und trat anschließend auf den Vorplatz ins Freie.
 


 

Kagetora beobachtete spannungsgeladen den Weg vor ihnen. Die Bäume, die seit einiger Zeit ihre ständigen Begleiter gewesen waren, wichen plötzlich zurück. Sie gaben den Blick frei auf eine kleine Ansammlung von Gebäuden, die kaum in der zunehmenden Dunkelheit auszumachen wären, wenn nicht der warme Lichtschein hinter einigen Fenstern sie verraten würden. Das weitläufige Areal vor ihnen war dem Anschein nach nahezu verlassen. Nur in der Nähe des Eingangs zum größten Haus stand eine Person, die zu ihnen sah – scheinbar einzig und allein in seine Richtung blickte, wie Kagetora empfand.

Auch wenn die Dämmerung es nicht mehr erlaubte, Details zu erkennen, so wusste Kagetora doch, dass diese Person Shishido war. Ihr Gastgeber. Der Mensch, der Minakos Schwester dazu benutzt hatte, um Naoe als Geisel nehmen zu können. Der, der seinen engsten Vertrauten auf grausame Weise verstümmelt und misshandelt hatte, nur mit dem Ziel, seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen – was diesem auch geglückt war.

Kagetora hatte Mühe seinen anschwellenden Zorn zu zügeln. Er riss sich zusammen und schob das Vergangene in die hinterste Ecke seines Geistes, und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.
 

„Da wären wir also“, Kousakas Stimme durchbrach die Stille im Auto, „und der Empfang steht auch schon bereit.“ Er folgte langsam dem vorderen Wagen ihrer Eskorte, der in einer lang gezogenen Kurve vor der wartenden Person zum Stehen kam. Er hielt im kleinen Abstand dahinter an, und schaltete ebenfalls den Motor aus.

Kousaka und seine weiteren Insassen verfolgten aufmerksam, wie Arakawa den Wagen vor ihnen verließ und auf Shishido zutrat. Es folgte eine kurze Unterhaltung der beiden, die sie nicht verstehen konnten, ehe sie sich ihnen zuwandten.
 

Kagetora fiel es schwer, sich vom Anblick Shishidos loszureißen. Der Mann tat nichts weiter, als dort zu stehen und zu warten, aber die machtvolle Aura, die jenen umgab, war schier monströs. Es erinnerte ihn an ihr kurzes Kräftemessen, als er den Ring der Versiegelung zerstörte, der seine Verbindung zu Naoe blockiert hatte. Zu jenem Zeitpunkt war sein Gegenüber durch Naoes verursachten Unfall geschwächt, dennoch war das eine beeindruckende Erfahrung gewesen.

„Nun denn. Ich sollte wohl anfangen, damit wir den Gastgeber nicht zu lang warten lassen müssen.“ Kagetora warf einen kurzen Blick auf Naoe, der ihm mit einem Nicken zu verstehen gab, das er bereit war.

Wenige Sekunden später war der Wagen erfüllt vom monotonen Klang der Stimmen Kagetoras und Naoes. Das Mantra, welches sie hochkonzentriert immer wieder aufsagten, sorgte dafür, dass sich ihre Körper, ihre Worte und ihre Seelen reinigten, um die anschließend schwierige Anrufung der Gohou Douji zu meistern.

Yuzuru sah fasziniert zu seinem Schulfreund rüber, der von flimmernder Luft umgeben war, die pulsierend in blau-silbernen Tönen aufleuchtete. Es war ein atemberaubender Anblick.

„…on sowahanba shuda sarabatarama sowahanba shudokan.”

Yuzuru konnte die Veränderung förmlich spüren, als Kagetora plötzlich die Augen öffnete. Golden sahen diese zu Naoe, der augenblicklich schwieg. Das Mantra verstummte. Stattdessen flüsterte Kagetora eindringlich neue Worte, die von einem außerhalb des Wagens rötlich-goldenen Schimmer begleitet wurden. Yuzuru sah suchend nach draußen und entdeckte, in einem großen Halbkreis um die drei parkenden Autos herum, zwölf kleine Gestalten, die Kindern im Alter von neun oder zehn Jahren entsprachen – nur waren es keine. Yuzuru blickte auf spirituelle Wesen, die Helfer des Himmelskönig Bishamonten, dem Beschützer des Nordens, wie Kagetora ihm später erklärte. Ihre Haut war golden und ihre Haare flammend rot. Jedes einzelne trug 1000 Schwerter und stand auf einer magischen Scheibe, die über dem Boden schwebte. Ihr nach Norden gerichteter Blick bewegte sich langsam gen Osten und stoppte, als er auf Shishidos Person traf. „Oh wow…“, flüsterte Yuzuru ehrfürchtig, der wieder zu Kagetora sah. Dessen Blick war ebenfalls auf Shishido gerichtet, der keinerlei Anzeichen der Überraschung zeigte.
 

„Schönes Schauspiel“, meinte Kousaka spöttisch in Richtung des Verursachers. „Die Frage ist nur, wie lange du sie an dich binden kannst. Ich meine, wir werden schließlich nicht einige Minuten hier verbringen, sondern womöglich die ganze Nacht.“

„Lass das meine Sorge sein“, schoss Kagetoras Macht durchwobene Stimme zurück, die den Fahrer für einen Moment erblassen ließ. „Sieh du lieber zu, dass du dich an das hältst, was wir besprochen haben.“

Kousaka sparte sich eine Antwort darauf und verließ als erster den Wagen.
 


 

Arakawa musterte die vier Männer, die reglos vor ihm und seinem Herrn standen. Sein neugieriger Blick blieb an Naoe hängen, der sich schräg hinter Kagetora befand und dessen Miene unverhohlene Wut zeigte. Dieser hielt die Augen starr auf Shishido gerichtet. Einen halben Meter hinter Kagetora konnte er Yuzuru erkennen, der nervös auf seiner Unterlippe kaute und an dessen Seite Kousaka stand, der arrogant in seine Richtung blickte. Im Rücken der Männer konnte er die herbeigerufenen Helfer erkennen, die sich keinen Zentimeter seit ihrem Erscheinen bewegt hatten, und die Luft um sie herum in rötlich-goldene Farben tauchten. Ihr Dasein hatte Arakawa für einen Moment beunruhigt, aber Shishido versicherte, dass sie nichts zu befürchten hatten. Er habe mit so etwas gerechnet, denn schließlich hatten sich die vier Männer ohne erkennbare Verstärkung hierher begeben.

„Herzlich Willkommen auf meinem bescheidenen Anwesen, Kagetora. Ich freue mich, dich endlich zu treffen.“ Shishidos wohlklingende Stimme brach die Stille, und ließ Arakawa aufblicken. Sein Herr stand erhobenen Hauptes neben ihm und fixierte Kagetora, der seinerseits den Blick unumwunden erwiderte. Es schien, als würden sie eine lautlose Unterhaltung miteinander führen, an der niemand anderer teilhaben durfte.

Erneut musste Arakawa feststellen, dass der Widersacher seines Herrn eine höchst eindrucksvolle Person war. Und dies empfand er nicht nur wegen der erstaunlichen Gegenwart der Gohou Douji. Die golden aufblitzenden Augen des jungen Mannes vor ihm waren Atem raubend. Kagetoras erhabene Gestalt hob sich deutlich von denen seiner Mitstreiter ab. Es schien, als wollte er sie geradezu beherrschen, aber Arakawa wusste es besser. Schließlich diente er einer ebenso einflussreichen Person und konnte daher den feinen Unterschied erkennen, der zwischen ‚Beherrschen, um zu dominieren’ und ‚Beherrschen, um zu schützen’ bestand.

„Ich hoffe, es macht keine Umstände, dass wir ohne Einladung aufgetaucht sind“, entgegnete Kagetora nonchalant, um zu signalisieren, dass er sich auf das Spiel ihres Gastgebers vorerst einließ.

„Aber nicht doch. Ich habe so selten Gäste hier oben, dass es mich besonders freut, so ehrwürdige Personen begrüßen zu dürfen.“ Shishido nickte sichtbar in Richtung der Gohou Douji. „Ich hoffe doch, sie wissen sich zu benehmen?“

„Pass auf was du-“

„Schweig.“ Kagetoras laute Stimme ließ Naoe augenblicklich verstummen. „Ihr Benehmen sollte deine geringste Sorge sein. Vielleicht sollten wir unser Geplänkel doch lieber abkürzen und zum Punkt kommen, Shishido.“

„In der Tat, vielleicht sollten wir das, aber“, stimmte der Angesprochen zu, der sich kurz an Arakawa wandte, um jenen wortlos ins Haupthaus vorauszuschicken, „wir sollten das an einem anderen Ort tun. Wie wäre es, wenn wir gemeinsam ein Abendessen einnehmen, und anschließend zum ungemütlichen Teil übergehen. Natürlich nicht in dieser großen Runde, versteht sich.“ Shishido ließ zum ersten Mal seinen Blick von Kagetora zu einer anderen Person wandern. Mit einem vielsagenden Lächeln nickte er Naoe zu. „Dich will ich natürlich dabei haben.“

Kagetora sah alarmiert zu Naoe. Er hoffte, dass sein engster Vertrauter in der Lage war, mit der schwierigen Situation umzugehen. Die Anspannung, die schwer in der Luft lag, reizte sie alle, aber mehr noch Naoe, wie er vermutete. Dessen Nerven schienen in der Tat nahezu blank zu liegen. Kagetora befürchtete, dass es nicht mehr vieler Worte seitens Shishido bedarf, bis Naoes Selbstbeherrschung kapitulierte.

Das Aufeinandertreffen der beiden war unvermeidlich. Natürlich hätte sich Kagetora gegen die Anwesenheit Naoes bei dieser Angelegenheit entscheiden können, aber das war ihm nicht möglich gewesen. Er brauchte den besten Mann an seiner Seite. Dennoch wurden die Zweifel in ihm immer lauter. Naoe hatte über das Erlebte bisher mit niemandem gesprochen und Kagetora befürchtete, dass er es vielleicht auch nie tun würde.

Er dachte an Chiaki, der ihn vor ihrer Abfahrt in einer ruhigen Minute zur Seite genommen hatte, um die relevante Möglichkeit eines Zusammenbruchs anzusprechen. Die mahnenden Worte kamen ihm wieder in den Sinn und er war versucht, sie alle ins Auto zu scheuchen, um den Ort schnellstens verlassen zu können – aber der Zeitpunkt dafür war längst verstrichen, wie er wusste. Kagetora musste auf Naoe vertrauen. Eine andere Wahl gab es nicht. Er klammerte sich hoffnungsvoll an die Worte, mit denen Naoe ihm versichert hatte, dass er mit keinerlei Schwierigkeiten von seiner Seite rechnen musste – und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Er suchte in Naoes Gesicht nach Anzeichen für einen bevorstehenden, unkontrollierten Ausbruch, aber er fand keine. Sein Herzschlag beruhigte sich etwas. Dennoch, als sich ihre Blicke trafen, konnte Kagetora den Kampf sehen, den dieser ausfochte. Es gab nichts, was er hätte tun können, um Naoe den Schmerz zu nehmen. Das einzige, was ihnen allen etwas Luft zum Atmen verschaffen würde, wäre, Shishido von seinem hohen Ross zu stoßen, damit dessen selbstgefällige Art an Schärfe verlor. Und diese Möglichkeit oblag ihm, wie Kagetora sehr wohl wusste. Er nickte zuversichtlich in Richtung des älteren Mannes, und wandte sich anschließend ihrem Gastgeber zu. Bevor er jedoch wieder das Wort ergreifen konnte, hallte Kousakas vergnügte Stimme über den Platz.

„Gegen einen reichlich gedeckten Tisch hätte ich nichts einzuwenden!“

So sehr Kagetora Kousaka auch verabscheute, für diese Worte dankte er ihm. „Ich denke, es spricht wohl nichts dagegen, sofern es keine unerwarteten Nebenwirkungen hat“, betonte der Anführer der kleinen Gruppe, und fixierte Shishido mit warnendem Blick. Dieser ließ seine Augen kurz zu Kousaka wandern, bevor er sich wieder an Kagetora wandte.

„Sollte ich das als Beleidigung auffassen?“ Shishido wartete einen Moment, aber es erfolgte keine Antwort. Die golden schimmernden Augen starrten ihn wortlos an. „Nun, solch ein Vorgehen mag in anderen Clans durchaus eine Option sein“, erklärte er‚ „aber ich versichere, bei mir gehören solch barbarische Manieren nicht zum Repertoire.“

„Ich würde es nicht Beleidigung nennen, sondern reine Vorsichtsmaßname“, Kagetora konnte sehen, dass Arakawa zurückkam, „schließlich gibt es für uns keinen Grund dir zu vertrauen.“

„Hm… Wohl wahr. Aber würde ich zu solchen Mitteln greifen, müsste ich womöglich eine lange Zeit darauf warten, bis ich euch erneut gegenüberstehen könnte. Wäre also reine Zeitverschwendung. Wobei ich zugeben muss, dass es mir bezüglich Kousaka und Yuzuru egal wäre.“

Yuzuru schluckte hart und trat einen Schritt auf seinen besten Freund zu. Über dessen Schulter hinweg blickte er nervös zu Shishido, der ihn beinah entschuldigend anlächelte.

Er war überrascht zu sehen, dass ihr Gastgeber kaum älter war als Naoe. Das schwarze Haar lang zu einem Zopf gebunden, gekleidet in feiner schwarzer Hose sowie grauem T-Shirt, eine ebenfalls schwarze Weste darüber, sah Shishido aus, als wäre er einem Modemagazin entstiegen. Aber Yuzuru ließ sich von der äußerst attraktiven Hülle nicht blenden. In den wenigen Minuten, die er bisher in dessen Gegenwart verbringen musste, war er zu der Erkenntnis gekommen, dass er Shishido nicht sehr mochte.

Eigentlich gehörte Yuzuru nicht zu den Menschen, die einen anderen aufgrund des ersten Eindrucks beurteilten, aber sein Gefühl sagte ihm, dass dieser Mann zu grausamen Dingen fähig war. Wenn Shishido etwas mit Naoes Verschwinden zu tun gehabt haben soll, dann wollte er lieber nicht wissen, was da vor sich gegangen war. Auf der anderen Seite würde dieses Wissen ihm jedoch helfen, Naoe und eben auch Shishidos Verhalten zu verstehen – schließlich gab es für alles einen Grund.

Yuzuru sah verstohlen zu Naoe. Die Anspannung des älteren Mannes war nicht zu übersehen. Die Augen fest auf Kagetora gerichtet, schien es, als nutzte er diesen als Quell der Entspannung. Ob es half, ließ sich schwer abschätzen, aber es hatte zumindest nicht den Anschein, als würde Naoe jeden Moment die Fassung verlieren. Takayas drohende Stimme riß ihn aus den Gedanken.

„Ich glaube, ich brauche nicht zu erwähnen, dass ein weiterer Versuch, Hand an meine Freunde zu legen, unschön enden würde.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ließ er die Gohou Douji einen Meter näher heranschweben. „Vergeltung ist nicht der Grund, warum ich hier bin. Es sind Fragen, die ich habe und Antworten, die ich suche. Natürlich bin ich nicht mit leeren Händen gekommen. Die Erklärung der Umstände um Houjou Ujiterus Tod sollten da wohl ausreichend sein“, sprach Kagetora, der zum ersten Mal eine deutliche Regung bei ihrem Gastgeber wahrnehmen konnte. Dieser trat unerwartet einen Schritt zurück, und wäre dabei mit Arakawa zusammengestoßen, wenn dieser nicht geistesgegenwärtig zur Seite gesprungen wäre. Shishidos Gesicht zeigte unverhohlenen Hass, aber noch etwas anderes, was Kagetora überraschte. Er konnte tiefen Schmerz erkennen, der dem seinen ähnlich war, wenn er an Ujiteru dachte.

„Shishido-sama?“ Nervös trat Arakawa wieder näher. Es beunruhigte ihn zu sehen, dass sein sonst so gelassener Herr solch eine Reaktion zeigte. Vorwurfsvoll wanderte sein Blick zu Kagetora, der ebenfalls überrascht schien. „Die Vorbereitungen sind getroffen, Shishido-sama“, berichtete er leise und hoffte, dass der geplante Ortswechsel seinem Herrn die verlorene Ruhe zurückgab. Shishido bedachte ihn kurz mit eiserner Miene, ehe er einen Blick auf die Gohou Douji warf, die wieder unbeweglich auf der Stelle verharrten.

„Ich fürchte, deine rothaarigen Freunde werden das Haus nicht betreten können.“

„Davon ging ich auch nicht aus. Sie werden hier draußen warten“, entgegnete Kagetora.

„Nun denn“, Shishido schien seine abgeklärte Art wiedergefunden zu haben, „dann folgt mir.“ Ohne ein weiteres Wort wandte er gelassen allen den Rücken zu, und trat durch den Eingang zum Haupthaus. Wenige Sekunden später setzte sich die Gruppe um Kagetora in Bewegung, während Arakawa die Nachhut bildete. Dieser warf einen letzten Blick auf die Gohou Douji, die ihnen mit den Blicken zu folgen schienen.

Unerwartetes

Der spärlich beleuchtete fensterlose Gang endete mit einer breiten Holztür. Durch diese führte Shishido seine Gäste in einen großen hell erleuchteten Raum. In dessen Mitte stand eine einladend gedeckte Holztafel, die Arakawa bereits angekündigt hatte. Im Hintergrund befand sich ein Panoramafenster mit Blick auf das Meer, das sich über die komplette Längsseite des Raumes zog.

Gelassen trat der Gastgeber an den Esstisch und sah abwartend zur Tür, an der sich die kleine Gruppe um Kagetora versammelt hatte. Argwöhnisch inspizierten die Neulinge den Raum. Shishido konnte ihre Anspannung förmlich schmecken. Er hatte Mühe, seine Euphorie über das lang herbeigesehnte Treffen mit Kagetora zu beherrschen. Arrogant ließ er seinen Blick über die vier Männer schweifen, um am Ende auf dem Anführer zur Ruhe zu kommen, der ihn mit ebenbürtigem Interesse fixierte.

„Keine Falltüren. Kein verborgener Attentäter. Kein vergiftetes Essen. Wenn ihr also eure Plätze einnehmen wollt?“ Shishido setzte sich an die Mitte des Tisches. „Freie Auswahl, wie ihr seht.“ Lässig gestikulierte er über die verbleibenden Stühle und wartete darauf, dass sie seiner Einladung folgten. Arakawa, der als letztes den Raum betreten hatte, schloss die Tür hinter ihnen und schritt an die Seite seines Herrn. Kagetora folgte dem Beispiel, und steuerte den Platz direkt gegenüber ihrem Gastgeber an. Er wollte auf keinen Fall, dass Yuzuru oder Naoe hier sitzen mussten.

„Nette Aussicht.“ Mit belanglosem Nicken in Richtung des Fensters nahm Kagetora als erster der kleinen Gruppe am Tisch Platz. Zu seinem Erstaunen leistete ihm nicht Naoe Gesellschaft, sondern Kousaka, der seiner Irritation mit der bekannten Arroganz begegnete. Er ignorierte ihn und sah neugierig zu dem älteren Mann rüber, der am Kopfende gegenüber Yuzuru Platz genommen hatte. Naoes Körperspannung war nicht zu übersehen, aber er schien sich im Griff zu haben.

Letztlich spielte es für ihre Sicherheit keine Rolle, wo Naoe saß. Außer Kousaka war im Bunde mit Shishido, was jenen bei dieser Sitzordnung einen klaren Vorteil verschaffen würde. Kagetora erwiderte Naoes wissenden Blick, und schloss konzentriert die Augen. Die Stille des Raumes wurde für einen kurzen Augenblick durch eine leise Beschwörung unterbrochen, um dann durch die erstaunten Ausrufe einiger Anwesender völlig zu verschwinden. Das rötlich-goldene Licht der Gohou Douji drang unerwartet durch das große Fenster. Drei der zwölf Wächter hatten draußen Stellung bezogen.

Zufrieden über seine Arbeit und dem Wissen, in dieser Situation nun nicht mehr völlig im Nachteil zu sein, richtete Kagetora seine Aufmerksamkeit wieder auf Shishido. Dieser sah ihm tadelnd entgegen.

„Fühlst du dich jetzt besser?“

„Auf jeden Fall fühle ich mich jetzt nicht mehr völlig entblößt durch diese nahezu sterile Beleuchtung“, antwortete Kagetora, der sich entspannt zurücklehnte.

„Du hättest nur etwas sagen brauchen. Ich wäre deinem Wunsch nach Kuschelatmosphäre ohne weiteres nachgekommen.“ Belustigt sah Shishido zu Naoe rüber, der scheinbar ungerührt auf seinem Stuhl saß, und dem herausfordernden Blick keinerlei Beachtung schenkte. Lediglich die Blässe im Gesicht ließ darauf schließen, dass Shishidos Worte schmerzhafte Erinnerungen wachgerufen hatten.

„Wir könnten dieses Treffen auch in das Badehaus verlegen. Groß genug wäre es“, provozierte der Gastgeber weiter. Mehrere zogen scharf die Luft ein. Darunter auch Arakawa, der seinen Herrn entgeistert anstarrte. Kousakas wütender Blick wanderte beunruhigt zu Naoe, der nun sichtlich Schwierigkeiten hatte, die mühsam aufgesetzte Maske der Gleichgültigkeit aufrechtzuerhalten. Er konnte unverhohlenen Hass hervorblitzen sehen und war froh, dass dieser nicht gegen ihn gerichtet war. Und noch weitaus erleichterter war er, nicht in den Schuhen des Gastgebers zu stecken, denn Kagetora neben ihm pulsierte förmlich vor Wut. Seine anwachsende Aura der Macht prickelte unangenehm auf der Haut, und ließ ihn unbewusst wegrutschen.

Wenn die Situation jetzt aus dem Ruder laufen würde, schien es fast unvermeidlich, dass Shishido als Unterlegener hervorgehen würde. Aber Kousaka war nicht so naiv zu denken, dass das ohne Verluste auf ihrer Seite passieren würde. Denn ihr Gastgeben besaß Fähigkeiten, die ihren um nichts nachstanden, auch wenn er sich noch nicht persönlich davon hatte überzeugen können.

„Wenn du nicht möchtest, dass wir auf der Stelle gehen, solltest du deine Äußerungen sorgfältiger wählen.“ Kagetoras Drohung hallte von den Wänden wider und ließ alle zusammenzucken. „Wir sind nicht hier, um vergangene Ereignisse aufzuarbeiten, oder zu wiederholen“, fuhr der Anführer im eisigen Tonfall fort. „Ich will Antworten, aber auf andere Fragen.“

Shishido starrte zornig auf den jungen Mann, der eindeutig als Sieger aus diesem ersten kleinen Machtkampf hervorging. Vorerst. Innerlich mahnte er sich zu Geduld. Kagetora würde früher oder später die Beherrschung verlieren und unachtsam werden. Dem wollte er mit Hochgefühl entgegensehen.

„Es wäre in der Tat sehr schade, wenn ihr unverrichteter Dinge wieder gehen würdet.“ Besänftigt griff Shishido nach seinem Glas und ließ Arakawa mit einem Nicken wissen, dass er sich um ihre Getränke kümmern sollte. „Wo sind nur meine guten Manieren geblieben?“ Mit einem falschen Lächeln nahm er einen Schluck Wein. „Dann sollten wir wohl jetzt lieber eine der Situation angemessene Unterhaltung führen, um später unter vier Augen die Angelegenheit zu klären.“ Gelassen erwiderte Shishido die offen feindseligen Blicken.

„Nichts anderes hatte ich erwartet“, entgegnete Kagetora kalt, der Arakawa mit der Weinflasche weiterwinkte. Er machte es Naoe nach, der ebenfalls abgelehnt hatte. Kousaka jedoch erfreute sich an seinem Glas Wein. Er prüfte ihn wie ein echter Weinkenner und trank anerkennend einen Schluck, ungeachtet der Tatsache, dass das Essen durch ihren Gastgeber noch nicht offiziell eröffnet wurde. Ihm schien das egal zu sein. Kagetora kam nicht umhin, sich über dieses respektlose Verhalten zu freuen, da es ausnahmsweise mal nicht gegen ihn selbst gerichtet war.

„Dann lasst uns essen!“, rief Shishido der sein Weinglas in die Luft hielt. „Auf einen interessanten Abend!“ Verhaltene Zustimmung erfüllte den Raum.
 

„Wie fühlt es sich eigentlich an, Yuzuru, mit solch ehrwürdigen Seelen durch Japan zu reisen?“

Yuzuru sah erschrocken von seinem Teller auf. Er starrte zum Fragenden, der ihn geheimnisvoll anlächelte. Er hatte inständig gehofft, dass die Mahlzeit ohne auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit vorbeigehen würde. Shishido machte ihn nervös, und er wollte auf keinen Fall eine Unterhaltung mit ihm führen. Hilfe suchend wanderten seine Augen von ihrem Gastgeber zu Naoe, der Shishido argwöhnisch musterte, rüber zu Kagetora, der seinen Blick zuversichtlich erwiderte.

„Ich verstehe nicht ganz?“, entgegnete Yuzuru unsicher.

„Hm… Ich habe die falsche Frage gestellt. Sie sollte eher lauten, wie es sich anfühlt nicht zu wissen, wer man ist?“

„Diese Frage ist-“ Kagetoras harsche Worte wurden von Yuzuru gestoppt.

„Schon okay, Takaya.“

„Takaya?“ Shishido sah belustigt zu Kagetora, der ihn warnend anfunkelte.

„Ich weiß zwar nicht, was Sie meinen, aber ich weiß wer ich bin. Und um auf Ihre erste Frage zurückzukommen, wenn Sie unser Leben nicht durcheinander gebracht hätten, würde ich nicht quer durch Japan reisen.“ Yuzuru sprach mit stärker werdendem Selbstvertrauen. „Außerdem denke ich, dass es keine Rolle spielt, ob Takaya 18 oder 400 Jahre alt.“ Lautes Lachen ließ Yuzurus Zuversicht wie ein Kartenhaus zusammenfallen.

„Wie schaffst du es nur, Kagetora, solch loyale Menschen um dich zu versammeln?“ Shishidos arroganter Tonfall ließ die Frage einer Beleidigung gleichen.

„Hey! Ich hoffe, du zählst mich nicht mit dazu?“, rief Kousaka empört dazwischen. „Ich bin nur wegen des hoffentlich spektakulären Showdowns zwischen euch beiden mitgekommen.“ Hungrig machte er sich über sein zweites Stück Fleisch her.

„Stimmt. Dich hätte ich beinah übersehen. In der Tat, du bist der einzige ohne Rückhalt hier.“ Shishido prostete Kousaka zu. „Ist das auf die Dauer nicht einsam?“

Erleichtert blickte Yuzuru zu Kousaka, weil dieser mit seinem Einwand die Aufmerksamkeit ihres Gastgebers auf sich gezogen hatte.

„Ach was! So gehen die Chancen wenigstens gegen Null, dass du von den eigenen Leuten betrogen wirst. Außerdem ist es schwierig, jemanden zu finden, der mir ebenbürtig ist“, offenbarte Kousaka fröhlich, der unbewusst für einen flüchtigen Moment zu Naoe sah. Dieser Blick war Shishido nicht entgangen, aber er behielt es sich vor darauf einzugehen.

„Menschen mit Macht sind in der Tat einsame Menschen.“ Shishido sah zu Kagetora. „Es sei den, sie treffen auf andere, die ein ähnliches Schicksal zu tragen haben.“ Unangenehme Stille folgte den Worten. Sein Blick wanderte zu Naoe.

„Ich bin dafür, dass wir uns die Sticheleien für später aufheben, und dafür jetzt das gute Essen genießen.“ Kousakas fröhlicher Vorschlag ließ alle aufatmen. „Und wenn ich noch hinzufügen darf, es soll schon etwas heißen, wenn ich das sage. Immerhin bin ich ein großer Fan von hitzigen Auseinandersetzungen!“, fuhr Kousaka fort, „Eure ist das Beste, was mir seit langer Zeit untergekommen ist, aber ich habe echt Hunger.“
 


 

Yuzuru stand am geöffneten Fenster und starrte ziellos in die Dunkelheit hinaus. Er schmeckte die salzige Seeluft und vernahm die aufgepeitschte Brandung, die ein Spiegelbild seiner inneren Aufruhr sein konnte. Zusammen mit Kousaka befand er sich in einem weitläufigen Raum, eine Etage höher und in entgegengesetzter Richtung zum Speisesaal, den sie vor mehr als einer halben Stunden verlassen hatten. Glücklich machte ihn dieser Umstand nicht, schließlich hatten sie vorgehabt, alle beieinander zu bleiben. Shishido hingegen hatte zum Ende des gemeinsamen Essens verlauten lassen, dass er allein mit Takaya sprechen wollte. Immerhin konnte sich Naoe aufdrängen, so dass sein bester Freund nicht allein war mit dem seltsamen Mann, dessen Arroganz und Überheblichkeit selbst hier im übertrieben luxuriös ausgestatteten Zimmer zu spüren war. Yuzuru konnte nur erahnen, wie alt, und dadurch wohl unbezahlbar, die diversen Vasen und Leinwandbilder im Raum waren.

Seine Gedanken kreisten zurück zu Takaya. Er wusste nicht, ob deren Gespräch im geräumten Esszimmer stattfinden würde, oder ob sie ebenfalls einen neuen Raum aufsuchen würden. Dieses Unwissen machte ihn nervös. Zum Speisesaal würde er zurückfinden, aber es wäre ohnehin sinnlos, wenn sich die drei Männer dort nicht mehr befanden.

Er wandte dem Fenster den Rücken zu und blickte rüber zu Kousaka, der mit geschlossenen Augen und scheinbar entspannt in einem der beiden großen, weißen Sessel in der Mitte des Raumes saß. Kousakas Anwesenheit schmälerte seine Beunruhigung nicht im geringsten, im Gegenteil. Die Gleichgültigkeit, die dieser gegenüber Takaya und Shishido immer wieder durchsickern ließ, und nicht nur während dem unerträglich langen Dinner, erschreckte Yuzuru. Es war nicht zu übersehen, dass Kousaka ihnen gegenüber keinerlei freundliche Gedanken hegte.

„Warum setzt du dich nicht einfach hin und entspannst?“ Kousakas Stimme hatte beinah einen meditativen Klang. „Wenn es dich beruhigt, ich kann dir versichern, dass es allen drei gut geht.“

Yuzuru spürte ein klein wenig Erleichterung in sich aufsteigen.

„Was?“ Seufzend setzte sich der der kaum ältere Mann auf. „Nein, ich kann nicht durch Wände sehen. Und ja, wenn die drei in ein tödliches Kräftemessen verwickelt wären, würde ich es spüren.“ Kousaka liebäugelte mit der Weinkaraffe, die vor ihm auf dem niedrigen Tisch stand. Ihm war Yuzurus entsetzter Laut nicht entgangen. „Möchtest du wissen, warum unser Gastgeber so schlecht auf die beiden zu sprechen ist? Aber vor allem, warum Kagetora seinen Zorn auf Shishido gerade so unter Kontrolle hat?“ Wissend erwiderte er Yuzurus neugierigen Blick. Dieser hatte sich endlich auf dem Zwillingssessel niedergelassen.

„Ich bin mir nicht sicher“, flüsterte Yuzuru.

„Du bist dir nicht sicher?“ Die Worte des jungen Mannes überraschten Kousaka. „Nicht sicher, ob du es hören möchtest? Oder nicht sicher, ob es überhaupt für deine Ohren bestimmt ist?“

„Etwas von beidem.“

Kousaka lachte und goss sich etwas Wein ein, ließ aber das Glas unberührt stehen. Er konnte Yuzurus Zerrissenheit deutlich sehen. „Hm, die Kurzversion geht folgendermaßen: Shishido war einst der Geliebte von Kagetoras Bruder. Der Bruder beschützte Kagetora mit seinem Leben. Shishido macht Kagetora für den Tod verantwortlich.“ Kousakas Gesichtsausdruck wurde ernst. „Und um Kagetora Aufmerksamkeit zu erhalten, entführte und folterte er Naoe.“ Er sah Yuzuru in die Augen. „Shishido ist ein grausamer Mensch. Vielleicht war er nicht immer so, wovon ich stark ausgehe, aber was zählt ist das Jetzt“, fuhr Kousaka ungewöhnlich zornig fort. „Und für das, was er Naoe angetan hat, verdient er den Tod.“ Stille.

„Den Tod?!“

„Na ja, wohl eher eine Seelenaustreibung“, antwortete Kousaka wieder gewohnt fröhlich und zwinkerte Yuzuru zu.

„Ich weiß nicht, ob es so gut ist, so leichtfertig über Mord zu sprechen.“ Bilder von einem lachenden und unbeschwerten besten Freund fluteten seinen Geist. Er hoffte inständig, dass Takaya nicht zum Mörder wurde – nicht unter diesen Umständen. „Aber ich muss gestehen, dass mir Shishido alles andere als sympathisch ist.“ Yuzurus Blick wurde ernst. „Wenn Shishido Naoe misshandelt hat, dann sollte es auch Naoe sein, der es klärt.“ Damit erntete er erneut Kousakas Lachen. Dieses Mal jedoch war keine Freude herauszuhören.

„Klären?“, Kousaka schüttelte ablehnend den Kopf. „Oh Yuzuru, da spricht die Unerfahrenheit und das behütete Leben aus dir heraus. So einfach ist das nicht.“ Kousakas anmaßende Worte hatten den zu erwartenden Effekt. Er sah Yuzurus Protest noch ehe dieser ihn in Worte fassen konnte.

„Du kennst mich doch überhaupt nicht. Wie kannst du-“

Kousaka schnitt Yuzuru mit einer Geste das Wort ab. „Oh, und ob ich kann. Ich studiere alle meine Kontrahenten“, Kousaka griff nach dem Weinglas, „und du bist nicht nur ein Teil aus Kagetoras Leben, sondern selbst ein Rätsel und voller Macht, die andere gierig werden lässt.“

Kousakas Worte ließen Yuzurus ungehalten aufspringen. Argwöhnisch betrachtete er den sitzenden Mann, der das Glas Wein zu Mund führte und lächelnd einen tiefen Schluck nahm.

„Kein Grund so aufgebracht zu reag-“ Kousaka brach abrupt ab und sah alarmiert zu Yuzuru. „Verdammt...“ Das Wort kaum hörbar und übertönt vom Zerschellen des Glases auf dem Marmorfußboden, sackte Kousaka leblos in den Sessel. Ungläubig starrte Yuzuru auf den zusammengesackten Mann. Hilfesuchend und unfähig die Situation zu begreifen, blickte er zur Tür in der Hoffnung, seine Freunde würden ihm zur Hilfe eilen. Und obwohl sich die Türe einen Moment später tatsächlich öffnete, waren es nicht Takaya und Naoe, sondern Arakawa, der mit einer auf ihn gerichteten Waffe das Zimmer betrat.
 


 

„Mir gefällt das überhaupt nicht.“ Naoe blickte misstrauisch auf die beiden Männer, die vor ihnen gingen. Sie sollten sie zu einem anderen Raum führen, der laut ihrem Gastgeben für ein privates Gespräch angemessener war als das Speisezimmer. Naoe musterte Takaya, der stumm neben ihm ging. Für ihn spielte es keine Rolle, wo Shishido sein undurchsichtiges Spiel fortführte, solange er in Takayas Nähe war. Und das war der erste Kampf, den er gewonnen hatte. Sehr zum Missfallen Shishidos, wollte dieser doch allein mit seinem Anführer sprechen. Dass Yuzuru nicht bei ihnen war, bereitete ihm dafür umso mehr Kopfzerbrechen. Und nicht nur ihm allein. Takaya hatte die getroffene und unabänderliche Entscheidung Shishidos nur mit großer Mühe akzeptiert und Kousaka ohne Worte wissen lassen, dass dieser in seiner Rolle als Beschützer bloß nicht versagen sollte.

Die Angespanntheit des Mannes neben ihm war nicht zu übersehen und Naoe konnte förmlich spüren, wie sie mit jedem Meter wuchs, den sie sich von ihren zwei Gefährten entfernten. Natürlich hatten sie solch ein Szenario durchgespielt und sich einen Plan zurecht gelegt. Aber die Ausführung war riskant, und Shishidos für sie nicht vollständig einzuschätzendes Machtpotential war ein großer Unsicherheitsfaktor darin.

„Auch wenn Kousaka die letzte Person ist, der ich mein Leben anvertrauen würde, glaube ich doch, dass Yuzuru bei ihm in guten Händen ist“, sprach Naoe leise. Er sah, wie sich Takayas Schultern etwas entspannten und wünschte, dass er es ihm gleichtun könnte. „Ich-“, Naoe stoppte und schluckte schwer. „Ich... Ich bin okay und habe mich im Griff, Kagetora. Du musst dir deswegen nicht auch noch Sorgen machen“, flüstere er kaum hörbar.

„Nichts anderes erwarte ich von dir.“ Trotz gebieterischen Tons, blieb Naoe der inzwischen vertraute Unterton nicht verborgen. Zuneigung zu zeigen, fiel Takaya nach wie vor schwer. Häufig tarnte sie sich in einem arroganten Verhalten, aber Naoe hatte gelernt. Er war nun in der Lage, die wechselhaften Stimmungen zu lesen, und nicht zuletzt hatte er gelernt, sie zu lieben.

Das Halten ihrer beiden Begleiter an ihrem Zielort riss Naoe aus den Gedanken. Takaya neben ihm beobachtete wachsam das Geschehen vor ihnen.

„Ich hoffe, unser Gastgeber lässt nicht lange auf sich warten.“ Während Takaya sprach, wurde die breite Tür vor ihnen geöffnet und die beiden Gäste folgten ihren Begleitern in den Raum.
 

Zu ihrer Überraschung war das Zimmer nicht verlassen. Shishido, der sich nach beenden der gemeinsamen Mahlzeit entschuldigt und angekündigt hatte, sie für das Gespräch in einem anderen Raum zu treffen, stand wartend am weitläufigen Panoramafenster. Takaya fiel auf, dass das Zimmer dem ersten glich. Es war zwar keine große Esstafel in der Mitte des Raumes zu finden, dafür stand ein schwerer Arbeitstisch aus Holz zu ihrer linken an der Wand, während vor ihnen eine elegante Sitzeinheit den Platz vor dem Fenster einnahm. Rechts von ihnen an der Wand befand sich eine zierliche Kommode, auf der drei goldfarbene Bilderrahmen standen. Takaya war zu weit entfernt, als dass er die Bilder hätte erkennen können. Aber nicht zu übersehen war die Tatsache, dass sich ihr Gastgeber allein in dem Arbeitszimmer aufhielt. Sein Vertrauter Arakawa war nirgends zu sehen. Das musste nichts bedeuten, aber führte dazu, dass sich Takayas Misstrauen erneut verstärkte.

Hinter ihnen verließen die vertrauten Begleiter ohne Worte den Raum und schlossen leise die Türe. Takaya hatte keinen Zweifel daran, dass sie draußen Stellung bezogen und auf alle Eventualitäten vorbereitet waren. Sein Blick wanderte zu Shishido, der sie mit einem eisigen Lächeln begrüßte.

„Darf ich fragen, ob ihr bisher zufrieden seid mit eurem Gastgeber?“ Shishidos pseudo-freundlichen Worten folgte Stille. „So schlimm?“ Mit gespielter Betroffenheit nahm er auf dem schwarzen Zweisitzer Platz und sah abwartend zu den beiden Männern rüber, die sich noch immer nicht gerührt hatten.

Naoe blickte fragend zu Takaya, der die Augen geschlossen hatte. Der konzentrierten Miene seines Geliebten folgte ein beleidigter Ausruf Shishidos. Dieser starrte zum Fenster, an dessen Außenseite ein Gohou Douji aufgetaucht war und den Raum in das bereits vertraute rötlich goldene Lichtspiel tauchte.

„Selbst hier? Komm schon, Kagetora. Du musst dich doch nicht über alle Maßen erschöpfen.“

Takaya ignorierte Shishido und wandte sich an Naoe. Während er sich unbewusst den Schweiz von der Stirn wischte, ließ er den älteren Mann wissen, dass dieser neben der Tür Stellung beziehen sollte. Er wollte auf keinen Fall, dass Naoe Thema dieser Unterhaltung werden würde. „Wie besprochen, kein Eingreifen ohne meine Zustimmung“, flüsterte Takaya und sah Naoe mahnend in die Augen. Der Angesprochene nickte kaum wahrnehmbar und entfernte sich. Takaya atmete einmal tief durch und wappnete sich mental für die schmerzliche Vergangenheit, nach der es Shishido verlangte.
 


 

Yuzuru starrte mit Horror auf die Waffe und blickte hilfesuchend zu Kousaka, der leblos im Sessel hing. „Ich...ich versteh nicht?!“, stammelte er und wich zwei Schritte zurück.

„Was gibt es da nicht zu verstehen?“ Arakawa betrat den Raum und schritt zu Kousaka, um ihn zu überprüfen. „Einer außer Gefecht gesetzt, sanft, wie du sehen kannst. Und die anderen werden von meinem Herrn in Schach gehalten, damit der Plan endlich in die Tat umgesetzt werden kann“, erklärte Arakawa ruhig, der zurück zur Tür ging. „Ich musste lange darauf warten“, fügte er kaum wahrnehmbar hinzu.

Yuzuru, zwischen Erleichterung über Kousakas Wohlbefinden und Entsetzen über die mögliche Gefangennahme seines beten Freundes hin- und hergerissen, sah irritiert zu Arakawa, der nun wieder an der Tür stand und einen kurzen Blick in den Flur warf.

„Wir zwei werden eine kleine Reise machen.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, gestikulierte Arakawa ungehalten mit der Waffe in Yuzurus Richtung.

„Eine Reise?“ Wie durch die Pistole hypnotisiert, schritt Yuzuru langsam auf Arakawa zu. „Wir sind doch eben erst hier angekommen...“, entgegnete er unsicher.

„Du wirst das nötigste erfahren, sobald wir im Auto sitzen.“

Je näher Yuzuru Arakawa kam, desto offensichtlicher wurde, dass der engste Vertraute ihres Gastgebers extrem nervös war, beinah ängstlich. „Ich werde mich nicht vom Fleck bewegen, ehe ich nicht erfahre, ob es Takaya und Naoe gut geht.“ Mit diesen mutigen Worten trat Yuzuru zurück und beobachtete Arakawa dabei, wie dieser Farbe verlor und leise fluchte.

„Verdammt nochmal!“, entfuhr es Arakawa ungehalten. „Natürlich geht es ihnen gut. Sie sind zusammen mit meinem Herrn und handeln die nächsten Schritte aus. Ein inzwischen beschlossener ist, dass du mich begleiten sollst und Vertrauen in sie haben musst.“ Arakawa versuchte Zuversicht in die Worte zu packen, und untermauerte diese mit einem Lächeln. „Komm schon, je schneller wir unterwegs sind, umso früher kannst du deine Freunde wiedersehen.“

Arakawas Worte halfen nicht dabei, Yuzurus Widerwillen in Luft aufzulösen. Das Auftreten von Shishidos Vertrautem war geprägt von Widersprüchen. Wenn alles stimmte, was er sagte, warum war er dann so beunruhigt. Warum agierte er so, als ob er unter Zeitdruck stünde. Warum Kousaka außer Gefecht setzen, wenn doch alles im Einklang mit seinen Freunden geschieht, die dem bestimmt nicht zugestimmt hätten. Yuzuru war bewusst, dass sie hier nicht willkommen waren, und Shishido den Aussagen nach alles andere als ein unbeschriebenes Blatt war. Ein beklemmendes Gefühl beschlich ihn. Eine Antwort würde er jetzt nicht erhalten, das hatte Arakawa mehr als deutlich gemacht. Yuzuru ballte die Fäuste und traf eine Entscheidung, die längst für ihn getroffen worden war. Er warf einen letzten mitfühlenden Blick auf Kousaka, und trat mit dem Mut der Verzweiflung auf Arakawa zu.
 


 

Die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen wachsam auf die beiden weiteren Männer im Raum gerichtet, gönnte sich Naoe ein klein wenig körperliche Erholung, indem er entspannt an der Wand neben der Tür lehnte. Er beobachtete Shishido dabei, wie dieser ungefragt drei Gläser Wein eingoss. Diese Gleichgültigkeit gegenüber den Wünschen seiner Mitmenschen war Naoe nur allzu vertraut. Hatte er doch selbst miterleben dürfen, welche Abgründe sich in dem Mann auftaten. Naoe sah Takayas Kopfschütteln, als ihm ihr Gastgeber ein Glas entgegenhielt.

„Wirklich?“, seufzte Shishido. „Bin ich der einzige, der dieses Zusammentreffen feiern will?“ Er warf einen fragenden Blick zu Naoe. Dieser ignorierte ihn. „Noch nicht einmal du? Wir hatten doch eine so befriedigende Zeit mit-“

„Genug.“ Takayas laute Stimme unterbrach Shishido. „Wir sollten dieses Spielchen beenden und uns den Dingen widmen, die zwangsläufig zu diesem Treffen geführt haben.“ Takaya starrte seinen Gastgeber eisig an. „Und damit meine ich nicht Naoe. Es wäre also hilfreich, wenn du so tun könntest, als hätten wir dieses Gespräch unter vier Augen.“ Takayas harter Ton verriet seine Ungeduld. Das Nichtwissen um Yuzurus Aufenthaltsort und die Sorge um Naoes Gemütszustand hinterließen einen fahlen Beigeschmack, obwohl das Essen trotz der Umstände außerordentlich schmackhaft gewesen war. Shishido wollte Antworten, sollte er sie also bekommen, aber mehr nicht. Takaya würde es nicht zulassen, dass dieser ihre kleine Gruppe auslöschte, oder das zerstörte, was gerade zwischen ihm und Naoe entstand.



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Kommentare zu dieser Fanfic (42)
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Von:  NaschKatzi
2016-11-15T20:04:59+00:00 15.11.2016 21:04
Hey^^
Ich finde deine Geschichte wirklich SUPER!
Ich liebe den Anime und habe mir immer eine Fortsetzung gewünscht :)
Dein Schreibstil ist sehr angenehm und toll zu lesen <3
Wie du die Charaktere beschreibst *schwärm*
Jedenfalls mag ich sie mega und freue mich auf das nächste Kapitel!!!!
Antwort von:  Benjy
16.11.2016 18:44
Hallo -Naschkatze-
Zwei Kommentare so kurz nacheinander. Böses Omen.
Nein, ich freue mich natürlich darüber. Baut auch keinen Druck auf...
Ich danke Dir natürlich auch für die Rückmeldung. Wie unten schon geschrieben, bin ich dran, aber mehr holprig als geradlinig. Ich gebe alles...
Von:  Streber_Nr1
2016-11-13T17:46:32+00:00 13.11.2016 18:46
Oh man
Mach schnell weiter.
Die story ist nice einfach nur nice
Ich mag deine schreibweise sehr.
Lg streber
Antwort von:  Benjy
16.11.2016 18:40
Hey!
Vielen Dank für deine Worte...
Ich versuche natürlich, die Geschichte zu beenden. Ich hoffe, ich schaffe es noch in diesem Leben! Scherz...
Da ich kaum zum Schreiben gekommen bin, fällt es mir schwer, einfach draufloszuschreiben. Und meine Schreibweise?! Shoot... Hat sich natürlich verändert - vielleicht auch nicht zum Besseren. Haha... Dennoch, ich gebe mir Mühe.
Antwort von:  Streber_Nr1
16.11.2016 18:42
Nur keine hektik
Aber die storyline ist einfach nur nice
Da ändert die schreibweise auch nix.
;)
Von:  97maomao
2014-12-02T06:08:33+00:00 02.12.2014 07:08
Ich habe gerade deine komplette Geschichte gelesen und sie gefällt mir sehr gut. Ich hoffe du schreibst irgendwann noch weiter, es wäre ansonsten sehr schade.

Antwort von:  Benjy
02.12.2014 16:59
Herzlichen Dank für Deine Rückmeldung!
Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Natürlich will ich sie zum Abschluss bringen - ist ja alles schon im Kopf vorhanden - aber ich habe es bisher nicht geschafft, mich wieder dran zu setzen. Lese wohl zu viel~ Vielleicht hat mich das auch etwas entmutigt, denn ein As im Schreiben bin ich nicht, *lach* aber ich wollte (will) unbedingt eine Geschichte über diese, teils extrem traurigen, Charaktere schreiben.
Vielleicht erwartet Dich ja eine Überraschung, wenn du das nächste Mal reinschaust.
Nochmals vielen Dank fürs Lesen!
Von:  MASTAH
2011-08-29T00:25:29+00:00 29.08.2011 02:25
yay mal wieder gut :3
Von:  MASTAH
2011-05-26T19:45:14+00:00 26.05.2011 21:45
yay x3

ich freu mich schon wenns weiter geht vorallem nähr bei Takaya und Naoe *Q*
Von: abgemeldet
2010-04-09T00:06:37+00:00 09.04.2010 02:06
Wollte fragen wann es den weiter geht ? das letzt kapi ist ja jetzt schon fast 3-2 Monate her
Von: abgemeldet
2010-02-20T22:31:44+00:00 20.02.2010 23:31
Frechheit kein Kommi zu diesem Kapi >o<
Ich find das Kapi bis jetzt sehr spannend wie gehr es weiter wie? Wie? Wie? Ich will es wissen XD, Schreib bitte schnell weiter ^_^
LG
MI-chan
Von:  firebeast
2009-05-12T11:22:18+00:00 12.05.2009 13:22
Mega, oberhammergeil *.*...ohhhh echt geil, also besser gehts echt nicht mehr. Erstmal der Anfang war super witzig und eine kleine Entspannung zwischen den aufregenden Hetzjagden....und dann dieser genial eingefädelte Halbschlussteil....Und endlich waren die zwei mal so schlau ihre Gedanken auszuschalten udn einfach mal Gefühle sprechen zu lassen. Na ja das blöde Auto nur -.-'... sowas stört nunmal ^^. Aber egal Spannung muss sein und Spannung udn Cliffhänger ist ja dein zweiter Vorname..XD

Super geil, ich freu mich mega doll auf die Fortsetzung. Einfach geil!
Von: abgemeldet
2009-05-12T02:29:00+00:00 12.05.2009 04:29
Geil sage ich nur. Geiles Kapitel und der mittelteil erst XD abgefahren. Ich freue mich schon auf das nexte Kapitel. und wie ich mich freuen werde.
Von:  firebeast
2009-05-07T04:42:01+00:00 07.05.2009 06:42
oooohhhhh....schönes Kapitelende. Hoffentlich bekommen Naoe und Takaya wirklich mal die Gelegenheit ohne neugierige Ohren zu reden, ohne dass es wieder im Streitgespräch zwischen den zwei Hitzköpfen endet. ^^

lg firebeast


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