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Das triste Leben des Jesse Wyatt

von

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Ein verregneter Tag

Es gibt manchmal Tage, an denen man wirklich besser im Bett geblieben wäre. Normalerweise war Charity eine Optimistin und versuchte, jeden Tag mit einem Lächeln zu beginnen, aber ausgerechnet an diesem einen Tag musste wirklich alles schief laufen. Zuerst hatte sie beim Backen ein totales Chaos in der Küche angerichtet, dann waren ihr die Kekse angebrannt und in der Hektik hatte sie zwei Gläser zerbrochen. Außerdem fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren und auch ihre Frisur wollte nicht sitzen. Die Ursache war schnell erklärt: Ein Wetterumschwung bahnte sich an. Die letzten Tage war es trocken und warm für den Frühherbst gewesen, aber die rapide ansteigende Luftfeuchtigkeit und der fallende Luftdruck machten sich bereits bemerkbar. An Tagen wie diesen war Charity immer fürchterlich schusselig und vergaß so viele Dinge. Außerdem hatte sie leichte Kopfschmerzen. Insgeheim machte sie sich auch Sorgen um ihre Großmutter, denn die war auch nicht mehr die Jüngste und vertrug so etwas nicht sehr gut. Deshalb wollte die 22-jährige auch gleich los, um mit dem Rezept zur Apotheke zu gehen und die blutverdünnenden Medikamente zu holen. Das Auto wollte sie nicht nehmen, sie würde in der Innenstadt sowieso keinen Parkplatz finden und bis jetzt war es noch trocken. Dennoch packte sie sicherheitshalber einen kleinen Regenschirm ein, falls es doch zu regnen beginnen sollte. Fehlte noch ihre Geldbörse, aber sie hatte keine Ahnung, wo sie sie hingelegt hatte. Charity seufzte und ärgerte sich, dass sie heute so dermaßen verpeilt war und nicht mal mehr ihre Sachen fand. „Oma“, rief sie, während sie ihren Schreibtisch durchwühlte. „Hast du mein Portemonnaie gesehen? Ich finde es nicht mehr!“ „Hast du schon in deiner Handtasche nachgesehen?“ Zuerst wollte Charity antworten, dass sie es doch gar nicht eingepackt hatte, aber sie sah trotzdem nach. Sie verdrehte die Augen und ärgerte sich selbst dafür, dass sie so blöd war und total vergessen hatte, dass sie es bereits eingesteckt hatte. „Hab’s gefunden!“ rief sie, und steckte noch Handy und Haustürschlüssel ein. Damit verließ sie ihr Zimmer und ging hinaus auf den Flur, wo ihre Großmutter entgegen kam. Grace Witherfield war eine rüstige Pensionärin von gut 76 Jahren, die zuvor lange Zeit als Lehrerin an einer Grundschule gearbeitet hatte und trotz ihres fortgeschrittenen Alters eine sehr lebhafte Dame sein konnte. Seit Charitys Eltern vor 15 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren, hatte sich ihre Großmutter um sie gekümmert, da sie die einzige Verwandte in der Stadt war. Außerdem war Charitys Tante Audrey selbst vierfache Mutter und wäre mit noch einem Kind völlig überfordert gewesen. Und ihr Onkel Michael, der ein sehr aktives promiskuitives Leben führte, war nicht der richtige Umgang für die damals erst sieben Jahre alte Charity. Also war beschlossen, dass Grace sie adoptierte und über ihre Kindheit konnte sich die Collegestudentin nicht beschweren. Sie liebte ihre Großmutter und diese war nicht nur ihre Ersatzmutter, sondern auch ihre beste Freundin. Sie hatte sie nie betüddelt oder sie in irgendeine Laufbahn gedrängt, die sie nicht wollte. Nun gut, sie war in vielerlei Hinsicht streng gewesen und in manchen Sachen in klein wenig altmodisch, aber da Charity schon von Geburt an eine Frohnatur war, machte ihr das wenig aus. Sie liebte und achtete ihre Großmutter sehr und teilte nicht nur ihre Backleidenschaft, sondern auch die Devise, dass man für gute Taten irgendwann belohnt wurde. Egal ob in diesem oder im nächsten Leben. Aber heute war definitiv nicht ihr Tag und als sie inmitten eines Küchenschlachtfeldes stand und gänzlich den Überblick verloren hatte, da hatte Grace ihr eine Hand auf die Schulter gelegt und gesagt „Cherry“ (sie nannte sie nur Charity, wenn sie verärgert war), „lass es gut sein, du richtest nur Chaos an und das führt zu nichts. Ich räume schon auf, bevor du noch mehr Gläser zerbrichst. Sei du so lieb, geh bitte zur Apotheke und hol dort meine Medikamente ab.“ Und da Charity selbst eingesehen hatte, dass sie nur weiteres Unheil in der Küche anrichten würde, hatte sie das Rezept entgegengenommen und ihre Handtasche gepackt. Es ärgerte sie selbst, dass sie so schusselig sein musste. Nun gut, sie war auch sonst nicht gerade die Geschickteste und stellte sich manchmal etwas dumm an, aber heute hörte es einfach nicht auf. In solchen Momenten war sie froh, dass sie Grace hatte.

Ihre Großmutter war in den letzten Jahren um mindestens zehn Zentimeter kleiner geworden und hatte ihr ergrautes Haar zu einem Knoten zusammengebunden. Und auch die Fältchen in ihrem Gesicht, die sie mit Würde hinnahm und nicht die geringsten Anstalten machte, sie zu verbergen, waren auch größer geworden. Aber Charity liebte sie mit diesen Falten. Für sie waren es „Charakterfalten“, ohne die sie bei weitem nicht so herzlich aussehen würde. Die alte Dame sah zu ihr hoch, richtete ihrer Enkelin noch eine Strähne und fragte „Hast du auch an einen Regenschirm gedacht? Es soll heute nämlich noch gewittern.“

„Ja, den habe ich gerade eingepackt. Und mein Handy habe ich auch mit. Falls du also noch etwas aus der Drogerie brauchst, ruf mich kurz an. Bis gleich, Oma. Ich hab dich lieb.“ Damit ging die Studentin zur Tür und machte sich auf den Weg zur Apotheke. Inzwischen war es düster geworden und in der Luft lag eine seltsame Spannung, als wäre sie elektrisch geladen. Sie bekam eine Gänsehaut und befürchtete, dass es noch ein schweres Gewitter geben und ihr kleiner Regenschirm wahrscheinlich auch nicht ausreichen würde. Hoffentlich hatte sie wenigstens ein bisschen Glück! Charity beeilte sich und schaffte es noch rechtzeitig über die Ampel bevor es rot wurde, dann bog sie die Straße nach rechts ab. Heute war nicht viel auf den Straßen los, was aber wahrscheinlich auch daran lag, dass die Leute sich schon mal vorsorglich in Sicherheit gebracht hatten. Die Gewitter in Annatown konnten teilweise wirklich verheerend sein. Nicht nur Sturmböen, sondern auch Hagelkörner mit der Größe von Wachteleiern waren keine Seltenheit. In dem Falle würde sie in einem der Geschäfte solange Zuflucht suchen, sollte es wirklich wieder dermaßen hageln. Ihr kleiner Regenschirm würde ihr jedenfalls keinen großen Schutz bieten, das wusste sie jetzt schon. Bis zur Apotheke brauchte sie zu Fuß knapp zehn Minuten. Plus noch mal zehn Minuten Rückweg… das würde echt knapp werden und die Chancen standen nicht zum Besten. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, zu Fuß zu gehen, anstatt mit dem Fahrrad oder mit dem Auto zu fahren. In solchen Fällen dachte Charity nicht gerade weit und hatte dann immer das Nachsehen. Sie gab es offen zu, dass sie manchmal etwas durch den Wind und verpeilt war und das durfte sie sich auch immer wieder von ihrer Großmutter anhören. In solchen Momenten pflegte sie immer zu sagen „Cherry, wenn dir der Herrgott keinen Hals gegeben hätte, dann wäre dir der Kopf schon längst davongeflogen!“ Im Grunde hatte sie ja Recht. Charity wusste, dass sie schnell in Hektik geriet und dann den Faden verlor und wenn sie ihren Gedanken nachging, wurde sie oft unaufmerksam. Wenn man sie nicht so oft rechtzeitig gewarnt hätte, dann wäre sie mindestens sieben Mal unter die Räder gekommen. Und sie musste sich auch oft anhören, wie gutgläubig sie manchmal war. Hätten ihre Großmutter und ihre Freunde sie nicht oft genug abgehalten, hätte sich Charity mindestens hundert Male auf irgendwelche dubiosen Versicherungsvertreter oder Hausierer eingelassen. Aber sie konnte einfach nicht grundsätzlich schlecht über alle Menschen denken, sondern glaubte an ihre guten Absichten. Natürlich war das eine positive Charakterstärke von ihr, aber sie fiel häufig auf die Nase damit und hätte sich oft genug in Schwierigkeiten gebracht, wenn sie nicht eines Besseren belehrt worden wäre. Dann durfte sie sich auch jedes Mal anhören, dass sie genauso unvernünftig war, wie so ein kleines Kind. Auch auf der Schule wurde sie von einigen Mitschülern ausgelacht, weil sie so gutgläubig war, weshalb sie oft treudoof genannt wurde. Besonders aber wurde sie auch auf dem College ausgelacht, weil sie sich ihren kindlichen Gottesglauben bewahrt hatte. Wirklich jeden Tag trug sie ihren Rosenkranz mit Rosenquarzperlen, der ein Erbstück ihrer verstorbenen Mutter war. Er war ihr Glücksbringer und ein Andenken an ihre Eltern, die sie verloren hatte. Sie konnte sich kaum noch an ihre Mutter oder ihren Vater erinnern, besuchte aber trotzdem jeden Sonntag ihr Grab, wobei sie dann immer von ihrer Großmutter begleitet wurde. Indem sie fest daran glaubte, dass es ihren Eltern gut ging, wo sie jetzt waren, konnte sie relativ unbeschwert leben und verlor so gut wie nie ihr Lächeln. Sollten die Leute sie doch für eine treudoofe Gottesanbeterin halten, davon ließ sie sich auch nicht unterkriegen.

Charity kam an einer Boutique vorbei und blieb kurz stehen, um sich die Handtaschen im Schaufenster anzusehen. Und als sie diese so betrachtete, fiel ihr wieder ein, dass sie dringend eine neue brauchte. Ihre war schon ziemlich abgenutzt und den Schulterriemen hatte sie auch schon geflickt, nachdem er ihr gerissen war. Eigentlich hätte sie sich schon längst die neue Tasche gekauft, aber sie wollte warten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war. Und das war ein Tag wie dieser, wo sie so einen Kauf als Stimmungsaufheller brauchte. Danach konnten ihr gerne noch weitere fünf Gläser zu Bruch gehen, eine neue Handtasche würde sie für diesen absolut beschissenen Tag entschädigen. Und heute war so ein Tag! In ihrem Hinterkopf hörte sie „Worst Day Ever“ von Simple Plan spielen und begann sogleich mitzusingen. Nun gut, der Text war eigentlich viel zu pessimistisch für sie, aber sie liebte die Melodie und bekam dadurch gleich wieder gute Laune. Und das passte wieder zu ihr: Gute Laune. Während sie das Lied weiter sang, ging sie zur nächsten Boutique, um sich die anderen Taschen anzusehen. Dabei sah sie nicht mal nach vorne, wodurch es schließlich so kam, wie es kommen musste: Ein Mann, der gerade um die Ecke kam und telefonierte, lief ihr entgegen und sah sie gar nicht und sie hatte ihre Augen ganz woanders. Sie prallten zusammen und Charity verlor das Gleichgewicht, wodurch sie nach hinten taumelte und stürzte. „Oh entschuldige“, hörte sie den Mann sagen, der das Handy vom Ohr nahm und sich ihr zuwandte. „Ich hatte dich nicht gesehen. Alles in Ordnung?“ Charity sah auf um zu sehen, mit wem sie da eigentlich zusammengeprallt war und bekam erst mal einen gehörigen Schrecken. Vor ihr stand ein muskulöser zwei Meter großer Riese, braun gebrannt und mit düsteren Gesichtszügen. Sein Gesicht war voller Piercings und seine Arme, die gut und gerne einen dicken Ast mühelos brechen konnten, waren mit Totenköpfen und anderen unheimlichen Motiven tätowiert. Die schwarze Lederkluft und auch der Rest seines Looks ergab ein eindeutiges Bild. Das war ein Rocker. Charitys Herz rutschte in die Hose, als sie diesen wandelnden Schrank vor ihr sah, der den Eindruck machte, als würde er keine Späße machen. Warum nur musste das ausgerechnet ihr passieren? Er reichte ihr die Hand, um ihr hochzuhelfen und die war in Charitys Augen so groß wie eine Baggerschaufel. Nun, zumindest war er hilfsbereit und höflich und sein Aussehen musste ja nicht unbedingt von einem schlechten Charakter zeugen. Und noch etwas fiel ihr auf: Um seinen Hals trug er ebenfalls einen Rosenkranz. In dem Moment musste sie eher unfreiwillig an den Roman „The Machine Gun Preacher“ denken. Womöglich war dieser so bedrohlich aussehende Kerl ja auch kein schlechter Mensch. Dankend nahm sie seine Hand und ließ sich wieder auf die Beine helfen. Sie entschuldigte sich für den Zwischenfall und verabschiedete sich dann, woraufhin sie weiterging. Womöglich hat Oma wirklich Recht und ich hab meinen Hals nur, damit mir der Kopf nicht davonfliegt, dachte sie und ging schnell weiter. Sie sah noch kurz zurück, um zu sehen, ob der tätowierte Rocker immer noch da war. Er war stehen geblieben und telefonierte noch. Oh Mann, heute ist tatsächlich so ein absoluter „Worst Day“. Charity betrat schließlich ein Geschäft und kaufte sich dort schließlich eine neue Handtasche. Diese war aus grünem Leder und bei weitem schöner als die letzte Tasche, die sie gesehen hatte. Und glücklicherweise war sie sogar heruntergesetzt, da gerade Sommerschlussverkauf war. Diese Chance wollte die Studentin unbedingt nutzen und so bezahlte sie mit Karte, dann begann sie ihre alte Handtasche auszuräumen. Dieses alte Ding hatte seine Pflicht getan und konnte getrost in den Müll wandern. Und hoffentlich wurde mit dieser alten Tasche auch ihre Pechsträhne gleich mitentsorgt. Nach und nach wanderten Geldbörse, Handy, Taschentücher und alle anderen Utensilien von einer Tasche in die nächste und zu guter Letzt kontrollierte sie noch, ob sie auch nichts vergessen hatte. Nein, sie hatte sie komplett ausgeräumt! Mit einem zufriedenen Lächeln schulterte sie ihre neue grüne Tasche und verabschiedete sich von der Verkäuferin. Ihr Weg führte zu einem Mülleimer in der Nähe, wo sie das kaputte alte Ding kurz und schmerzlos entsorgte. Leid tat es ihr nicht, sie hatte sie auch lange genug gehabt und wirklich teuer war sie auch nicht gewesen. Und sie war sich sicher, dass sie gerade eine gute Investition gemacht hatte. Schließlich ging sie weiter und erreichte nach einer Weile die Apotheke. Sie kannte den Apotheker sehr gut, da dieser ein alter Freund ihrer Großmutter war. Harold war ein netter Kerl, der inzwischen seinem Sohn die Apotheke überschrieben hatte. Trotzdem arbeitete er noch mit und war immer für einen kleinen Plausch zu haben. Gleich schon als sie die Apotheke betrat, wurde sie herzlich von dem Mittsiebziger begrüßt. Da er sie schon von klein auf kannte, duzten sie sich und Harold war schon fast eine Art Großvaterersatz für sie, da ihr eigener Großvater bereits recht früh an Lungenkrebs verstorben war. „Hallo Cherry!“ grüßte er sie und umarmte sie zur Begrüßung auf eine sehr herzliche Art und Weise. Genauso wie fast alle ihre Freunde und Verwandten nannte er sie bei ihrem Spitznamen Cherry, den sie schon von klein auf hatte. Grund für diesen Spitznamen war zum einen, dass es eine Abkürzung ihres Vornamens war und zum anderen war er auf ihre Kindheit zurückzuführen. Damals hatte sie ein rosafarbenes Kleid mit Kirschmuster getragen. Es war ihr absolutes Lieblingskleid gewesen und sie hatte es im Sommer fast immer getragen, weshalb ihre Mutter sie zum Scherz immer Cherry nannte. Und schließlich war es ihr offizieller Spitzname geworden und Charity liebte ihn. Denn sie liebte auch für ihr Leben gern Kirschen. „Wie geht es Grace denn so? Ich hoffe doch, das Wetter macht ihr nicht allzu große Probleme.“

„Sie steckt es ganz gut weg und ich glaube, sie wird uns noch eine ganze Weile erhalten bleiben. Du hör mal Harry, ich hab da ein Rezept für sie. Oma braucht wieder ihre Blutverdünner.“ Sie reichte ihm den Zettel und sogleich setzte Harold seine Lesebrille auf. Er überflog die Verordnung kurz und nickte. „Das haben wir gleich. Moment, ich geh sie eben kurz holen.“ Damit verschwand der Apotheker nach hinten und suchte die Schubladen durch, die alle nach einem bestimmten System geordnet waren. Kurz darauf öffnete er eine von ihnen und holte eine kleine Packung heraus und ging damit nach vorne. Er schaute aber selbst noch mal drauf, um auch ganz sicherzugehen, dass er die richtigen Medikamente in den Händen hielt. „Ich brauche ja nicht zu erklären, wie Grace sie nehmen muss. Sei aber so nett und pass heute trotzdem ein bisschen auf sie auf. Du weißt ja, dass sie so einen Wetterumschwung nicht mehr so gut verträgt wie vor zwanzig Jahren.“ Charity versicherte, dass sie gut auf ihre Großmutter aufpassen würde. Sie bezahlte die Medikamente, wünschte Harold und seinem Sohn noch einen schönen Tag und verabschiedete sich. Kaum, dass sie die Apotheke wieder verlassen hatte, begann es zu donnern und so holte die 22-jährige sicherheitshalber schon mal ihren kleinen Regenschirm heraus. Trotzdem hoffte sie insgeheim, dass sie es noch rechtzeitig nach Hause schaffen konnte, bevor das Gewitter hereinbrach. Sie beeilte sich also und verließ schließlich die Innenstadt und pfiff dabei ein Lied, welches sie irgendwo mal gehört hatte und welches ihr ganz gut gefiel. Ihre gute Laune war vollständig wiederhergestellt und sie hatte grinste über beide Ohren, denn sie war trotz allem ein Mädchen und freute sich jedes Mal wie ein kleines Kind am Weihnachtsabend, wenn sie eine neue Tasche oder neue Klamotten gekauft hatte. Schließlich aber bemerkte sie, dass ein schwarzer Van mit getönten Scheiben neben ihr herfuhr und die Beifahrerseite heruntergekurbelt wurde. Offenbar wollte da jemand nach dem Weg fragen und so blieb die Studentin stehen. „Entschuldigen Sie bitte“, rief der Fahrer ihr zu und schon kam Charity näher, um ihn besser zu verstehen. „Können Sie mir vielleicht weiterhelfen?“

„Klar doch, wo wollen Sie hin?“ Sie beugte sich noch etwas vor, um den Mann besser sehen zu können, da rempelte sie jemand an und im selben Moment wurde ihr die Tasche von der Schulter gerissen. „Hey!“ rief sie und sah, wie ein junger Mann mit rotbraunem längerem Haar und einem zerschlissenen, khakifarbenen Mantel mit ihrer Handtasche davonrannte. Sofort nahm sie die Verfolgung auf und lief ihm hinterher. Das konnte doch nicht wahr sein. Zu allem erdenklichen Unglück an diesem eh schon so beschissenen Tag musste ihr jetzt auch noch jemand die Handtasche klauen, die sie gerade erst gekauft hatte. Der reinste Alptraum… „Bleib stehen und gib mir die Tasche wieder!!“ rief sie und spurtete los. Nun gut, in diesen Schuhen war Rennen eigentlich keine gute Idee, aber so schnell wollte sie sich nicht geschlagen geben. Der Kerl würde noch sein blaues Wunder erleben, wenn sie ihn zu fassen bekam. Zwar war sie ein friedliebender Mensch, aber sie würde sich das nicht gefallen lassen, wenn ihr jemand die Handtasche klaute. Sie holte langsam auf, musste aber feststellen, dass der Räuber ziemlich gut zu Fuß war. Er bog nach rechts ab und lief damit in Richtung Wohnsiedlung und Charity merkte, dass sie es in ihren Absatzschuhen nicht mehr lange schaffen würde. Ihre Fußsohlen taten weh, ebenso wie ihr rechter Knöchel. Verdammt noch mal, das konnte doch nicht wahr sein. Jetzt verlor sie auch noch ihre Handtasche und dazu noch ihre Geldbörse und all ihre anderen Sachen. Warum nur war sie an diesem Tag nicht einfach im Bett geblieben? Dann wäre ihr dieser ganze Mist wenigstens erspart geblieben und sie müsste jetzt nicht diesem Handtaschenräuber hinterherlaufen. Sie wurde langsamer, als ihre Füße immer mehr schmerzten und bemerkte zu ihrer Überraschung, dass auch der Räuber langsamer wurde. Schließlich blieb er kurz stehen und drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht sah etwas jung aus und besaß feine Züge ungeachtet der Tatsache, dass er mehrere Piercings hatte, vor allem an den Ohren. Seine Augen machten einen finsteren und mürrischen Eindruck, überhaupt besaß seine Miene etwas Zynisches und Abweisendes. Ihre Blicke trafen sich kurz, dann holte er aus und warf ihr die Tasche zu. Charity fing sie verdutzt auf und verstand in diesem Moment die Welt nicht mehr. Ohne ein Wort zu sagen drehte sich der Junge, der ungefähr ihr Alter haben musste, wieder um und lief davon. Was zum Teufel war das gerade gewesen und wieso hatte er ihr einfach so die Tasche wieder zurückgegeben? Hätte er sie ihr klauen wollen, dann hätte er locker abhauen können. „Hey warte!“ rief sie und versuchte ihm zu folgen, aber sie merkte schnell, dass es keine gute Idee war und tatsächlich gab ihr Knöchel nach und sie fiel der Länge nach hin, wobei sie sich das Knie aufschlug. Autsch verdammt, das tat weh. Etwas wankend kam sie wieder auf die Beine und durchsuchte ihre Handtasche um festzustellen, ob noch alles drin war. Die Medikamente, das Handy, ihr Make-up und ihre anderen Sachen waren noch da, nicht einmal ihre Geldbörse fehlte. Was zum Teufel war das bloß gerade gewesen und wieso klaute ihr jemand erst die Handtasche und gab sie ihr dann nach einer kurzen Verfolgungsjagd einfach wieder? Sollte das alles etwa eine Art schlechter Scherz gewesen sein? Nein, er hatte nicht wirklich den Eindruck gemacht, als wollte er sich einen Spaß mit ihr erlauben, sonst hätte er nicht so ernst und finster geguckt. Hatte ihn vielleicht das schlechte Gewissen geplagt oder hatte er nicht damit gerechnet, dass sie ihn verfolgen würde? Dabei hätte er doch sofort sehen müssen, dass sie es sowieso nicht schaffen würde. Ob es doch das schlechte Gewissen war? Womöglich tatsächlich eines dieser Wunder, von denen man doch immer wieder erzählte. Ganz ausschließen wollte sie diese Möglichkeit jedenfalls nicht. Aber zumindest hatte sie ihre Tasche wieder. Womöglich war der ganze Tag ja doch nicht so schlecht, wie sie dachte. Bevor aber noch ein weiteres Unglück passieren konnte, ging sie lieber zurück nach Hause. Auf dem Weg aber brach das Unwetter herein. Es regnete in Strömen und obwohl Charity in weiser Voraussicht ihren Regenschirm mitgenommen hatte, wurde sie dennoch nass und begann in ihren Schuhen gefährlich zu rutschen, da diese leider nicht wasserfest waren. Um zu vermeiden, dass sie noch mal stürzte und dann komplett nass und schmutzig wurde, zog sie diese kurzerhand aus und lief den restlichen Weg barfuß. Der Regen wurde immer stärker und flutete schließlich Teile der Straße, sodass sie zwischendurch wortwörtlich im Wasser stand. Sie erreichte schließlich das Einfamilienhaus, in welchem sie mit ihrer Großmutter wohnte und klingelte. Es dauerte aber eine Weile, bis Grace kam, um ihr zu öffnen. Da sie ihre Enkelin nicht mit nassen Füßen durch das Haus laufen lassen wollte, brachte sie ihr erst einmal ein Handtuch und nahm den Regenschirm entgegen. „Oma, du glaubst mir nie, was mir gerade passiert ist.“ „Nun, ich sehe zumindest, dass du dir diese neue Handtasche gekauft hast. Hat es damit zu tun?“

„Nein… ja… nicht direkt… Also, ich bin ganz normal von der Apotheke zurück und hatte mir vorher diese Handtasche gekauft. Als ich auf dem halben Weg zurück war, hat ein Wagen angehalten und der Fahrer wollte mich nach dem Weg fragen. In dem Moment klaut mir jemand die Handtasche!“ Grace runzelte ein wenig verwirrt die Stirn, denn sie sah wohl, dass ihre Enkelin die Tasche noch hatte. Und sie wusste selbst, dass man in Absatzschuhen keine wilde Verfolgungsjagd schaffen konnte. „Was ist dann passiert?“

„Er hat sich nach einer kurzen Weile umgedreht und sie mir wortlos zurückgegeben, dann ist er abgehauen. Dabei hat er nicht einmal den Eindruck gemacht, als wollte er sich einen Scherz erlauben.“

„Das ist wirklich seltsam“, murmelte die Pensionärin und brachte ihre Enkelin ins Haus, denn draußen begann sich das Wetter deutlich zu verschlechtern. Es blitzte und donnerte und es begann auch kurz darauf tatsächlich zu hageln. Sie zogen sich ins Wohnzimmer zurück, wo Charity ihrer Großmutter die Medikamente gab und ihr noch mal erzählte, was passiert war. Insgeheim hoffte sie ja, dass Grace vielleicht eine Erklärung hatte, aber auch sie war sich nicht sicher, was das zu bedeuten hatte. „Solange du ihn nicht selbst gefragt hast, gibt es nur folgende Erklärungen: Er hat es sich anders überlegt, es war Teil einer dieser kindischen Mutproben oder aber er hatte einen anderen ganz bestimmten Grund, den wir nicht kennen. Wie wir beide manchmal zu sagen pflegen: Hin und wieder geschehen tatsächlich Wunder und manche Dinge geschehen aus einem bestimmten Grund.“ Na ob das wirklich die Antwort war? So finster, wie der Junge geguckt hatte, machte er nicht den Eindruck, als würde er seine Tat bereuen oder als hätte er es mit der Angst zu tun bekommen. Irgendwie kam ihr diese Sache seltsam vor. Als wäre das alles irgendwie geplant gewesen, dass er ihr erst die Tasche klaut und sie ihr dann wieder zurückgibt. Aber wahrscheinlich würde sie nie herausfinden, ob es wirklich nur Zufall, oder aber tatsächlich Schicksal war.
 

Die Neonröhren gaben ein blassgelbes Licht von sich und einige von ihnen flackerten leicht. Eine bedrückende Atmosphäre herrschte hier und die kalten sterilen Gänge und die grauen Wände verstärkten das ganze noch zusätzlich. Für einen kurzen Moment fragte sich Jesse, warum er noch mal hier war und erinnerte sich wieder, wieso er sich das hier immer wieder aufs Neue antat. Freiwillig würde er hier eigentlich nicht hingehen, oder zumindest nicht ohne Grund. Aber heute war ein besonderer Tag und deshalb wollte er sie besuchen gehen in der Hoffnung, nun endlich Frieden mit ihr schließen zu können. Ein Wachmann kam zu ihm und fragte „Jesse Wyatt?“ Er erhob sich und nickte wortlos. „Kommen Sie mit.“ Ohne ein Wort zu sagen, folgte er dem Wachmann durch den Gang und wartete, bis dieser die schwere Tür geöffnet hatte. Schon von der Tür aus konnte er sie sehen und innerlich fühlte er die innere Anspannung und Nervosität. Sie sah furchtbar aus. Ihr blondes Haar war kurz geschnitten und ungepflegt, auch ihr Gesicht war eingefallen und blass. Auch ihre Augenringe verstärkten den Eindruck, als würde er zu einem Totenschädel blicken. Um es ungeschönt zu sagen, war sie völlig abgemagert und erinnerte mehr an eine Mumie, als an einen lebenden Menschen. Jesse ging zu ihr und setzte sich ihr gegenüber hin. „Hallo Mum“, grüßte er murmelnd und versuchte, in ihre staubgrauen und trüben Augen zu sehen, doch sie sah ihn nicht an. Sie nahm die Hände vom Tisch, die mit Handschellen gefesselt waren und ihr Blick hatte etwas Kaltes und Abweisendes. „Was willst du hier?“ fragte sie unwirsch und lehnte sich zurück, wobei sie immer noch keinen Augenkontakt zu ihrem Sohn aufnahm. Jesse sagte nichts. Er schaffte es nicht, zu antworten und er spürte, wie sich seine Brust zusammenschnürte. Schließlich aber unterbrach seine Mutter die Stille. „Bist du hier, um mir die Ohren vollzujammern, oder weil du Absolution willst?“ Wieder sagte er nichts. Zwar wollte er etwas darauf antworten, aber ihm fehlten einfach die Worte dafür und er wusste auch nicht, wie er am Besten antworten sollte. Sein Magen begann sich zu verkrampfen. „Weißt du Mum… heute ist dieser eine Tag und ich dachte…“ „Na und?“ fragte sie und nun sah sie ihn direkt an. Und in ihren Augen war nichts als Hass zu sehen. „Glaubst du etwa, ich würde dir jemals verzeihen, was passiert ist? Du hattest gewusst, was passieren würde und hast es nicht geschafft, auf deinen kleinen Bruder aufzupassen. Du hattest die Aufgabe, ihn zu beschützen und nicht einmal das hast du auf die Reihe gekriegt, genauso wie du nichts in deinem Leben auf die Reihe kriegst. Allein deinetwegen ist Luca tot und wegen dir sitze ich im Gefängnis. Weißt du was? Ich wünschte du wärst damals gestorben und nicht Luca. Du hast mir mein Leben ruiniert und ich werde dir erst verzeihen, wenn du irgendwo tot in der Ecke liegst! Soll sich doch mein Bruder mit dir herumärgern, ich will dich erst wieder sehen, wenn du endlich tot bist. Warum kommst du überhaupt jeden Monat hierher? Hast du sonst nichts Besseres zu tun, oder tust du das, weil du glaubst, du müsstest das unbedingt für mich tun, weil ich deine Mutter bin?“ Nun schnürte sich seine Brust schmerzhaft zusammen, dass er kaum Luft bekam und er spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. Er hatte gedacht, dass er gegen derlei schon abgestumpft war und dass der abgrundtiefe Hass seiner Mutter oder die rücksichtslose Ausbeuterei seines Onkels ihn eigentlich nicht mehr so im Herzen wehtun könnte. Aber er hatte sich geirrt. Es tat immer noch weh und er biss sich auf die Unterlippe, wobei seine Zähne dabei einen seiner Piercings berührten. „Du… du bist doch meine Mutter…“ Das war die einzige Antwort, die er halbwegs formulieren konnte, aber er wusste, dass er gleich gar nichts mehr sagen konnte. Er senkte den Blick und faltete die Hände. „Es tut mir wirklich Leid…“

„Ach spar dir doch diese Entschuldigungen und deine Mitleidstour. Davon wird Luca auch nicht mehr zurückkommen.“

„Aber ich wollte doch nicht, dass er stirbt.“

„Ist er aber und zwar nur deinetwegen. Deine verdammten Träume haben ihn umgebracht und mein Leben ruiniert. Ich frage mich ehrlich, was bei dir nur kaputt ist. Wahrscheinlich haben sie dich kurz nach der Geburt vertauscht. Irgendwie hatte ich sowieso schon von Anfang an das Gefühl gehabt, dass du nicht mein Kind sein kannst. Bei Luca hatte ich sofort gespürt, dass er mein Fleisch und Blut ist, aber du warst schon immer ein Fremder für mich gewesen. Ja, die werden dich ganz sicher irgendwie nach der Geburt vertauscht haben! So einer wie du kann gar nicht mein Kind sein und jetzt verschwinde und lass dich hier nicht mehr blicken. Ich will dich nie wieder sehen, hörst du?“ Es brachte nichts, das Gespräch war beendet und was Jesse blieb, war eine riesige Leere in seinem Innersten. Obwohl ihn größtenteils die Kraft verlassen hatte, stand er auf, verabschiedete sich von seiner Mutter und wandte sich von ihr ab. Seine Knie fühlten sich an, als würden sie jeden Moment den Dienst versagen und er steckte die Hände in die Taschen seines Mantels, wo er sie zu Fäusten ballte. Er wollte nur noch raus und das am Besten so schnell wie möglich. Doch bevor er mit dem Wachmann den Raum verließ, sprang seine Mutter hoch und rief ihm noch nach „Ich wünschte, ich hätte dich umgebracht, als ich die Chance dazu hatte! Dann wäre Luca noch am Leben und ich hätte glücklich werden können!!!“ Doch Jesse reagierte gar nicht mehr darauf. Mechanisch folgte er dem Wachmann, der ihn wieder zurückbrachte und nachdem er die Kontrolle passiert hatte, verließ er das Gefängnis. Der Wind wehte und kühlte sein glühendes Gesicht. Es regnete in Strömen und Jesse setzte seine Kapuze auf. Der Donner grollte ohrenbetäubend und schließlich begann es auch noch zu hageln, doch er spürte gar nicht, wie sie auf seinen Kopf und seine Schultern einprasselten. Er spürte gar nichts mehr in diesem Moment. Viele hätten in seiner Situation geweint oder Emotionen gezeigt, aber er konnte es nicht. Seine Tränen waren schon vor Jahren versiegt und er fühlte auch nichts mehr außer Leere und Hoffnungslosigkeit. Er setzte sich erst einmal an einer überdachten Bushaltestelle hin und zündete sich eine Zigarette an. Aber das würde auch nicht viel helfen, er brauchte etwas Hochprozentiges, um die Worte seiner Mutter schlucken und diese ganze Scheiße wenigstens für ein paar Stunden vergessen zu können. Aber eine Lösung war das auf Dauer auch nicht und würde an seiner Misere nichts ändern. Denn egal wie viel er auch trank, es würde niemals die Leere in seinem Herzen füllen. Vielleicht war es wirklich besser, wenn er einfach vom Angesicht dieser Welt verschwand. Es würde sowieso kein Schwein kümmern, wenn er jetzt gleich auf der Stelle tot umfiel. Im Grunde wollte ihn doch sowieso niemand haben. Weder sein Vater, der ihn im Stich gelassen hatte, noch seine Mutter oder sein Onkel. Ein lautes Klingeln riss Jesse aus seinen Gedanken und er holte sein Handy hervor. Auf dem Display stand „Sklaventreiber“, das war sein Onkel. Na toll, der hatte ihm gerade noch gefehlt. Jesse drückte den grünen Hörer und ging ran. „Was willst du, Walter?“

„Verdammt noch mal wo bleibst du? Ich hab dir gesagt, dass du heute Überstunden machen musst, weil Andy heute früher Feierabend hat. Wo treibst du dich wieder herum, du Nichtsnutz?“

„Ich war bei Mutter. Ich werde außerdem heute nicht mehr arbeiten kommen.“

„Was sagst du da?“

„Ich fühl mich gerade nicht so gut.“

„Du bewegst deinen faulen Arsch hierher, du kleiner Schmarotzer. Ich lass dich bei mir wohnen und füttere dich schon seit Jahren durch und dafür hast du gefälligst bei mir zu arbeiten. Und außerdem hast du mir immer noch nicht den Tipp fürs Pferderennen gegeben. Du kennst die Abmachung, also halt dich gefälligst dran oder du kannst die nächsten beiden Tage auf der Straße schlafen. Und ich glaube nicht, dass du schon wieder Lust darauf hast.“ Doch das war Jesse jetzt auch egal. Er wollte heute einfach nicht mehr in den Getränkemarkt gehen und dort bis spät in die Nacht Kästen schleppen. Nach dem Gespräch mit seiner Mutter hatte er keine Lust, sich auch noch mit Walter herumärgern zu müssen. Er brauchte jetzt einfach mal Abstand. Wenn er schon die nächsten beiden Tage auf der Straße schlafen musste, dann konnte er wenigstens das Beste daraus machen. Mit einem leisen Seufzer warf er die brennende Zigarette zu Boden und drückte sie aus. Dann ging er in Richtung Tankstelle und dachte nach. Wie sollte denn sein Leben weitergehen, wenn er nicht vorzeitig an Leberversagen starb oder unter die Räder geriet, wenn er mal wieder betrunken war? Drei Male hatte er bereits eine Alkoholvergiftung gehabt, ein Mal lag er sogar im Koma und wäre fast gestorben. Im Grunde hatte er doch keine wirkliche Zukunft. Er hatte keine Familie und die Schule hatte er wegen diesem Sklaventreiber Walter auch schmeißen müssen und hatte deshalb auch keinen Abschluss. So schnell würde er nirgendwo einen Job finden und wirkliche Begabungen hatte er auch nicht. Im Grunde konnte er gar nichts, außer sich von seinem Onkel ausnutzen und von ihm schikanieren zu lassen, weil dieser wusste, dass Jesse auf ihn angewiesen war. Und natürlich konnte er auch nichts anderes, als sich zu betrinken, weil sein Leben so beschissen war. Seine Mutter hatte sich von ihm abgewandt und sein Vater hatte die Familie schon vorher im Stich gelassen. Und seinetwegen war sein kleiner Bruder tot. Für ihn gab es keinen Grund, noch länger am Leben zu bleiben. Niemanden würde es interessieren, wenn er stirbt und wirklich große Aussichten hatte er in diesem Leben auch nicht. An der Tankstelle kaufte sich Jesse eine Schnapsflasche, steckte sie in eine braune Papiertüte und wanderte ein wenig umher, um sich einen ruhigen Ort zu suchen, wo er ungestört war. Er wollte niemanden sehen oder hören, also schaltete er auch sein Handy aus. Um wenigstens einen trockenen Unterschlupf für die Nacht zu haben, ging er zur Unterführung, wo tatsächlich niemand war, nicht einmal Obdachlose. Wenigstens ein kleiner Lichtblick für diesen Tag. Als er sich gesetzt hatte, schraubte er den Verschluss der Schnapsflasche auf. Am liebsten hätte er in diesem Moment einfach nur laut geschrieen und die Flasche gegen die Wand geworfen, aber das würde auch nichts bringen. Schreien und Rumheulen würde rein gar nichts an seiner Situation ändern. Früher hatte er das gemacht, aber dann hatte er einfach resigniert und all das hingenommen, was ihm widerfuhr, weil er wusste, dass er den Kampf nicht gewinnen konnte. Und wirklich fühlen konnte er seit Jahren nichts mehr. Nur körperlichen Schmerz. Schließlich hob er die Flasche wie zum Anstoß an und murmelte mit trostloser Stimme „Alles Gute zum Geburtstag, Jesse.“ Dann nahm er einen ordentlichen Zug in der Hoffnung, dass der Alkohol ihm für die nächsten Stunden die Erinnerungen und Sorgen wegwaschen konnte.

Schicksalhafte Wiederbegegnung

Als das Gewitter endlich abgeklungen war und es auch zu regnen aufgehört hatte, schnappte sich Charity ihre Jacke und verabschiedete sich von ihrer Großmutter. Diese sah auf die Uhr und fragte verwundert, was ihre Enkelin denn um sieben Uhr noch draußen zu erledigen hatte. Die Studentin erklärte, dass sie noch gerne einen Spaziergang machen wollte, da sie sowieso leichte Kopfschmerzen hätte und darum etwas frische Luft gut gebrauchen konnte. „Nimm aber dein Handy mit, falls etwas sein sollte.“

„Keine Sorge Oma, ich hab alles dabei. Ich bleib auch nicht allzu lange weg, höchstens eine halbe Stunde oder so.“ Zum Abschied gab sie ihrer Großmutter noch einen schnellen Kuss auf die Wange und nachdem sie ihre wasserfesten Wanderschuhe angezogen hatte, ging sie zur Tür raus. Inzwischen war es schon dunkel geworden, aber da sie hier in einer ruhigen Gegend wohnten und die Straßen allesamt beleuchtet waren, hatte Charity eigentlich nichts zu befürchten. Inzwischen hatte sich auch die Luft deutlich abgekühlt und wenigstens war es nicht mehr so erdrückend schwül wie am Mittag. Damit sie wenigstens etwas Unterhaltung zu ihrem Spaziergang hatte, holte sie ihren MP3-Player heraus und begann die neuesten Lieder von Katy Perry zu spielen. Auch wenn sie ein sehr gutes Verhältnis zu ihrer Großmutter hatte und religiös war, so war sie durchaus kein langweiliges Mauerblümchen, wie viele immer dachten. Tatsächlich liebte sie es, sich auch mal etwas kürzere Röcke anzuziehen, irgendwo hin feiern zu gehen oder sich die neuesten Hits der Charts anzuhören. Es war nur ärgerlich, dass viele sie für ein naives Kirchendummchen hielten, das rein gar nichts im Kopf hatte und das nervte sie schon mal. Sie verstand nicht, wieso sie gleich als verklemmtes Mauerblümchen abgestempelt wurde, nur weil sie nicht in allen Bereichen dem typischen Mädchenklischee von heute entsprach. Während ihrer High School Zeit hatte sie zwar hin und wieder mal für einen Jungen geschwärmt, aber es war nie etwas Ernstes geworden und sie hatte auch noch nie ein Bier getrunken. Sie verstand einfach nicht, wie so viele glauben konnten, man könnte nur Spaß haben, wenn man Alkohol trinkt. In der Schule hatte sie es nicht immer einfach gehabt und wurde oft aufgezogen, weil sie nichts trinkt, keinen festen Freund hatte und noch nicht einmal rauchte. Aber insbesondere fanden es viele witzig, dass sie betete und an Gott glaubte. Charity hatte sich zu helfen gewusst und sie hatte sich auf ihre Freunde verlassen können, die ihr immer helfend zur Seite standen. Auch wenn sie gutgläubig und naiv war, ließ sie sich nicht so einfach solche Schikanen gefallen und besaß auch eine Kämpfernatur, die man ihr nicht wirklich zutrauen würde. Und sie hatte auch ihren Kampfgeist bewiesen, als sie zur leitenden Kraft einer Schuldemonstration wurde, als gegen die Diskriminierung und Intoleranz an den Schulen gegenüber Schwarzen und Homosexuellen protestiert wurde. In einer unbedachten Kurzschlussreaktion war sie aufs Podium gestiegen und hatte den Oberschulrat zur Rede gestellt und die Menge auf ihre Seite gezogen. Im Nachhinein hatte sie sich selbst gewundert, wie sie dazu nur den Mut aufgebracht hatte, aber wenn sie sich für etwas einsetzen wollte, dann konnte sie eine richtige Kämpferin werden und war dann nicht mehr die treudoofe Charity, über die sich so viele Schüler lustig machten. Die Aktion hatte ihr zwar Ärger bei der Schulleitung eingebracht, aber gleichzeitig hatte sie sich bei den Schülern Respekt verschafft, auch wenn sie das überhaupt nicht beabsichtigt hatte. Es war einfach so über sie gekommen und sie hatte nicht großartig darüber nachgedacht, sondern spontan gehandelt. Trotzdem gab es am College immer noch genug Idioten, die sie nach wie vor noch in eine Schublade mit den langweiligen Mauerblümchen stecken wollten, die nichts hatten, als den Gottesglauben, den sie von ihrer Oma hatten. Manchmal waren diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen einfach nur Idioten und ab und zu hatte sich Charity schon gefragt, ob nicht irgendwo auf ihrem Kopf „Opfer“ geschrieben stand und sie es irgendwie übersehen hatte. Denn egal wie sie sich auch gab, sie schien den Spott von solchen Vollidioten immer auf sich zu ziehen, nur weil sie es nicht unbedingt nötig hatte, zu trinken, zu kiffen, zu rauchen oder sich direkt an den Hals des nächstbesten Typen zu schmeißen. Sie sah einfach keinen Grund darin und ihre Großmutter hatte auch gesagt gehabt, dass es das unvernünftigste war, was man machen konnte: Es nur zu tun, weil man dazugehören wollte. Denn hinterher würde man es sowieso bereuen. Ihre Mutter hatte schon mit 14 Jahren angefangen zu rauchen, nur weil sie zu einer Clique dazugehören wollte und war bis zu ihrem Unfalltod starke Kettenraucherin gewesen. Die Lunge hatte da auch schon nicht mehr richtig gearbeitet und sicherlich hätte sie dann irgendwann Lungenkrebs umgebracht, wenn nicht der Baum, gegen den das Auto auf der nassen Fahrbahn geprallt war. Charity musste in diesem Moment zurückdenken, als sie vom Tod ihrer Eltern erfahren hatte. Sie hatte an dem Abend schlecht geschlafen und einen Alptraum gehabt. Was sie geträumt hatte, wusste sie nicht mehr, aber sie hatte ziemlich heftig geweint und versucht, bei ihrer Großmutter Trost zu finden, die damals auf sie aufgepasst hatte. Sie war damals sieben Jahre alt gewesen und hatte gefragt, ob sie ihre Eltern anrufen könnte, weil sie geträumt hätte, dass sie nicht nach Hause kommen würden. Ihre Eltern waren zu dem Zeitpunkt noch auf Geschäftsreise und am Telefon hatte ihre Mutter sie getröstet und versprochen, dass sie bald da sein und dann mit ihr zusammen in den Zoo gehen würde. Aber sie kamen nicht zurück und statt in den Zoo ging Charity zur Beerdigung ihrer Eltern. Sie hatte heftig geweint, als sie realisiert hatte, dass ihre Eltern nie wieder zurückkommen würden, weil sie für immer fort waren. Und sie hatte sich gefragt, ob sie es nicht vielleicht hätte verhindern können, wenn sie ihren Eltern von ihrem Traum erzählt hätte. Aber dank ihrer Großmutter hatte sie diese Gedanken wieder verworfen. Grace hatte sie getröstet und dann gesagt, dass ihre Eltern nun an einem Ort sind, wo sie immer glücklich sein werden und dass sie immer auf ihre kleine Tochter aufpassen werden. Dann hatte sie Charity den Rosenkranz gegeben, damit ein Teil von ihrer Mutter immer bei ihr blieb. Und inzwischen glaubte sie, dass sie diesen Traum deshalb gehabt hatte, damit sie die Chance bekam, sich von ihren Eltern zu verabschieden.
 

Als plötzlich nicht mehr Katy Perry, sondern stattdessen Skillet spielte, unterbrach sie ihre Gedanken und übersprang das Lied und suchte sich ihren Lieblingssong von Lady Gaga. Meine Güte, wie lange war sie denn jetzt eigentlich unterwegs und wo genau war sie denn jetzt? Verwundert sah sie sich um und wusste im ersten Moment gar nicht, wo sie war. Sie war so abgelenkt gewesen, dass sie gar nicht aufgepasst hatte, wo sie hingegangen war. Das durfte doch nicht wahr sein, wie konnte ihr denn so etwas nur passieren? Eigentlich kannte sie die Gegend gut genug und für gewöhnlich passierte ihr so etwas nicht, aber heute war sie sowieso schon schusselig genug und in der Dunkelheit sah sowieso alles ganz anders aus. „Och nee. So doof kann doch nicht mal ich sein!“ Charity raufte sich die Haare und ärgerte sich, dass sie sich verlaufen hatte. Zu ihrer Gutgläubigkeit kam leider auch ein absolut miserabler Orientierungssinn hinzu, der ihr auch oft genug Schwierigkeiten bereitete. Aber vielleicht hatte sie ja Glück und fand eine Straße, die ihr bekannt vorkam, wenn sie weiterging. Nach einer Weile erreichte sie zu ihrer Erleichterung eine Unterführung und wusste nun zum Glück auch wieder, wo sie war. Wenn sie dort durchging, kam sie auf den Weg wieder nach Hause und war in knapp einer Viertelstunde wieder zurück. Das war aber knapp gewesen. Wer weiß was ihre Großmutter gedacht hätte, wenn sich ihre 22-jährige Enkelin noch in ihrem eigenen Wohnviertel verlief. Die ganze Nachbarschaft würde darüber lachen und das konnte sie überhaupt nicht gebrauchen. Nun schaltete Charity ihren MP3-Player etwas leiser und sang leise mit. Sie blieb jedoch stehen, als sie nicht weit entfernt jemanden auf dem Boden liegen sah. Ach du Großer Gott, ein Obdachloser, schoss es Charity durch den Kopf und sofort schaltete sie die Musik aus und nahm die Hörer aus den Ohren. Normalerweise lagen an der Unterführung nie Obdachlose, sondern sie trieben sich immer am Bahnhof oder im Parkhaus herum. Zwar kam sie nicht oft hierher, aber man erkannte sofort, wenn Obdachlose irgendwo ihr Lager eingerichtet hatten. Und die Unterführung war definitiv kein solcher Ort. Sie ging weiter und hörte plötzlich ein leises Stöhnen. Was, wenn das kein Obdachloser war, sondern vielleicht das Opfer eines gewalttätigen Angriffs? Oder vielleicht war es ein Passant, der schwer gestürzt war und sich verletzt hatte! Nun rannte sie hin und sah sich den am Boden Liegenden genauer an. „Hallo? Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie Hilfe?“ Er hatte keine Decken bei sich und war auch nicht wie ein Obdachloser gekleidet. Nicht einmal eine Tasche hatte er bei sich. Das war definitiv kein Penner! Nun kniete sich Charity hin und drehte ihn vorsichtig auf die Seite und brachte ihn erst einmal in die stabile Seitenlage. Dabei entdeckte sie ein paar leere Schnapsflaschen und ahnte schon, was hier passiert war. Auch die Fahne, die ihr entgegenwehte, bestätigte ihren Verdacht: Der Kerl hatte sich komplett abgeschossen. Aber als sie das Gesicht des Betrunkenen genauer sah und wieder erkannte, konnte sie es zuerst nicht fassen und glaubte erst an einen verrückten Zufall. Dieser Junge mit dem rotbraunen Haar und den Piercings im Gesicht war doch der gleiche, der ihr die Handtasche geklaut hatte. Und jetzt lag er sturzbetrunken auf dem Boden und konnte offenbar nicht mehr alleine laufen. An der Schläfe blutete er leicht, vermutlich war er gestürzt und hatte sich dabei verletzt. Aber die Wunde war nicht tief, sie musste wahrscheinlich nicht einmal genäht werden. Auf dem Boden lag sein Portemonnaie, das ihm wohl aus der Manteltasche gefallen war. Sie hob es auf und schaute kurz auf seinen Ausweis, um wenigstens erfahren zu können, wie er denn hieß. Sein Name war Jesse Wyatt und er war heute 23 Jahre alt geworden. Ob er zu viel gefeiert hatte? Nein, die Schnapsflaschen sahen eher danach aus, als hätte er sich hier niedergelassen und die Klamotten waren dieselben, die er heute Nachmittag getragen hatte. Der kam garantiert nicht von einer Feier, sondern hatte sich hier ganz alleine betrunken. „Jesse, kannst du mich verstehen? Sag doch etwas!“ Er gab ein leises Stöhnen von sich und bewegte sich. Aber so betrunken wie er war, würde er sicher kaum eine vernünftige Antwort geben können. Es war besser, wenn sie den Notarzt rief, damit er in ein Krankenhaus kam. Gerade holte sie ihr Handy raus und wählte bereits den Notruf, da begann der am Boden Liegende zu schluchzen und vergrub das Gesicht in den Händen. „Es tut mir Leid…“, brachte er hervor, wobei er aber ziemlich stark nuschelte. In dem Zustand fiel ihm das Reden sehr schwer. „Ich wollte doch nicht, dass das passiert.“

„Keine Sorge Jesse, ich rufe den Notarzt. Dann wird man dir helfen.“

„Nein“, rief er und machte sich ganz klein, wobei er eine Fötalposition einnahm. Er schluchzte heftig, seine Augen zeugten von unendlicher Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit und er zitterte dabei am ganzen Körper. „Ich will hier liegen bleiben und sterben… ich hab es nicht anders verdient, als zu krepieren.“ Als Charity das hörte, ließ sie das Handy wieder sinken und sah ihn fassungslos an. Nun gut, er war ziemlich betrunken und da sagte man Dinge, die nicht unbedingt wahr sein mussten. Aber so verzweifelt wie er war, schien das wirklich wahr zu sein. Er wollte sterben und hatte wahrscheinlich deshalb zu viel getrunken. Mein Gott, an seinen eigenen Geburtstag Suizid begehen zu wollen war echt hart. Fest stand, dass Charity ihn so nicht hier lassen konnte, aber was sollte sie dann machen? Ihn in ein Krankenhaus bringen? Schließlich hatte sie ihren Entschluss gefasst und zückte ihr Handy. Doch statt die Notrufnummer zu wählen, rief sie bei einem Taxiunternehmen an. Dass es eigentlich eine total bescheuerte Idee war, einen wildfremden betrunkenen Jungen nach Hause zu bringen, um ihn dort auszunüchtern anstatt in einem Krankenhaus, kam ihr in dem Moment nicht in den Sinn. Sie dachte einfach nur daran, wie unendlich verzweifelt und traurig er war, obwohl heute doch sein Geburtstag war und wahrscheinlich hatte er niemanden, an den er sich wenden konnte. Warum sonst lag er ausgerechnet hier, wo kaum jemand hinging? Irgendetwas Schlimmes musste passiert sein, da war sich die Studentin sicher. „Jesse, kannst du aufstehen?“ Sie nahm seinen Arm und half ihm erst einmal, sich aufzusetzen. „Keine Sorge, ich werde dich erst einmal in Sicherheit bringen, wo du dich ausnüchtern kannst. Glaubst du, du schaffst es, ein paar Schritte zu laufen?“ Er antwortete nicht und schien noch nicht einmal zu wissen, was hier eigentlich geschah. Sein Blick wanderte ziellos umher und Charity bezweifelte, dass er überhaupt fünf Meter schaffte. Sie biss sich auf die Unterlippe und nahm all ihre Kraft zusammen, als sie ihn hochzog. Wankend kam er auf die Beine und sogleich legte sie seinen Arm um ihre Schultern, während sie ihn mit der anderen Hand am Gürtel festhielt, um ihn zu stabilisieren. „Also gut Jesse, wir gehen jetzt ganz langsam und vorsichtig. Versuch, langsam ein Bein vor das andere zu setzen. Ich halte dich fest und dann gehen wir zusammen zum Taxi.“

„Scheiße“, nuschelte er und rollte benommen seinen Kopf. „Ich bin seekrank…“ Auf Charitys Stirn bildeten sich Schweißperlen und sie musste ihre ganze Kraft zusammennehmen. Zwar war Jesse eher schmächtig und nicht sehr groß, aber da er sich kaum auf den Beinen halten konnte, musste sie den größten Teil seines Gewichts stemmen und da er immer wieder stark zur Seite schwankte, wurde sie mitgezogen und verlor beinahe selbst das Gleichgewicht. Schritt für Schritt gingen sie vorwärts und erreichten nach einer gefühlten Ewigkeit endlich das Taxi. Gleich schon als der Fahrer sie sah, stieg er aus und half Charity das letzte Stück zum Auto und gemeinsam setzten sie Jesse ins Taxi. „Zu viel gefeiert?“

„Er hat auf seinen Geburtstag angestoßen und es leider übertrieben.“

„Bist du seine Freundin?“

„Ja.“ Charity hielt es für das Beste, erst mal zu behaupten, dass sie seine Freundin wäre. Das war eine plausiblere Erklärung, als wenn sie sagte, dass sie ihn überhaupt nicht kannte. Dann müsste sie ja die Frage beantworten, wieso sie Jesse nicht in ein Krankenhaus brachte. Nun setzte sich auch Charity ins Auto und nannte dem Fahrer die Adresse. Die Fahrt selbst dauerte nur wenige Minuten und die überstand Jesse ganz gut, ohne sich übergeben zu müssen. Sie zahlte das Geld und gemeinsam holten sie den Betrunkenen aus dem Auto raus, den Rest schaffte die Studentin alleine. Als sie aber vor der Haustür stand, fiel ihr etwas ein, woran sie noch gar nicht gedacht hatte: Ihre Großmutter. Wie würde sie wohl reagieren, wenn ihre Enkelin mit einem betrunkenen und fremden Jungen vor der Tür stand? Sollte sie sie auch anlügen? Nein, sie war ihrer Großmutter gegenüber keine gute Lügnerin und diese durchschaute sie jedes Mal sofort. Jesse stöhnte und sank zusammen und nur mit Mühe konnte sie ihn oben halten. „Reiß dich bitte zusammen, okay? Wir haben es ja gleich geschafft.“ Sie drückte die Klingel und wenig später öffnete Grace ihr die Tür. Wie befürchtet bekam sie erst einmal einen Schreck und wich zurück. „Cherry, was hat das zu bedeuten und wer ist dieser junge Mann da?“

„Sein Name ist Jesse Wyatt. Er ist der Kerl, der mir heute Nachmittag die Handtasche geklaut hat. Ich hab ihn an der Unterführung gefunden.“

„Aber warum bringst du ihn hierher und rufst keinen Notarzt? Bist du denn völlig verrückt geworden?“

„Er ist völlig verzweifelt und ist offenbar auch suizidgefährdet. Außerdem hat er Geburtstag und er tut mir irgendwie Leid. Könntest du bitte beiseite gehen? Er ist ein bisschen zu schwer für mich und ich kann ihn kaum halten.“ Da Grace regelrecht vor vollendeten Tatsachen stand und kaum eine andere Wahl hatte, ging sie beiseite und begleitete ihre Enkelin ins Wohnzimmer. Dort legte die Studentin den Betrunkenen auf die Couch und zog ihm die Schuhe und die Jacke aus. „Ich fasse nicht, was du da gerade machst. Der Junge gehört in ein Krankenhaus. Du kennst ihn nicht einmal und weißt nicht, ob er vielleicht gefährlich ist.“

„Er ist nicht gefährlich, er braucht einfach nur Hilfe.“

„Du bist viel zu naiv, Charity. Willst du in Zukunft jeden Betrunkenen herbringen, weil er dir Leid tut?“ Sie antwortete nicht, sondern ging den Verbandskasten holen, um die Verletzung an seinem Kopf zu versorgen. Sie blutete bereits nicht mehr, musste aber trotzdem gesäubert und desinfiziert werden, bevor sie sich entzünden konnte. Glücklicherweise hatte sie im Erste-Hilfe-Kurs aufgepasst und so begann sie, das Blut abzuwaschen, die Wunde zu reinigen und dann mit Salbe zu behandeln. Ansonsten schien er keine weiteren Verletzungen zu haben. Während sie neben ihm kniete und die Wunde behandelte, betrachtete sie sein Gesicht. Nun, sie war kein Freund von Piercings und fand so etwas auch nicht gerade schön, aber dennoch war sein Gesicht sehr hübsch. Es war blass und fein geschnitten und seine Augen hatten ein wunderschönes Smaragdgrün. Zwar war er kein Schönling, besaß aber etwas natürlich Schönes und irgendwie konnte Charity ihre Augen nicht von ihm abwenden. Besonders nicht von seinen Augen. Schließlich ertappte sie sich selbst dabei, wie sie ihm durchs Haar strich und zog ihre Hand sofort wieder zurück. Ohne zu der immer noch wütenden Grace zu sehen, fragte sie schließlich „Oma, glaubst du, dass es so etwas wie göttliche Fügung gibt?“

„Natürlich. Warum fragst du?“

„Es kann doch kein Zufall sein, dass er mich erst beraubt, mir wortlos die Tasche zurückgibt und ich ihn dann sturzbetrunken und verletzt an der Unterführung finde. Vielleicht war es ja tatsächlich kein Zufall, dass ich ihn gefunden habe. Wer weiß, was mit ihm passiert wäre, wenn ich ihn nicht gefunden hätte.“ Grace schüttelte den Kopf und durchschritt langsam den Raum. Sie konnte nicht verstehen, wie naiv ihre Enkelin manchmal sein konnte. Nur weil sie zufällig den gleichen Typen wieder traf, der sie zuvor beklaut hatte und er betrunken irgendwo in der Ecke lag, glaubte sie direkt an göttliche Fügung oder an das Schicksal. Sie war skeptisch und hatte Sorge, dass ihr der Junge noch Ärger machen könnte. Aber vor allem gefiel ihr nicht, wie Charity ihn ansah und wie sie ihm durchs Haar strich. Es war allzu offensichtlich, dass sie Interesse an ihm hatte und natürlich würde sie es ihr gönnen, wenn sie sich verliebte. Aber ausgerechnet jemanden, der sich so sehr betrinkt? Sie war besorgt, dass dieser Jesse einen schlechten Einfluss auf ihre Enkelin ausüben konnte, wenn es wirklich ernst werden sollte. Nun gut, Charity hatte bereits ein Praktikum in einer Adaptionsstelle absolviert und wusste, wie sich Suchtverhalten auf das eigene Leben auswirkten und sie hatte trotz des an der Schule vorherrschenden Gruppenzwangs nie Alkohol getrunken. Nicht einmal zu ihrem 18. Geburtstag! Aber wenn so etwas wie Liebe ins Spiel kam, konnte jeder Mensch schwach werden. Denn er war ja auch nur ein Mensch. Aber es machte jetzt auch keinen Sinn, mit ihr zu streiten und den Jungen auf die Straße zu werfen. Und solange er in diesem Zustand war, würde er mit Sicherheit auch keine Schwierigkeiten machen. Nein, der wird sicherlich erst einmal seinen Rausch ausschlafen und das konnte noch eine Zeit lang dauern. „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, Charity.“ Damit verließ die Pensionärin das Wohnzimmer und ging hoch in die obere Etage, wo sie ihr Zimmer hatte. Sie war erschöpft und dieser starke Wetterwechsel hatte ihr schon zugesetzt. Charity blieb noch wach und durchsuchte Jesses Mantel. Natürlich wusste sie, dass sie das nicht tun durfte und sie auch richtig Ärger bekommen könnte, aber sie wollte wenigstens einen Hinweis darauf finden, warum Jesse so depressiv war. Aber viel fand sie nicht in seinen Taschen. Zigaretten, ein Feuerzeug und ein Handy. Als sie aus reiner Neugier die Anrufliste durchging, bemerkte sie schnell, dass Jesses Kontakte offenbar nicht gerade zu seinen Freunden gehörten. Statt Namen waren alle Nummern mit Beleidigungen versehen. Angefangen von „Ausbeuter“, bis hin zu „Hackfresse“. Allem Anschein nach war Jesse nicht gerade der netteste Kerl, oder aber er hatte nicht gerade eine hohe Meinung von anderen. Hoffentlich versah er sie nicht eines Tages mit dem Eintrag „Treudoofe Nuss“, oder so. In seinem Handy war auch ein Terminkalender und jeden Monat war am gleichen Tag immer nur ein Eintrag: Besuchstag Mum. Diese Einträge gingen zwei Jahre zurück und waren auch für die nächsten sechs Jahre eingetragen. Wenn Jesse doch 23 Jahre alt war, dann bedeutete das sicherlich nicht, dass er bei seinem Vater lebte und am Wochenende seine Mutter besuchen ging. Das erklärte allein die Tatsache, dass der Besuchstag immer auf einen Donnerstag fiel. Und außerdem war es immer nur ein Mal pro Monat in regelmäßigen Abständen. Ob seine Mutter der Grund war, wieso es ihm so schlecht ging? Das würde sie wahrscheinlich erst erfahren, wenn sie mit ihm redete und er ihr auch eine Antwort gab. Sie steckte das Handy zurück und sah sich sein Portemonnaie an. Bargeld hatte er nicht viel mit, wahrscheinlich hatte er alles für Schnaps ausgegeben. Außer einem Personalausweis (einen Führerschein hatte er nicht) fand sie seltsamerweise keine Kredit- oder Kontokarten. Ob er überhaupt welche besaß? Zusätzlich gab es noch ein Foto im Portemonnaie. Für Charity war das nichts Ungewöhnliches. Auch sie hatte ein altes Foto mit ihren Eltern und ein neueres von ihrer Großmutter immer bei sich. Das kleine Passbildchen zeigte einen kleinen brünetten Jungen, der sehr aufgeweckt und fröhlich aussah. Vermutlich Jesses Bruder. Aber von seinen Eltern gab es keine Fotos, aus welchem Grund auch immer.

Jetzt hatte sie aber wirklich genug herumgeschnüffelt! Charity steckte nun auch das Portemonnaie wieder zurück in die Manteltasche und legte sowohl diesen als auch die Schuhe beiseite. Vorsichtig legte sie ein Kissen unter Jesses Kopf und deckte ihn zu. Wie kam man an seinem 23. Geburtstag dazu, einfach so sterben zu wollen? Sie konnte es einfach nicht begreifen und allein die Erinnerung daran, wie verzweifelt Jesse gewesen war, als er am Boden gelegen und geweint hatte, schmerzte sie. Er tat ihr einfach nur Leid und sie wollte ihm gerne helfen. Dieser Handtaschenraub war sicherlich auch kein Scherz oder eine Mutprobe gewesen. Jesse hatte ihr bewusst die Handtasche weggenommen und sie ihr ebenso bewusst wieder zurückgegeben. Aber warum? Was waren seine Beweggründe gewesen? War es vielleicht eine Art stummer Hilfeschrei gewesen? Seltsamerweise war sie überhaupt nicht sauer auf ihn, weil er das getan hatte. Inzwischen glaubte sie auch nicht mehr daran, dass er sie überhaupt bestehlen wollte. Ein Gefühl in ihr sagte ihr, dass Jesse keine solchen Absichten gehegt, sondern ein bestimmtes Ziel verfolgt hatte. Und es hatte mit ihr zu tun. Sie musste nur noch den Grund herausfinden. Da sie momentan nichts anderes zu tun hatte, setzte sie sich in den bequemen Sessel und schaltete den Fernseher ein. Im Laufe des Abends passierte es dann aber, dass sie einfach einschlief und erst gegen zwei Uhr morgens wieder aufwachte. Müde rieb sie sich die Augen und sah sich um. Jesse lag immer noch auf der Couch und schlief tief und fest. Er machte auch nicht den Anschein, als würde sich an diesem Zustand etwas ändern. Im Dunkeln tastete sie nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Leise schlich sie aus dem Wohnzimmer und wollte schon in ihr Zimmer gehen, da hörte sie plötzlich eine Stimme. „Luca…“ Sie blieb stehen und drehte sich zu Jesse um. „Mum… es tut mir… Luca… Luca ist…“ Offenbar sprach er gerade im Schlaf und hatte wohl keinen sehr schönen Traum. Hoffentlich ging es ihm wenigstens nach dem Aufwachen etwas besser. Leise schloss Charity die Tür und ging in ihr Zimmer, um wenigstens noch ein paar Stunden zu schlafen.

Streitereien

Das Erste, was Jesse außer dem Kater vom Vorabend wahrnahm, war helles Licht und Geräusche von irgendwo her. Seltsamerweise lag er gar nicht auf dem harten und kalten Boden der Unterführung, sondern auf einer Couch. Langsam öffnete er die Augen und musste blinzeln. Wo zum Teufel war er denn und was war passiert? Wieso lag er auf einer Couch? Trotz der furchtbaren Kopfschmerzen versuchte er, sich an die Geschehnisse von gestern zu erinnern, bekam aber nur wenige Erinnerungsfetzen zusammen. Er wusste, dass er vom Gefängnis aus im Regen zur Tankstelle gelaufen war, um sich Schnaps zu besorgen und dann war er zur Unterführung gegangen, wo er ungestört und wenigstens im Trockenen war. Alles, woran er sich noch erinnerte, war eine Stimme und wie ihn jemand gepackt hatte. Verdammt, jetzt war er sicherlich verschleppt worden und wer auch immer ihn hier festhielt, der war sicher so ein Verrückter oder so ein Menschenhändler, oder weiß der Teufel noch was! Das wurde ja immer schlimmer. Warum nur hatte er sich nicht gleich zu Tode gesoffen, dann würde er jetzt nicht in dieser Scheiße stecken. Aber wenn er wirklich entführt wurde, wieso lag er dann zugedeckt auf einer Couch und war noch nicht einmal gefesselt? Vielleicht waren es ja keine Entführer, sondern irgendwelche Verrückte wie in so einem Psycho-Horrorfilm. Das war doch ein einziger Alptraum. Die Tür ging plötzlich auf und schon hörte er wieder diese Stimme, die er gestern Abend gehört hatte. „Guten Morgen, Schlafmütze. Oder besser gesagt schönen Tag. Wir haben ja schon knapp ein Uhr durch.“ Jesse rieb sich die Augen, trotzdem dauerte es eine Weile, bis er die Person erkannte, die da zu ihm kam. Es war ein Mädchen, ungefähr in seinem Alter. Sie hatte schulterlanges blondes Haar, aufgeweckte braune Augen, die ein wenig kindlich wirkten und sie trug einen Rosenkranz um den Hals. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor, aber da sein Hirn immer noch von dem Alkohol wie gelähmt war, fiel ihm das Denken schwer. Außerdem war ihm irgendwie schummrig zumute, wahrscheinlich eine Erkältung oder eine Grippe… „Ich hoffe, es geht dir ein wenig besser. Hier, ich hab dir Aspirin mitgebracht, das hilft gegen die Kopfschmerzen. Wenn du dich noch nicht besser fühlst, kannst du dich gerne wieder hinlegen.“ Sein Kopf fühlte sich wie Blei an und egal wie sehr er sich auch anstrengte, er bekam kaum einen klaren Gedanken zusammen und schaffte es auch nicht, die entscheidende Frage zu stellen. Verdammt, wer war noch mal das Mädchen? Er hatte sie doch schon mal gesehen, aber egal wie sehr er sich anstrengte, sein Hirn war in Streik getreten nach der Trinkerei. Für den Rest des Tages würde er sicherlich nicht so schnell wieder bei klarem Verstand sein und sich großartig zur Wehr setzen können. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als diese verdächtige Gastfreundschaft anzunehmen und zu warten, bis sein Körper auch den restlichen Alkohol abgebaut hatte. Das durfte noch eine ganze Weile dauern, bei gefühlten zwei oder drei Promille, die er gestern auf jeden Fall intus hatte. Aber wieso wachte er im Haus irgendeiner Person auf, anstatt auf der Straße oder wenigstens in einem Krankenhaus? „Wo bin ich?“ Nur mit Mühe schaffte er es, diese Worte zustande zu bringen, denn sein gesamter Körper fühlte sich lahm an. Außerdem waren sein Mund und sein Hals völlig ausgetrocknet, wodurch seine Stimme lediglich ein Krächzen war. Er nahm das Glas mit den aufgelösten Aspirintabletten und trank es in einem Zug aus. Der widerliche Geschmack holte ihn langsam aus seiner Benommenheit, aber er bezweifelte, dass es reichen würde, um ihn wieder vollständig wiederherzustellen. „Du bist bei mir zuhause. Ich hab dich an der Unterführung gefunden. Du hattest ziemlich viel getrunken und dich außerdem am Kopf verletzt. Leg dich am besten noch etwas hin, dann geht es dir bald wieder besser.“ Also doch, er war im Haus einer Verrückten, die ihn nun hier festhielt und ihn sicher mit Drogen voll pumpte, weil sie sich in ihrem Wahn in ihn verknallt hatte. Schlimmer konnte es einfach nicht kommen. Dieser ganze Alptraum nahm aber auch wirklich kein Ende.

Es mochte der Restalkohol oder die Erschöpfung sein, dass Jesse wieder ganz benommen wurde und seine Augenlider schwer wurden. Gleich würde er sicher wieder einschlafen. Aber das durfte er auf keinen Fall, denn dann hieße es ja, er würde träumen. Und er wollte nicht träumen, es grauste ihm davor. Und nach den Ereignissen des gestrigen Tages würde er sicher wieder genau jene Träume haben, vor denen er solch eine Angst hatte. Er musste wach bleiben, koste es, was es wolle. Doch er war einfach zu müde und außerdem fühlte sich seine Stirn irgendwie warm an. Eine Hand wurde auf seine Stirn gelegt und sie fühlte sich eiskalt an. „Wie es scheint, hast du ein klein wenig erhöhte Temperatur. Deck dich am Besten zu. Wenn du etwas brauchst, dann sag Bescheid. Mein Name ist übrigens Charity, aber du kannst mich ruhig Cherry nennen.“ Charity? Den Namen kannte er doch… ja richtig. Es war der Name, den Mr. Deadman ihm genannt hatte. Charity Witherfield. Das Mädchen, dem er die Handtasche geklaut hatte. Und ausgerechnet sie hatte ihn gefunden und gerettet? Das Leben war doch eine einzige Ironie.
 

Charity blieb noch bei ihm, bis er die Augen geschlossen hatte und sah ihn besorgt an. Aber insgeheim war sie doch erleichtert, dass er wieder schlief und sich auf die Weise wieder auskurierte. Sicherlich hatte er wegen dem kalten und feuchten Wetter gestern etwas Fieber bekommen und es wegen dem Alkohol nicht gemerkt. Aber er sah jetzt auch nicht schwer krank aus. Mit Sicherheit war er wieder in ein paar Stunden auf den Beinen, wenn er sich gut erholte. Sie ging in die Küche, wo sie gerade damit beschäftigt war, das Mittagessen zu kochen. Ihre Großmutter war außer Haus, da sie mit ein paar alten Freunden zum Gymnastikkurs und im Anschluss zum Kaffeetrinken ging. Und da Charity momentan noch Semesterferien hatte, kümmerte sie sich in der Zwischenzeit um alles andere im Haus. Die Hausarbeit selbst war für sie kein Problem, aber leider hatte sie im Kochen kein Geschick. Backen war etwas anderes, da konnte man sich Ruhe und Zeit lassen, aber Kochen war etwas ganz anderes, da verfiel sie schnell in Hektik und richtete immer ein furchtbares Chaos an. Nicht, dass sie überhaupt nicht kochen konnte. Sie war einfach nur schnell überfordert, wenn sie so viele Sachen gleichzeitig machen musste und verlor dann immer den Überblick. Zum Glück hatte sie sich dieses Mal etwas ganz Einfaches vorgenommen, was sie auf jeden Fall hinbekommen müsste, nämlich gebratene Nudeln. So etwas kochte sie immer, wenn ihre Großmutter nicht da war und sie meist nicht viel Zeit hatte. Viel brauchte sie ja auch nicht dazu. Das Gemüse hatte sie frisch eingekauft und sonst brauchte sie nur… Charity hielt kurz mit ihren Vorbereitungen inne, denn ihr war etwas eingefallen. Sie hatte völlig vergessen, die Nudeln einzukaufen. Verdammt, sie hätte sich doch besser eine Einkaufsliste machen sollen, aber nein! Sie war sich sicher gewesen, dass sie es auch ohne schafft und jetzt hatte sie das Wichtigste vergessen. Und zum Supermarkt brauchte sie zu Fuß mindestens eine Viertelstunde. Da war es besser, wenn sie mit dem Fahrrad dorthin fuhr. Also schnappte sie sich ihre Jacke und machte sich auf den Weg. Sie brauchte aber unerwartet länger als erhofft, denn da es ja bereits Freitag war, zog sich die Wartezeit an der Kassenschlange ewig hin. Und auch die Ampeln wollten partout nicht auf grün wechseln. Warum nur musste sie auch immer etwas vergessen, wenn sie einkaufen ging? Irgendwie lernte sie auch nie dazu. „Hey Cherry!“ Sie bremste scharf ab, als sie hörte, dass jemand sie rief und tatsächlich sah sie Jenna Morris auf sich zueilen und winkte ihr zu. Jenna und Charity kannten sich schon von der Middle School her und nachdem sie die High School beendet hatten, war Charity aufs College gegangen, während Jenna eine Ausbildung zur Floristin machte. Ihren Eltern gehörte ein Blumengeschäft, deshalb war es schon lange vorbestimmt gewesen, dass Jenna in ihre Fußstapfen trat und sie hatte auch Spaß daran. Rein äußerlich war Jenna ein wenig zu kurz geraten und war schon in der Schule immer die Kleinste gewesen. Ihr dunkelbraunes Haar hatte sie immer zusammengebunden und trug es niemals offen. Ihre Kleidung ließ deutlich erkennen, dass sie einen ganz eigenen Stil hatte und kleidete sich immer in leuchtenden Farben und trug am liebsten ausgefallen und meist auch kitschigen Schmuck. Charity hatte sie schon immer für diesen außergewöhnlichen Look bewundert. „Hi Jenna, was macht die Arbeit im Laden?“

„Das Übliche wie sonst. In der letzten Zeit läuft es etwas weniger als die letzten Monate, aber das ist ja auch für die Jahreszeit kein Wunder. Und wie schaut’s bei dir aus? Du gehst ja jetzt aufs College. Wie ist es dort so?“

„Nicht viel anders als die High School. Nur mit dem Unterschied, dass dort mehr Idioten herumlaufen.“ Nun stieg Charity vom Fahrrad herunter, um ein kleines Stück neben der zu klein geratenen Floristin in spe zu gehen, die wie immer das blühende Leben war. Sie erzählten sich, was sich alles seit der High School zugetragen hatte und auch Charity berichtete von ihrem Praktikum in der Adaptionsstelle. Da sie nicht sofort einen Studienplatz bekommen hatte, musste sie die Zeit irgendwie überbrücken und soziales Engagement war immer gern gesehen. Und so hatte sie wenigstens ein paar Erfahrungen sammeln können. „Jenna, du wirst mir nicht glauben, was mir gestern passiert ist: Als so ein Typ in einem schwarzen Van nach dem Weg gefragt hat, da hat mir jemand die Handtasche geklaut. Kurz darauf hat er sie mir einfach so wieder zurückgegeben und am selben Abend finde ich den Räuber betrunken und verletzt an der Unterführung. Echt verrückt, oder?“

„Hast du ihn angezeigt?“

„Nein, er liegt bei mir zuhause.“

Jenna blieb stehen und starrte ihre ehemalige Klassenkameradin entsetzt an. „Wie bitte? Der liegt bei dir zuhause? Hast du ihn gekidnappt?“ Nun sah Charity sie mit dem gleichen entsetzten Blick an und blieb ebenfalls stehen. „Was denkst du denn von mir? Nein, ich hab ihn nicht gekidnappt. Ich hab mir bloß Sorgen gemacht, weil er total verzweifelt war und offenbar vorhatte, sich umzubringen. Da wollte ich ihn nicht alleine lassen. Und es stand auch nicht so schlimm um ihn, dass er unbedingt ins Krankenhaus musste.“ Trotzdem schüttelte Jenna den Kopf und konnte nicht fassen, wie naiv ihre Freundin überhaupt war. „Du kennst den Kerl doch gar nicht. Was, wenn er gefährlich ist?“

„Das glaub ich nicht.“

„Du bist zu gutgläubig, Cherry. Irgendwann bringt dich das noch in Teufelsküche! Hast du denn wenigstens seinen Namen?“

„Ja, er heißt Jesse Wyatt. Sag mal, kennst du ihn vielleicht? Du hast ja an unserer Schule wirklich jeden gekannt.“ Sie gingen nun weiter und Jenna begann zu überlegen. Damals war sie bei der Schülerzeitung gewesen und hatte tatsächlich so gut wie jeden gekannt und war immer über den aktuellsten Stand informiert gewesen. Sie erfuhr jedes Gerücht immer als Erste und war deshalb immer für den neuesten Klatsch und Tratsch zu haben. Jenna war schon immer beliebt an der Schule gewesen. Nun gut, nicht ganz so beliebt wie die Cheerleaderinnen oder Schülersprecher, aber deutlich beliebter als der Durchschnitt, zu dem auch Charity gehörte. „Viel weiß ich nicht über ihn. Er war ein Einzelgänger und hat mit niemandem ein Wort gewechselt. Ein wenig sonderbar war er schon und ich glaube, er hatte auch keine Freunde. Er war nur ein Jahr auf unserer Schule gewesen, angeblich hat man ihn an seiner alten Schule ziemlich fertig gemacht. Jedenfalls hatte er echt was auf dem Kasten. Nicht nur, dass er eine Klasse übersprungen hatte, er war sogar Jahrgangsbester. Aber er brach dann urplötzlich die Schule ab, ohne einen wirklichen Grund zu nennen. Danach ging es ziemlich mit ihm bergab. Cody hat ihn mal in der Nähe vom Bahnhof gesehen, das war vor knapp einem Jahr. Er war so betrunken, dass man zuerst dachte, er sei tot.“

„Hatte er auch während der Schulzeit getrunken?“

„Überhaupt nicht. Zumindest hat man ihn nie in irgendwelchen Kneipen gesehen. Aber wie gesagt: Er war ein absoluter Einzelgänger und hat jeden abgewiesen, der mit ihm reden wollte. Ein absoluter Sonderling.“ Also hatte Jesse erst angefangen zu trinken, als er die Schule abgebrochen hatte. „Wie alt war er denn, als er die Schule abgebrochen hat?“

„14 Jahre.“ Meine Güte, dachte Charity und schüttelte den Kopf. Dann hatte Jesse schon mit 14 Jahren angefangen zu trinken und hatte ganz offensichtlich ein ernstes Problem. Aber was war der Grund dafür, dass er die Schule abgebrochen hatte, wo er doch der Jahrgangsbeste war und zuvor schon eine Klasse übersprungen hatte? Jedenfalls musste der Grund dafür auch derselbe sein, warum er mit dem Trinken angefangen hatte. „Hast du eine Ahnung, warum er die Schule abgebrochen hat?“

„Ich glaube, es hatte mit seiner Familie zu tun. Soweit ich weiß, war seine Mutter allein erziehend und sie kam schließlich in den Knast. Aber mehr weiß ich dazu wirklich nicht, die Lehrer haben das Ganze ziemlich geheim gehalten und da Jesse mit niemandem geredet hat, gab es nur Gerüchte, die ich aber selbst für ziemlich übertrieben finde.“ So ist das also, dachte Charity und hörte nur noch mit einem Ohr zu, während Jenna sprach. Deshalb gab es immer nur einen Tag im Monat, an den Jesse seine Mutter besuchen ging: Sie saß im Gefängnis und das offensichtlich schon seit Jahren. Und wenn sie schon seit knapp neun oder zehn Jahren im Gefängnis saß und noch weitere fünf oder sechs Jahre dort bleiben würde, musste es etwas wirklich Schlimmes gewesen sein. „Bei wem ist Jesse denn untergekommen, wenn seine Mutter im Gefängnis sitzt und sie allein erziehend war?“

„Er kam zuerst bei einer Pflegefamilie unter und kam dann zu seinen Onkel. Ihm gehört auch der Getränkemarkt im Gewerbegebiet.“ Dort war Charity nur ein paar Male gewesen, aber sie hatte Jesse dort nie gesehen. Dafür aber den attraktiven und sehr sympathischen Andy, der in dem Laden als Aushilfe arbeitete. Aber Jesse hatte sie nie da gesehen. Und dieser schmierige dicke Mann Walter, dem der Laden gehörte, war tatsächlich sein Onkel? Charity hatte ihn noch nie leiden können und das war auch der Grund dafür, warum sie dort nicht mehr hinging. Und Jesse lebte bei diesem Kerl? Nun ja, es konnte sein, dass Walter privat ganz anders war, aber das wagte Charity zu bezweifeln. „Sagt dir vielleicht der Name Luca etwas? Jesse hat ihn immer wieder gemurmelt, als er betrunken war.“ Doch auch Jenna konnte mit dem Namen nichts anfangen und schüttelte nur den Kopf. „Wenn ich dir einen Rat geben darf: Wirf den Kerl raus, sobald er wieder geradeaus laufen kann. Wer sich dermaßen gehen lässt, ist doch ein absoluter Loser. Hinterher zieht er dich noch mit runter.“

„Wie kannst du nur so etwas sagen, wenn du ihn nicht richtig kennst? Ich meine, seine Mutter sitzt für Jahre im Gefängnis und für irgendetwas gibt sich Jesse die Schuld. Er hat vor, sich umzubringen und da kann ich nun mal nicht einfach so wegschauen. Ich glaube, er ist einfach nur ziemlich einsam und verzweifelt und braucht jemanden.“

„Du kannst aber nicht Jesus 2.0 spielen und jedem dahergelaufenen Typen helfen, der irgendwo besoffen in der Ecke liegt!“

„Du klingst schon wie Oma.“ Natürlich war da etwas Wahres dran, dass sie nicht jedem Menschen auf der Welt helfen konnte. Und solange Jesse keine Hilfe wollte und sein Problem auch nicht wahrhaben wollte, würde sie auch nichts bewirken können. Sie konnte ihm nur helfen, die Kraft dafür aufzubringen, es selbst zu schaffen. Natürlich würde sie nicht jedem Dahergelaufenen helfen und ihn zu sich nach Hause bringen. So dumm war nicht einmal sie! Aber Jesse war die große Ausnahme. Sie bemerkte, dass Jenna sie plötzlich mit einem ganz anderen Blick anstarrte, so als ahnte sie etwas. „Sag mir bitte nicht, dass du auf diesen Versager stehst! Oh Mann Cherry, das ist doch wohl nicht dein Ernst, oder? Mal ganz ehrlich: Du machst dich mit diesem Typen nur unglücklich! Der Kerl ist ein Schulabbrecher mit Alkoholproblem, der wird dich noch total runterziehen und dann hängst du selbst an der Flasche. Glaub mir, ich weiß wovon ich spreche, der versaut dir noch dein ganzes Leben. Lass diese Samariter-Nummer und schick den Kerl einfach weg. Du tust dir selbst einen Gefallen damit!“ In Charity wuchs der Ärger, als sie hörte, wie Jenna über Jesse sprach. Sie hatte nicht gesehen, wie verzweifelt er gewesen war. Nein, sie sah nur, dass er ein 23-jähriger Schulabbrecher war, der offenbar zu nichts taugte. Aber wie konnte sie das sagen, wenn sie ihn doch gar nicht kannte? „Jenna, jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient. Daran glaube ich und ich bin mir auch sicher, dass es kein Zufall war, dass ausgerechnet ich Jesse gefunden habe. Vielleicht ist es so vorherbestimmt gewesen und es ist meine Aufgabe, ihm zu helfen.“

„Ach du mit deiner Religion. Sicher glaubst du, dass es von Gott so bestimmt war, dass ihr euch getroffen habt.“

„Warum nicht?“ Jenna verdrehte die Augen und ging weiter, Charity lief neben ihr her, wobei sie ihr Fahrrad schob. „Was ist denn falsch daran, an Gott zu glauben? Mir hat dieser Glaube geholfen, den Tod meiner Eltern und die Schikanen an der Schule zu verarbeiten und damit fertig zu werden. Ich glaube zwar nicht, dass die Welt in sieben Tagen erschaffen wurde und Adam und Eva die ersten Menschen waren. Aber ich glaube daran, dass es wichtig ist, einander zu helfen und dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient hat. Daran ist nichts falsch oder dumm und wenn du dich darüber lustig machen willst, ist es allein dein Problem.“

„Hey, wieso bist du denn auf einmal sauer auf mich?“ Doch Charity antwortete nicht. Sie schwang sich auf ihr Rad und fuhr los, wobei sie Jenna einfach zurückließ. Natürlich wusste sie, dass sie vielleicht etwas überreagiert hatte, denn es hatte ihr noch nie etwas ausgemacht, wenn man sich über ihren Glauben lustig machte, oder wenn sie treudoof genannt wurde. Aber sie war einfach so wütend, weil Jenna Jesse einfach so als Versager abstempelte, obwohl sie ihn überhaupt nicht kannte. Nun gut, sie kannte ihn auch nicht, aber sie hatte schon oft genug mit Drogen- und Alkoholabhängigen während ihres Praktikums zu tun gehabt und wusste, dass hinter jeder Sucht eine Geschichte steckte. Und Jesse hatte Probleme, mit denen er offensichtlich nicht alleine fertig wurde und deshalb versuchte er, vor ihnen wegzulaufen und sie in Schnaps zu ertränken.

Sie fuhr schneller, bog um eine Straßenecke und war schließlich wieder zuhause. Mit der Einkaufstasche in der Hand stieg sie die Stufen hoch und schloss die Haustüre auf. Gleich als sie die Tür öffnete, schlug ihr der verlockende Essensgeruch in die Nase. Aber ihre Großmutter war doch noch bei ihrem Gymnastikkurs und würde doch erst am Abend wieder zurückkommen. Wer kochte also dann? Einbrecher? Nein, Einbrecher kochten doch nicht… Schnell schloss sie die Tür und eilte in die Küche, um zu sehen, wer da war. Am Herd stand Jesse, der offenbar nicht mehr schlafen konnte und gerade dabei war, frisch gehackten Ingwer, Chili und Knoblauch zusammen mit dem geschnittenen Gemüse in der Pfanne anzubraten. Charity blieb verblufft stehen und glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. „Jesse, was wird das?“

„Wonach sieht es wohl aus?“

„Willst du dich nicht lieber hinlegen und dich ausruhen?“

„Vergiss es. Außerdem hast du mich doch hergebracht, oder? Dann betrachte das hier als eine Art Wiedergutmachung für die Umstände.“ Seine Stimme klang irgendwie anders als gestern. Er sprach in einem kalten und abweisenden Ton zu ihr und schenkte ihr auch keinen Blick. Womöglich war er wegen seines Katers so mies gelaunt, oder weil er nicht wusste, wie er seine Situation in diesem Haus einordnen sollte. Hoffentlich dachte er jetzt nicht, er wäre das Opfer einer Entführung und hielt sie für eine Verrückte. „Lass mich bitte erst mal klarstellen, dass ich dich nicht entführen wollte. Als ich dich da heulend liegen sah, wollte ich dir helfen und… ähm…“ Immer noch sah er sie nicht an, sondern konzentrierte sich auf seine Arbeit am Herd und das brachte sie komplett aus dem Konzept. Er begann nun, das Gemüse abzulöschen und fragte „Wo sind die Gewürze?“ Charity war immer noch völlig überrumpelt, sodass er erneut fragen musste, ehe sie ihm zeigte, wo er alles fand. Zielsicher griff er sich alles, was er brauchte und sie hingegen begann nun, das Wasser aufzusetzen, um die Nudeln zu kochen. Irgendwie ist er schon ein wenig merkwürdig, dachte sie und beobachtete ihn. „Brauchst du Hilfe?“ „Nein. Ich kann es nicht gebrauchen, wenn mich hier irgendjemand ablenkt.“

„Und was genau machst du da?“

„Gebratene Nudeln.“ Woher wusste er, dass sie vorhatte, genau dieses Gericht zu kochen? Oder war es einfach nur ein verrückter Zufall? Irgendwie geschah mit ihm eine ganze Reihe von merkwürdigen Zufällen. Da Jesse sie nicht am Herd haben wollte, deckte sie den Tisch und setzte sich schon mal. Wenig später war der etwas verkaterte 23-jährige fertig und stellte die Pfanne auf den Tisch. Er wartete, bis sich Charity zuerst den Teller beladen hatte, bevor er selbst zugriff. „Woher hast du denn kochen gelernt?“ fragte sie ihn neugierig. Sein Blick blieb unverändert düster und mürrisch. „Hab es mir selbst beigebracht, den Rest hab ich mir abgeschaut.“ Zuerst zögerte sie noch, aber dann probierte sie und konnte es nicht fassen. So gut bekam sie gebratene Nudeln nie und nimmer hin. Das schmeckte himmlisch gut und dabei war es so etwas Simples. „Wow, du kannst ja richtig gut kochen!“ Er sagte nichts, sondern begann selbst zu essen. Da er schon länger als einen halben Tag lang nichts gegessen hatte, war er dementsprechend ausgehungert und zudem schien er auch nicht wirklich der redseligste Typ zu sein. Er sah immer noch angeschlagen aus und die Studentin fragte sich, was ihm wohl gerade durch den Kopf ging und wieso er das hier machte, wenn er sich doch nicht gut fühlte. Dass es ihm schlecht ging, sah doch ein Blinder. Wieder musste sie an die Szene denken, als sie ihn an der Unterführung gefunden hatte. „Jesse, ich will mich wirklich nicht aufdrängen oder so. Ich weiß nicht, was gestern alles vorgefallen ist und was dir auf dem Herzen liegt… wenn du reden willst, dann kannst du gerne zu mir kommen.“

„Erklär mir mal, warum du das überhaupt machst“, sagte er und nun sah er sie direkt an. Und obwohl er blass war und dunkle Augenringe hatte, sahen seine Augen noch schöner aus als gestern. Wie Smaragde, dachte Charity und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. „Oder ist es bei dir üblich, denselben Typen von der Straße aufzugabeln, der dich vorher noch beklaut hat?“ „Aber du hast doch gar nicht vorgehabt, mir die Tasche wirklich zu klauen. Du hast sie mir doch zurückgegeben.“ Er sagte nichts dazu und aß weiter, wobei er wieder den Blick von ihr abwandte. Nun wurde sie richtig nervös und fragte sich, was er wohl über sie dachte. Eine unangenehme Stille herrschte und das machte sie noch unruhiger. Sie wollte ihm so gerne Fragen stellen, aber sie hatte Angst, dass er sie abweisen könnte. Also versuchte sie, ihre Angst einfach wegzulächeln und sagte im Scherz „Ich hoffe, du hältst mich nicht für eine Verrückte, weil ich dich hergebracht habe.“

„Nein“, sagte er schließlich. „Ich halte dich eher für ziemlich treudoof.“ Das hatte gesessen und obwohl Charity so etwas oft zu hören bekam, tat es dennoch ziemlich weh. Natürlich war das naiv von ihr gewesen, das hatten Jenna und ihre Großmutter mehr als deutlich gesagt gehabt. Aber dennoch schmerzte es ihr, es noch mal von Jesse zu hören. „Ich wollte dir helfen, weil du so am Boden warst.“ „Ich wüsste nicht, dass ich darum gebeten habe. Machst du das mit jedem so?“

„Nein“, rief sie und wunderte sich selbst, wieso sie plötzlich laut dabei wurde. Sofort senkte sie ihre Lautstärke und wiederholte „Nein. Das tue ich überhaupt nicht.“

„Und wieso hast du mich dann nicht einfach ins Krankenhaus bringen lassen? Dir ist schon klar, dass das eigentlich eine ziemlich leichtsinnige Aktion von dir war, oder?“

„Ich hatte das Gefühl, dass du überhaupt niemanden hast und du ganz alleine bist. Ich… ich hab einfach nicht großartig darüber nachgedacht.“ Nun senkte er die Gabel und sein Blick verdüsterte sich. In diesem Moment hätte man Angst vor ihm bekommen können, aber Charitys Aufmerksamkeit galt allein seinen Augen und sie sah, dass hinter dieser düsteren Miene ein sehr trauriger Blick steckte. Er erinnerte sich an etwas, das mit seinem Absturz gestern zu tun haben musste. Nach einigem Zögern fuhr sie fort. „Ich kann verstehen, wenn du nicht gerne darüber sprechen möchtest. Aber ich mache mir einfach bloß Sorgen.“

Nun legte er das Besteck beiseite und sah sie mit deutlichem Misstrauen an. Und etwas Feindseliges lag in diesem Blick. „Wieso? Du kennst mich doch gar nicht. Und was versprichst du dir von der ganzen Aktion?“

„Wie meinst du das?“

„Kein Mensch macht etwas, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen. So funktioniert das Leben in der menschlichen Gesellschaft. Also, was versprichst du dir davon?“ Charity verstand die Frage immer noch nicht und vor allem nicht, was Jesse damit sagen wollte. Nun ließ auch sie ihre Gabel sinken und sah ihn verwirrt an. „Ich tu das, weil ich gerne Menschen helfe. Dafür muss man doch nicht immer etwas als Gegenleistung verlangen. Natürlich kenne ich dich nicht und ich weiß auch nicht, wieso du ein Alkoholproblem hast. Aber ich habe schon Erfahrungen mit Suchtkranken gemacht und weiß deshalb, dass hinter jeder Sucht eine traurige Geschichte steckt. Und bei dir ist das sicher auch so, sonst würdest du dir nicht den eigenen Tod wünschen.“ Nun war er es, der sie verwirrt ansah. Natürlich konnte er sich nicht erinnern, was er gestern in seinem betrunkenen Zustand gesagt und alles Mögliche ausgeplaudert hatte. Aber dass er so viel von sich gegeben hatte, gefiel ihm überhaupt nicht. Verdammt, wieso hatte er sich nicht einfach ins Koma gesoffen? Dann hätte er wenigstens nicht so viel ausplaudern können und hätte dann wahrscheinlich diese ganze Scheiße endlich hinter sich. Nun stand er auf und wollte zur Tür gehen, doch da eilte Charity ihm hinterher und hielt ihn am Pullover fest. „Wo willst du denn hin?“

„Weg!“ „Das geht nicht. Du hast Fieber und brauchst Ruhe. Wenn du nach Hause willst, dann lass mich dich wenigstens fahren. In dem Zustand kann ich dich nicht alleine gehen lassen.“ „Ich brauch keinen Aufpasser!“

„Offenbar doch, wenn du dich dermaßen kindisch anstellst. Ich will dir doch nur helfen.“

„Ich brauch aber keine Hilfe, ich komm ganz gut alleine klar.“

„Ganz offensichtlich nicht, wenn du dich jedes Mal fast ins Koma trinkst und dabei auf der Straße liegst und krank wirst.“ Er riss sich los und ging ins Wohnzimmer, um seinen Mantel zu holen, doch da eilte Charity an ihm vorbei und stellte sich ihm in den Weg. „Warum kannst du nicht einfach mal Hilfe annehmen? Was ist dein Problem?“ „Du bist mein Problem, weil du mich einfach nicht in Ruhe lässt. Ich bin schon immer alleine klar gekommen und brauch weder dein Mitleid, noch deine Hilfe. Lass mich einfach in Ruhe.“ Durch die Aufregung geriet er einen Moment ins Wanken und die Studentin ahnte, was der Grund dafür war. Das Fieber und der Kater waren die Ursache und Jesse brauchte dringend Ruhe. Sie ging zu ihm hin und wollte ihn stützen, doch er hielt sie von sich und rief sichtlich wütend „Komm mir bloß nicht zu nahe, okay? Bleib einfach von mir weg und lass mich in Ruhe.“ Doch da wurde ihm schwarz vor Augen und er verlor das Gleichgewicht. Sofort lief Charity zu ihm und versuchte, ihn aufzufangen. Dabei aber kam es zu einem Durcheinander, bei dem sie sich irgendwie und irgendwo verfing, wodurch ein heftiges Reißen an ihrer Kette entstand. Das endete damit, dass es einen heftigen Ruck gab, woraufhin ein leises Kullern von mehreren Perlen zu hören war, als ihr Rosenkranz zerriss. Fassungslos sah Charity, wie die kleinen Perlen aus Rosenquarz davonrollten und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Oh nein… der Rosenkranz ihrer Mutter … Er war doch das wichtigste Andenken, was sie von ihr hatte. Sie fiel auf die Knie und konnte die Tränen nicht zurückhalten. „Ich hab dich doch gewarnt…“, murmelte Jesse und wandte den Blick von ihr ab. In seinen Augen war plötzlich so etwas wie Schuld zu sehen. Charitys Körper begann zu zittern und unter heftigen Schluchzern brachte sie hervor „Der Rosenkranz hatte meiner Mum gehört… Er ist doch das einzige Andenken, was ich noch von ihr habe.“ Immer noch sah Jesse sie nicht an und sagte nichts dazu. Stattdessen begann er nun, die heruntergefallenen Perlen aufzuheben. „Hilf mir mal, die Perlen einzusammeln.“ Immer noch schluchzend half Charity ihm und schon kurz darauf hatten sie alle wieder beisammen. Jesse steckte die Perlen und den Rest der zerrissenen Kette in eine kleine Tüte und stand wieder auf. „Kannst du mich kurz nach Hause bringen? Ich hab dort Werkzeug, damit kann ich dir eine neue Kette machen.“

„Du… du kannst das?“ Er nickte und sah sie immer noch nicht an. „Problem ist nur, dass Walter mich rausgeschmissen hat, weil ich gestern nicht zur Arbeit gekommen bin. Wir müssten also vorher zum Getränkemarkt und Andy fragen, ob er uns den Zweitschlüssel gibt.“ „Dein Onkel hat dich rausgeschmissen?“

„Ja, aber das ist jetzt auch egal. Würdest du mich eben fahren?“ Etwas überrascht und verwundert holte Charity ihre Wagenschlüssel und ging mit Jesse zu ihrem alten Chevrolet. Wieder war er wie ausgewechselt und verhielt sich nicht mehr so abweisend und kalt wie vorhin. Nein, er benahm sich so, als hätte er Schuldgefühle, nachdem er ihr im Affekt eine Ohrfeige gegeben hatte. Er fühlte sich schuldig, dass ihr über alles geliebter Rosenkranz kaputt war, dabei war das doch nur ein Unfall gewesen. Es war so, als besäße Jesse zwei Gesichter.

Flucht von Zuhause

Nachdem sie den Getränkemarkt erreicht hatten, traf sich Jesse heimlich mit Andy, der als Aushilfe dort arbeitete und ihn bereits seit Jahren kannte. Dieser war besorgt über den angeschlagenen Zustand seines Kollegen und bemerkte gleich, dass er etwas Fieber hatte. Sein Blick wanderte dann aber schließlich zu Charity, die Jesse begleitet hatte um sicherzugehen, dass er nicht wieder einen Kreislaufzusammenbruch erlitt. „Sag mal Jess, ist das deine Freundin?“ „Red keinen Scheiß, okay? Die hängt wie eine Klette an mir und lässt mich nicht in Ruhe. Ist aber auch egal! Ich muss kurz nach Hause und meine Sachen holen, aber Walter hat mich gestern rausgeschmissen.“

„Hab schon gehört. Der war ziemlich sauer. Vor allem, weil er beim Pferderennen verloren hat. Besser ist, wenn du ihm heute nicht unter die Augen kommst, sonst ist hier die Hölle los. Warte kurz, ich hol dir den Schlüssel.“ Damit ging Andy und sowohl Charity und Jesse warteten. „Hast du keinen eigenen?“ fragte sie ihren Begleiter, welcher mit einem düsteren Blick den Kopf schüttelte. „Nein, ich muss mir immer den Zweitschlüssel leihen und ihn jedes Mal wieder abgeben.“

„Wozu denn das Ganze?“

„Damit ich nicht reinkomme, wenn er mich mal für ein paar Tage rausschmeißt.“ Das waren schon ziemlich harte Maßnahmen und die 22-jährige fragte sich, ob er das tat, damit Jesse mit dem Trinken aufhörte, oder weil er einfach einen miesen Charakter hatte. „Macht er das öfter mit dir?“ Er antwortete zunächst nicht, dann steckte er die Hände in die Manteltaschen und seufzte. „Ja. Meist lässt er mich aber nach zwei Tagen wieder rein.“ „Und wieso macht tut er das?“

„Weil er ein arschgesichtiger Ausbeuter ist. Der Laden läuft nicht gut, da Walter mit seiner Art die Kunden vergrault. Im Grunde arbeiten nur Andy und ich dort. Er ist bloß Aushilfe und ich arbeite ohne Lohn. Dabei könnte sich der Dreckskerl locker vier Vollzeitkräfte leisten, denn Geld hat er ja mehr als genug. In Wahrheit verdient er sich eine goldene Nase beim Pferderennen und tut aber dann aber so, als hätte er nichts, während er das Geld heimlich beiseite schafft und andere ausbeutet. Dabei leisten Andy und ich jeden Tag Überstunden und arbeiten fast immer sieben Tagen die Woche.“ Fassungslos schüttelte sie den Kopf, als sie das hörte. „Aber kannst du da nicht klagen? Ich meine, du hast doch einen Anspruch auf Bezahlung und Urlaub, egal was er sagt.“

„Walter wollte keinen Vertrag abschließen, deshalb kann ich da auch wenig machen. Und dort zu arbeiten ist alle Male besser, als auf der Straße zu sitzen und nichts zu haben.“

„Aber trotzdem ist das keine Alternative!“ Andy kam mit dem Schlüssel zurück und gab ihm seinen Kollegen, wobei er ihn aber warnend ansah. „Lass dich besser nicht von ihm erwischen, okay? Du weißt, wie der Chef sein kann, wenn er richtig in Rage ist.“ Jesse sagte nichts dazu und steckte die Schlüssel ein. Ohne sich zu verabschieden, ging er zum Wagen und schließlich fuhren sie zu Walters Haus. Die Fassade war erst vor kurzem frisch gestrichen worden und auch als sie das Haus betraten, zeigte sich schnell, dass Jesses Onkel offenbar viel Geld hatte. Im Wohnzimmer stand ein riesiger Plasmafernseher, er hatte die neuesten Computer und auch die Möbel sahen edel und vor allem teuer aus. Doch schnell zeigte sich auch die andere Seite des Hausbesitzers, als sie Jesses Zimmer betraten. Dieses befand sich im Keller und dort war es ziemlich spärlich eingerichtet. Die Möbel sahen aus, als stammten sie vom Sperrmüll und waren allesamt stark abgenutzt und teilweise beschädigt. Es gab nur kleine vergitterte Fenster und es war allgemein recht dunkel hier drin, selbst mit den Lampen. Die Wände waren kahl und grau, teilweise löste sich schon bereits der Putz und die Heizung sah auch aus, als würde sie nicht mehr funktionieren. Nichts hier strahlte Wärme aus, alles wirkte so kalt und trostlos wie in einer Gefängniszelle. Dieser Raum hier bildete einen starken Kontrast zum Rest des Hauses und bestätigte so langsam das Bild vom ausbeuterischen und selbstsüchtigen Onkel, der Geld scheffelte und andere arbeiten ließ. Nun konnte Charity diesen Menschen erst recht nicht ausstehen. „Setz dich“, sagte Jesse tonlos und deutete aufs Bett. Zögernd setzte sie sich und sah sich um. Sie war nun richtig nervös und fragte sich, was nun kam. „Warte hier, ich geh kurz ins Bad.“ Aus einem alten Schrank, dessen Tür eher notdürftig repariert war, holte sich Jesse frische Kleidung und verschwand ins Erdgeschoss. Nach einer Weile des Wartens stand die Studentin aber auf und durchschritt langsam den Raum. Hier drin fühlte sie sich überhaupt nicht wohl, denn hier drin gab es wirklich gar nichts, was ein Gefühl von Geborgenheit und Ruhe vermittelte. Das lag aber nicht daran, dass es sich um ein Kellerzimmer handelte. Selbst ein Kellerzimmer konnte schön eingerichtet werden, wenn man gute Ideen dazu hatte. Es war das Gesamtpaket und sicherlich fühlte sich Jesse hier auch nicht sonderlich wohl. Besonders nicht bei so einem Onkel. Außer einem Bett, einem Kleiderschrank, einem Schreibtisch und einer Kommode gab es so gut wie gar nichts. Keine Poster, keine Bücher, höchstens ein paar CDs, aber das war es auch schon. Hier gab es nicht einmal einen Computer, geschweige denn einen Fernseher. Irgendwie kam ihr dieses Zimmer tatsächlich immer mehr wie eine größere Gefängniszelle vor, denn viele Unterschiede konnte sie nicht feststellen. Freiwillig würde sie hier nicht wohnen wollen. Sie ging zum Schreibtisch und sah dort einen Skizzenblock herumliegen und dazugehörige Stifte. Neugierig, was Jesse wohl so malte, schaute sie sich die Zeichnungen an und stellte schnell fest, dass er wirklich begabt war. Die Bilder waren sehr detailliert, wobei es aber fast immer das gleiche Motiv war. Es zeigte eine Kutsche mit Pferden, deren Anzahl von Zeichnung zu Zeichnung variierte, wobei es aber immer bei einer geraden Zahl blieb. Die Pferde selbst sahen ganz süß aus, aber der Kutscher jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Es war ein in schwarz gekleideter Mann mit roten Augen, der so düster gezeichnet worden war, als würde ein leicht schwärzlicher Schatten ihn wie Nebel umgeben. Außerdem erinnerte sie das Gesicht ein wenig an ein Skelett oder an das eines Toten. Er stand auf jedem Bild an der Kutschentür und führte jemanden heraus. Hier war die Person jedes Mal eine andere. Die Letzte hatte deutliche Ähnlichkeiten mit Charity, allerdings war sie sich nicht so ganz sicher, ob sie das auch wirklich war. Der Kutscher mit den roten Augen sah aber niemals die Person an, die er aus der Kutsche holte, sondern starrte immer seinen Betrachter an, wobei er unheimlich grinste. Diese Bilder waren schon etwas seltsam. Schnell legte Charity sie wieder zurück und setzte sich wieder aufs Bett. Wenig später kam Jesse die Treppe herunter und hatte sich ein Handtuch um die Schultern gelegt, da er sich nicht die Zeit genommen hatte, seine Haare zu trocknen. Nun trug er ein grünes Shirt und eine schwarzweiße College-Jacke, wodurch er wenigstens nicht mehr ganz so verwahrlost aussah wie zuvor. Er sah auch sonst ein klein wenig besser aus. In seiner Hand hielt er das kleine Tütchen, wo er den Rest vom Rosenkranz und die Perlen aufbewahrte. Damit ging er zum Schreibtisch, schaltete die Lampe an und holte aus einer Schublade eine kleine Box, wo er Schnüre, Verschlüsse und andere Utensilien aufbewahrte, die man zum Herstellen von Schmuck und kleineren Accessoires benötigte. Sogleich begann er damit, die letzten Perlen von der zerrissenen Kette zu lösen und machte sich direkt an die Arbeit. Charity sah ihm aufmerksam dabei zu. „Machst du so etwas öfter?“

„Meistens, wenn ich eine Beschäftigung brauche.“

„Und hast du schon viele Ketten gemacht?“

„Unter meinem Bett liegt eine Kiste, dort bewahre ich den ganzen Kram auf.“ Da sie davon ausgehen konnte, dass sie die Erlaubnis dazu hatte, griff sie unters Bett und holte eine kleine Kiste hervor. Sie staunte nicht schlecht als sie sah, was Jesse alles angefertigt hatte. Er hatte wirklich alles gemacht, was man mit wenig Werkzeug herstellen konnte. Ketten, Broschen, Armbänder, Schlüsselanhänger, Ohrringe, Ringe und sogar Tiere aus Perlen. Das waren wirklich aufwendige Handarbeiten, die sicherlich stundenlange Arbeit in Anspruch genommen hatten. Kaum zu glauben, dass er sie selbst gemacht hatte. Charity holte eine Brosche hervor, die aus silbernem Draht gebogen und mit Steinchen in allen Farben versehen war. Diese Dinge waren einfach nur wunderschön und sie konnte nur staunen über Jesses Geschick. „Wo hast du gelernt, das so zu machen?“ „Hab ich mir von Bildern abgeschaut und dann selbst nachgearbeitet. Schließlich hab ich dann angefangen, nach eigenen Ideen zu arbeiten.“

„Verkaufst du das alles dann?“

„Nein, die will doch eh keiner haben. Für so etwas habe ich kein wirkliches Können.“ Fassungslos sah sie zu ihm und schüttelte den Kopf. Wie konnte er nur so etwas sagen? Das war nicht bloß irgendwelche simple Amateurarbeit, sondern zeugte schon von der Arbeit eines Profis. So etwas würde sie selbst niemals hinbekommen. „Sag so etwas doch nicht. Die Sachen sind allesamt wunderschön! Du hast echt Talent!“ Er sagte nichts dazu, sondern konzentrierte sich stattdessen auf seine Arbeit. Offenbar schien er nicht sehr viel Selbstbewusstsein zu besitzen und wusste auch nicht um seine Stärken. Sicherlich hatte er in der Vergangenheit nicht sehr oft Zuspruch bekommen. „Wenn du willst, kannst du den Krempel haben.“

„Meinst du das im Ernst?“ „Sonst würde ich das wohl nicht sagen, oder? Betrachte es als Aufwandsentschädigung.“

„So etwas musst du nicht machen. Ich hab mich doch selbst angeboten und das mit der Kette war sowieso bloß ein Unfall. Warum denkst du eigentlich, dass man immer für alles eine Gegenleistung bringen muss?“

„Weil man nun mal nichts geschenkt kriegt. Die Welt funktioniert eben auf dem Prinzip „Geben und nehmen“. Für Arbeit bekommt man Geld, für Geld bekommt man Kleidung, Essen und Unterkunft. Und für Hilfeleistung bekommt man etwas anderes zurück.“

„Aber es gibt auch Menschen, die geben, ohne etwas zu verlangen. Wenn wirklich alle so denken würden, dann gäbe es doch keine Hilfswerke, keine Wohlfahrt und keine Hilfsorganisationen. Und so ein selbstsüchtiges Verhalten würde auch Menschenleben fordern. Denn wenn alle so denken würden, dann würde niemand Organe oder Blut spenden! Manchmal tut man so etwas einfach, weil man anderen Menschen helfen will und etwas Gutes tun möchte. Jemandem etwas zu geben, ohne etwas dafür zu erwarten, ist doch viel schöner. Denn es sind diese Gesten, die Menschen glücklich machen. Und andere Menschen glücklich zu machen, macht auch einen selbst glücklich und dafür braucht man nicht viel zu tun. So etwas nennt man Menschlichkeit.“ Jesse hielt kurz mit seiner Arbeit inne, so als dachte er darüber nach, was Charity ihm da erzählte. Schließlich aber schüttelte er den Kopf und fuhr mit seiner Arbeit wieder fort. „Aber wenn du jemandem etwas gibst, dann tust du das in erster Linie deshalb, weil du dich selbst glücklich machen willst. In der Hinsicht sehe ich überhaupt keinen Unterschied zum Prinzip „Geben und nehmen“. Das, was die Menschen betreiben, ist doch nur eine Fassade! Eine glatte Selbstlüge, weil sie nicht zugeben wollen, dass sie egoistisch sind.“

„Warum bist du nur so zynisch? Fällt es dir denn so schwer zu verstehen, dass es so etwas wie Selbstlosigkeit in der Welt gibt?“

„Ja. Ganz einfach aus dem Grund, weil die Menschen immer zuallererst an sich selbst denken. Das war immer so und wird auch immer so bleiben. Aber du mit deiner Gutgläubigkeit kapierst das nicht. Leute wie du lassen sich nach Strich und Faden ausnutzen, ohne es jemals zu merken und das macht euch nicht nur zu Opfern, sondern auch zu Witzfiguren! Solch eine Denkweise ist einfach nur dumm und naiv.“

„Wer von uns ist wohl der Dumme hier?“ Nun drehte sich Jesse zu ihr um und starrte sie finster an. In diesem Moment hätte sein Blick töten können, aber Charity sah ihn ebenfalls mit einem bösen Blick an, um ihm Paroli zu bieten. Schließlich aber drehte er sich wieder um und sagte nur „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ganz schön treudoof bist?“ „Ja, viele sogar und es ist mir völlig egal, was andere über mich sagen! Ich halte an meinem Glauben und an meinen Überzeugungen fest und ich werde auch nichts daran ändern. Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient, sogar so ein zynischer, übellauniger und pessimistischer Trotzkopf wie du.“ Nun sagte Jesse überhaupt nichts mehr, sondern gab nur ein missmutiges Grummeln von sich und murmelte irgendetwas, das Charity nicht verstand. Schließlich aber war er mit seiner Arbeit fertig und reichte ihr das Ergebnis seiner Arbeit. Es war der gleiche Rosenkranz, wie sie ihn zuvor getragen hatte. Jesse hatte wirklich alles exakt kopiert, ohne auch nur einen einzigen Fehler zu machen. Sie konnte nicht fassen, dass er es tatsächlich geschafft hatte, ihren über alles geliebten Rosenkranz wieder neu zusammenzusetzen, nachdem er kaputt gegangen war. Vor lauter Freude wären ihr beinahe die Tränen gekommen und mit einem Male hatte sie auch ihren Streit und den ganzen Ärger wieder vergessen. „Danke Jesse… vielen Dank.“ Er setzte wieder einen missmutigen Blick auf, so als wäre es ihm unangenehm, dass sie sich bei ihm bedankte. Und auch, dass sie so von ihren Gefühlen überwältigt war, konnte er einfach nicht begreifen. Warum nur lösten solch simple Gegenstände derartige Emotionen bei anderen aus? Aber dann erinnerte er sich an ihre Worte, als sie so geweint hatte, nachdem ihre Kette gerissen war. Der Rosenkranz hatte ihrer verstorbenen Mutter gehört und so wie Charity geweint hatte, musste sie ihre Mutter wirklich geliebt haben. Dieses Ding war nicht bloß irgendein Gegenstand, sondern ein Erinnerungsstück. So wie auch er Erinnerungsstücke besaß, die ihm wichtig waren und das hatte er wohl irgendwie vergessen. Luca… sicher wäre er auch unendlich traurig, wenn er die Erinnerungsstücke an Luca verlieren würde. Aber wirklich vorstellen konnte er sich das nicht. Denn innerlich fühlte er sich einfach nur leer und tot und konnte nur wirklich Emotionen empfinden und ausdrücken, wenn er mindestens 0,8 Promille intus hatte. Jesse legte eine Hand auf seine Stirn, welche unangenehm glühte und auch seine Augen brannten leicht. Verdammt, warum musste er ausgerechnet heute krank werden? Dann würde ihn diese Charity nie in Ruhe lassen, so wie er sie einschätzte. Irgendwie musste er sie schnellstmöglich loswerden. Aber wie am besten? Einfach abhauen und sie hier lassen war keine Alternative. Walter würde bald zurückkommen und wenn er sie hier fand, gab es noch ein Unglück. Zwar glaubte er nicht, dass sein Onkel über das Mädchen herfallen würde, aber trotzdem würde er sie nicht so einfach gehen lassen. Und so treudoof wie die Kleine war, würde sie nicht mal merken, wenn sie verarscht wurde. Das perfekte Opfer für jedermann und er hatte nicht die geringste Lust, hinterher noch den Aufpasser für sie zu spielen. Die sollte ihn einfach bloß in Ruhe lassen und sich um ihren eigenen Kram kümmern. Nachher würde sich doch sowieso wieder nur herausstellen, dass sie im Grunde genauso verlogen und egoistisch war wie alle anderen auch. Alle Menschen waren so und in einer selbstsüchtigen Welt konnte eben nur der Selbstsüchtige überleben. Deshalb hatte er auch kein Interesse daran, für sie den Hampelmann zu spielen. Da konnte sie sich doch einen anderen Deppen suchen. „Du solltest besser wieder nach Hause fahren.“

„Und was ist mit dir? Hat dich dein Onkel denn nicht rausgeschmissen?“

„Der kriegt sich wieder ein und du hattest sicher schon genug Arbeit wegen mir.“ Charity war sich nicht sicher, was sie jetzt sagen oder tun sollte. So wie sie von ihm und seinem Kollegen gehört hatte, schien der Onkel ein ziemlicher Tyrann zu sein und insgeheim fürchtete sie schon, dass Jesse wieder rausgeschmissen wird. Das wäre in seinem ohnehin schon angeschlagenen Zustand nicht sehr gut. Aber wenn er meinte, er könnte seinen Onkel besänftigen, dann müsste er es wohl schaffen. Also verabschiedete sie sich und dankte ihm noch mal für den geschenkten Schmuck und dass er ihr einen neuen Rosenkranz angefertigt hatte. Mit der kleinen Kiste ging sie raus und fuhr nach Hause. Ihre Großmutter war noch nicht zurück und da sie momentan noch nichts zu tun hatte, wollte sie die Zeit nutzen, um Cupcakes zu backen, nachdem ihr die Kekse gestern verbrannt waren. Nach so viel Pech gestern musste es doch heute deutlich besser laufen. Sie hatte sich auch schon überlegt, was sie machen wollte: Schoko-Kirsch Cupcakes. Da sowieso immer ein paar übrig blieben, würden sich die Nachbarn sicherlich freuen. Denn die liebten ihre Cupcakes und meinten auch, dass sie eine wunderbare Konditorin abgeben würde. Vorher wollte sie aber noch mal einen Blick auf den Schmuck werfen, den Jesse ihr geschenkt hatte und sie fühlte sich wie im siebten Himmel, als sie all die wunderschönen Sachen sah. Sogleich legte sie sich die Kette um, in die sie sich unsterblich verliebt hatte und wickelte stattdessen ihren Rosenkranz wie ein Armband um ihr Handgelenk. Das machte sie immer, wenn sie mal eine andere Kette tragen wollte, denn trotz allem wollte sie ihren wertvollsten Schmuck um nichts in der Welt ablegen. Stolz betrachtete sie sich im Spiegel und konnte einfach nicht anders, als über beide Ohren zu grinsen und sich wie ein kleines Kind zu freuen. So einen schönen und bunten Schmuck bekam sie so schnell nicht in einem Laden und er passte einfach wunderbar zu ihr. Als sie sich aber genug mit ihrem neuen Schmuck bewundert hatte, ging sie in die Küche, um mit den Cupcakes anzufangen. Um aber noch etwas Unterhaltung dabei zu haben, holte sie ihren kleinen transportablen Lautsprecher, schloss ihren MP3-Player an und drehte die Lautstärke hoch. Backen brachte sie immer in die richtige Stimmung und machte mit der passenden Musik dazu gute Laune. Aber trotzdem gingen ihr Jesses Worte einfach nicht aus dem Kopf. Wie kam er denn bloß darauf, dass alle Menschen egoistisch seien und immer nur an sich selbst dachten? Nun ja, seine Mutter saß im Gefängnis und er hatte keinen Vater. Sie war ganz anders aufgewachsen als er, obwohl sie schon recht früh ihre Eltern verloren hatte. Aber sie hatte ihre Großmutter, die ihr immer erfolgreich Mutter und Vater ersetzen konnte. Und Jesse kannte das alles nicht. Sein Onkel behandelte ihn schlecht und seine Eltern waren nicht für ihn da. Vieles hatte er sich offenbar selbst alles beibringen müssen und musste schon früh anfangen, für sich selbst zu sorgen. Sie hatte trotz des Verlusts ihrer Eltern und dem Spott ihrer Mitschüler eine unbeschwerte und glückliche Kindheit gehabt und konnte deshalb nicht verstehen, wie es Jesse ging. Weil er niemanden hatte, musste er ganz alleine zurechtkommen und war dementsprechend zum Einzelgänger geworden. Kein Wunder also, warum es ihm so schwer fiel, Hilfe anzunehmen. Wenn sie so darüber nachdachte, konnte sie ihn langsam etwas verstehen und sie fragte sich, was sie wohl tun konnte, damit er sich auch irgendwann mal anderen Menschen öffnen konnte. Jesse… sie bekam ihn einfach nicht mehr aus ihrem Kopf und merkte nicht, dass ihr beinahe wieder die Cupcakes verbrannt wären. Noch im allerletzten Moment konnte sie sie retten und ließ sie erst einmal langsam auskühlen, während sie sie die schon mal die Creme vorbereitete. Sie gab noch Kirschsirup für das Aroma und die rosarote Farbe hinzu und stellte die fertige Creme dann kalt. Anschließend griff sie sich aus einer Schale am Tisch ein paar Kirschen und aß welche. Sie liebte Kirschen über alles, vor allem die rote Farbe. Diese Kirschen brachten schöne Kindheitserinnerungen zurück, als sie mit ihren Eltern und ihrer Großmutter gemeinsam im Urlaub war und dann auf die Leiter geklettert war, um Kirschen von den Bäumen zu pflücken. Es war der schönste Sommer ihrer Kindheit gewesen und auch der letzte, bevor ihre Eltern verunglückten. Die Kirschen waren genauso wie ihr Rosenkranz wertvolle Erinnerungen an damals, eben deshalb liebte sie auch ihren Spitznamen „Cherry“ so sehr. Sie liebte aber auch ihren richtigen Namen, denn „Charity“ bedeutete „Nächstenliebe“ und „Barmherzigkeit“. Von ihrer Großmutter hatte sie erfahren, dass es in der Familie gängig war, solche Namen zu geben. Ihre Mutter zum Beispiel hieß „Serenity“. Charity sollte zuerst „Daisy“ heißen, weil ihre Mutter Gänseblümchen so mochte, aber ihr Vater war dagegen gewesen, weil er fürchtete, man könnte sie irgendwann wegen ihres Namens ärgern. Also hatten sie sich auf „Charity“ geeinigt. Außerdem war es kein Standardname, sondern etwas Außergewöhnliches und Besonderes, weil auch sie selbst etwas Besonderes war. Nämlich für ihre Familie.

Während nun Ke$has Hit „Tick Tock“ spielte, begann die Studentin nun damit, aufzuräumen, um die Wartezeit ein wenig zu überbrücken. Wenn ihre Großmutter zurückkam und es herrschte Chaos in der Küche, konnte sie richtig unangenehm werden und das wollte Charity lieber vermeiden. Außerdem konnte sie selbst auch keine Unordnung leiden, denn dann verlor sie schnell wieder den Überblick und dann kam es zu irgendeiner kleinen Katastrophe, weil sie wieder hektisch wurde. Nachdem alles aufgeräumt und sauber war und auch die Cupcakes genug abgekühlt waren, begann sie die rosarote Creme in eine Sahnetülle zu füllen und musste sich nun konzentrieren, dass auch ja kein Fehler passierte. Dieser Teil der Arbeit gefiel ihr besonders, denn wenn erst einmal die Creme verteilt war, kam das Verzieren und da fühlte sie sich jedes Mal wie ein kleines Kind. Wenn sie mit ihrem Studium fertig war und genug Geld zusammengespart hatte, würde sie sich ihren größten Traum erfüllen und eine eigene Konditorei eröffnen. Zwar war sie etwas schusselig, aber wenn sie eines konnte, dann war es das Backen. Nun gut, gestern hatte sie selbst einfaches Keksbacken nicht auf die Reihe bekommen, aber gestern war auch ein absoluter Unglückstag für sie gewesen. Der einzige Lichtblick war, dass sie zumindest Jesse helfen konnte.

Nachdem sie die Creme aufgetragen und die dafür vorgesehenen Kirschen auf die Spitze platziert hatte, holte sie noch Streusel und bunte Perlen heraus, um sie noch zusätzlich etwas zu verzieren, damit sie auch hübsch aussahen. Als sie fertig war, betrachtete sie ihr Werk stolz und holte schnell den Fotoapparat. Auch das gehörte für sie zum Backen dazu: Wenn ihr etwas besonders gut gelungen war, hielt sie es auf einem Foto fest. Doch als sie mit dem Fotografieren begann, hörte sie plötzlich, wie ein Handy zu klingeln begann. Es war nicht ihr Lieblingslied „Happy“ von Pharrell Williams, sondern das monotone Standardklingeln eines fremden Handys. Selbst ihre Großmutter hatte einen eigenen Klingelton, wessen Handy war das dann also? Charity legte die Sachen beiseite und suchte nach der Quelle des Geräuschs. Es kam aus dem Wohnzimmer und schon hörte es auch zu klingeln auf. Aber kurz darauf wurde sie fündig. Auf dem Boden neben dem Hocker lag Jesses Handy. Offenbar war es aus der Tasche gefallen, als sie den Mantel dort hingelegt hatte. Oder es war passiert, als er seinen Mantel aufgehoben hatte und bei dem Durcheinander wegen dem Rosenkranz hatte keiner von ihnen darauf geachtet. Besser war es, noch mal kurz zu ihm nach Hause zu fahren und ihm wenigstens das Handy wiederzugeben. Sicher vermisste er es schon längst. Schnell steckte Charity es in die Hosentasche, ging kurz in die Küche zurück und stellte die Cupcakes in den Kühlschrank, damit die Creme nicht schlecht wurde, oder im schlimmsten Fall noch verlief. Eine Jacke nahm sie nicht mit, sie schnappte sich nur kurz ihre Schlüssel und ging nach draußen zum Wagen. Irgendwie musste doch immer ein Malheur bei ihr passieren, als ob sie so etwas magisch anziehen würde. Aber wenigstens traf sie dieses eine Mal keine Schuld und so hatte sie gleichzeitig eine gute Ausrede, um noch mal nach dem Rechten zu sehen, ob es Jesse auch wirklich gut ging, oder ob er wieder Ärger mit seinem Onkel hatte. Und vielleicht freute er sich ja, dass sie seinen Schmuck trug.
 

Jesse hatte aus dem Badezimmer Kopfschmerztabletten geholt und sich gleich zwei eingeworfen, aber leider fand er nichts, was gegen Fieber half. Er fühlte sich überhaupt nicht gut und ahnte, dass er vielleicht doch lieber hätte liegen bleiben sollen. Tja, das hatte er nun davon, aber wenigstens konnte er diese Charity endlich abschütteln. So treudoof wie sie war, war sie ohne lange zu diskutieren abgerauscht und ließ ihn hoffentlich endlich in Ruhe. Dieses Mädchen war ihm sowieso ein Rätsel und er verstand auch nicht, was sie mit dieser ganzen Aktion bezweckte und wieso sie sich unbedingt in sein Leben einmischen wollte. Sollte die sich doch erst mal um ihren eigenen Kram kümmern, anstatt ihm auf die Nerven zu gehen! Die hat ja leicht reden von Selbstlosigkeit, Nächstenliebe und dem ganzen anderen Kram. So behütet, wie die aufgewachsen war, hatte die doch überhaupt keine Ahnung vom Leben. Wenn sie nicht mal endlich ihre rosa Brille abnahm, würde das noch ein schlimmes Ende mit ihr irgendwann nehmen und dann stand sie vor dem großen Scherbenhaufen, den sie dann natürlich nicht kommen sah. Wenigstens war er dann aus der Nummer raus und musste sich dann hinterher nicht anhören, dass das seine Schuld war. Er verstand sie einfach nicht. Wieso nur versuchte sie ihm zu helfen, obwohl sie ihn gar nicht kannte? Sie hatte gesagt, dass jeder eine zweite Chance verdient hätte… selbst er. Für einen Moment spürte Jesse, wie sich etwas tief in seinem Innersten regte, obwohl er schon seit Jahren glaubte, dass dort in seinem Herzen bereits alles tot war und er nur im Vollsuff in der Lage war, überhaupt noch zu weinen. Es bereitete ihm Unbehagen und er wusste nicht, wie er das einordnen sollte. Als sie gesagt hatte, dass auch er eine zweite Chance verdiente, hätte er am liebsten geweint, aber natürlich konnte er es nicht. Zu solchen Emotionen war er im nüchternen Zustand einfach nicht mehr fähig. Er spürte weder Hass, noch Traurigkeit, oder überhaupt Zuneigung. Die Menschen waren ihm allesamt gleichgültig, aber wieso nur hörte er immer wieder ihre Worte, als sie sagte, dass er eine zweite Chance verdiente? Irgendwie verstand er sich selbst nicht mehr und setzte sich erst einmal aufs Bett, starrte zur Zimmerdecke rauf und versuchte, alles auf logischer Basis zu erklären. Charity war ein gutgläubiges und naives Mädchen und machte diesen ganzen Religionsquatsch mit. Wahrscheinlich frühkindliche Hirnwäsche und jetzt versuchte sie das Gleiche bei ihm, genauso wie diese bescheuerten Zeugen Jehovas. Zweite Theorie: Aufgrund seines Fiebers herrschte nicht nur ein biologisches Durcheinander in seinem Körper, sondern auch ein emotionales. Im angeschlagenen Zustand war er etwas empfindlicher, als wenn er gesund und nüchtern war. Ja, das war sehr wahrscheinlich. Dieses Mädchen nutzte seinen angeschlagenen Zustand aus, um ihn einer religiösen Gehirnwäsche zu unterziehen und ihn für ihren obskuren Verein zu gewinnen. So musste es sein und nicht anders. Deshalb bekam er sie nicht aus seinem Kopf und deshalb klebte sie wie eine Klette an ihm. Aber wieso nur hatte er sich so elend gefühlt, als sie wegen des Rosenkranzes geweint hatte? Er hatte sie gewarnt, weil er wusste, dass ein Unglück geschehen würde, wenn sie ihm zu nahe kam. Und dass sie so blöd war und trotzdem zu Hilfe eilte, war doch nicht sein Problem. Aber trotzdem fühlte er sich beschissen, als sie so traurig war. Ob sie statt Aspirin irgendetwas anderes in sein Glas gemischt hatte, dass er jetzt so durcheinander war? Nein, dazu war sie nicht hinterhältig genug. Das wusste er mit Gewissheit.

Jesses Augen brannten und auch seine Stirn glühte. Er legte seine kalte Hand darauf, um sein Gesicht ein wenig zu kühlen, aber das schaffte auch keine Abhilfe. Immer wieder musste er einen längeren Zeitraum seine Augen schließen, aber immer, wenn er das tat, hörte er Charitys Worte. Verdammt, in diesem Zustand spielte sein Verstand komplett verrückt. Er brauchte jetzt dringend Ruhe und Abstand, um sich erst einmal zu sammeln. Erschöpft legte er sich hin und schloss die Augen, aber schlafen konnte er nicht. Überhaupt hasste er es, zu schlafen und tat es nur, wenn es nicht mehr anders ging.

Als er die Augen geschlossen hatte, versuchte er seine Gedanken einfach loszulassen und seinen Kopf leer zu bekommen. Doch daraus wurde nichts, denn kurz darauf hörte er die Haustür oben zuschlagen und wie schwerfällige Schritte im Erdgeschoss ertönten. Auch das noch! Walter kam heute früher nach Hause. Ob Andy sich verquatscht hatte? Vielleicht war es auch nur Zufall, dass er so früh zurück war.

Die Tür zum Keller wurde geöffnet und Walter kam die Stufen herunter. Er war ein bulldoggengesichtiger Endvierziger mit knapp 130kg Gewicht und Halbglatze. So unfreundlich und schmierig wie er aussah, war er auch und der Gestank von Schweiß und Bier wehte dem 23-jährigen entgegen. „Was hast du denn hier verloren, du Rotzbengel? Ich hab dich rausgeschmissen, schon vergessen? Mach sofort, dass du wegkommst, oder…“

„Oder was?“ fragte Jesse und setzte sich sofort auf, wobei er versuchte, sich seinen angeschlagenen Zustand nicht anmerken zu lassen. Wäre ja noch schöner, wenn er ausgerechnet vor Walter Schwäche zeigte. Dieses Vergnügen würde dieser schmierige Sklaventreiber ganz gewiss nicht bekommen. „Willst du mich etwa verprügeln? Weißt du was, lass mich in Ruhe, ich hab jetzt echt keine Lust auf Diskussionen mit dir.“ „Werde mir bloß nicht frech, du kleiner Punk.“ Mit schwerfälligen und stampfenden Schritten kam Walter näher und sofort erhob sich Jesse. Zwar war sein Onkel bei weitem nicht so beweglich und schnell wie er, aber er konnte dennoch verdammt gut zuschlagen, wenn er sauer war. Und dann konnte es auch für Jesse gefährlich werden, das wusste er aus Erfahrung. „Wegen dir hab ich das Pferderennen verloren. Zehn Riesen sind mir deinetwegen durch die Lappen gegangen und die wirst du mir schön wieder zurückholen, oder ich werde mal ganz andere Seiten aufziehen, mein Freund. Bis jetzt war ich ja noch freundlich zu dir, weil du mein Neffe bist, aber deine frechen Kommentare und deine Respektlosigkeit mir gegenüber haben bei mir so langsam die Toleranzgrenze überschritten.“ Damit packte er Jesse am Kragen und stieß ihn mit dem Rücken zur Wand, wobei dieser sich den Hinterkopf schlug. „Ich lass dich hier wohnen und füttere dich schon seit Jahren durch, da wird es auch mal Zeit, dass du mir das auch mal zurückzahlst. Das nächste Rennen will ich gewinnen und du wirst dafür sorgen, dass dein Onkel wieder zufrieden ist. Denn wenn Onkel Walter nicht glücklich ist, dann wirst du dein blaues Wunder erleben. Mal sehen, ob du dann immer noch so aufmüpfig bist.“ Der Schlag am Hinterkopf tat weh und ging durch seinen ganzen Schädel. Die Schmerzen waren entsetzlich und für einen Moment wurde Jesse schwarz vor Augen. Sein Gesicht glühte und alles um ihn herum begann sich zu drehen. Verdammt, warum nur musste das ausgerechnet heute sein? Mit Mühe gelang es ihm, sich aus Walters Griff zu befreien und schon ging er zur Treppe hin, da wurde er erneut gepackt und zurückgezerrt. Er fiel zu Boden und sogleich wurde ein Fuß auf seine Brust gesetzt. „Du gehst nirgendwo hin, bis ich mein Geld wieder habe, hast du verstanden? Wenn du unbedingt Ärger mit mir haben willst, dann kannst du gerne Ärger haben!“ Es setzte einen kräftigen Tritt auf den Brustkorb, der Jesse die ganze Luft herauspresste. Er stöhnte auf und versuchte wieder Luft zu holen, doch da packte Walter ihn am Kragen und verpasste ihm noch einen Schlag ins Gesicht und einen in die Magengrube. Benommen fiel Jesse zu Boden, sein Kopf fühlte sich an, als würde er explodieren und wirklich alles im Raum schien sich zu drehen. Als er den Blick hob, sah er, wie sein Onkel aus der Hosentasche Handschellen holte und er begann zu ahnen, was gleich kommen würde. Und diese Vorstellung gefiel ihm überhaupt nicht. „So mein Freund, du willst es unbedingt auf die harte Tour? Das kannst du gerne haben.“ Obwohl er immer noch ganz benommen von dem Tritt war, reagierte Jesse sofort und trat seinem Onkel mit aller Kraft, zu der er fähig war, unter die Gürtellinie. Dieser krümmte sich vor Schmerzen und sogleich trat der 23-jährige gegen seine Beine, um ihn endgültig zu Boden zu bringen. Wie ein nasser Sack fiel Walter hin und war viel zu benommen, als dass er etwas gegen seinen Neffen hätte ausrichten können. Etwas taumelnd kam Jesse wieder auf die Beine und warf seinem Onkel einen tödlichen Blick zu. „Krepier doch, du fettes Schwein.“ Und damit trat er gegen seinen Rücken und dann auf seine Hand, die die Handschellen festhielt. Walter schrie auf und ließ los, dafür griff Jesse sich diese und fesselte seinem Onkel die Hände. Da dieser aber zu massig war, bekam er die Hände nicht auf den Rücken, aber das war auch egal. Als er Anstalten machte, sich zu bewegen, setzte es noch einen ordentlichen Tritt in die Magengrube. Das hatte Walter nun den Rest gegeben. Jesses Kopf dröhnte und ihm war schlecht, außerdem war ihm entsetzlich heiß und sein ganzes Gesicht fühlte sich an, als würde es brennen. Offenbar schien sich sein Fieber zu erhöhen und er brauchte dringend Ruhe. Aber hier konnte er auf keinen Fall bleiben, so viel stand fest. Er ging zum Kleiderschrank, holte eine Sporttasche heraus und begann schnell ein paar Sachen einzupacken. „Was hast du vor?“ brachte Walter unter Schmerzgestöhne hervor, als er sah, was sein Neffe da machte. Ohne ihn anzusehen, antwortete Jesse „Ich hau ab. Mir reicht’s endgültig. Lieber leb ich auf der Straße, als auch nur einen Tag länger in diesem Haus!“

„Dann mach doch. Du wirst früher oder später sowieso wieder zurückkommen, wenn du keine Kohle mehr hast, die du versaufen kannst! Zum Klauen hast du ja sowieso nicht den Mumm. Ein elender Schmarotzer bist du und das wirst du auch immer bleiben. Ohne mich hättest du weder Obdach, noch Essen, Kleidung oder Job. Ohne mich bist du nichts, hast du gehört?“ Doch Jesse hörte nicht zu, sondern verschloss seine Tasche, schulterte sie und gab seinem Onkel noch einen Tritt ins Gesicht. „Ist mir doch egal.“ Das war alles, was er noch zu ihm sagte. Schließlich verließ er den Keller, schloss die Tür hinter sich und ging in den Flur. Dort durchsuchte er den Mantel seines Onkels und fand schließlich seine Brieftasche. Er holte sie heraus, nahm sich zehn Dollar und ließ den Rest des Geldes drin, selbst die Kreditkarten. Die Brieftasche legte er wieder zurück. Sein Entschluss stand endgültig fest, dass er hierher nie wieder zurückkehren würde. Selbst dann nicht, wenn es die allerletzte Möglichkeit vor dem endgültigen Absturz war. Auf der Straße zu leben war ihm alle Male lieber, als sich von diesem fetten Ausbeuter im Keller einsperren und mit Handschellen ans Heizungsrohr fesseln lassen. Der hatte sie ja nicht mehr alle und er wollte lieber nicht daran denken, was der noch mit ihm angestellt hätte! Er lief so schnell er konnte und wollte einfach nur weg, weit weg am besten. Zehn Jahre lang hatte er das alles still schweigend ertragen, aber nun war das Maß endgültig voll. Sollte sich Walter doch einen anderen Vollidioten suchen, den er sich als persönlichen Sklaven halten und ans Heizungsrohr ketten konnte.

Jesses Wange schmerzte, wo der Schlag ihn getroffen hatte und auch seine Brust tat bei jedem Atemzug weh. Sein Onkel hatte aber auch wirklich den Schlag eines Boxers. Als er ihn ins Gesicht geschlagen hatte, war ihm für einen Moment regelrecht schwarz vor Augen geworden und hätte er sich nicht zusammengerissen, dann wäre er jetzt sicher am Heizungsrohr gefesselt und so schnell nicht mehr aus dem Keller herausgekommen. Wohl erst dann, wenn ein Wunder geschah. Aber jetzt merkte er auch richtig, dass sein Fieber gestiegen war. Sein Gesicht glühte und er fühlte sich müde, schwach und erschöpft. Er wollte sich einfach nur hinlegen und sich ausruhen. Doch bevor er das tun konnte, musste er noch etwas ganz Wichtiges erledigen und dafür musste er sich beeilen. Jesse griff in seine Hosentasche und suchte nach seinem Handy, fand es aber nicht. So ein Mist, hatte er es bei Walter vergessen? Oder hatte er es unterwegs verloren? Um keine Zeit zu verlieren, ging er zur nächstgelegenen Telefonzelle und rief sich ein Taxi. Wenn er Glück hatte, dann würde er es noch rechtzeitig schaffen und dann konnte er guten Gewissens endlich verschwinden.

Ein Deja-vu Erlebnis

Charity hatte endlich das Haus von Jesses Onkel erreicht und stieg aus dem Wagen. Hoffentlich war Jesse nicht allzu sauer, dass sie jetzt schon wieder vor der Tür stand und ihm auf die Nerven ging. Aber dieses Mal konnte sie ja nichts dafür und sie hatte auch einen guten Grund, ihn zu stören. Immerhin hatte sie ja sein Handy und das wollte er sicher wieder haben! Sie stieg die Stufen hoch und klingelte. Nichts geschah, also klingelte sie direkt noch mal, aber nun zwei Male hintereinander. „Jesse?“ rief sie und versuchte, etwas durch die Tür zu hören. „Ich bin es noch mal! Ich hab vergessen, dir dein Handy zurückzugeben. Machst du mal kurz auf?“ Immer noch keine Reaktion. Vielleicht hörte er im Keller die Haustürglocke nicht. Womöglich lag er ja auch im Bett und kurierte sein Fieber aus. In diesem Falle war es wohl besser, morgen wiederzukommen. Als sie aber gehen wollte, hörte sie Schritte und kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Es war aber nicht Jesse, sondern ein dicker Mann mit Halbglatze und dem Gesicht einer Bulldogge. Sie kannte ihn vom Sehen her und wusste, dass es Jesses Onkel Walter war. Er sah richtig sauer aus und war im Gesicht verletzt, was nichts Gutes erahnen ließ. Sie wich zwei Schritte zurück und fragte verunsichert „Entschuldigen Sie bitte, aber ist Jesse vielleicht da?“ „Wie jetzt?“ fragte der dicke Mann wütend und rieb sich die eine Hand, die offensichtlich ebenfalls verletzt war. Sein Gesicht nahm die Farbe eines gekochten Hummers an und er sah aus, als würde er gleich vor Wut platzen. „Bist du etwa seine Freundin, oder was?“ Was sollte sie denn darauf antworten? Je nachdem, was sie gleich sagte, würde dieser Kerl entweder vollkommen ausrasten, oder sich bloß weiterhin in Rage reden. Am Besten gab sie eine möglichst neutrale Antwort. „Jesse war bei mir gewesen und hat sein Handy vergessen. Wie geht es ihm denn?“

„Was kümmert’s mich, wie es diesem undankbaren Versager geht? Abgehauen ist er, obwohl ich ihm alles gegeben habe. Und dabei schuldet dieser elende Schmarotzer mir noch einen Haufen Kohle.“

„Wohin ist er gegangen?“

„Keine Ahnung. Der hat seinen Krempel gepackt und ist gegangen.“

„Vielen Dank Mr. Wyatt, einen schönen Tag wünsche ich noch.“ Schnell machte Charity kehrt und eilte zum Wagen, bevor dieser Kerl sie noch aufhalten konnte. Jesse hatte sie entweder angelogen, oder aber er hatte einen so heftigen Streit mit seinem Onkel gehabt, dass er freiwillig gegangen war. Und in dem Zustand konnte er doch nicht auf der Straße schlafen. Sie musste ihn suchen, aber wo sollte sie zuerst anfangen? Es gab mehrere Möglichkeiten für Obdachlose, sich irgendwo einzuquartieren. Und leider gab es hier kein Obdachlosenheim, wo Jesse wenigstens eine vernünftige Unterkunft hätte. Also, wo hielten sich die Obdachlosen hauptsächlich auf, wenn sie ihr Quartier bezogen? Da waren einmal der Stadtpark, die Tiefgaragen und Parkhäuser und der Bahnhof… Die Unterführung, schoss es ihr durch den Kopf. Ja genau! An der Unterführung war nie etwas los und da Jesse strikter Einzelgänger war und sich dort schon einmal niedergelassen hatte, würde er mit Sicherheit wieder dort sein. Wenn sie Glück hatte, würde sie ihn dort tatsächlich antreffen. Also startete die Studentin den Wagen und fuhr los. Die Unterführung war zum Glück nicht ganz so weit weg und für sie stand fest, dass sie Jesse helfen würde, ob er nun wollte oder nicht. Sie musste an diesen unsympathischen Kerl Walter denken, der im Gesicht verletzt war. Und seine Hand sah auch so aus, als hätte er sich ziemlich wehgetan und die Fingerknöchel waren gerötet. Ein schrecklicher Gedanke kam ihr schließlich, als sie überlegte, wie er sich diese Verletzungen zugezogen haben könnte. Was, wenn er und Jesse eine handfeste Auseinandersetzung gehabt hatten und Jesse dann schließlich die Flucht ergriffen hatte? Das würde sie wahrscheinlich erst herausfinden, wenn sie ihn gefunden und zur Rede gestellt hatte. Als sie die Unterführung erreicht hatte, stieg sie aus dem Wagen, schloss ab und lief zu Fuß weiter. Doch sie fand Jesse hier nicht. Offenbar war er gar nicht hier gewesen, aber wo sollte er denn sonst sein? Sollte sie vielleicht doch die Obdachlosentreffs absuchen? Sie setzte sich wieder in den Wagen und wollte zum Bahnhof fahren, da klingelte ein Handy, aber dieses Mal war es nicht Jesses. Denn es wurde ihre Lieblingsmelodie „Happy“ von Pherrell Williams gespielt, der Klingelton ihres eigenen Handys. Da sie keine Freisprechanlage im Auto hatte, hielt sie am Straßenrand, schaute auf das Display und sah, dass es ihre Großmutter war. Sie drückte den grünen Hörer und rief „Oma, was gibt es denn?“

„Cherry, könntest du bitte zum Innenhafen kommen?“ Irgendwie klang sie ein wenig durcheinander, was ihrer Enkelin Sorge bereitete, denn normalerweise war Grace stets gefasst und ruhig. „Ist irgendetwas passiert?“

„Das erkläre ich dir später. Würdest du bitte kommen und ein paar Handtücher mitbringen?“

„Oh Gott, ist jemand ins Hafenwasser gefallen? Geht es dir und den anderen gut?“

„Ja, es geht uns bestens. Aber würdest du dich bitte beeilen?“

„Kein Problem, ich bin gleich da.“ Sofort startete Charity den Motor und fuhr nach Hause, um Handtücher zu holen. Sie fuhr dabei aber mindestens 10km/h zu schnell und raste um die Kurven. Allein die Vorstellung, ihre Großmutter könnte abgerutscht und in den Fluss gestürzt sein, machte ihr Angst. Die Strömung im Fluss konnte sehr gefährlich sein und nicht selten kam es zu einem Unglück, wenn irgendwelche Verrückten hineinsprangen. Zwar klang Grace nicht danach, als sei etwas Schlimmes passiert, doch die Studentin machte sich trotzdem große Sorgen. Nachdem sie den Wagen in der Einfahrt geparkt hatte, eilte sie schnell ins Haus und holte aus dem Badezimmer ein paar Handtücher und sicherheitshalber noch eine Decke, da draußen ein kühler Wind wehte. Die Sachen verstaute sie solange im Kofferraum, dann setzte sie sich wieder in den Chevrolet und fuhr los. Der Hafen lag etwas außerhalb der Innenstadt und dort herrschte zum Glück nicht gerade viel Verkehr. Der Innenhafen war ein beliebter Treffpunkt für Leute, die gerne in Restaurants oder Cafes mit etwas anderer Aussicht gingen. Ihre Großmutter traf sich dort immer mit ihren alten Freundinnen von früher erst zum Gymnastikkurs und ging im Anschluss in ihr Stammcafe am Innenhafen. Normalerweise ging sie immer zu Fuß, weil sie fit bleiben wollte, aber bei Kälte und Nässe chauffierte Charity sie und die anderen mit dem Auto, bevor es noch ein Unglück gab. Ein Sturz konnte schwere Knochenbrüche bedeuten und danach würde ihre Großmutter nie wieder richtig auf die Beine kommen und im schlimmsten Fall zu einem Pflegefall werden. Diesen Gedanken könnte sie kaum ertragen. Außerdem konnte es mit den alten Damen manchmal ganz witzig werden. Besonders, wenn sie sich zum Kartenspielen trafen, denn die Seniorinnen waren ausgefuchste Pokerspielerinnen.

Der Himmel begann sich zu verdüstern und es sah verdächtig nach Regen aus. Sie hatte aber Glück und erreichte den Innenhafen, ohne dass das Unwetter hereinbrach. Schon von weitem sah sie eine Gruppe Seniorinnen und glaubte sie als die Gruppe ihrer Großmutter zu erkennen. Sie parkte am Cafe und lief den restlichen Weg zu Fuß. Sofort wurde sie von den alten Damen begrüßt und belagert und wirklich jede begann gleichzeitig zu reden, sodass Charity kaum ein Wort verstand. Aber sie sah schließlich selbst, was da wohl passiert war: Jesse saß vollkommen durchnässt auf einer Bank, sein Gesicht war kalkweiß und er erinnerte mehr an eine Leiche, als an einen Lebenden. „Oma“, rief sie und lief zu ihrer Großmutter, die sich gerade um den benommen 23-jährigen kümmerte. „Was ist denn passiert?“

„Der Junge hat Grace gerettet“, erklärte Dorothy, bevor Grace überhaupt zu Wort kam. „Von einer Sekunde auf die andere ist sie abgerutscht und wäre fast ins Wasser gefallen, da kam dieser Junge herbeigelaufen und hat sie wieder hochgezogen. Aber dann ist er selbst gestürzt.“ Charity sah verwundert zu Jesse und konnte es nicht glauben. Er hatte ihre Großmutter gerettet. Aber woher wusste er, dass sie hier war? Oder war das schon wieder so ein merkwürdiger Zufall? Sie ging zu ihm hin und bemerkte, dass er völlig am Ende mit seinen Kräften war und in den nassen Klamotten musste er sicherlich frieren. „Jesse, kannst du mich hören?“ Sein Blick wanderte zu ihr und wirklich begeistert wirkte er nicht gerade. „Du schon wieder…“ „Ist mir auch eine Freude, dich wiederzusehen. Hör mal, du musst aus den nassen Klamotten raus, sonst holst du dir noch den Tod. Dein Körper ist sicher völlig ausgekühlt.“

„Vergiss es, ich zieh mich doch nicht aus!“

„Jetzt stell dich mal nicht so an.“ Doch sein Blick verriet, dass er so etwas nicht machen würde. Verständnislos schüttelte sie den Kopf und seufzte. „Machen wir einen Kompromiss: Du ziehst Jacke, Shirt und Hemd aus und wir gucken nicht hin, wenn dir das unangenehm ist.“ Mit diesem Kompromiss war er einverstanden und so drehte er sich von ihnen weg und begann, seinen gesamten Oberkörper zu entkleiden, dann reichte Charity ihm die Decke. „So und jetzt kommst du erst mal mit zu uns nach Hause. So wie du aussiehst, brauchst du dringend Bettruhe! Dein Fieber ist sicherlich auch gestiegen.“ Damit verabschiedeten sie sich von den anderen Rentnerinnen, die selbst mit dem Bus fahren wollten. Grace nahm die Tasche, die Jesse bei sich gehabt hatte und begleitete ihre Enkelin und ihren Retter zum Wagen. Nicht ein Mal protestierte der 23-jährige oder machte Anstalten, abzuhauen. In dem Zustand wäre er auch nirgendwo hingekommen. Auch sah Charity, dass Jesse im Gesicht verletzt war, was wahrscheinlich von der Auseinandersetzung mit seinem Onkel herrührte. Wer wohl zuerst zugeschlagen hatte? „Danke übrigens, dass du Oma gerettet hast.“ „Ich war bloß zufällig in der Nähe“, murmelte er und schaffte es kaum, die Augen offen zu halten. Außerdem begann er zu frieren und so schaltete die Studentin die Wagenheizung an. Langsam und vorsichtig fuhr sie aus der Parklücke heraus und steuerte dann in Richtung Hauptstraße, damit sie schneller zuhause war. Tausende von Fragen schossen ihr durch den Kopf und sie wusste nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte. Zwar war sie etwas naiv, aber sie war nicht blöd. Diese ganzen Zufälle waren wirklich merkwürdig. Zuerst klaute Jesse ihr die Handtasche, gab sie ihr kurz darauf wortlos zurück und am Abend fand sie ihn sturzbetrunken und verletzt an der Unterführung. Er kehrte nach Hause zurück, sie fand sein verlorenes Handy und erfuhr so, dass er abgehauen war. Und kurz darauf erfuhr sie von ihrer Großmutter, dass er sie vor einem Sturz ins Hafenwasser gerettet hatte. Als ob es wirklich so etwas wie Schicksal war, dass sich ihre Wege gekreuzt hatten. Als sie wieder zuhause waren, nahm Charity die Tasche, während ihre Großmutter die Haustür aufschloss und ihnen Bescheid gab „Ich lasse erst einmal ein Bad ein.“ Da sich Jesse nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte, brachte sie ihn ins Wohnzimmer und ging danach in die Küche, um einen Tee zu kochen. So einen konnte sie jetzt auch ganz gut vertragen und außerdem holte sie aus dem Schrank noch ein paar Medikamente, die gut gegen Fieber halfen. Wichtig war es jetzt, dass Jesse sich schonte und sie das Fieber irgendwie gesenkt bekamen. Dieser Sturz ins Hafenwasser war wirklich das Letzte, was er hätte gebrauchen können, wo er doch eh schon krank war. Und dann auch noch diese Auseinandersetzung mit seinem Onkel… er hatte sich völlig übernommen. Kein Wunder, wenn er jetzt zusammenbrach. Während das Wasser kochte, stellte Charity schon mal Tassen, Besteck, Teebeutel und Zucker auf ein Tablett. Nachdem das Wasser heiß genug war, füllte sie es in eine Thermoskanne, stellte sie ebenfalls dazu und ging damit ins Wohnzimmer. Jesse hatte aus seiner Sporttasche ein T-Shirt geholt und es sich übergestreift und danach wieder in die Decke gewickelt. Er war völlig ausgekühlt und zitterte am ganzen Körper. Vorsichtig stellte Charity das Tablett auf dem Tisch ab und setzte sich zu ihm. „Meine Oma lässt dir erst einmal ein Bad ein, dann geht es dir gleich besser. Hier sind übrigens Tabletten gegen das Fieber.“ Er sagte nichts, sondern starrte ins Leere. Vorsichtig legte sie eine Hand auf seine Stirn und stellte entsetzt fest, dass sie richtig heiß war. Das Fieber war eindeutig gestiegen. Kein Wunder, bei der ganzen Aufregung. Ihr Blick aber ruhte allein auf seiner Verletzung im Gesicht. „Hat dich dein Onkel geschlagen?“ fragte sie nach einigem Zögern und mit besorgter Stimme. Immer noch sagte Jesse nichts, offenbar wollte er nicht mit ihr reden. „Ich war vorhin bei ihm gewesen, weil ich dein Handy hier im Wohnzimmer gefunden hatte und es dir bringen wollte. Hör mal, egal was er dir auch angetan hat, du kannst gerne erst einmal hier bleiben. Soll ich vielleicht die Polizei rufen?“ „Nicht nötig“, entgegnete er mit leiser und tonloser Stimme. „Ist eh nichts Dramatisches gewesen.“

„Und dein Gesicht?“

„Nur eine kleine Auseinandersetzung.“

„Wer schlägt sich denn gleich bei einem Streit? Ich bin zwar ein wenig naiv und gutgläubig, aber ich bin nicht blöd, klar?“

„Was willst du denn überhaupt von mir?“ fragte Jesse gereizt und sah sie verärgert an, doch man sah ihm an, dass seine Aggression lediglich eine Abwehrreaktion war, weil er sie unbedingt auf Abstand halten wollte. Er hatte vor irgendetwas Angst. Auch wenn er sie anschrie, hatte sie Mitgefühl für ihn. „Ich will dir helfen, Jesse. Deine Probleme werden sich nie lösen, wenn du nicht endlich mal Hilfe in Anspruch nimmst, denn ganz offensichtlich schaffst du das nicht alleine und in diesem Zustand schon mal gar nicht. Und dich zu betrinken oder umzubringen wird auch nichts ändern.“ Aber es fiel ihm schwer, sich Schwäche einzugestehen und andere um Hilfe zu bitten. Denn dazu musste er Menschen vertrauen und ihnen seine Probleme offenbaren und das wollte er aus irgendwelchen Gründen nicht. Sie goss sich Tee ein und gab drei Löffel Zucker dazu. Vielleicht half es ihm, wenn sie den ersten Schritt auf ihn zu machte und etwas über sich erzählte. „Der Rosenkranz hier hat früher meiner Mutter gehört. Sie und mein Vater starben, als ich noch ganz klein war und ich wuchs bei Oma auf. Er ist mein Glücksbringer und hat mir immer Kraft gegeben, wenn es mir schlecht ging. Weißt du, in der Schule wurde ich oft ausgelacht, weil ich recht gutgläubig war und mich manchmal auch ausnutzen ließ. Auch weil ich an Gott glaube, machten sie sich lustig über mich. Natürlich war es nicht immer einfach für mich, aber ich habe versucht, alles immer positiv zu sehen und stark zu bleiben, weil sich das auch meine Eltern für mich gewünscht hätten. Und ich bin auch stolz darauf, so wie ich bin. Ich kann gut nachfühlen wie es ist, wenn man keine Eltern hat und weiß, dass es manchmal hart ist, egal wie optimistisch man bleibt. Und ich weiß auch wie es ist, von anderen schikaniert zu werden.“ Der harte und abweisende Gesichtsausdruck wich allmählich in Jesses Augen und er senkte den Blick. In diesem Moment wirkte er furchtbar unglücklich. „Wenn ich dir einen guten Rat geben darf“, sagte er schließlich nach einer kurzen Pause „dann solltest du besser aufhören, dich um mich zu kümmern und mich einfach in Ruhe lassen.“

„Wieso?“

„Weil du nur in dein Unglück rennst, wenn du dich mit mir abgibst.“

„Ach so ein Quatsch!“

„Ich meine es ernst.“ Bevor Charity noch etwas sagen konnte, kam auch schon ihre Großmutter hinzu um Bescheid zu sagen, dass das Bad jetzt fertig sei. Ohne etwas zu sagen, trank Jesse seinen Tee und ging ins Bad, wobei die Studentin ihn begleitete um sicherzugehen, dass er nicht unterwegs zusammenbrach. Gemeinsam gingen sie ins obere Stockwerk und an der Badezimmertür blieb die 22-jährige schließlich stehen. „Ich bringe dir gleich deine Sachen hoch.“ Damit wollte sie gehen, doch da hielt Jesse sie mit einer Frage auf. Und diese klang gar nicht so schroff und abweisend wie zuvor, sondern sie klang so, als würde sie ihn wirklich beschäftigen. „Meintest du das eigentlich ernst, dass wirklich jeder Mensch eine zweite Chance verdient hat?“

„Natürlich! Wenn man Fehler gemacht hat und sie aufrichtig bereut, hat jeder sie verdient! Und du natürlich auch.“

„Selbst wenn man den Tod eines Menschen verschuldet hat?“ Zuerst hielt Charity es für einen schlechten Witz oder für eine Strategie, damit Jesse sie loswerden konnte. Aber es sah nicht danach aus, als würde er Witze reißen. Er meinte es wirklich ernst. Fassungslos sah sie in seine wunderschönen grasgrünen Augen, die aber nun matt und farblos wirkten. Und sie glaubte auch, in diesem Blick so etwas wie Schuld zu erkennen. „Wie meinst du das?“ „So wie ich gesagt habe“, antwortete er und fand seine kalte und abweisende Art wieder. „Weil ich nämlich meinen kleinen Bruder auf dem Gewissen habe.“ Damit begab er sich ins Badezimmer und ließ Charity vor der Tür stehen. Diese stand wie in Schockstarre verfallen da und konnte nicht glauben, was sie da gehört hatte. Jesse hatte seinen kleinen Bruder umgebracht? Stimmte das wirklich? Irgendwie wollte sie das nicht glauben und konnte sich ihn auch kaum als Mörder vorstellen. Aber da wurde ihr in dem Moment klar, dass sie Jesse überhaupt nicht kannte. Sie wusste kaum etwas über ihn. Nur, dass er der Beste seines Jahrgangs gewesen war, einmal die Schule gewechselt und dann abgebrochen hatte, woraufhin er im Getränkemarkt seines Onkels gearbeitet hatte. Er hatte ein Alkoholproblem, seine allein erziehende Mutter saß im Gefängnis und sein Onkel war ein eiskalter und egoistischer Ausbeuter, der seinen Neffen ausnutzte. Trotzdem wollte sie nicht glauben, dass er einen Menschen getötet haben sollte. Oder war sie wieder zu naiv und wollte die Tatsache einfach nicht glauben? Wie sollte sie darauf bloß reagieren? Auch wenn Jesse immer so kalt und abweisend und ein strikter Einzelgänger war, so war er doch kein schlechter Mensch. Er hätte ihr die Handtasche klauen können, aber er hatte sie ihr wieder zurückgegeben und er hatte ihre Großmutter gerettet. Nein, er war definitiv kein Mörder! Dennoch ging sie mit einem unguten Gefühl in der Magengegend zurück ins Wohnzimmer, wo Jesses Tasche noch lag. Grace hatte es sich in ihrem Sessel bequem gemacht und war mit Strickarbeit beschäftigt. „Alles in Ordnung, Cherry?“ Sollte sie ihr sagen, was Jesse ihr erzählt hatte? Dass er behauptete, ein Mörder zu sein? „Es ist wegen Jesse“, sagte sie nach einigem Zögern und setzte sich aufs Sofa. Sie nahm noch einen Schluck Tee, bevor sie weitersprach. „Er hat mir gesagt, dass er für den Tod seines kleinen Bruders verantwortlich ist.“ Nun unterbrach die Pensionärin ihre Arbeit und sah ihre Enkelin durch ihre Brille an. „Wie meint er das?“ Unsicher zuckte sie mit den Achseln und hielt ihre Tasse fest. „Er hat mich gefragt, ob ich es ernst meinen würde, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient. Und als ich ihm mit ja antwortete, fragte er, ob er sie auch verdient hätte, wenn er für den Tod eines Menschen verantwortlich wäre.“

„Und was hast du ihm geantwortet?“

„Nichts. Ich wusste zuerst nicht, was ich davon halten sollte und dachte, er wollte mich damit bloß wieder loswerden. Dann ist er ins Badezimmer verschwunden. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Hat er seinen Bruder selbst und mit Absicht getötet, oder war es ein Unfall? Oma, was meinst du dazu?“ Die alte Dame dachte nach und legte dabei ihre Stirn in Falten. Mit so etwas wie Mord oder Todesfall scherzte man nicht und was Jesse sagte, klang ernst gemeint. Aber allein die Aussage, dass er für den Tod eines Menschen verantwortlich war, bedeutete noch nicht, dass er ihn auch umgebracht hatte. Wie Charity gesagt hatte, es konnte auch ein Unfall sein und Jesse gab sich lediglich die Schuld dafür. Aber was war, wenn er tatsächlich einen Menschen umgebracht hatte? Solange sie die Hintergründe nicht kannten, war es voreilig, irgendetwas zu tun. Sie kannte diesen Jesse nicht und konnte ihn auch nicht richtig einschätzen. Aber als sie beinahe gestürzt wäre, war er sofort herbeigeeilt und hatte sie gerettet, ohne auch nur einen Moment zu zögern. Dabei hatte er selbst riskiert, von der Strömung fortgerissen zu werden, da es durchaus lebensgefährlich im Hafenwasser sein konnte. Trotzdem blieb sie skeptisch und hielt es für vernünftig, ruhig und sachlich zu bleiben. Aber sie würde trotzdem ein Auge auf diesen Jesse Wyatt haben. Sicher war sicher. „Warten wir erst einmal ab und reden in Ruhe mit ihm.“ Charity nickte und nach einer Weile stand sie auf und nahm die Tasche mit, in der sich Jesses Kleidung befand. Sie ging die Treppe rauf und blieb vor der Badezimmertür stehen und wollte gerade klopfen, da hörte sie etwas scheppern und fürchtete in dem Moment, dass etwas passiert sein könnte. Sofort öffnete sie die Tür und sah Jesse auf dem Boden liegen. Er hatte sich ein Handtuch um die Hüften gewickelt und schien wohl ausgerutscht zu sein. „Warte, ich helfe dir!“ Sie legte die Tasche beiseite und ergriff einen Arm, um ihn hochzuziehen, doch er schlug ihre Hand weg und rief „Nein, lass mich! Ich kann das alleine.“ Doch es war allzu offensichtlich, dass er es nicht alleine schaffen würde. „Jetzt stell dich mal nicht so an und lass dir endlich mal helfen.“ Da er wegen seines Fiebers kaum Widerstand leisten konnte, ließ er sich widerwillig von ihr hochhelfen und sogleich sah die Studentin, was Jesse vor ihr zu verbergen versucht hatte. Nicht nur, dass er am Körper blaue Flecken hatte, sondern auch alte dunkle Narben. An seiner Brust, am Bauch und auch am Unterleib. Und eine Narbe war besonders lang und zog sich von seinem Unterleib bis über den Bauchnabel entlang. Charity jagte dieser Anblick einen Schauer über den Rücken, aber gleichzeitig hatte sie Schuldgefühle, als sie sah, wie unangenehm es Jesse war, dass sie ihn so sah. „Tut mir Leid“, murmelte sie und senkte den Blick. „Ich… ich wusste nicht…“ Er sagte nichts, sondern setzte sich auf den Rand der Badewanne und ihm war auch keine Gefühlsregung anzusehen. Aber als er sah, dass sie zu weinen anfing, war er verwirrt. „Warum heulst du auf einmal?“

„Na weil…“ Charity wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Weil es mir wehtut, das zu sehen… Wer hat dir das denn angetan?“ Er antwortete nicht auf ihre Frage, sondern wich ihrem Blick aus. Nach einer Weile sagte er schließlich „Was geschehen ist, das ist nun mal geschehen und daran kann man eben nichts ändern. Diese Narben kümmern mich überhaupt nicht. Ich will bloß einfach nicht, dass jeder darüber redet.“

„War das dein Onkel?“

„Nur die blauen Flecken. Er war sauer, weil er die zehn Riesen beim Pferderennen verloren hat und musste Dampf ablassen.“

„Bist du deshalb abgehauen?“

„Nicht direkt. Er wollte mich mit Handschellen ans Heizungsrohr fesseln.“ Er sah die Fassungslosigkeit in Charitys Augen, verstand aber nicht, wieso sie so reagierte. Was interessierte es sie denn, was passiert war und wieso reagierte sie denn so geschockt? Normalerweise bekam er eine ganz andere Reaktion und die hatte er an seiner alten Schule sehr oft zu spüren bekommen. Aber wieso sah sie dann so unglücklich aus? Dabei hatte sie nicht mal so ausgesehen, als er sich über ihre treudoofe Art lustig gemacht hatte. Und wieso redete er überhaupt darüber? Das war ihm noch unbegreiflicher. Diese Situation war ihm mehr als unangenehm, denn er verstand einfach nicht, was mit ihr los war und vor allem nicht, was mit ihm selbst nicht stimmte. „Entschuldige, aber ich würde mich gern anziehen…“ „Oh, entschuldige. Ich… ich gehe dann mal besser.“ Damit ging sie und schloss die Badezimmertür hinter sich. Jesse öffnete seine Sporttasche und während er sich anzog, musste er an ihre Reaktion denken, als er ihr erzählt hatte, was ihm passiert war. Wieso nur weinte sie, wenn es sie doch überhaupt nicht betraf? Jesse versuchte den passenden Begriff dafür zu finden. Das war… Mitgefühl gewesen, oder nicht? Es war so genannte emotionale Empathie, die einen das fühlen ließ, was der andere fühlte. Aber wenn dem so war, dann müsste sie doch auch nichts fühlen können, so wie er. Denn er empfand keine Emotionen oder zumindest nahm er sie nicht wahr. Schon seit er in diesem Zustand war, verkümmerte auch seine kognitive Empathie, also das Nachvollziehen von Emotionen bei anderen Menschen. Natürlich erkannte er, dass jemand traurig oder fröhlich war, aber er konnte oft den Grund oder die Ursache nicht verstehen. Er verstand nicht, wie man über Witze oder über die Missgeschicke anderer lachen konnte, ebenso wenig wieso sich manche so freuten, wenn ihre Lieblingsmannschaft das Pokalfinale gewonnen hatte. Er war unfähig geworden, andere Menschen zu verstehen, weil er sich entschieden hatte, sich von ihnen zu distanzieren. Das war für ihn die beste Lösung gewesen, um nicht immer wieder nur enttäuscht und verletzt zu werden. Wann hatte er eigentlich die Fähigkeit verloren, Menschen zu verstehen? Er konnte sich schon gar nicht mehr daran erinnern, ob er überhaupt jemals Emotionen empfunden hatte. Doch, er hatte sie schon mal gehabt und zwar beim Tod seines kleinen Bruders. So viele Jahre war das schon her… All die Jahre hatte er nicht das geringste Problem damit gehabt, doch jetzt kam diese Charity daher und drängte sich mit solch einer Aufdringlichkeit in sein Leben, die ja schon fast an Lächerlichkeit grenzte. Und sie hatte Mitgefühl für seine Situation. Diese naive und gut gelaunte Studentin mit dem Sonnenscheinlächeln im Gesicht und dem kindlichen Glauben an das Gute in Menschen hatte doch tatsächlich seinetwegen geweint. Wie sollte er darauf reagieren? Sollte er weiter versuchen, sie von sich fernzuhalten, oder war es an der Zeit, die Wahrheit zu sagen, selbst auf das Risiko hin, dass sie ihn genauso enttäuschen würde wie all die anderen? Ach was, es konnte ihn doch niemand mehr enttäuschen, weil er sowieso niemandem vertraute und auch rein gar nichts mehr empfand, außer körperlichen Schmerz. Als seine Haare getrocknet waren, schnappte er sich seine Tasche und verließ das Badezimmer. Zuerst überlegte er, ob er nicht die Gelegenheit nutzen sollte, um von hier zu verschwinden, aber diesen Gedanken verwarf er wieder. In dem Zustand kam er ganz sicher nicht weit. Was er jetzt brauchte, war einfach nur Ruhe und Schlaf. Gleich schon am Ende der Treppe tauchte auch schon wieder Charity auf. „Du kannst fürs Erste auf der Couch schlafen. Ruh dich aus und wenn du etwas brauchst, sag einfach Bescheid.“

„Macht euch keine Umstände…“

„Du machst Umstände, wenn du dich weiterhin so sträubst.“ Wortlos ging Jesse ins Wohnzimmer, bekam von Charity eine Decke gereicht und legte sich hin. Das Ganze hier ist doch wie ein Deja-vu, dachte er und erinnerte sich, als er mit einem Kater und einem Blackout hier aufgewacht war. Und jetzt war er schon wieder hier gelandet. Irgendwie war das schon eine gewisse Ironie. Und wie beim ersten Mal hatte er kaum eine Chance, sich zur Wehr zu setzen. Na was soll’s, dachte er. Wenn es mir morgen besser geht, dann verschwinde ich. Ist eh besser, wenn ich schnellstmöglich wieder abhaue, bevor noch ein Unglück geschieht. Die Vorhänge wurden zugezogen, wodurch es dunkel im Wohnzimmer wurde. Jesse hörte, wie Charity leise den Raum verließ, aber kurz darauf waren andere Schritte zu hören. Er hob den Blick und sah Grace. „Ich möchte mich noch einmal bei dir bedanken. Ohne dich hätte es vielleicht ganz anders ausgehen können und ich wäre wahrscheinlich im Krankenhaus oder schlimmstenfalls gar nicht mehr hier. Vielen Dank. Und was dich betrifft, mein Junge: Ich weiß nicht, was genau bei dir zuhause alles passiert ist. Vielleicht willst du eines Tages selbst darüber reden, aber wenn du keinen Ort hast, an den du hingehen kannst, darfst du gerne fürs Erste hier bleiben.“ Sie sah keinerlei Gefühlsregung bei ihm, glaubte aber, dass es vielleicht an seinem angeschlagenen Gesundheitszustand lag. Aber dann, als er sie ansah, erkannte sie die Leere in seinem Blick. „Warum macht ihr das? Ihr kennt mich nicht und es bringt euch keinerlei Vorteile, wenn ihr mich hier aufnehmt.“

„Um es mit deinen Worten auszudrücken: Betrachte es als Wiedergutmachung für meine Rettung.“ Wahrscheinlich hätte er in diesem Moment gelächelt, wenn er wirklich etwas empfunden hätte. Charity gegenüber wäre er ja weiterhin abweisend gewesen, aber er konnte so einen harten Ton doch nicht bei einer alten Dame anschlagen. Und er wusste auch, dass Grace die wichtigste Person in Charitys Leben war. Sie war nicht nur Großmutter, sondern auch Elternersatz und da ihre Enkelin ein klein wenig zu gutgläubig und naiv war, übernahm sie auch die Aufgabe, sie zu beschützen. Was sollte er sagen, ohne der alten Dame zu sehr vor den Kopf zu stoßen? Er überlegte und fand schließlich ein Wort, welches ihm als passend erschien. „Danke.“ Damit ließ Grace ihn allein und wenig später fielen Jesse die Augen zu, woraufhin er in einen tiefen Schlaf fiel.

Eine Familientragödie

Schweißgebadet fuhr Jesse aus dem Schlaf und zitterte am ganzen Körper. Der Schreck seines letzten Alptraums saß ihm immer noch in den Knochen und zuerst wusste er nicht, wo er war und presste eine Hand auf seine Brust. Sein Herz raste wie verrückt und sein Atem ging schneller. Noch immer spürte er den entsetzlichen Schmerz in seinem Körper, den er in seinem Traum verspürt hatte, der ihm so real vorgekommen war, als hätte er es in diesem Moment wirklich erlebt. Schon wieder diese Träume, dachte er und erholte sich langsam von dem Schreck. Nicht wieder ausgerechnet dieser Traum, der sowieso nichts Gutes bedeutete. Dabei hatte er gehofft, dass er die nächsten Nächte verschont blieb, aber offenbar hatte er sich geirrt. Seine Träume holten ihn langsam wieder ein und er musste sich überlegen, was er tun konnte. Egal was er auch versuchte, vor ihnen weglaufen konnte er nicht, sondern sie nur unterdrücken, wenn auch nur vorübergehend, solange der Rausch noch anhielt. Wie sehr er diese Träume doch hasste. Genauso wie er fast alle seine Träume hasste. „Hey, es ist alles in Ordnung, du hattest nur einen Alptraum.“ Sein Blick wanderte zu Charity, die gerade das Fenster geöffnet hatte, um etwas frische Luft hereinzulassen. Langsam schaffte er es, seinen Herzschlag zu senken und wieder ruhig zu atmen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und merkte in dem Augenblick, dass seine Kleidung schweißdurchnässt war und wie eine zweite Haut an ihm klebte. Aber dafür fühlte er sich schon mal wesentlich besser als gestern. Ein Blick auf sein Handy verriet ihm, dass es bereits Mittag war. Offenbar hatte er schon wieder den halben Tag geschlafen. „Wenn du willst, kannst du ja schon mal ins Bad gehen. Oma hat ihre berühmte Hühnersuppe gekocht, die bringt jeden Kranken wieder auf die Beine. Ich hoffe, du bist kein Vegetarier.“

„Nein, bin ich nicht…“, murmelte er und stand langsam auf, musste sich aber kurz abstützen, da ihm wieder schwindelig wurde. Schon eilte sie zu ihm und wollte ihm helfen, aber er hielt sie auf Abstand. „Erklär mir mal eines“, sagte er und sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, der sich nur sehr schwer deuten ließ. „Nach dem, was ich gestern gesagt habe, willst du immer noch nicht aufgeben. Wieso?“ Einen Moment lang schaute ihn die Studentin an, als hätte sie keine Ahnung, wovon er da sprach, aber dann schien es bei ihr Klick zu machen. „Nun, solange ich die ganze Geschichte nicht kenne, kann ich mir auch kein Urteil darüber bilden.“ So war das also, dachte Jesse und schnappte sich seine Sporttasche, wo er seine Sachen aufbewahrte, die er gestern schnell noch zusammengepackt hatte, bevor er abgehauen war. Sie hält mich nicht für einen Mörder, dabei hat sie mich doch gestern entsetzt angesehen, als hätte sie Angst um ihr Leben. Woher denn dieser plötzliche Sinneswandel? So ganz verstehen konnte er das nicht. „Du bist wirklich ganz schön gutgläubig.“

„Das hat nichts mit Gutgläubigkeit zu tun. Ich stehe zu meinen Worten, dass jeder eine zweite Chance verdient, wenn er aufrichtige Reue zeigt.“ Ohne dazu etwas zu sagen, ging Jesse nach oben ins Bad und ließ Charity zurück. Nach knapp einer halben Stunde kam er wieder herunter und ging in die Küche, wo seine Gastgeberinnen gerade dabei waren, den Tisch zu decken. Er war für drei Personen gedeckt und sofort erkundigte sich die pensionierte Lehrerin nach seinem Befinden. Tonlos, ohne sichtliche Gefühlsregung und mit einem gleichgültigen Schulterzucken sagte er kurz und knapp „Besser.“

„Dann setz dich schon mal, damit wir zusammen essen können.“ Zusammen eine Mahlzeit einnehmen? Jesse konnte sich nicht daran erinnern, dass er überhaupt mal zusammen mit seiner Familie bei Tisch gesessen hatte. Meist war er immer alleine und die Gesellschaft seines Onkels hatte er auch immer vermieden. Wozu saßen Menschen überhaupt noch mal zusammen beim Essen? Wegen der Kommunikation wahrscheinlich. Ob sie von ihm erwarteten, dass er seine jetzt ganze Lebensgeschichte offen darlegte? So ganz war er sich noch nicht sicher und insgeheim traute er dem Braten nicht. Aber als sich die beiden dazu setzten und kurz darauf über Graces Treffen mit ihren Freundinnen sprachen, da merkte er, dass es auf einmal eine ganz andere Atmosphäre war, als wenn er immer allein saß. Es fühlte sich angenehmer an und nicht ein einziges Mal wurde Jesse auf seine Vergangenheit angesprochen. Noch nicht mal auf seine Narben und die blauen Flecken. Sie wollten ihn offenbar tatsächlich nicht bedrängen und respektierten seine Entscheidung, wenn er nicht darüber reden wollte. Aber trotzdem konnte er es noch nicht wirklich verstehen, wieso sie ihn aufgenommen hatten und dann letzten Endes nicht mal wissen wollten, wieso er ein 23-jähriger Obdachloser mit Alkoholproblem war. Und ebenso schleierhaft war ihm, wieso sie so viel Wert darauf legten, zusammen bei Tisch zu sitzen und ihn dabei zu haben. Nach einer Weile des Schweigens fragte er schließlich „Esst ihr immer zusammen?“

„Natürlich“, antworteten beide unisono und Grace erklärte „Wenn Charity nach dem College erst spät zurückkommt, wird das Mittagessen immer auf Abend verschoben, damit wir gemeinsam zusammen sitzen und über den Tag reden können. So etwas ist doch viel schöner, als allein zu essen. In einer Familie ist so etwas eben sehr wichtig.“ „Ach so…“, sagte er tonlos und dachte darüber nach. Nach einer Weile beschloss er, einen simplen Selbstversuch zu wagen, und als er die leicht trübe Suppe sah, kam ihm eine Idee und sagte nach einigem Zögern „Wissen Sie übrigens, wie man eine klare Brühe hinbekommt? Sie müssen das Huhn im kalten Wasser langsam auskochen. Dann tritt das Eiweiß nicht aus, wodurch sonst alles trüb wird.“ Es war ein ganz simpler Test, um zu prüfen, ob er das auch konnte, diese „Konversation“. Und Grace zeigte sich erstaunt und fragte positiv überrascht „Du kannst kochen?“

„Natürlich kann er das. Jesse hat gestern sogar gebratene Nudeln gemacht, als ich unterwegs zum Einkaufen war.“ Dieser Versuch schien gut gelungen zu sein, vielleicht sollte er das Spiel ja mal weiterspielen. „Ich hab es mir selbst beigebracht. Das Meiste hab ich aus Kochbüchern oder Sendungen.“

„So etwas findet man ja heutzutage auch nicht mehr so oft. Die Jugend von heute denkt ja auch nur ans Feiern und nicht einmal die Mädchen schaffen es, eine einfache Pasta zu machen. Wirklich traurig so etwas. Ich sag dir eines, Charity: Such dir bloß keinen Mann, der nichts alleine kann! Glaub mir, ich hab mich jahrelang über das Talent deines Großvaters geärgert, dass er sogar Wasser anbrennen ließ!“ Offenbar schien sein Konversationstest auf positive Resonanz zu stoßen und wurde mit Begeisterung aufgenommen. Sie hatten ihn einfach mit ins Gespräch aufgenommen, wodurch er jetzt ein Teil der kleinen Gesprächsrunde wurde. Also wagte er einen zögerlichen weiteren Schritt. „Meine Mutter hat sich nie um den Haushalt gekümmert, deshalb habe ich das übernommen. Bei meinem Onkel war das nicht anders. Ich habe gekocht, mich um den Haushalt gekümmert und nebenbei noch im Laden gearbeitet.“ Nun war die Resonanz nicht mehr ganz so positiv, da sich auch negative Gefühle beimischten, als ihnen klar wurde, dass er im Prinzip die ganze Zeit nur arbeiten war. Vielleicht sollte er wieder einen Schritt zurückgehen, bevor die Stimmung endgültig kippte. „Als was hat deine Mutter denn gearbeitet?“

„Sie hat im Supermarkt an der Kasse gearbeitet und hatte noch einen Zweitjob als Putzfrau.“

„Und wo ist sie jetzt?“

„Oma!“ rief Charity und warf ihr einen warnenden Blick zu. Sie hatte völlig vergessen, ihr zu sagen, dass Jesses Mutter im Gefängnis saß. Doch Jesses Miene blieb ausdruckslos und eine Weile sagte er nichts. Jetzt abzublocken und sich herauszureden war auch sinnlos. Grace würde sich, egal ob er etwas sagte oder einfach nur schwieg, ihren Teil denken. Es war so oder so zu spät und sicher würden sie ihn schnellstmöglich loswerden wollen, wenn er ihnen verriet, dass seine Mutter eine verurteilte Straftäterin war. So dachten sie doch alle. Die Mutter eine Kriminelle und der Sohn ein Alkoholiker. Gleich darauf kamen sicher die Vorurteile und dann kam die Großmutter auf den Trichter, dass er einen schlechten Einfluss auf ihre Enkelin ausüben würde. Die Menschen waren doch allesamt oberflächliche Egoisten. „Schon gut“, sagte er und starrte auf seinen Teller. „Sie sitzt seit zehn Jahren wegen versuchten Mordes und schwerer Körperverletzung im Gefängnis.“ Ohne die Reaktion der anderen abzuwarten, stand er auf und verließ die Küche. So, jetzt war es endgültig raus. Nun wussten sie, dass seine Mutter eine gemeingefährliche Kriminelle war und bevor sie noch anfangen konnten, über ihn irgendwelchen Schwachsinn zu erzählen, war es besser, wenn er freiwillig das Feld räumte. Doch schon hörte er Charitys Schritte und kurz darauf ergriff sie seinen Arm und hielt ihn zurück. „Warte Jesse, es tut mir Leid. Wir wollten dir nicht vor den Kopf stoßen.“

„Wir wollten dir wirklich nicht zu nahe treten“, pflichtete Grace ihr bei. „Wenn du nicht darüber reden möchtest, verstehen wir das natürlich.“ Jesse war nun vollkommen ratlos und wusste nicht, wie er damit jetzt umgehen sollte. Die beiden sahen ihn noch nicht einmal mit diesem typischen herablassenden Blick an, den er bereits gewohnt war wenn man hörte, dass seine Mutter wegen versuchten Mordes im Gefängnis saß. Sie entschuldigten sich sogar noch. Was sollte er jetzt tun oder sagen? Diese Situation war völlig neu für ihn und ein wenig überfordert war er auch. Er spürte, wie sich seine Brust ein wenig zusammenschnürte und sich sein Hals fühlte, als würde da irgendetwas feststecken. Und außerdem bekam er leichte Magenbeschwerden. Ob ihm etwas auf den Magen geschlagen war? Was war nur mit ihm los und wieso hatte er schon wieder diese körperlichen Beschwerden, die er nicht verstehen konnte? Als ihm auch noch wieder schwindelig wurde und er für einen kurzen Moment die Kraft in seinen Beinen verlor, setzte er sich wieder und schwieg.
 

Charitys Blick wanderte abwechselnd von Jesse zu ihrer Großmutter und hatte gegenüber ersterem ein schlechtes Gewissen. Dieser plötzliche Fluchtversuch von ihm hatte deutlich gezeigt, dass er sehr empfindlich auf dieses Thema reagierte und auch nicht darauf angesprochen werden wollte. Sein Blick hatte sich leicht verfinstert und es schien keine gute Idee zu sein, ihn jetzt anzusprechen. Eine unangenehme Stille herrschte am Tisch und schließlich stand Jesse wenig später auf, räumte das Geschirr weg und verschwand wortlos ins Wohnzimmer. Niedergeschlagen blieb die Studentin zurück und fragte sich, ob sie irgendetwas falsch gemacht hatte. War er jetzt irgendwie sauer oder gekränkt, weil sie ihn dazu gebracht hatte, über dieses unangenehme Kapitel seiner Familie zu reden? Nach einer Weile sagte Grace „Der Junge scheint ja eine wirklich schwere Kindheit gehabt zu haben.“ „Ja“, murmelte die Studentin und musste in dem Moment an die Verletzungen denken, die sie bei Jesse gesehen hatte. Die blauen Flecken und die alten Narben. Er wollte sie vor anderen verstecken, weil er nicht wollte, dass man über ihn redete. Sie dachte daran, dass er die Schule wechseln musste, weil er massiv gemobbt wurde und fragte sich, ob es mit seiner Mutter zu tun hatte. Womöglich war er deswegen schikaniert worden. Das würde zumindest erklären, wieso er jedes Mal so abweisend reagierte und sich immer so quer stellte: Er hatte Angst, dass sich das Ganze für ihn wiederholen könnte und er wieder das Opfer wäre. „Oma, ich geh noch mal kurz mit ihm reden.“ Sie ließ ihre Sachen stehen und ging ins Wohnzimmer. Jesse saß auf der Couch und starrte ins Leere, während er wohl über irgendetwas nachdachte und gar nicht auf ihr Erscheinen reagierte. Sie setzte sich zu ihm, doch er bemerkte sie gar nicht. „Tut mir Leid, wenn wir dich irgendwie verletzt haben. Ich kann gut verstehen, wenn du nicht gerne darüber reden willst.“ Immer noch reagierte er nicht, sondern wirkte vollkommen abwesend, als wäre er völlig weggetreten. Aber dann kehrte er wieder ins eigentliche Geschehen zurück und bemerkte erst jetzt, dass Charity neben ihm saß. „Was ist?“

„Ich wollte mich nur noch mal entschuldigen. Ich hoffe, du bist nicht sauer, weil Oma dich darauf angesprochen hat. Hätte sie gewusst, dass dir das unangenehm ist, dann hätte sie auch nicht gefragt.“

„Nein, ich bin nicht sauer.“ Insgeheim war sie zuerst erleichtert, aber dann kam ihr der Gedanke, dass Jesse es vielleicht nur wieder sagte, um sie ruhig zu stellen. „Wirklich? Du bist wirklich nicht wütend?“ Er schüttelte den Kopf, immer noch waren keine Gefühle bei ihm zu erkennen. Es war wirklich schwierig nachzuvollziehen, wie es in ihm drin aussah. Wieder war er für einen Moment mit den Gedanken ganz woanders und so wartete Charity geduldig, bis er schließlich sagte „Es ist okay.“ Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es für ihn nicht okay war. Es waren keine Gefühlsregungen bei ihm zu sehen, so als ob sein Innerstes bereits tot war. Eher ungewollt nahm sie seine Hand und hielt sie fest. Diese Geste bedachte er mit einem zweifelnden Blick, als könne er nicht verstehen, wieso sie das tat, aber er zog seine Hand nicht weg. „Die Narben, die du gesehen hast“, sagte er nach einigem Zögern und wandte wieder den Blick von ihr ab. „Die stammen von meiner Mutter, als sie vor zehn Jahren sechs Mal mit einem Küchenmesser auf mich eingestochen hat.“ Entsetzt ließ Charity seine Hand wieder los und sie fühlte sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Jesses Mutter hatte versucht, ihn zu töten? Das konnte doch nicht wahr sein. Welche Mutter tat ihrem Kind denn so etwas an? Nun hatte sie erst recht ein schlechtes Gewissen und fühlte sich furchtbar. Die Tränen in ihren Augenwinkeln ließen ihre ganze Sicht verschwimmen und fassungslos schüttelte sie den Kopf. „Mein Gott…“

„Vorgestern an meinem Geburtstag bin ich sie im Gefängnis besuchen gegangen, um Frieden zu schließen. Dabei hat sie mir gesagt, dass sie mich noch nie geliebt hat und ich an der Stelle meines Bruders hätte sterben sollen. Und sie hat es bedauert, dass sie es nicht geschafft hat, mich umzubringen. Sie gibt mir die Schuld, dass sie im Gefängnis sitzt und mein Bruder tot ist.“ „Hattest du dich deshalb so betrunken?“ Er nickte und immer noch war sein Gesicht starr und sein Blick etwas abwesend. Selbst seine Stimme blieb ruhig und es war weder Traurigkeit, noch Wut oder etwas anderes zu hören, so als kümmere es ihn nicht. Was war nur mit ihm los? Wenn ihr so etwas passiert wäre und sie würde darüber sprechen, dann wäre sie in Tränen ausgebrochen. Aber Jesse sprach so, als würde es ihn überhaupt nicht bewegen oder als wäre ihm das völlig egal. „Tut mir wirklich Leid, Jesse. Das muss wirklich schlimm für sein, oder?“ Doch als er mit den Schultern zuckte, fühlte sich Charity irgendwie hilflos. Was war nur mit ihm los? War er etwa so verschlossen, dass er nicht einmal Gefühle zeigen konnte? Warum nur tat er so gefühlskalt? Insgeheim wünschte sie sich schon, dass er wenigstens ein bisschen Gefühl zeigte, damit sie wenigstens wusste, woran sie gerade bei ihm war. „Im Grunde bin ich selbst Schuld an der Situation. Hätte ich damals nicht besser auf meinen Bruder aufgepasst, dann wäre das wahrscheinlich nicht passiert. Aber was geschehen ist, das ist geschehen und man kann es nun mal nicht ändern.“

„Aber deine eigene Mutter hat versucht, dich umzubringen!“ rief Charity und ergriff wieder seine Hand, nur hielt sie diese nun fester, während ihre Tränen in Sturzbächen flossen. Sie verstand einfach nicht, wie Jesse so dermaßen gleichgültig bleiben konnte, wenn seine eigene Mutter mit einem Messer auf ihn eingestochen hatte, als er gerade mal 13 Jahre alt war. Immer noch sah er sie nicht an und hatte diesen völlig gleichgültigen Gesichtsausdruck. Sie legte eine Hand auf seine Schulter, um ihm zu zeigen, dass sie ihm beistand, aber ganz offensichtlich verstand er nicht, was sie da machte und war irritiert. „Wie kommt sie nur dazu, so etwas Furchtbares zu machen und dir dann auch noch die Schuld zu geben?“

„Sie hat meinen kleinen Bruder sehr geliebt und seinen Tod nie verkraftet. Und trauernde Menschen, die ihre Angehörigen auf eine solche Art und Weise verlieren, suchen sich eben einen Sündenbock. Und da ich an diesem Tag nicht genug auf meinen Bruder aufgepasst hatte, gab sie eben mir die Schuld, um mit dem Verlust klar zu kommen.“

„Wie… wie ist er denn gestorben?“

„Er wurde im Alter von 5 Jahren ermordet. Den Mörder hat man bis heute nicht identifizieren können.“ Absolute Fassungslosigkeit bei Charity, als sie auch noch das hörte. Aber nun verstand sie auch die Worte, die Jesse an der Unterführung gesagt hatte, als sie ihn betrunken auf dem Boden liegend gefunden hatte. „Ich wollte nicht, dass das passiert.“ Er machte sich schwere Vorwürfe, weil er im richtigen Moment nicht aufgepasst hatte und sein kleiner Bruder dann getötet wurde. In diesem Moment war sie einfach nur von ihren Gefühlen überwältigt. Es tat ihr in der Seele weh, dass Jesse so furchtbare Dinge widerfahren waren und so nahm sie ihn in den Arm. Er selbst erwiderte die Umarmung nicht, sondern saß regungslos da, als wäre er erstarrt. Sie selbst konnte nicht aufhören zu weinen und hatte das Gefühl, als müsste sie getröstet werden und nicht er. „Du kannst doch nichts dafür, dass das passiert ist. Dich trifft keine Schuld.“

„Doch“, erwiderte er tonlos und befreite sich aus ihrer Umarmung. „Ich hatte die Aufgabe, ihn zu beschützen weil ich wusste, dass sonst etwas passieren würde. Aber ich habe es nicht geschafft und deshalb macht es keinen Unterschied, ob ich ihn nun selbst getötet habe oder nicht.“ Damit erhob er sich und verließ das Wohnzimmer. Er schnappte sich seine Jacke und ging nach draußen. Zunächst fürchtete Charity, dass er wieder abhauen würde, aber als sie ihm nacheilte sah sie, dass er sich auf die Stufen gesetzt hatte und sich eine Zigarette anzündete. Zuerst überlegte sie, ob sie bei ihm bleiben sollte, aber sie merkte, dass er jetzt lieber allein sein wollte, um sich zu sortieren. Also ließ sie ihm seine Ruhe und ging wieder ins Haus. Auf dem Flur kam ihr bereits ihre Großmutter entgegen, die sofort sah, dass ihre Enkelin geweint hatte. „Ist alles in Ordnung mit dir, Cherry? Und wo ist Jesse?“ „Draußen und raucht. Komm, wir reden in der Küche weiter. Ich brauch jetzt dringend einen Kaffee.“ Nachdem sich Charity einen Kaffee gemacht hatte, setzte sie sich zu ihrer Großmutter an den Tisch und erzählte ihr davon, was sie von Jesse erfahren hatte bezüglich seiner Vergangenheit. Sie war geschockt, als sie das hörte und musste das auch erst mal verarbeiten. Aber zumindest verstand sie nun, wieso Jesse sofort die Flucht ergreifen wollte, als sie auf seine Mutter angesprochen hatte. Über so etwas Furchtbares sprach niemand wirklich gerne. Nach einer Weile fragte sie aber schließlich „Und wie geht es ihm dabei?“ Sie schüttelte nur den Kopf und trank einen Schluck. „Er verhält sich so, als wäre das nichts und als würde es ihm überhaupt nicht nahe gehen.“

„Womöglich ist er eben nicht der Gefühlsmensch oder es ist ihm unangenehm, vor anderen Menschen Gefühle zu zeigen. Lassen wir ihm erst einmal seine Ruhe. Ich hab mir übrigens die Sache auch bereits durch den Kopf gehen lassen, Cherry. Wenn du ihm helfen willst, werde ich dich unterstützen, denn alleine wirst du das sicher nicht schaffen.“

„Danke Oma.“ Damit umarmte sie die Pensionärin und war unendlich froh, dass sie ihre Großmutter hatte, die ihr immer helfend zur Seite stand und sie nie allein gelassen hatte. Noch nie war Charity so dankbar und froh wie heute, dass Grace sie damals nach dem Tod ihrer Eltern aufgenommen und großgezogen hatte. Sie hatte wirklich unglaubliches Glück im Leben gehabt und Jesse hingegen hatte so eine schreckliche Kindheit durchleben müssen. Von der Mutter nie geliebt und fast getötet, vom Vater im Stich gelassen und vom Onkel ausgenutzt und misshandelt. Und dann war auch noch sein kleiner Bruder getötet worden. Kein Wunder, dass Jesse niemandem vertraute und ein Alkoholproblem hatte. Die ganze Zeit hatte er niemanden gehabt, der ihm Liebe und Zuwendung gegeben hatte. Deshalb war er auch ein strikter Einzelgänger, weil er schon sehr früh lernen musste, ganz alleine klar zu kommen. „Was mich noch beschäftigt“, sagte sie schließlich, als sie sich wieder von Grace gelöst hatte. „Jesse wurde an seiner alten Schule massiv gemobbt und hat daraufhin die Schule gewechselt. Was, wenn es mit seiner Mutter in Verbindung steht?“

„Das ist gut möglich“, stimmte die alte Dame zu und faltete die Hände. „Ich habe es während meiner Lehrerlaufbahn schon mal erlebt, dass gewisse Schüler wegen ihrer problematischen Familienverhältnisse schikaniert wurden. Und wenn sich herumgesprochen hat, dass Jesses Mutter wegen versuchten Mordes an ihrem eigenen Sohn verurteilt wurde, wird es sicherlich genug Schüler gegeben haben, die das zum Anlass nahmen, um sich über ihn lustig zu machen.“

„Aber wie kann man nur so etwas Gemeines und vor allem Geschmackloses machen?“

„Du wurdest selbst gemobbt und kannst es deswegen nicht verstehen. Es gibt nun mal Schüler, die selbst unzufrieden sind und einfach Dampf ablassen müssen, indem sie andere schikanieren, die schwächer sind und für sie perfekte Zielscheiben darstellen. Viele sind einfach nur Mitläufer und manche haben eben ein Vergnügen daran, andere zu quälen, weil sie sich selbst dadurch besser fühlen.“ Doch Charity konnte es trotzdem nicht verstehen. Dass man sich über ihren Glauben und ihre Gutgläubigkeit lustig machte, konnte sie ja noch nachvollziehen. Aber dass man einen Jungen drangsalierte, der beinahe von seiner eigenen Mutter umgebracht wurde und der zudem noch seinen kleinen Bruder verloren hatte, war für sie unbegreiflich. Aber sie verstand jetzt nun, wieso Jenna kaum etwas über Jesse gewusst hatte und warum die Lehrer allesamt dichtgehalten hatten. Sie wussten, weshalb er an seiner alten Schule gemobbt wurde und hatten alles geheim gehalten, damit sich das nicht wiederholte. Grace betrachtete ihre Enkelin nachdenklich und nahm schließlich ihre Hand. „Cherry, dass du diesem Jungen helfen willst, ist wirklich lobenswert und ich werde dich auch unterstützen, wenn ich es kann. Aber trotzdem möchte ich dich warnen: Solange Jesse selbst nichts an seinen Problemen ändern will, kannst du nichts bei ihm erreichen und wirst nur auf taube Ohren stoßen. Ich sage das nicht, weil ich etwas gegen ihn habe, sondern weil ich dich vor einer großen Enttäuschung bewahren will. Du kannst ihn nur zur Tür bringen, aber hindurchgehen muss er selbst.“ Die Minuten verstrichen und Jesse kam nicht wieder zurück. Charity begann sich schon Sorgen zu machen und überlegte schon, ob sie ihn suchen gehen sollte, aber da kam er auch schon wieder zurück. Er hatte eine Tüte vom Supermarkt bei sich, in welcher sich ein paar Flaschen Bier befanden. Für Hochprozentiges war er offenbar noch nicht fit genug. Ohne zu grüßen oder überhaupt etwas zu sagen, ging er ins Wohnzimmer. Mit gemischten Gefühlen sah die Studentin ihm nach, was ihrer Großmutter nicht entging. „Erwarte keine Wunder, okay? Von einer Sucht loszukommen, ist ein unglaublich schwieriger Prozess. Glaub mir, ich weiß es am Besten. Ich hab in meinem Leben schon zehn Mal mit dem Rauchen aufgehört. Als allererstes muss er ein Ziel finden und die nötige Motivation aufbringen, sein Leben zu ändern. Das ist der erste Schritt. Denk daran Cherry: Wer zwei Stufen auf einmal nimmt, riskiert damit, auf die Nase zu fallen.“ Sie nickte und atmete tief durch. „Ich glaub, ich gehe noch eine Runde spazieren.“ Frische Luft und Bewegung war jetzt genau das, was sie jetzt am Besten gebrauchen konnte, um auf andere Gedanken zu kommen. Charity ging in ihr Zimmer, holte ihre Jacke und wollte schon ihre Laufschuhe anziehen, musste aber feststellen, dass sie gar nicht an ihrem Platz waren. Auch unter ihrem Bett waren sie nicht und so rief sie „Oma, hast du meine Laufschuhe gesehen?“

„Die sind doch immer in deinem Zimmer. Ich hab sie jedenfalls nicht weggeräumt.“ Na super, dachte sie und verdrehte mit einem Seufzen die Augen. Und schon wieder verschlampte sie alles. Das durfte doch nicht wahr sein, wo hatte sie denn nur ihre Laufschuhe hingeräumt? Die standen doch immer an derselben Stelle, damit sie sie auch jedes Mal wieder fand. Sie wusste genau, dass ihre Laufschuhe immer unter dem Bett oder im Kleiderschrank waren und sie hatte sie auch dorthin zurückgestellt, als sie Jesse vorgestern hierher gebracht hatte. Doch egal wie viel sie auch suchte, im Zimmer waren sie nicht. Also ging sie im Flur nachsehen, aber auch dort fand sie die Laufschuhe nicht, selbst auf der Terrasse waren sie nicht. Nun gut, dachte sie und gab die Suche schließlich auf. Dann ziehe ich eben die Sneakers an. Wenigstens weiß ich, wo die immer sind. Also ging sie zum Schuhschrank hin und suchte nach, aber sie musste feststellen, dass diese ebenso unauffindbar waren wie ihre Laufschuhe. Und in ihren High Heels konnte sie unmöglich spazieren gehen. Da brach sie sich doch die Knöchel! Aber wieso waren denn plötzlich ihre Laufschuhe und ihre Sneakers nicht mehr da, wo sie sein sollten? Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Mit einem entnervten Seufzer ging sie in die Küche zu ihrer Großmutter und holte sich den Teller mit den Cupcakes aus dem Kühlschrank. Bei so viel Frust brauchte sie jetzt was Süßes und da kamen ihr die Schoko-Kirsch Cupcakes gerade recht. „Gehst du jetzt doch nicht raus?“ „Ich finde weder meine Laufschuhe, noch meine Sneakers und ich kann ja wohl schlecht in High Heels spazieren gehen. In den Dingern halte ich keine zehn Minuten durch und breche mir noch die Knöchel.“

„Die Sachen werden sich schon wieder finden, wenn dir wieder eingefallen ist, wo du sie hingetan hast. Aber sag mal Cherry, hast du schon die Tageszeitung aus dem Briefkasten geholt?

„Ach Mist, das hab ich ja total vergessen! Ich geh sie eben holen. Bist du so lieb und bringst Jesse auch noch einen von den Cupcakes? Vielleicht mag er ja einen.“ Damit schnappte sich die Studentin den Schlüssel für den Briefkasten und währenddessen verschwand ihre Großmutter mit dem Cupcaketeller ins Wohnzimmer. Im Briefkasten befand sich die eine oder andere Rechnung und die Zeitung. Nachdem sie sich einen kurzen Überblick verschafft hatte, ging sie wieder zurück und wenig später kam auch Grace wieder in die Küche. Während diese die Rechnungen bekam, überflog Charity kurz die Zeitung und las dort den üblichen Klatsch und Tratsch und was es sonst noch so für Probleme in der Welt gab. Aber als sie den Lokalteil überflog, wich ihr das Blut aus dem Kopf und ihre Augen weiteten sich. Was sie dort las, erschreckte sie zutiefst. Die pensionierte Lehrerin bemerkte die Reaktion ihrer Enkelin und fragte „Was ist los? Steht da etwas Interessantes drin?“ Doch Charity brauchte eine Weile, um zu verdauen, was sie da gelesen hatte und ließ dann langsam die Zeitung sinken. Sie war geschockt und das ließ nichts Gutes erahnen. „Ist jemand aus unserem Bekanntenkreis gestorben?“ Ein Kopfschütteln war die Antwort und dann sagte die Studentin „Erinnerst du dich noch an den Tag, als mir die Handtasche geklaut wurde, während ich dem einen Mann in dem schwarzen Van den Weg erklären wollte?“ „Ja… ist da irgendetwas passiert?“

„Hier drin steht, dass diese Männer im Van polizeilich gesuchte Menschenhändler sind, die junge Frauen entführen und dann im Ausland an Bordelle verkaufen. Zu ihrer Masche gehört es, sie am Straßenrand anzusprechen und nach dem Weg zu fragen.“ Ein entsetztes Schweigen herrschte auf beiden Seiten und nun sah Grace genauso geschockt aus wie ihre Enkelin. Schließlich aber sprach Charity das aus, was sie beide erst nicht auszusprechen wagten. „Weißt du, was das bedeutet, Oma? Hätte Jesse mir die Handtasche nicht geklaut, dann hätten mich diese Männer ebenfalls entführt und verkauft!“ Ihr Gesicht war kalkweiß als ihr bewusst wurde, welchem furchtbaren Schicksal sie da eigentlich entronnen war. Und das nur, weil man ihr die Handtasche geklaut hatte. Jesse hatte ihr quasi das Leben gerettet. War das noch Zufall, oder steckte wirklich so etwas wie ein Plan dahinter? Konnte es vielleicht tatsächlich möglich sein, dass Jesse ihr vielleicht bewusst die Tasche geklaut hatte, weil er wusste, wer diese Männer waren? Unfassbar. Er hatte nicht nur ihre Großmutter gerettet, sondern auch sie. Das konnten doch alles keine Zufälle sein, oder doch? Nun überflog auch Grace den Zeitungsartikel und konnte ebenfalls kaum glauben, was dort geschrieben stand. „Wenn das tatsächlich die gleichen Männer waren, dann hast du wirklich großes Glück gehabt.“ Charity musste sich wieder die Szene durch den Kopf gehen lassen, als der Van mit den getönten Scheiben an der Straße gehalten und der Fahrer sie nach dem Weg gefragt hatte. Wäre Jesse nicht im entscheidenden Moment aufgetaucht, was wäre dann noch alles auf sie zugekommen? „Diese Zufälle sind wirklich unglaublich“, sagte ihre Großmutter nach einer Weile, als sie sich von der Nachricht erholt hatte. Ohne darauf etwas zu erwidern, stand Charity auf und ging ins Wohnzimmer, um mit Jesse darüber zu reden. Er lag jedoch schon auf dem Sofa und schien bereits zu schlafen und da wollte sie ihn nicht stören. Also ging sie wieder und verschob das Gespräch mit ihm auf morgen.
 

Ihre Laufschuhe und ihre Sneakers tauchten am nächsten Tag überraschend wieder an ihrem eigentlichen Platz auf, wo Charity sie zuletzt hingestellt hatte. Zuerst ging sie davon aus, dass sie die Schuhe einfach nicht gesehen hatte, aber so langsam beschlich sie das Gefühl, als wären diese Schuhe nicht zufällig verschwunden.

Mit offenen Karten

Am nächsten Tag war Jesses Fieber vollständig abgeklungen und er sah auch gleich viel besser aus als die letzten drei Tage. Nach dem Frühstück setzten sie sich alle zusammen, da Grace ein paar wichtige Dinge zu klären hatte. Geduldig wartete der 23-jährige, bis sich die pensionierte Lehrerin gesetzt hatte und zu sprechen begann. Sie erklärte ihm in aller Ruhe, dass sie nachgedacht habe und einverstanden war, wenn er hier wohnte, solange er weder Job noch Obdach hatte. Allerdings sei das auch mit einigen Regeln verbunden, die er einzuhalten habe. Jesses Blick verdüsterte sich ein wenig, als er das hörte, so als ahnte er, dass gleich irgendetwas kommen würde. Irgendein Haken war ja immer dabei. Doch zu seinem Erstaunen erklärte Grace „Als Mitbewohner dieses Hauses erwarte ich von dir, dass du uns im Haushalt unterstützt, selbst Ordnung hältst und dich an meine Regeln hältst. Rauchen ist nur am offenen Fenster oder draußen vor der Tür erlaubt und harte alkoholische Getränke wie Schnaps, Wodka und dergleichen sind auch nicht gestattet. Charitys Semesterferien werden auch nicht ewig dauern, da kann ich Hilfe gut gebrauchen. Die Jüngste bin ich ja auch nicht mehr. Also, bist du damit einverstanden?“ Ein wenig abwesend wirkte Jesse schon und zunächst dachte Charity, er hätte gar nicht zugehört, aber dann sagte er tonlos „Ja.“ Aber sonderlich glücklich schien er nicht zu sein, oder vielleicht war es ihm einfach unangenehm, offen Gefühle zu zeigen. Da Charity an dem Morgen einen Termin beim Frauenarzt hatte, ging Jesse seiner Gastgeberin gleich zur Hand. Wortlos und sorgfältig erledigte er alles, was sie ihm auftrug und sie selbst war erstaunt, wie ordentlich er eigentlich war. Sie musste ihm fast nichts erklären und wenn sie seine Arbeit zwischendurch kontrollierte, konnte sie keine groben Fehler entdecken. Nur geringe Kleinigkeiten, die er sofort korrigierte. Und als sie ihn zum Einkaufen schickte, erwies er sich auch als sehr zuverlässig und nicht ein Cent fehlte. Und während Grace sich kurz hinsetzte, um eine Pause von der Anstrengung zu nehmen, verschwand Jesse in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten, ohne dass sie ihn darum bitten musste. Mit ihm zusammenzuwohnen hatte sich bis jetzt als weniger schwierig erwiesen, als die alte Dame zunächst befürchtet hatte. Von Charity hatte sie schon des Öfteren mal gehört, wie anstrengend und unselbstständig Suchtkranke sein konnten und dass sie sich kaum um etwas kümmerten und teilweise auch verwahrlosten. Aber Jesse schien einen starken Kontrast zu den stereotypischen Suchtkranken zu bilden, die sie in der Adaptionsstelle erlebt hatte. Zwar war er sehr wortkarg, verschlossen und schien nicht gerade der sozialste Mensch zu sein, aber er erwies sich als sorgfältig, gewissenhaft, zuverlässig und vor allem fleißig. Nun ja, da er schon von klein auf alles selbst machen musste, hatte er es auch nie anders gekannt. Das einzige Mal, als sie etwas stutzig wurde war, als Charity von der Routineuntersuchung zurückkam und Jesse sie fragte, ob er ihr etwas Geld leihen könnte. Grace hatte es eher zufällig mitbekommen und fragte sich natürlich, was er denn mit dem Geld vorhabe. Auch Charity fragte ihn, doch er antwortete lediglich „Ich brauche noch ein paar Sachen.“ Sie gab ihm das Geld und Jesse versicherte, dass sie es noch heute zurückbekommen würde. Damit nahm er seine Jacke und ging, ohne sich zu verabschieden. Grace sah ihm mit gemischten Gefühlen hinterher und fragte ihre Enkelin. „Wie viel hast du ihm gegeben?“

„Ähm… knapp 200$.“

„Wie bitte?“ rief sie fassungslos und schüttelte den Kopf. „Wieso kommst du nicht direkt zu mir? Du brauchst das Geld doch selbst!“

„Aber er hat doch versichert, dass ich es heute zurückbekommen würde.“

„Na hoffentlich warst du nicht schon wieder zu gutgläubig. Du solltest wirklich bei Männern aufpassen, die dich nach Geld fragen, obwohl du sie kaum kennst. Der Schuss kann schnell nach hinten losgehen!“ Manchmal war Grace schon erschrocken, wie blauäugig ihre Enkelin sein konnte. Bei Geld war immer höchste Vorsicht geboten, das wusste sie selbst, denn sie kam langsam auch auf das Alter zu, wo Menschen ihren Zustand ausnutzen würden, um sie um ihr Geld zu betrügen. Vor allem aber wusste sie, dass Charity Gefühle für Jesse hatte und das war es, was ihr Sorgen bereitete. Sie wollte nicht, dass Jesse oder sonst irgendjemand ihre Gutgläubigkeit und ihre Gefühle schamlos ausnutzte. Das hatte sie schon in der Schule erleben müssen und das war eine wirklich schwere Zeit für sie gewesen. Außerdem fragte sich Grace, was Jesse mit dem Geld vorhatte und wieso er so viel brauchte. Na hoffentlich nicht für Spirituosen und Zigaretten. Es dauerte knapp den halben Tag, bis er wieder zurückkam. Er hatte einige Taschen und einen Koffer bei sich, was stark den Anschein erregte, als wäre er einkaufen gewesen. Bei sich in Begleitung hatte er Andy, der ihm geholfen hatte, die restlichen Sachen bei seinem Onkel abzuholen und in seinem dunkelblauen Lada Niva hierher zu bringen. Sie hatten die Gelegenheit genutzt, als Walter in die Kneipe gegangen war, um während seiner Abwesenheit Jesses Zimmer zu räumen. Jesse selbst hatte weder Auto noch Führerschein und alleine hätte er das kaum geschafft, außerdem war Andys Wagen groß genug für all die Sachen. Aber nicht nur Koffer und Taschen hatten sie bei sich, sondern auch einige Einkaufstüten. Nachdem sie alles in das Gästezimmer hochgebracht hatten, in welches Jesse nun eingezogen war, kam er wieder herunter und drückte Charity 260$ in die Hand mit den Worten „Stimmt so.“ Erstaunt darüber, dass sie sogar mehr Geld zurückbekommen hatte, als sie eigentlich gegeben hatte, fragte sie „Wo… woher hast du…“ „Im Casino beim Roulette gewonnen.“ Entgeistert sah sie ihn an und ihr Blick verriet allzu deutlich, dass sie ihn für einen Spieler hielt und Sorge hatte, dass auch das ein Problem bei ihm sein könnte. Doch Jesse erklärte in seiner gleichgültigen und tonlosen Art „Ich spiele eigentlich selbst nicht, es war lediglich eine schnelle und unkomplizierte Notlösung.“

„Und wenn du verloren hättest?“

„Das habe ich ja nicht. Ich verstehe nicht, wo dein Problem liegt.“ Trotzdem war sie sich nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte. Aber zumindest war sie froh, dass Jesse sich wenigstens an die Regeln hielt und tatsächlich keinen Schnaps oder etwas anderes Hochprozentiges gekauft und auch sein Versprechen eingehalten hatte. Und so wie sie hörte, war er auch ihrer Großmutter eine große Hilfe gewesen. Während Jesse im Zimmer seine Koffer auspackte, blieb Andy noch bei einer Tasse Kaffee und unterhielt sich ein wenig mit Charity. Er war ganz anders als Jesse, wie sie schnell feststellte. Viel redseliger, witziger und vor allem offener. Andy war knapp zwei Jahre älter als Jesse und hatte pechschwarzes Haar, das er immer unter einer dunkelblauen Mütze versteckte, auf der groß „X!“ stand, daneben war ein Anstecker mit einem gelben Smiley befestigt. Er hatte etwas Charismatisches an sich, aber was wirklich ungewöhnlich an ihm war, das waren seine gelben Augen. Noch nie hatte Charity bei einem Menschen solch eine goldgelbfarbene Iris gesehen und zuerst hatte sie gedacht, es seien farbige Kontaktlinsen, bis Andy ihr versichert hatte, dass er genetisch bedingt so eine ungewöhnliche Augenfarbe hatte, wie alle in seiner Familie. Charity reichte ihm den Kaffee und bot ihm ein Stück selbstgebackenen Kuchen, was er beides dankend annahm. „Und?“ fragte er schließlich, nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken hatte und nun den Kuchen in Angriff nahm. „Wie kommst du mit Jesse klar?“

„Er ist etwas… schwierig, aber er gibt sich auch Mühe und ist wirklich hilfsbereit.“

„Ja, eigentlich ist er echt anständig. Ich kenne ihn schon seit Jahren und weiß deshalb, dass er ziemlich anstrengend sein kann und mit seinem Verhalten schnell anderen vor dem Kopf stößt. Meine Pflegeeltern haben es nicht sehr lange mit ihm durchgehalten, weshalb er schließlich zum Chef in Obhut kam.“ Charity hob erstaunt die Augenbrauen und fragte „Du lebst bei einer Pflegefamilie?“ Andy nickte, aber er verlor nicht einen Moment seine gut gelaunte und freundliche Art. „Meine Eltern sind kurz nach meiner Geburt verschwunden und konnten nicht gefunden werden, also kam ich zu den Gilberts in Pflege. Eigentlich heiße ich mit richtigem Namen Andrew Cohan, aber alle nennen mich bloß Andy.“

„Aber du hast doch gesagt, dass alle in deiner Familie diese Augenfarbe haben. Hast du denn Kontakt zu deinen Verwandten?“

„Ja, zu meinen beiden Cousins, aber von meinen Eltern habe ich bis heute nichts gehört. Das ist auch nicht sonderlich tragisch, denn die Gilberts sind wirklich eine wunderbare Familie und ich fühle mich ihnen weitaus mehr verbunden, als zu meiner leiblichen. Der Kontakt zu meinen beiden Cousins reicht mir auch, mit denen verstehe ich mich wunderbar und sie sind wie Brüder für mich.“ Wirklich erstaunlich, dass Andy und Jesse sich schon so lange kannten und dann auch noch in der gleichen Pflegefamilie gelebt hatten, bevor Jesse zu seinem Onkel kam. Als sie die beiden angetroffen hatte, war es ihr so vorgekommen, als wären sie bloß Kollegen. „Seid ihr Freunde?“

„Nein, Jesse vermeidet jeglichen Kontakt zu Menschen und es ist auch nicht sonderlich leicht mit ihm. Besonders nicht wegen seines Verhaltens. Jeden Versuch, ihm näher zu kommen, blockt er sofort ab und wenn er mal nicht so ruppig ist, hat er bereits seinen guten Tag. Ich hab mich einfach damit arrangiert, weil ich seine Geschichte kenne und deshalb weiß, dass er es schwer hat.“

„Und wieso hat er denn eigentlich bei seinem Onkel gelebt, wenn es ihm dort so schlecht ging?“

„Wo hätte er denn sonst hingehen können? Ich wohne leider in einer kleinen Zweizimmerwohnung und Jesse weigert sich auch vehement, Hilfe anzunehmen. Es hat mich sowieso gewundert, als ich gehört habe, dass er bei dir untergekommen ist. Das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich. Lieber würde er auf der Straße leben, als Hilfe anzunehmen und sich auf andere Menschen einzulassen.“ Charity schwieg und gab etwas Milch in ihren Kaffee. Nachdenklich trank sie einen Schluck und betrachtete Andy, der ähnlich wie sie ein Sonnenscheinlächeln im Gesicht hatte. Wie sehr wünschte sie sich, Jesse auch mal lächeln zu sehen. Schließlich seufzte sie ein wenig niedergeschlagen. „Ich wünschte, ich könnte endlich verstehen, wie es in ihm drin aussieht. Er tut immer so, als würde ihm überhaupt nichts nahe gehen und als wäre ihm alles egal. Ich weiß nicht, ob er wütend oder traurig ist, oder ob er genervt oder froh ist, dass er jetzt hier wohnt.“ Andy überkreuzte die Beine, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und erinnerte sie irgendwie in diesem Moment an einen zu jungen Truckfahrer. Wahrscheinlich lag es an der Kleidung. „Wenn er wirklich keinen Bock hätte hierzubleiben, dann hätte er sich mit Sicherheit schon längst klammheimlich aus dem Staub gemacht. Als er zu uns kam, ist er fast jede Nacht ausgerissen. Ein Mal blieb er während der Sommerferien gänzlich verschwunden und wurde erst zwei Monate nach seinem Verschwinden gefunden.“

„Wie hat er denn die ganze Zeit auf der Straße überlebt?“

„Was man eben halt macht, wenn man weder klauen noch dealen will. Eine Zeit lang trieb er sich auf dem Straßenstrich herum und hat wohl dort Geld verdient.“ Fassungslos und mit offenem Mund starrte Charity Andy an und brachte nicht ein Wort hervor. Allein der Gedanke, dass Jesse im Alter von 13 Jahren so etwas getan hatte, war für sie unvorstellbar. Ihr wurde schlecht und ihr Magen verkrampfte sich, als sie sich vorstellte, es in diesem Alter mit irgendwelchen Erwachsenen zu tun. „Wieso hat Jesse das getan? Er war doch erst 13 Jahre alt!“ „Für ihn war es eben ein Mittel, um an Geld zu kommen. Aber eine Gefühlssache war Sex für ihn noch nie.“ Das wurde ja immer schlimmer. Je tiefer Charity in Jesses Vergangenheit vordrang, desto schrecklicher wurden die Dinge, die sie über ihn erfuhr. Der Appetit war ihr nun endgültig vergangen und auch Andy erhob sich, da er noch arbeiten musste. „Aber weißt du“, sagte er schließlich als er sah, wie geknickt sie war. „Jesse scheint diese neue Umgebung wirklich gut zu tun. Ich habe wirklich noch nie erlebt, dass er freiwillig Hilfe angenommen hat.“ Damit verabschiedete sich Andy und ging zur Tür raus zum Wagen. Charity saß noch eine Weile schweigend am Tisch, räumte dann das Geschirr weg und ging erst einmal in ihr Zimmer, um sich ein wenig abzulenken. Am Abend ging sie schließlich ins Wohnzimmer, wo Jesse saß und damit beschäftigt war, Perlen aufzufädeln. Er war wohl gerade dabei, eine neue Kette anzufertigen und ging dabei hochkonzentriert vor. Sie setzte sich und schaute ihm dabei zu. Was sollte sie sagen? Sollte sie überhaupt etwas sagen, oder war das auch wieder falsch? Jetzt, da sie so viele unangenehme Sachen aus seiner Vergangenheit wusste, war sie sich nicht sicher, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Insgeheim wünschte sie sich, dass er sich endlich öffnen und mit ihr reden würde. Sie wollte endlich mal seine Gefühle verstehen und wissen, woran sie bei ihm war und ob sie ihn weiter belästigen sollte. Und sie wollte ihm nahe sein und ihn im Arm halten. Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, fragte sie zögerlich „Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, Schmuck zu machen?“

„Ich brauchte etwas, um mich konzentrieren zu können. Eines Tages hab ich zufällig ein Buch über das Basteln mit Perlen gefunden und fand die Sachen schön. Also probierte ich es einfach aus und versuchte zunächst, die Ketten und Figuren auf den Bildern nachzuarbeiten. Nach ein paar Minuten hatte ich dann den Dreh raus und habe dieses Hobby weitergeführt.“ Selbst wenn er über sein Hobby sprach, regte sich nichts bei ihm. Jeder andere Mensch hätte mit Leidenschaft und Begeisterung über sein Hobby geredet. Warum bloß er nicht? Charity entschied sich, weiter nachzufragen, um mehr über ihn zu erfahren. „Und liest du auch Bücher?“

„Nicht wirklich.“ Jesse war wieder komplett wortkarg geworden, als wäre er durch etwas abgelenkt. Schließlich aber fragte er „Warum fragst du mich all diese Dinge?“

„Na weil ich dich näher kennen lernen will. Du wirkst immer so desinteressiert und gleichgültig, dass man wirklich nicht erkennen kann, was du denkst oder fühlst. Ich kann dich überhaupt nicht einschätzen und weiß nicht mal, ob du mich hasst.“ Jesse hielt kurz mit seiner Arbeit inne, um wieder nachzudenken. Überhaupt schien er das sehr oft zu tun, da er wohl ein absoluter Kopfmensch war. Schließlich aber fragte er sie etwas, das sie gänzlich irritierte. „Ist es dir etwa wichtig, dass ich dich hasse?“

„Nein“, rief sie und ihr war es unangenehm, dass sie so laut dabei wurde, woraufhin sie wieder ihre Lautstärke senkte. „Warum sollte jemand denn unbedingt wollen, dass man ihn hasst?“ Ein einfaches Schulterzucken war Jesses einzige Antwort. Charity hatte langsam das Gefühl, an ihm zu verzweifeln, denn so langsam wusste auch sie nicht mehr weiter. Sie fühlte sich irgendwie hilflos, aber gleichzeitig wuchs auch der Wunsch in ihr, Jesse nahe zu sein und Seiten von ihm kennen zu lernen, die vielleicht niemand anderes kannte. Nicht nur körperlich, sondern auch emotional wollte sie ihm nahe sein. Diese Gefühle verunsicherten sie und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Wirklich verliebt war sie noch nie in ihrem Leben gewesen. Zwar hatte sie mal hin und wieder für einen Jungen geschwärmt, aber eine richtige Beziehung hatte sie noch nie und dementsprechend besaß sie auch keinerlei Erfahrung. Nun war es Jesse, der sie prüfend betrachtete, als versuche er zu erkennen, was sie gerade fühlte. Und als sich ihre Blicke trafen, da passierte es. Charity küsste ihn und dachte in diesem Moment gar nicht daran, wie Jesse vielleicht reagieren könnte. Es war einfach über sie gekommen und zugleich spürte sie mit Gewissheit, dass sie ihn wirklich liebte. Doch als sich ihre Lippen wieder von den seinen lösten, sah Jesse sie verständnislos an und immer noch waren keinerlei Gefühle bei ihm erkennbar, was für sie wie ein Stich ins Herz war. „Und… was sollte das jetzt?“ Charitys Brust schnürte sich schmerzhaft zusammen, als sie das hörte und mit einem Male kam sie sich furchtbar dämlich vor und schämte sich. Großer Gott, warum nur hatte sie das getan? Das war ihr in dem Moment so unangenehm, dass sie sich am liebsten in Luft aufgelöst hatte. „Entschuldige…“ Sie stand auf, verließ fluchtartig das Wohnzimmer und eilte in ihr Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und setzte sich aufs Bett, wobei sie eines ihrer Kissen an sich drückte. Was hatte sie sich denn da nur dabei gedacht, als sie ihn geküsst hatte? Gott, was musste er jetzt von ihr denken! Aber sie hatte irgendwie gehofft, dass er wenigstens ein einziges Mal Gefühle zeigte und entweder abweisend reagierte, oder vielleicht sogar Gefallen daran hatte. Doch stattdessen sah er sie immer noch so gleichgültig und nichts sagend an. Am liebsten wäre sie in diesem Moment im Boden versunken und für immer dort geblieben. Sie brach in Tränen aus und vergrub das Gesicht in ihr Kissen. Als sie dann aber kurz darauf hörte, wie jemand an ihre Tür klopfte, wischte sie sich hastig die Tränen weg und rief „Ja?“ Etwas zögerlich wurde die Tür geöffnet und sie sah, dass es Jesse war. Oh nein, das konnte doch nicht wahr sein. Jetzt musste sie auch noch ihren Ausrutscher erklären und das war ihr furchtbar peinlich. „Was willst du?“ „Reden.“ Er schloss die Tür hinter sich und setzte sich neben ihr aufs Bett. Doch noch sagte er nichts, sondern überlegte sich wohl noch, was er sagen wollte. Auch er war sich unsicher, genauso wie Charity. Nach einer Weile des Schweigens und Grübelns sagte er schließlich „Es tut mir Leid, wenn ich dich verletzt habe. Ich habe nur nicht verstanden, wieso du das getan hast. Die Sache ist die, dass ich seit diesem Vorfall vor zehn Jahren, als meine Mutter mich niedergestochen hat, nicht mehr in der Lage bin, Gefühle empfinden. Zwar kann ich schon erkennen, wenn jemand traurig, glücklich oder verärgert ist, aber ich kann meistens den Grund nicht verstehen. Der Grund, wieso ich nicht weine oder lache ist einfach der, dass ich keinerlei Gefühle mehr habe. Alles, was ich noch wahrnehme, sind körperliche Beschwerden und Schmerzen. Deshalb war ich auch nicht in der Lage, angemessen auf deinen Kuss zu reagieren. In mir ist gar nichts mehr, innerlich ist alles in mir völlig tot.“ Charity brauchte eine Weile um zu verstehen, was Jesse ihr eigentlich sagen wollte und konnte es zunächst nicht wirklich glauben. Wie konnte ein Mensch denn plötzlich nicht mehr fähig sein, Gefühle zu empfinden und zu verstehen? War so etwas überhaupt möglich? Aber dann erinnerte sie sich an die Szene, als sie Jesse an der Unterführung gefunden hatte und dass er geweint hatte. Wie war das denn möglich, wenn er nach eigener Aussage keinerlei Gefühle mehr hatte? Da stimmte doch etwas nicht. Schließlich schüttelte sie den Kopf und sagte „Sag so etwas nicht, du hast Gefühle in dir. Ich habe gesehen, wie verzweifelt und traurig du warst, weil dir das mit deiner Mutter so nahe gegangen ist.“

„Das mag sein, aber ich bin lediglich im betrunkenen Zustand dazu fähig. Wenn ich nüchtern bin, fühle ich rein gar nichts und ich vermeide deswegen auch solch sentimentale Gespräche, weil ich die Menschen mit meinem Verhalten dann immer vor den Kopf stoße. Oft bin ich überfordert, weil ich nicht weiß, wie ich reagieren soll oder was andere für eine Reaktion von mir erwarten. Soll ich traurig aussehen oder ein fröhliches Gesicht machen? Für viele Menschen ist das alles überhaupt kein Problem, aber ich komme damit nicht klar. Es ist so, als wäre mein Innerstes eine weiße Leinwand. Ein Herz ohne Inhalt, wenn dir das vielleicht besser zum Verständnis hilft.“ Charity sah ihn nicht an und hielt ihr Kissen fest an sich gedrückt. Zu hören, dass ein Mensch rein gar nichts mehr empfand und innerlich so leer war, musste doch schrecklich sein. Ein absolut trostloses Dasein, ohne Hoffnung und Lichtblicken. Sie dachte schließlich an die Szene in der Küche, als ihre Großmutter auf Jesses Mutter angesprochen hatte und er daraufhin abhauen wollte. Oder als er über ihren Mordversuch erzählte und dass er beinahe umgebracht worden wäre. Und auch, dass sein kleiner Bruder getötet wurde. Für sie hatte es so ausgesehen, als würde ihm das überhaupt nicht nahe gehen, oder als sei ihm das alles egal. Aber das stimmte gar nicht. Es war nicht so, dass ihm das alles völlig gleichgültig war, was ihm widerfahren war. Irgendetwas in ihm war durch dieses schreckliche Trauma mit seiner Mutter einfach „blockiert“. Er empfand Gefühle, aber er konnte sie nicht wahrnehmen und glaubte deshalb, dass er sie gar nicht mehr besaß. Sie nahm seine Hand und sah in diese wunderschönen smaragdgrünen Augen, in welche sie sich verliebt hatte. „Ich glaube nicht, dass dein Herz leer ist, Jesse. Du hast noch Gefühle, das weiß ich! Denn weißt du, für mich ist weiß auch eine Farbe, ebenso wie schwarz. Wenn du sie früher gehabt hast, dann hast du sie noch irgendwo in dir drin. Man verliert seine Gefühle nicht einfach so. Ich bin mir sicher, dass es eine Möglichkeit gibt, dass du sie wieder erlernen kannst, aber dazu musst du anfangen, auch dein Herz zu öffnen.“ Jesse schwieg und dachte über das nach, was sie da gesagt hatte. „Und was bringt mir das, wenn ich lerne, meine Gefühle zu verstehen und sie auszudrücken?“

„Dass du nicht mehr alleine bist.“ Nun wandte er den Blick von ihr ab und zog seine Hand zurück. Wenn Charity es nicht besser wüsste, würde sie glauben, dass er genau davor Angst hatte. Er hatte Angst vor dem Zusammenleben mit Menschen. „Jesse“, sagte sie nach einer Weile. „Du hast Angst davor, dich anderen Menschen zu nähern, nicht wahr? Ist es deswegen, weil sie dich an der Schule wegen deiner Mutter gemobbt haben, oder ist es wegen deiner Eltern?“

„Keine Ahnung. Ich denke einfach: Was soll ich mit Gefühlen, wenn man eh nur Enttäuschungen erlebt und man sowieso von der Gesellschaft als Verlierer abgestempelt wird, nur weil man trinkt und die Mutter im Knast sitzt?“

„Aber es gibt doch nicht nur negative Gefühle. Nur weil du in der Vergangenheit enttäuscht wurdest, heißt das noch lange nicht, dass alle Menschen dich so behandeln werden. Das Leben hat auch schöne Seiten und du bist nicht alleine. Ich werde dich nicht im Stich lassen, aber dafür darfst du dich nicht selbst aufgeben.“ Sie hielt seine Hand fest, auch wenn sie nun wusste, dass sie von Jesse keine Reaktion erwarten konnte. „Wir werden schon einen Weg finden, dir zu helfen. Das mag jetzt zwar ein wenig bescheuert klingen, aber wenn man ganz unten angelangt ist, kann es nur noch bergauf gehen.“ Da war tatsächlich etwas dran und nach einer Weile nickte Jesse nachdenklich. Schließlich betrachtete er ihre Hand, die die seine hielt und dann sah er sie prüfend an, als versuche er herauszufinden, wie sie sich wohl fühlte. „Wenn du mehr über mich erfährst, bist du dann weniger traurig?“ „Ja, ich würde wirklich gerne mehr über dich wissen und dich näher kennen lernen. Wenn man mit anderen Menschen zusammenlebt und mit ihnen eine soziale Bindung eingehen will, ist so etwas wichtig.“ Er atmete tief durch und sie sah ihm an, dass es ihm wirklich schwer fiel, über seine Person zu erzählen und ihr einen Einblick in sein Leben zu geben. Und so wirklich wusste er auch nicht, wo er anfangen sollte. Also half sie ihm auf die Sprünge und fragte „Was magst du denn alles? Was ist deine Lieblingsfarbe und welche Tiere magst du?“ Einen Moment lang musste er überlegen und erklärte dann „Meine Lieblingsfarbe ist grün und was Tiere betrifft, bin ich mir nicht sicher. Ich finde aber Reptilien interessant. Ich mag keinen Fisch und keine Eier und ich kann es nicht ab, wenn über mich oder meine Familie geredet wird. Wenn ich Zeit habe, gehe ich ab und zu mal zum Fluss, aber ich hatte schon immer mal vorgehabt, ans Meer zu fahren. Außerdem mag ich Gewitter und Regen, sie wirken irgendwie beruhigend. Ich bin ein reiner Kopfmensch und vermeide es, über Gefühlsthemen zu reden. Eigentlich hatte ich nie Probleme damit, keine Gefühle wahrnehmen zu können, aber es wurde an der Schule zum Problem.“

„Als du gemobbt wurdest?“ Er nickte und fuhr fort. „Es gab einige Schüler, die sich für mich einsetzten und versucht haben, mir zu helfen. Aber weil ich keine Gefühle zeigen konnte, war ich auch nicht in der Lage, mich angemessen ihnen gegenüber zu verhalten und das führte dazu, dass sie sich auch gegen mich wandten. Sie haben alles Mögliche gemacht. Glasscherben in die Schultasche, Rasierklingen in die Schuhe, Insekten und Würmer in die Sporttasche, anonyme Nachrichten mit den Schriftzügen, dass ich krepieren sollte und es wurden auch einige Internethetzkampagnen gestartet. Als schließlich einige prekäre Details ans Tageslicht kamen und in der Schule herumerzählt wurden, eskalierte die Situation, weshalb ich dann die Schule gewechselt habe. Als ich bei einer Pflegefamilie gelebt hatte, bin ich des Öfteren abgehauen und ein Mal über die Sommerferien weggeblieben. In der Zeit habe ich mir Geld auf eine sagen wir mal unmoralische Art und Weise verdient und das wurde schließlich publik.“ Charity erinnerte sich an ihr Gespräch mit Andy. Dieser hatte ihr offenbart, dass Jesse sich in den zwei Monaten Sommerferien über Wasser gehalten hatte, indem er sich auf dem Straßenstrich Geld verdient hatte. Sie konnte sich schon denken, wie heftig die Schikanen deswegen waren, wenn seine Mitschüler erfahren hatten, dass er sich quasi prostituiert hatte. Beleidigungen und Erniedrigungen waren mit Sicherheit an der Tagesordnung gewesen. Sie konnte sich auch gut vorstellen, dass auch Bilder von ihm in der Schule veröffentlicht wurden, wo er richtig bloßgestellt wurde. Und hätte er nicht diese emotionale Blockade gehabt, wäre es für ihn die absolute Hölle gewesen. Vielleicht wäre es nicht bei Alkoholabhängigkeit geblieben, womöglich hätte er sich sogar tatsächlich das Leben genommen. Sein ganzes Leben war trist und voller Leid. Wieder konnte sie die Tränen nicht zurückhalten, als sie sich vorstellte, in was für einer Hölle er gelebt haben musste und er als einzigen Ausweg für sich nur den Tod durch Alkohol sah. Und er war noch nicht einmal in der Lage, sich seinen Schmerz richtig von der Seele zu reden, weil seine Gefühle verschlossen waren. Schweigend betrachtete er sie und war sich nicht sicher, ob er vielleicht etwas Falsches gesagt haben könnte. Er hatte ihrem Wunsch Folge geleistet und etwas über sich erzählt, weil er sie nicht mehr so traurig sehen wollte. Denn wenn er sie so sah, spürte er jedes Mal diese unangenehmen Stiche in seiner Brust und das Atmen fiel ihm etwas schwerer. Er fühlte sich schlecht, wenn es ihr nicht gut ging und anstatt, dass sie sich besser fühlte, schien sie nur noch unglücklicher zu werden. Vielleicht hätte er besser nichts sagen sollen. „Warum weinst du? Habe ich deine Gefühle verletzt?“ Heftig schüttelte sie den Kopf und umarmte ihn. „Ich weine, weil ich es so traurig finde, was dir alles passiert ist. Man nennt das Mitgefühl.“

„Erklär es mir bitte, damit ich es besser verstehen kann.“ Langsam löste sie sich wieder von ihm und wischte sich die Tränen weg. „Mitgefühl bedeutet, dass Menschen mit anderen die gleichen Gefühle teilen, auch wenn sie selbst nicht betroffen sind. Sie fühlen den gleichen Kummer und Schmerz und die gleiche Freude, damit sie einander nah sind. Mitgefühl bedeutet, dass man den anderen versteht und versucht, den Schmerz des anderen zu teilen, um ihm beizustehen und sein eigenes Leid zu lindern.“

„Dann habe ich deine Gefühle nicht verletzt?“ Ein Kopfschütteln war die Antwort und sie sah, wie Jesse wieder nachdachte. Es fiel ihm wirklich schwer, dieses Mitgefühl nachzuvollziehen, denn bis jetzt hatte er immer versucht, solche Dinge logisch zu erklären. Aber jetzt, da er nicht mehr so alleine war, erkannte er, dass er so auf die Dauer nicht mehr weitermachen konnte. Wenn er dieses neu gewonnene Zuhause nicht verlieren wollte, musste er an sich arbeiten und wieder lernen, mit anderen Menschen auszukommen und sie nicht nur logisch, sondern auch emotional zu verstehen. Denn sonst würde er das alles wieder verlieren. Aber noch kannte Charity nicht die ganze Wahrheit. Den Grund, wieso er versuchte, sie unter allen Umständen loszuwerden und warum er so oft von zuhause weggelaufen war und auf der Straße gelebt hatte. Den Grund, weshalb er die Menschen auf Abstand hielt. Doch sollte er es ihr wirklich sagen? Sollte er wirklich dieses Risiko eingehen und ihr sein größtes Geheimnis offenbaren, selbst auf die Gefahr hin, dass sie ihn genauso verraten und ausnutzen könnte wie sein Onkel? Gab es denn eine Garantie, dass sie wirklich ehrlich zu ihm war und ihm nicht bloß etwas vorspielte? Da er ihre Gefühle nicht verstehen konnte, war es ihm nicht möglich, sie gänzlich zu durchschauen. Er musste ihr wohl „vertrauen“. Auch einer dieser Begriffe, mit denen er nur schwer etwas anfangen konnte, genauso wie dieses „Mitgefühl“. Aber da Charity starke Gefühle ihm gegenüber empfand und sie ihn gerettet hatte, obwohl er ein 23-jähriger obdachloser Alkoholiker war, schien sie es ehrlich zu meinen. Also konnte er den Versuch wagen und zumindest sie schon mal einweihen. Was hatte er denn zu verlieren, außer einem zuhause? Nun, er konnte immer noch auf der Straße leben, wenn es dazu kommen sollte, dass er sich in ihr getäuscht hatte. Und wirklich traurig würde er dann ja auch nicht sein, weil er gegen seine eigenen Gefühle völlig abgestumpft war. Doch trotzdem war da etwas in ihm, was gegen diesen Beschluss rebellierte. Sein Kopf sagte ihm, er solle es nicht tun und dass es eine absolut irrsinnige Entscheidung war. Aber da war noch eine andere Stimme, die ihm zusprach, dass er Charity endlich die Wahrheit sagen sollte. Wem diese zweite innere Stimme gehörte, wusste er nicht und er konnte auch nicht verstehen, wieso sie das sagte. Denn er hatte schon oft genug erlebt, wie grausam, selbstsüchtig und hinterhältig die Menschen sein konnten und wie sehr man sich in ihnen täuschen konnte. Bis jetzt hatte ihn doch jeder im Stich gelassen. Sein Vater, seine Mutter, seine Mitschüler, sein Onkel… wirklich jeder. Aber Charity hatte ihn nicht im Stich gelassen, als er ihr sagte, dass seinetwegen sein kleiner Bruder tot war. Nein, sie war bei ihm geblieben und wollte ihn verstehen. Doch würde sie immer noch bei ihm bleiben, wenn er ihr sein Geheimnis offenbarte und ihr die ganze Hintergrundgeschichte erklärte, wieso sich ihre Wege gekreuzt hatten? Tja, er hatte wohl keine andere Wahl, als es einfach zu versuchen. Denn diese fremde zweite Stimme in ihm war sich sicher, dass sie ihn nicht im Stich lassen würde. Nein, sie würde ihm zuhören und ihn verstehen. Also erhob er sich von ihrem Bett und ging zur Tür „Warte kurz, ich muss dir etwas zeigen.“ „Was… was willst du mir zeigen?“

„Etwas sehr Wichtiges. Wenn ich es dir so erkläre, wirst du es wahrscheinlich nicht verstehen, oder mir nicht glauben.“ Damit verließ er das Zimmer und ließ Charity allein. Diese war mehr als verwundert, als er ihr das gesagt hatte. Was hatte er bloß vor und was wollte er ihr denn unbedingt zeigen? So wie Jesse geklungen hatte, war es ihm wichtig, dass sie irgendetwas ganz Bestimmtes erfuhr. Vielleicht ein Geheimnis, das er all die Jahre gehütet hatte. Aber was für ein Geheimnis? Insgeheim fürchtete sie sich schon ein klein wenig davor, es zu erfahren, denn ihr erster Gedanke war, dass es vielleicht mit dem Tod seines kleinen Bruders zu tun hatte. Aber diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Nein, so etwas würde Jesse ganz gewiss nicht tun. Er war kein Mörder und da sprach auch nicht ihre Gutgläubigkeit aus ihr. Sie wusste es aus tiefstem Herzen, dass er kein schlechter Mensch war und sie musste ihm jetzt wohl einfach vertrauen.

Jesses Geheimnis

Jesse kam wenig später mit ein paar Skizzenblöcken und einem Notizbuch zurück und setzte sich wieder neben sie hin. Jedoch schwieg er kurz, um zu überlegen, wie er eigentlich anfangen sollte zu erzählen. Immerhin war das, was er ihr gleich sagen würde, ziemlich schwer zu begreifen und vor allem schwer zu glauben! Aber dann hatte er wohl einen passenden Anfang gefunden und fragte direkt „Erinnerst du dich an den Tag, als ich dir die Tasche geklaut habe?“ „Na klar doch.“ Wieder eine kurze Pause und Charity sah, dass er mit sich rang, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie ahnte, dass es etwas mit dem Zeitungsartikel zu tun hatte, der sie so aus der Bahn geworfen hatte. Aus diesem Artikel hatte sie erfahren, dass die Männer, die sie nach dem Weg gefragt hatten, sehr gefährliche Menschenhändler waren, die junge Mädchen entführten und dann ins Ausland an Bordelle verkauften. Hatte es damit zu tun? Natürlich hatte es das, sonst würde er sie doch nicht ausgerechnet darauf ansprechen! „Hast du gewusst, wer die Männer waren, die mich angesprochen haben?“

„Nein, ich kannte sie nicht und wusste auch nicht, wer sie waren. Aber ich wusste, was mit dir passieren würde. Sie hätten dich in den Wagen gezerrt und verschleppt und dann nach Mexiko gebracht. Dort hättest du keine zwei Monate überlebt und wärst dort elendig gestorben, ohne Hoffnung auf Rettung.“

„Und woher wusstest du das, wenn du nicht einmal gewusst hast, wer die Männer waren?“ Jesse nahm einen seiner Skizzenblöcke und zeigte ihr eine Zeichnung. Diese hatte Charity schon mal in seinem Zimmer gesehen, als sie bei seinem Onkel waren, nachdem ihr Rosenkranz kaputt gegangen war. Es waren diese seltsamen Bilder mit dem Kutscher, der jedes Mal eine andere Person zeigte und so unheimlich grinste. Sie hatte eine Person gesehen, die ihr sehr ähnlich war, aber sie war sich nicht sicher gewesen, ob das wirklich sie darstellen sollte, oder ob es sich um einen Zufall handelte. Aber nun begann sie zu ahnen, dass das wirklich sie war. „Ich sehe manchmal Dinge in meinen Träumen. Sachen, die dann wirklich passieren. Manchmal träume ich von einem Kutscher mit schwarzen Pferden, deren Anzahl immer anders ist, aber sie ist nie ungerade. Ich habe irgendwann den Kutscher Mr. Deadman genannt, ich weiß auch nicht wieso. Er ist nicht wirklich böse oder feindselig. Aber freundlich und hilfsbereit ist er auch nicht. Mr. Deadman ist eher neutral und steht auf keiner Seite und er scheint nur deshalb aufzutauchen, um mir die Personen in der Kutsche zu zeigen. Er bleibt immer mit seiner Kutsche vor mir stehen, zeigt mir die Personen, die in der Kutsche sitzen und nennt mir ihre Namen. Es sind Menschen, die dann bald sterben werden.“ Charity starrte fassungslos ins Leere und wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Hatte sie da gerade etwa richtig gehört? Er hatte geträumt, dass sie bald sterben würde? Jesse blätterte weiter zur letzten Zeichnung und sie sah mit Schrecken, dass es ihre Großmutter war. „Diese Träume mit dem Kutscher treten nicht oft auf. Während meiner Zeit auf der Straße hatte ich sie eigentlich nie und ich ging davon aus, dass diese Träume immer dann auftreten, wenn ich Kontakt zu Menschen habe. Mr. Deadman zeigt mir die Personen, die bald sterben werden, allerdings nennt er mir niemals die Details, sondern verschwindet dann einfach. Einzelheiten erfahre ich meistens in anderen Träumen.“ Damit legte er den Skizzenblock beiseite und nahm den nächsten. Diese zeigten ganz andere Kulissen. Eine davon war eine große Höhle mit einer Zahl von Stalagmiten. Es war dunkel und beleuchtet wurde diese finstere Höhle durch eine Art See oder Fluss, über welchem ein kleines Boot trieb. Der Fährmann trug eine Kutte, jedoch konnte man aufgrund der Kapuze nicht das Gesicht sehen. Dieses Bild sah irgendwie merkwürdig aus und wirkte auf sie, als würde es aus einem Traum oder einem Fantasyfilm stammen. Jesse blätterte aber noch eine Seite zurück und zeigte eine riesige weiße Wüste mit Bäumen, die wie Skeletthände aussahen, die in den Himmel ragten und eine Art Berg war in der Ferne zu sehen. Die Sonne schien hell und war ebenfalls weiß. Am Fuße des Berges standen Menschen, die wie lebende Tote aussahen. Manche von ihnen waren halbwegs normal, andere wiederum waren in einem schlimmen Zustand. „In diesen Träumen durchwandere ich diese Wüste und gehe immer geradeaus in Richtung des Berges. Es ist weder heiß noch kalt, sondern einfach nur trocken und totenstill. Ich gehe dann immer auf die Menschenmenge zu, aber niemand macht auch nur den Versuch, mich aufzuhalten. Sie lassen mich einfach durch und wenn ich in der Höhle bin, ist auch der Eingang verschwunden, sodass ich nicht mehr zurück kann.“ Nun zeigte er wieder die Höhle. „In der Höhle ist es warm und trocken, deshalb habe ich mich im Nachhinein auch gefragt, wie es denn zu den Stalagmiten kommen konnte. Denn Stalaktiten gab es keine und es war auch gar nicht feucht in der Höhle. Der Fluss, vielleicht ist es aber auch ein See… ist die einzige Lichtquelle. In diesem Gewässer befinden sich Schlangen mit leuchtenden Schuppen und wenn ich das Ufer erreiche, taucht der Fährmann auf, um mich auf die andere Seite zu bringen. Er steuert das Boot nur, aber es bewegt sich von selbst. Der Fährmann ist anders als der Kutscher. Er versucht mich zu schützen und mich davon abzuhalten, das Wasser zu berühren weil er weiß, dass dann etwas Schlimmes passiert. Wenn er mich auf die andere Seite gebracht hat, führt er mich noch ein Stück weit und dann falle ich in eine dunkle Tiefe. Und wenn das passiert, sehe ich Bilder von Dingen, die passieren werden. Sie sind aber allesamt positiv, also alles schöne Erlebnisse in der Zukunft. Aber wenn ich nicht auf den Fährmann höre und das Wasser berühre, stürze ich aus dem Boot und entweder ertrinke ich, oder ich gerate in einen anderen Traum.“ Nun blätterte er weiter und zeigte Charity eine wunderschöne Kulisse, die aussah, wie aus einem Märchen. Es zeigte einen blauen Himmel, die schneeweißen Ruinen einer alten Kirche und alles war voller Blumen in leuchtenden Farben. Auf der Spitze des Glockenturms saß ein Mädchen mit kurzem blondem Haar und weißen Flügeln, sodass sie wie ein Engel aussah. Doch Jesses Gesichtsausdruck verriet, dass es nicht so war, wie es den Anschein hatte. „Diesen Engel, den du siehst, habe ich Sariel genannt, nach dem biblischen Todesengel. Sie ist nicht wirklich ein Engel, sondern eher ein Dämon in Engelsgestalt. Wie ein Wolf im Schafspelz also. Wenn sie in Erscheinung tritt, greift sie mich mit einem Schwert oder mit einem Speer an und tötet mich damit. Und im Augenblick meines Todes sehe ich alle schlimmen Dinge, die passieren werden. So auch, dass du von diesen Männern entführt werden solltest, oder dass deine Großmutter in den Fluss stürzt. Und auch, dass du an dem Abend, als du spazieren gehen wolltest, schlimm gestürzt wärst und dir das Bein gebrochen hättest.“ Eine Pause trat ein und Charity musste das alles erst einmal sacken lassen, was sie da hörte. Sie hatte zwar mit einigem gerechnet, aber nicht damit, dass Jesse in seinem Träumen gesehen hatte, was ihr und ihrer Großmutter passieren würde. Und es fiel ihr auch erst schwer, das wirklich zu glauben. Aber wenn sie so darüber nachdachte, passte das irgendwie zusammen, so verrückt das auch klang. Die Männer im Van, der Vorfall am Innenhafen und die Schuhe, die sie nicht mehr gefunden hatte. Jesse hatte gewusst, was passieren würde und dann dementsprechend reagiert, um sie zu beschützen. Und so langsam verstand sie auch diesen heftigen Streit zwischen ihm und seinem Onkel. Der hatte ihm doch vorgeworfen, dass er wegen ihm Geld beim Pferderennen verloren hatte. Konnte es sein, dass Jesse auch solche Dinge sehen konnte? „Du… du kannst also in deinen Träumen sehen, was in der Zukunft passiert?“ Er schien sich nicht ganz sicher zu sein, wie er antworten sollte und sah wohl, dass Charity ein wenig überfragt war. Aber schließlich erklärte er „Im Grunde kommt jeder Mensch mit dieser Gabe zur Welt. Bei vielen zeigt sie sich nie, aber andere sind hin und wieder in der Lage, Dinge zu träumen, die dann auch eintreten. Diese Fähigkeit liegt irgendwo in unserem Unterbewusstsein und wir sind auch in der Lage, sie im Wachzustand einzusetzen. Vielleicht hast du ja schon mal die Situation gehabt, dass du etwas ganz Bestimmtes getan hast, weil du das Gefühl hattest, es wäre wichtig. Nenne es Intuition, Vorahnung oder Bauchgefühl. Manchmal tritt es wirklich ein, in vielen Fällen aber nicht und wenn doch, dann nennt man es Zufall. Aber bei mir ist es anders. All die Dinge, die ich in meinen Träumen sehe oder als Vorahnung wahrnehme, treten immer ein. Einige Menschen nennen so etwas auch das zweite Gesicht. Fakt ist, dass jeder Mensch mit diesem so genannten „siebten Sinn“ geboren wird. Du hast es also auch.“ Bei diesen Worten musste sich die Studentin an dieses Erlebnis erinnern, als sie sieben Jahre alt war. Der Abend vor dem Unfalltod ihrer Eltern. Sie hatte geträumt gehabt, dass ihre Eltern nicht nach Hause kommen würden, weil etwas Schlimmes passiert war und danach war sie so aufgelöst gewesen, dass sie sie angerufen hatte. Ja, sie hatte mit ihrer Mutter telefoniert, die sie dann tröstete und versprach, mit ihr nach ihrer Rückkehr in den Zoo zu gehen. Es war das letzte Mal gewesen, dass Charity ihre Stimme gehört hatte. Was wenn es wirklich stimmte und sie auch diese Gabe besaß und deshalb geahnt hatte, was passieren würde? „Dann… dann war es also kein zufälliger Traum vom Tod meiner Eltern gewesen, kurz bevor sie mit dem Auto verunglückten?“

„Wahrscheinlich nicht“, erklärte er und legte den Skizzenblock beiseite. „Kinder sind besonders empfänglich für derlei Träume, weil ihr Unterbewusstsein anders funktioniert als das von Erwachsenen. Im Laufe der Jahre tritt diese Fähigkeit im Traumzustand immer seltener auf, dafür wird aber der „siebte Sinn“ weiter geschärft. Aber aus irgendeinem Grund ist sie bei mir ganz anders ausgeprägt. Schon seit ich denken kann, träume ich Dinge, die dann wirklich eingetroffen sind. Aber es waren meist ganz harmlose Sachen. Zum Beispiel was ich zu Weihnachten geschenkt bekam, was es zum Mittagessen geben würde, oder wohin der eine oder andere Ausflug gehen würde. Als ich aber dann zehn Jahre alt war, hatte ich dann einen Traum, der zum ersten Mal wirklich schlimm war. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich geträumt habe, allerdings weiß ich noch, dass ich schlafwandelte und mit einem roten Stift überall an der Wand „Beschützt die Zwillinge“ geschrieben habe. Eine Woche lang hatte ich diesen einen Traum und habe diese Worte geschrieben oder gesagt. Manchmal habe ich im Schlaf geschrieen und geweint und war danach völlig aufgelöst gewesen, weil ich in meinem Traum so viele Menschen sterben sah. Das war eine Woche vor dem elften September.“

Nun wich alles Blut aus Charitys Kopf, als ihr klar wurde, was das bedeutete. „Meinst du damit etwa den elften September?“ Jesse nickte. „Weder meine Familie noch ich haben verstanden, was diese Worte zu bedeuten hatten, bis es dann passierte und wir erfuhren, dass Terroristen zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme gesteuert hatten. Ich war völlig durcheinander und verstand das alles nicht. Ich weiß nur, dass ich, als ich die Bilder sah, furchtbar geweint hatte und mein Vater sagte daraufhin, es sei nicht meine Schuld und ich könne nichts dafür, was passiert ist. Aber dann hatte ich einen weiteren Traum und in dem hat mein Vater uns verlassen. Ich wollte diese Träume nicht mehr sehen. Sie jagten mir furchtbare Angst ein und ich versuchte, mich dagegen zu wehren. Doch letzten Endes konnte ich nicht verhindern, dass mein Vater abgehauen ist und uns einfach so zurückgelassen hat, ohne sich zu verabschieden.“ Erneut machte er eine Pause, um sich auch selbst zu sammeln. So langsam bekam die ganze Sache eine ganz Perspektive und als Charity an seine Worte zurückdachte, als er sagte, dass er für den Tod seines Bruders verantwortlich war, wusste sie schon, was hinter dieser Aussage steckte. Und dieser Gedanke tat ihr im Herzen weh. „Du hast auch im Traum gesehen, dass dein Bruder sterben wird, nicht wahr?“ Keine Reaktion, nicht mal ein Nicken. Aber sie konnte an seinen Augen erkennen, dass sie Recht hatte und sie wusste es auch. Doch dann senkte er den Blick und sagte „Es ist alles meine Schuld. Meine Träume sind der Grund, warum Luca mit gerade mal fünf Jahren sterben musste und wieso Dad damals abgehauen ist. Hätte ich diese Träume nicht, dann hätten diese ganzen Vorfälle nicht passieren müssen und dann wäre meine Mutter auch nicht durchgedreht. Meine Träume bringen nur Unglück und durch sie geraten auch Menschen in Gefahr.“ Es war das erste Mal, dass so etwas wie Schmerz in seiner Stimme zu hören war und auch wenn sein Gesicht regungslos und leicht düster aussah, zeugten seine Augen von unendlichem Kummer, den er selbst nicht wahrnahm. Aber nun verstand Charity endlich alles. Auch den Grund, warum Jesse von seiner Pflegefamilie weggelaufen war, wieso er lieber auf der Straße lebte und warum er sie unbedingt loszuwerden versuchte. Er dachte, dass seine Träume Schuld an dem ganzen Unglück wären, welches ihm und anderen Menschen widerfahren war. All das machte er allein sich selbst zum Vorwurf und glaubte, dass allein seinetwegen so viele schlimme Dinge passieren mussten. „Aber… das ist doch nicht wahr…“, brachte sie hervor und kämpfte erneut mit den Tränen. „Wer… wer sagt denn, dass deine Träume für die Dinge verantwortlich sind, die passieren? Das ist… das ist…“ Sie konnte nicht mehr weiterreden, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt und wegen der vielen Tränen konnte sie nicht mal mehr richtig sehen. „Jesse, so etwas darfst du niemals denken, hörst du? Du bist doch nicht schuld daran, dass das passiert ist. Wärst du nicht gewesen, dann wären Oma und ich nicht mehr am Leben und das haben wir alles dir zu verdanken. Deine Träume sind keine Gefahr für andere. Im Gegenteil, sie sind ein Geschenk, damit du Menschen retten kannst.“

„Aber wie kann ich mir sicher sein, dass es nicht doch so ist und ihr meinetwegen fast gestorben seid?“

„Weil es einfach nicht so ist, okay? Träume sind Träume und sie haben keinen direkten Einfluss auf die Realität. Als ich diesen Traum hatte und meine Eltern kurz darauf starben, da hat mir meine Oma gesagt, dass dieser Traum ein Geschenk war, damit ich wenigstens die Chance bekam, meine Eltern noch ein allerletztes Mal zu sprechen. Und ich glaube fest daran, dass deine Träume nicht gefährlich und auch nicht für das Unglück von Menschen verantwortlich sind. Wenn du diese Träume nicht gehabt hättest, dann… dann wären Oma und ich jetzt nicht mehr hier.“ Sie sah keinerlei Reaktion bei Jesse und so konnte sie auch nicht sagen, ob ihre Worte wirklich etwas bei ihm bewirkt hatten. Jesse konnte sich nicht wirklich freuen oder seine Trauer ausdrücken, deshalb wusste sie auch nicht, wie es in ihm drin gerade aussah. Aber dann geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hätte: Er lächelte, wenn auch er es etwas zögernd und unsicher machte, aber ihn so zu sehen, ließ ihr Herz höher schlagen. Ja es schlug ihr bis zum Hals und sie spürte, wie ihr ganz heiß im Gesicht wurde. Großer Gott, jetzt wurde sie auch noch ganz rot. Und als er ihr auch noch sagte „Danke, Charity“, da war es um sie geschehen. Sie konnte selbst nicht anders als zu lächeln und mit einem Male war all der Kummer und Schmerz fort, den sie zuvor verspürt hatte. „Jetzt hast du mich zum ersten Mal bei meinem Namen genannt… Hey sag mal, möchtest du mir vielleicht gleich beim Backen helfen? Ich wollte nämlich ein paar Cupcakes für die Nachbarn backen, weil die nämlich morgen ihre Silberhochzeit feiern. Und zu zweit wird es sicherlich noch viel schöner.“ Nun wich das Lächeln und Jesse sah sie fragend an. Sie ahnte, wieso er sie so anschaute. „Hast du noch nie Cupcakes gemacht?“

„Backen musste ich noch nie, deshalb habe ich auch keine Ahnung davon.“

„Wow, da habe ich wohl doch etwas gefunden, was du noch nicht kannst. Dann komm mal mit, ich zeig es dir.“ Damit erhoben sie sich beide und verließen das Zimmer. Charity war wirklich froh, dass sie Jesse ein bisschen aufbauen konnte. Ob sein Lächeln wirklich so von Herzen kam, wagte sie aufgrund dessen, was sie von ihm erfahren hatte, zu bezweifeln. Aber ihr zuliebe wollte er wenigstens versuchen, Gefühle zu zeigen und sie aufzumuntern. Sie war sich sicher, dass sie gemeinsam eine Möglichkeit finden konnten, ihm zu helfen. Natürlich konnte sie ihm nicht diese Fähigkeit nehmen und ihm damit auch diese Todesträume ersparen, aber vielleicht fand sich ja ein Weg, wie er besser damit umgehen konnte.

Sie gingen in die Küche und sogleich begann Charity ihm Anweisungen zu geben, welche Küchengeräte sie brauchten und was sie für Zutaten benötigten. In dieser etwas gelockerten Atmosphäre konnten sie auch deutlich besser über Jesses Fähigkeiten sprechen. Dabei merkte sie auch sofort, dass bei ihm auch langsam diese innere Anspannung fiel. „Eines musst du mir aber doch verraten: Als du dir das Geld von mir geliehen hast und ins Casino gegangen bist, da hast du doch auch deinen siebten Sinn eingesetzt, oder?“ Schon an seiner Körpersprache sah man, dass er über diesen Teil überhaupt nicht gerne redete und sie konnte sich schon denken wieso. „Ja, aber ich mache das nicht gerne. Menschen nehmen an Glücksspielen teil, um entweder den Zufall, oder aber ihr eigenes System entscheiden zu lassen. Weil ich aber mit meinem siebten Sinn jedes Mal richtig liege, ist das in meinen Augen nicht anders als Betrug an anderen. Und ich will weder ein Dieb, noch ein Betrüger oder ein Schmarotzer sein.“

„Und außerdem befürchtest du, dass man hinter deine Fähigkeiten kommen und sie für persönliche Zwecke ausnutzen würde, nicht wahr?“

„Natürlich. Es ist verlockend zu wissen, dass man jedes Mal beim Lotto oder Pferderennen gewinnen kann, ohne dabei Geld zu verlieren. Die Menschen denken natürlich zuallererst daran, dass sie von jetzt auf gleich Millionäre werden könnten. Dann werden die ehrlichsten Menschen zu charakterlosen Snobs, die auf andere herabsehen und nie genug bekommen können. Sie wissen den Wert des Geldes überhaupt nicht zu schätzen, während andere Menschen gezwungen sind, sogar ihren Körper zu verkaufen, um irgendwie am Leben zu bleiben. Fakt ist, jeder Mensch hat diese habgierige Veranlagung und etwas anderes zu behaupten, ist eine Lüge. Und da ich niemals so sein will, setze ich diese Fähigkeiten auch nur dann zu diesem Zweck ein, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Mein Onkel hat von meinen Fähigkeiten gewusst und sie zu seinem Vorteil ausgenutzt, um sich selbst zu bereichern. Ich hab sein Spiel nur deshalb mitgespielt, weil ich nicht wieder zurück auf den Strich wollte, das hab ich auch Marco versprochen.“

„Marco?“

„Erinnerst du dich an den hünenhaften Rocker, mit dem du zusammengestoßen bist?“

„Sag bloß, das war dein Komplize!“

„Ich hab ihn im Knast kennen gelernt. Nein, ich war nicht selbst dort, ich hatte ihn in einen meiner Todesträume gesehen und wollte ihn warnen. Marco Stevens war vorher Mitglied einer kriminellen Rockergang und hat als Geldeintreiber fungiert. Damit meine ich, dass er Schutzgelder erpresste und manchmal auch gewalttätig wurde. Er wurde bei einer Razzia verhaftet und ich hab ihm das Leben gerettet, als ein inhaftiertes Mitglied einer verfeindeten Gang einen Mordanschlag auf ihn plante. Danach hat er sein Leben umgekrempelt und arbeitet inzwischen als Tätowierer und ist nebenbei als Streetworker tätig. So haben wir uns wieder getroffen und er hat mir geholfen, vom Strich wegzukommen. Er hat mir übrigens auch die ganzen Piercings gestochen.“

„Weiß er von deiner Gabe?“

„Ja und er hilft mir auch, wenn ich, wie in deinem Falle, eingreifen muss. Während ich dich von den Männern weggelockt habe, hat er die Polizei verständigt und aufgepasst, dass diese Kerle keine weiteren Mädchen verschleppen.“ Der Gedanke, dass all dies kein Zufall gewesen, sondern geplant war, erschreckte Charity ein wenig und sie kam sich vor wie in einer Art Truman-Show. Dieser Zusammenstoß mit dem Rocker war wahrscheinlich kein Zufall gewesen und die Person, mit der er am Handy telefoniert hatte, war sicher Jesse gewesen, mit dem er sich abgesprochen hatte. Er hatte dann Stellung bezogen, während sich Jesse bereit gemacht hatte, ihr im richtigen Moment die Handtasche zu entreißen, damit ihre Entführung verhindert werden konnte. „Ich glaube, ich kann dir wohl nicht genug danken für das, was du für mich und Oma getan hast. Und keine Sorge: Ich werde niemandem etwas von deiner Gabe sagen, wenn du es nicht willst. Nicht einmal Oma!“

„Danke für dein Verständnis. Aber die Hauptsache ist, dass ihr gesund und am leben seid. Also, dann zeig mir, was ich tun soll.“ Charity holte ihr Rezept heraus und las sich erst einmal selbst durch, was zu tun war. Sie wollte etwas Besonderes ausprobieren, da ihre Nachbarn leidenschaftliche Japan-Fans waren. Deshalb hatte sie ein Rezept ausgesucht, wo mit Matcha, einer besonderen Grünteesorte, gearbeitet wurde. Dadurch bekamen die Cupcakes eine hübsche giftgrüne Farbe und ein besonderes Aroma. Jesse tat alles, was sie ihm auftrug und er stellte sich gar nicht mal so ungeschickt an, wie sie zunächst befürchtet hatte. Tatsächlich lernte er unglaublich schnell und das alleine durchs Beobachten. Da sie so gut vorankamen, machte Charity noch ein paar Strawberry Cupcakes und erzählte dabei von ihrem großen Traum, nämlich einer eigenen Konditorei. „Ich bin für gewöhnlich etwas schusselig, aber wenn ich eines gut kann, dann ist es das Backen. Außerdem arbeite ich gerne mit Menschen und deshalb will ich irgendwann mal eine eigene Konditorei eröffnen, wo ich das machen kann, was ich am liebsten tue. Hast du irgendwelche Pläne für die Zukunft?“ Hier schwieg Jesse und musste wieder nachdenken. Hatte er Pläne oder Ziele? Bevor er Charity getroffen hatte, war er in dem Glauben gewesen, dass ein früher Tod durch Alkohol bedingt sein Ende sein würde und er hatte sich auch nichts anderes gewünscht, als dass sein Leid endlich beendet wurde. Aber nun schien das alles vorbei zu sein. Charity glaubte ihm, dass er einen besonderen siebten Sinn hatte und sie fragte ihn auch nicht aus, wie man dank seiner Gabe an Geld kommen konnte. Als wäre sie gar nicht daran interessiert. Nun, mit Sicherheit spielte sie hin und wieder mit dem Gedanken, denn er kannte die Menschen zu gut und wusste, dass Geld einen so hohen Stellenwert hatte, dass man dafür wirklich alles zu tun bereit war. Immerhin war er auf dem Strich gewesen, weil er Geld brauchte, um zu überleben. Wahrscheinlich wäre er noch länger dort geblieben, hätte Marco ihn da nicht rausgeholt. Die Erinnerungen daran, was er während dieser Zeit erlebt hatte, lösten bei ihm jedes Mal Übelkeit und Magenkrämpfe aus. Das schlimmste Erlebnis war mit einem „Kunden“ gewesen, der sich schließlich als sein eigener Klassenlehrer entpuppt hatte. Dieser war einer von der ganz üblen Sorte gewesen und noch nie in seinem Leben hatte Jesse einen derart widerlichen Menschen kennen gelernt. Sogar sein Onkel war bei weitem nicht so schlimm gewesen, denn dieser Kerl hatte ihn nicht nur gefesselt und fast bewusstlos geprügelt, sondern ihm schließlich sogar noch einen geladenen Revolver in den Mund geschoben. Marco hatte ihn schließlich gefunden und gerettet. Jesse hatte am ganzen Körper Verletzungen und konnte sich fast drei Tage lang kaum bewegen, ohne Schmerzen zu haben. Danach stand für ihn fest, dass er so etwas nie wieder tun würde. Lieber würde er dann auf der Straße verhungern. Und selbst danach, als er zu seinem Onkel kam, wurde es nicht besser. Im Grunde war er nur vom Regen in die Traufe gelandet und wegen diesem fetten raffgierigen Choleriker hatte er die Schule abbrechen müssen und stand jetzt ohne Schulabschluss und Job da. Außerdem war er Alkoholiker und als solcher nicht arbeitsfähig. Was für Perspektiven hatte er dann überhaupt? Er würde doch nirgendwo einen Job bekommen bei der Vorgeschichte. Die Menschen waren oberflächlich und sahen nur, dass er ein versoffener Schulabbrecher ohne abgeschlossene Ausbildung war. So einer wie er hatte einfach keine Zukunft. „Ich habe keine Ziele oder Pläne für die Zukunft, für so etwas hätte ich auch keinerlei Perspektiven.“

„Sag so etwas nicht. Du kannst doch deinen Abschluss nachholen. Denk nicht immer so pessimistisch, für jedes Problem gibt es eine Lösung. Zwar weiß ich nicht, wie ich dir mit deinen Träumen helfen kann, aber zumindest weiß ich, dass es für deine anderen Baustellen Hilfen gibt. Für dein Alkoholproblem gibt es genug Fachkliniken, die dir helfen können und es gibt sicherlich auch psychologische Hilfe für deine emotionale Blockade. Aber dazu musst du auch gewillt sein, an dir zu arbeiten. Du hast so viele Tiefpunkte gehabt und bist immer noch am Leben. Das ist doch ein Zeichen dafür, dass du es schaffen kannst.“ Während Charity die Cupcakes in den Backofen schob, begann Jesse schon mal die Creme vorzubereiten und ließ sich ihre Worte noch mal durch den Kopf gehen. Es war ein seltsames Gefühl zu hören, dass sie daran glaubte, dass er eine Zukunft hatte. Das hatte noch nie jemand zu ihm gesagt. Weder seine Eltern, noch sonst irgendjemand hatte ihm je das Gefühl gegeben, dass er wirklich ein vernünftiges Leben führen konnte. Nun ja, Marco hatte immer wieder versucht, ihn aufzubauen, aber bei ihm war es nicht dasselbe, denn auch Marco kämpfte selber immer wieder mit seinem Image als verurteilter Verbrecher. Ohne das Tattoostudio hätte er auch keine richtige Perspektive. Und jetzt sagte Charity, die sich nicht ein einziges Mal von seiner Art hatte abschrecken lassen, dass er eine Zukunft hatte, wenn er an sich arbeiten und Hilfe annehmen würde. Wieder spürte er diesen Stich in seiner Brust, der ihm das Atmen schwer fallen ließ und dann verschwamm kurz seine Sicht. Er rieb sich die Augen und bemerkte verwundert, dass seine Augen leicht tränten. Aber obwohl er diesen Stich verspürte, der wohl auch für die leicht tränenden Augen verantwortlich war, fühlte er sich nicht so elend, als würde ihn innerlich eine tonnenschwere Last erdrücken. Nein, zum ersten Mal erschien es ihm so, als würde diese tonnenschwere Last leichter werden. Ob es diesem „Mitgefühl“ zu verdanken war, wie Charity ihm zuvor erklärt hatte? Die ganze Situation war völlig fremd und neu für ihn. Trotz seiner Vorgeschichte und seines Verhaltens hatten Charity und Grace ihn bei sich aufgenommen und wollten ihm helfen. Er hatte ein Zuhause und konnte offen über seine Gabe reden, ohne befürchten zu müssen, dass man ihn ausnutzen könnte. Dafür war dieses Mädchen einfach nicht hinterhältig genug. Vielleicht gab es ja tatsächlich eine Möglichkeit, sein Leben in den Griff zu bekommen und sich eine vernünftige Existenz aufzubauen.
 

Nachdem die Cupcakes fertig waren, teilten sie sich die Arbeit. Während Charity die Matcha-Cupcakes fertig machte, übernahm Jesse die Strawberry Cupcakes. Und obwohl er das zum allerersten Mal machte, sah seine Arbeit wie die eines Profis aus, der nie etwas anderes gemacht hatte. Er hatte sich einfach das Bild angeschaut, auf dem die fertigen Cupcakes abgebildet waren und kopierte es auf fast meisterhafte Art und Weise. Der 22-jährigen Studentin blieb der Mund offen stehen, als sie das sah. „Mensch, du bist ja wirklich ein Naturtalent. Gibt es denn überhaupt etwas, das du nicht kannst?“ Da er wohl eine kleine Spur von Neid bei ihr heraushörte und es fälschlicherweise zuerst als leichte Verärgerung oder Eifersucht interpretierte, antwortete er zögerlich „Es gibt ein paar Dinge, die ich nicht kann.“

„Und die wären?“ Nun wurde sein Gesicht wirklich finster, sodass man schon Angst vor ihm bekommen konnte. Aber in Wahrheit war es ihm bloß peinlich, darüber zu reden „Ich kann nicht schwimmen und zudem habe ich Höhenangst.“ Überrascht hob Charity die Augenbrauen und zugleich war sie sehr verwundert, denn sie erinnerte sich sehr wohl an seine riskante Rettungsaktion am Innenhafen, bei der er selbst in den Fluss gefallen war.

„Aber wenn du nicht schwimmen kannst, wieso bist du dann dieses Risiko eingegangen, als Oma abgerutscht ist? Du hättest ertrinken können.“

Ich wollte einfach nicht für den Tod von Menschen verantwortlich sein.“ Nachdem sie die Cupcakes fertig verziert hatten, wurden diese in den Kühlschrank gestellt und jeder nahm sich noch einen und schließlich setzten sie sich ins Wohnzimmer, um ein wenig fernzusehen. Irgendwann schlief Charity ein, doch Jesse blieb noch eine Weile wach und ließ den Tag noch mal Revue passieren. Dies tat er häufig, wenn besondere Dinge geschehen waren, die irgendetwas in seinem Körper ausgelöst hatten. Nachdem er die schlafende Studentin ins Zimmer getragen hatte, ging er in sein eigenes und betrachtete seine Zeichnungen und las sich seine gesammelten Notizen durch. All die Jahre war er in dem festen Glauben gewesen, dass seine Träume der Ursprung für diese ganzen Tragödien waren. Er hatte gedacht, dass sein Bruder sterben musste, weil er von seinem Tod geträumt hatte. Aber Charity glaubte fest daran, dass es das genaue Gegenteil war, nämlich dass seine Träume dazu da waren, um bevorstehendes Unglück zu verhindern. Sie nannte seine Gabe ein Geschenk, er hatte es immer als einen Fluch angesehen. Immerhin war sein Vater abgehauen, weil er diesen siebten Sinn besaß. Vielleicht hatte er die ganze Zeit tatsächlich viel zu pessimistisch gedacht und sich das alles von seiner Mutter bloß einreden lassen. Aber was ihn wirklich beschäftigte, war er selbst und was Charitys Worte bei ihm ausgelöst hatten. Sein logisches Denken war irgendwie getrübt und ihre Worte schwirrten in seinem Kopf herum und dieses Phänomen ließ sich fast mit einer Art Ohrwurm vergleichen. Und wenn er nachdachte, dann sah er immer sie. Als sie seinetwegen geweint hatte, fühlte er sich selbst schlechter und er konnte es nicht ertragen, sie so unglücklich zu sehen. Aber warum? Wieso bekam er dieses Mädchen nicht aus seinem Kopf? Das Ganze war ihm rätselhaft und für einen Moment überlegte er, ob er diese Symptome nicht im Internet nachschlagen sollte. Aber sofort verwarf er diesen Gedanken wieder, denn das war eine absolut dumme Idee. Nur ein einziges Mal hatte er ähnlich merkwürdige Symptome in die Suchmaschine eingegeben und das Ergebnis war, dass er entweder eine Grippe, oder eine kaputte Zylinderkopfdichtung hatte. Und dabei wusste er mit Sicherheit, dass weder das eine noch das andere zutraf! Das Beste war, er beobachtete das Ganze eine Weile um selbst herauszufinden, was mit ihm nicht stimmte.

Eine schwere Entscheidung

Gleich am nächsten Morgen stand Charity mit einer guten Laune auf und hatte das Gefühl, dass nun alles besser werden würde. Sie stand viel früher als gewöhnlich auf und sang auf den Weg zur Küche ihr Lieblingslied. Dieses Gespräch mit Jesse hatte ihr endlich geholfen, ihn besser zu verstehen und auch zu erkennen, warum er überhaupt so war. Er hatte ihr sein größtes Geheimnis offenbart und ihr auch damit gezeigt, dass er ihr vertraute. Und das war ein wunderbares Gefühl für sie, besonders weil sie mehr für Jesse empfand, als nur Sympathie. Nun gut, ihr Annäherungsversuch war im Grunde ein Schuss in den Ofen gewesen, aber dieses so vertraute Gespräch zwischen ihr und Jesse gab ihr das Gefühl, als würde dies ihr wohl schönster Tag auf Erden werden. Sie fühlte sich völlig unbeschwert und konnte an nichts anderes denken, als an dieses süße Bild, als Jesse sie angelächelt hatte. Er war dabei so süß gewesen und ihr war es in diesem Moment auch völlig egal, dass er dabei eigentlich rein gar nichts empfunden hatte… oder zumindest keine wirklichen Gefühle wahrgenommen hatte. Ihn lächeln zu sehen, das hatte sie sich so sehr gewünscht und insgeheim träumte sie davon, dass sie gleich in die Küche kam, er sie mit dem gleichen Lächeln grüßen und ihr einen Kaffee anbieten würde. Doch als sie die Küche betrat und ihn mit einem etwas düsteren Gesichtsausdruck Zeitung lesend am Tisch sitzen sah, da merkte sie, dass er ihre gute Laune nicht wirklich teilte. Sie versuchte, sich nicht davon beirren zu lassen und grüßte ihn gut gelaunt. Er bemerkte sie jedoch nicht und war völlig in die Zeitung vertieft und man sah ihm an, dass er auch mit seinen Gedanken ganz woanders war. Auch an seinem düsteren Blick konnte man erkennen, dass ihn irgendetwas beschäftigte und seine Stimmung deshalb etwas gedämpft war. Charity versuchte es damit zu erklären, dass er sich erst einmal an diese neue Situation gewöhnen musste, dass er jemandem sein größtes Geheimnis anvertraut hatte und vielleicht war ihm da noch nicht ganz wohl bei dem Gedanken. Womöglich machte er sich auch Sorgen, dass er schon wieder derart enttäuscht und verraten werden konnte so wie in der Vergangenheit. Wer konnte ihm das denn verübeln nach alledem, was er erlebt hatte? Nun, er braucht wohl noch eine Weile, dachte sich Charity und versuchte, optimistisch zu bleiben und ihm zu zeigen, dass er sich deswegen überhaupt keine Sorgen zu machen brauchte. „Jesse, möchtest du einen Kaffee?“ Erst jetzt hob er den Kopf und bemerkte sie wirklich. Doch anstatt, dass sich sein Gesicht etwas aufhellte, wurde es sogar ein klein wenig düsterer, was Charity schon etwas verunsicherte. „Ja, danke.“ Sie goss ihm Kaffee in die Tasse, dann schenkte sie sich selbst ein und setzte sich zu ihm. Schon jetzt fiel ihr auch auf, dass er irgendwie ziemlich wortkarg war und nicht ein Wort sagte. Okay, er war sowieso nicht der redseligste Mensch, aber trotzdem hatte sie sich schon gewünscht, dass er nach dem gestrigen Gespräch ein klein wenig offener wurde. Da hatte sie wohl falsch gelegen. Wenig später kam auch Grace dazu und grüßte die beiden ebenfalls mit einer guten Laune. Das Frühstück selbst verlief jedoch etwas still und selbst der Pensionärin entging nicht, dass Jesse einen etwas bedrückten Eindruck machte. Sie fragte nach, was denn los sei, doch er schüttelte nur den Kopf und sagte „Es ist nichts.“ Das war das Einzige, was er überhaupt sagte und die restliche Zeit über schwieg er. Nach dem Frühstück machte sich Jesse wortlos an die Hausarbeit, da Grace einen Termin beim Arzt hatte und deshalb kurz nach dem Frühstück schon weg musste. Da sie sich an dem Tag nicht ganz so fit fühlte, bat sie ihre Enkelin, sie doch zu fahren. Grace hatte zwar einen Führerschein, aber das Problem war, dass ihr Arzt seine Praxis in der Innenstadt hatte und dort fand sie einfach nirgendwo einen Parkplatz. Also war es die beste Lösung, wenn Charity sie dorthin brachte. Sie musste ja sowieso noch einkaufen fahren und konnte ihre Großmutter ja auf dem Rückweg abholen, wenn die Untersuchung beendet war. Als sie schließlich abfahrbereit im Auto saßen, fragte die pensionierte Lehrerin ohne Umschweife „Habt ihr denn gestern noch miteinander geredet?“ Charity überlegte kurz, was sie denn eigentlich sagen sollte, denn sie hatte ja Jesse versprochen, dass sie über seinen siebten Sinn Stillschweigen bewahren würde. Aber sie wollte ihre Großmutter auch nicht belügen. „Ja, er hat mir so einiges erklärt. Auch den Grund, wieso er sich so abweisend verhält. Sag mal Oma, hast du schon mal von Menschen gehört, die durch irgendein Erlebnis nicht mehr in der Lage sind, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen?“ Grace ahnte schon, wieso ihre Enkelin darauf ansprach und erklärte „Gehört habe ich davon schon mal. Ich kenne den Fachbegriff zwar nicht, aber man nennt so etwas Gefühlsblindheit. Viele Betroffene merken aber nicht, dass sie gefühlsblind sind, sondern erkennen es erst durch die Reaktion ihres Umfeldes. Darüber wurde letztens in einer Reportage berichtet, die fand ich sehr interessant. Solche Menschen entscheiden immer logisch und objektiv und denken nur mit dem Kopf. Im Beruf sind sie deshalb oft erfolgreich, allerdings leidet sehr häufig die Beziehung darunter und nicht selten geht sie dann auch in die Brüche.“

Nun startete Charity den Motor und setzte langsam den Wagen in Bewegung. „Kann man so etwas auch heilen?“

„Natürlich. Es gibt auch Spezialisten dafür, die sich mit solchen Fällen beschäftigen. Harold hat einige Kontakte und wenn du willst, kann ich mich mal umhorchen, ob er einen Spezialisten kennt.“

„Danke Oma. Weißt du, ich war gestern ganz schön am Boden, weil Jesse immer so abweisend und gefühlskalt war und als er sogar auf meinen Kuss überhaupt nicht reagiert hat, war ich echt fertig. Aber dann hat er mir alles erklärt und da hat er mir auch gesagt, dass er rein gar nichts mehr empfindet, seit das mit seiner Mutter passiert ist. Er kann zwar Gefühle erkennen, versteht aber meistens den Grund für diese Gefühle nicht.“ Die alte Dame nickte bedächtig und ihr Blick ließ erahnen, dass sie sich so etwas schon in der Richtung gedacht hatte. Zumindest schien sie nicht sonderlich überrascht zu sein und nach einer Weile fragte sie mit überraschter Neugier „Und du hast ihn geküsst?“ Wieder wurde Charity rot, als sie an diese Szene dachte und murmelte „Ja… es ist halt so über mich gekommen. Ich glaub, Jesse hat es auch Leid getan, dass er mich mit seiner Reaktion so verletzt hat.“

„Aber wenn er nicht fähig ist, seine eigenen Gefühle zu verstehen, kann er deine auch nicht erwidern, oder sie zurückweisen. Du musst dir schon im Klaren sein, dass es für dich auch nicht einfach sein wird, wenn du trotzdem bei ihm bleiben willst. Er wird nicht in der Lage sein, dich zu verstehen und dementsprechend auf deine Gefühle zu reagieren. Also sei dir bitte auch ganz sicher, dass du das auch schaffst.“ Sie hat ja Recht, dachte Charity und seufzte leise. Selbst wenn Jesse vielleicht erkennt, dass er auch Gefühle für mich hat, wird er nicht in der Lage sein, sie wirklich zu erwidern und mich zu verstehen. Ich bin ein absoluter Gefühlsmensch und komme nur schwer damit klar, wenn sich jemand so kalt und desinteressiert gibt. Jesse ist nicht in der Lage, mir diese Art von emotionalen Beistand zu geben, den ich brauche. „Es ist wirklich eine wunderbare Eigenschaft von dir, dass du ihm helfen willst, aber du musst auch an deine eigenen Gefühle denken. Weder ihm noch dir wird es wirklich helfen, wenn du das wegen deines Mitgefühls erträgst. Du wirst dich nur unglücklich machen, wenn du dir nicht ganz sicher bist.“ Irgendwie hatte Charity das Gefühl, als würde es nicht einfacher, sondern immer komplizierter werden. Was sollte sie denn machen? Nicht nur für sie, sondern auch für Jesse war es schwierig, denn sie liebte ihn und er war nicht in der Lage, eine angemessene Reaktion auf ihre Gefühle zu geben. Und egal wie sie sich entscheiden würde, so würden sie beide mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Was sollte sie also tun und wie sollte sie sich denn entscheiden? Ihre Hand umschloss den Rosenkranz um ihren Hals und sie schickte ein stummes Gebet zum Himmel. Lieber Gott, bitte lass mich die richtige Entscheidung treffen. Was soll ich nur tun? Ich will so gerne bei Jesse bleiben, aber wenn er nie in der Lage sein wird, meine Gefühle zu verstehen und seine eigenen Emotionen auszudrücken, wird das niemals eine richtige Beziehung zwischen uns werden. Er kann weder meine Gefühle erwidern, noch sie zurückweisen, das ganze ist eine einzige Sackgasse. Nein, noch nicht einmal das, sondern wie eine endlose Warteschleife, die zu keinem Ergebnis führt. Wieso nur musste das Leben manchmal nur so schwer sein? Sie brauchte Zeit, um eine richtige Entscheidung treffen zu können und vielleicht sollte sie auch noch mal mit Jesse sprechen und in Erfahrung bringen, was er in ihrer Gegenwart empfand. Zwar war er nicht in der Lage, Gefühle klar zu erkennen und sie zu erklären, aber er war doch fähig, die Symptome zu erkennen. Wenn er sie richtig beschreiben konnte, war es ihr vielleicht möglich zu erkennen, was er für sie empfand. Jedenfalls hatte sie den Eindruck gehabt, als wollte er sie nicht unglücklich sehen und wer weiß, vielleicht empfand er ja tatsächlich etwas für sie. In diesem Falle durfte sie nicht so einfach aufgeben, nur weil es mit Jesses Einschränkung nicht einfach sein würde. Er selbst hatte selbst schon so viel Scheiße erlebt und war trotzdem noch am Leben. Da durfte sie auch nicht einfach so aufgeben, sondern musste ebenfalls kämpfen. Nur so hatte sie eine Zukunft mit Jesse. Und das Leben bestand nun mal aus schweren Kämpfen und weder sie noch Jesse konnten jedes Mal davor weglaufen, nur weil ihnen das auf den ersten Blick unmöglich zu schaffen schien. Wenn sie es gemeinsam angehen würden, dann würde sich mit Sicherheit eine Lösung finden. Daran glaubte sie ganz fest.
 

Nachdem Jesse die Küche aufgeräumt hatte, schnappte er sich seine Jacke und seine Tasche. Er hatte noch einige sehr wichtige Dinge zu erledigen und sein Entschluss, von hier fort zu gehen, stand endgültig fest. Zwar gefiel ihm das selbst nicht, aber er hatte leider keine andere Wahl. Allein durch seine Anwesenheit würden Grace und Charity noch in große Schwierigkeiten geraten und das konnte er ihnen nicht antun. Nicht nach alledem, was sie für ihn getan hatten. Doch der Gedanke daran, sie vielleicht für immer zu verlassen, löste schon wieder diese seltsamen Schmerzen bei ihm aus. Er fühlte diesen erdrückenden Schmerz in seiner Brust, der ihm das Atmen erschwerte und auch sein Magen sorgte für allerlei Beschwerden. Dabei wusste er ganz genau, dass er nicht krank war. Nein, es waren diese seltsamen Symptome, die er immer bekam, wenn er Gefühle hatte. Er wusste, dass diese körperlichen Schmerzen für Gefühle negativer Art standen und sich verschlimmerten, je schlechter es ihm psychisch ging. Aber wieso hatte er sie verspürt, als Charity ihm gesagt hatte, dass seine Träume ein Geschenk waren, um Menschen zu helfen? Normalerweise fühlte er sich schlecht, wenn er diese Symptome hatte, aber da hatte er sich ganz anders gefühlt. Als wäre ihm mit einem Male irgendwie leichter ums Herz. So etwas war ihm völlig fremd und dieses neue merkwürdige Gefühl kannte er überhaupt nicht. Was also waren das denn für Gefühle, die Schmerzen auslösten, aber einen dennoch besser fühlen ließen? Das alles konnte er sich einfach nicht erklären. Aber jetzt war auch nicht die Zeit, um über so etwas nachzudenken. Jesse schnappte sich sein Handy und seine Geldbörse, dann packte ein paar Klamotten in seine Tasche ein und verließ das Haus. Es war besser, wenn er abhaute, ohne sich zu verabschieden, oder eine Nachricht zu hinterlassen. Das würde alles nur noch komplizierter machen und egal was er schreiben würde, Charity würde sowieso nach ihm suchen. Abzuhauen ohne eine Nachricht zu hinterlassen, verschaffte ihm wenigstens genug Zeit, denn dann würde sie ja erst einmal warten, bis er von alleine wieder zurückkam. Zwar würde sie sich dann furchtbare Sorgen machen und sicherlich denken, ihm wäre etwas zugestoßen, aber es war die beste Möglichkeit, die ihm momentan einfiel. Er steckte in einer absoluten Zwickmühle und musste sich etwas einfallen lassen, wie er sie endgültig loswerden konnte, ohne dabei zu riskieren, dass sie in die ganze Sache hineingezogen wurde. Alleine würde er es auf keinen Fall schaffen, er brauchte unbedingt Unterstützung. Und er wusste auch schon, an wen er sich da wenden konnte.

Sein Weg führte in die Innenstadt zu einer kleinen Seitenstraße, wo es ein kleines etwas verstecktes Tattoostudio gab. Es sah von außen ein klein wenig heruntergekommen aus, aber davon ließ er sich auch nicht abschrecken. Er kannte diesen Ort, denn er war schon unzählige Male dort gewesen, um sich seine Piercings stechen zu lassen. Gleich schon als er die Tür öffnete, war das helle Läuten einer Glocke zu hören und kurz darauf kam eine rothaarige Frau mit Tattoos und Piercings im Gesicht herbei, um ihn zu begrüßen. Tabitha, die sich den Künstlernamen „Chibi“ zugelegt hatte, war eine professionelle Tätowiererin und kannte Jesse schon seit Jahren. Er hatte sie vor zehn Jahren in den Sommerferien kennen gelernt, als sie ebenfalls auf den Strich gegangen war. Sie war von zuhause weggelaufen, da sie ziemlich viele Probleme mit ihren Eltern hatte und Marco hatte sie ebenfalls aufgegriffen von dort weggeholt. Seitdem arbeitete sie bei ihm und obwohl sie mit den farbigen Kontaktlinsen und den vielen Tätowierungen und Piercings schon fast furchteinflößend aussah, besaß sie einen ähnlich gutmütigen und freundlichen Charakter wie Charity, war aber bei weitem frecher und selbstbewusster. „Hey Jess, suchst du Marco? Warte kurz, ich geh ihn eben holen.“ Damit verschwand sie im hinteren Teil des Studios und begann nach Marco zu rufen. Er kam aus einem der Zimmer und neben ihm wirkte Chibi fast wie eine dürre Zwergin, die er locker wie ein Streichholz brechen konnte. Tatsache war auch, dass Chibi nicht einmal 1,65m groß war und neben dem fast zwei Meter großen Marco noch winziger aussah, als sie eigentlich bereits war. Schon damals, als Jesse ihn im Gefängnis kennen gelernt hatte, war er eine furchteinflößende Erscheinung gewesen und wirklich jeder hatte Respekt vor diesem muskulösen Riesen mit der Gangstervisage und der etwas schwerfälligen Gangart. Tatsächlich war Marco in seiner kriminellen Vergangenheit einer von der richtig schlimmen Sorte gewesen und hatte nicht einmal davor zurückgeschreckt, Eltern zu drohen, ihren Kindern etwas anzutun. Fingerbrechen, Messerstechereien, Prügeleien und Freiheitsberaubung… wirklich alles hatte Marco schon erlebt, oder selbst durchgezogen. Nur Mord hatte er nie begangen und das hatte ihn vor der lebenslangen Haftstrafe bewahrt. Nur ein Mal hatte er einen anderen Menschen getötet, nämlich ein Mitglied einer verfeindeten Gang, aber der Fall ging als Notwehr durch, da dieser Marco zuerst angegriffen hatte. Als Schutzgelderpresser und Schläger hatte Marco vor nichts und niemandem Respekt gehabt und immerzu auf andere herabgesehen und sie eingeschüchtert. Er war in ähnlich schwierigen Verhältnissen aufgewachsen wie Jesse, allerdings in einer sehr gefährlichen Gegend eines Ghettos, wo man bei Anbruch der Dunkelheit Angst um sein Leben haben musste. Marco war schon früh auf sich allein gestellt gewesen und musste sich immer alleine durchkämpfen, niemand hatte ihm je geholfen und deshalb war er lange Zeit genauso ein Einzelgänger wie Jesse. Doch dieses Treffen im Gefängnis mit ihm hatte sein Leben verändert. Ein gerade mal 13-jähriger Junge, den Marco noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte, warnte ihn vor einen Mordanschlag und hatte ihm damit das Leben gerettet. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte jemand ihm geholfen, der dafür nichts als Gegenleistung verlangt hatte. Von da an begann er sein Image zu ändern und damit sein kriminelles Dasein hinter sich zu lassen. Er eröffnete sein Tattoostudio und versuchte sich auch sozial zu engagieren, indem er auch als Streetworker tätig war und Ausreißern wie Jesse und Chibi half. Und außerdem hatte er während seiner Zeit im Gefängnis wohl auch den Glauben zu Gott gefunden. Für Jesse irgendwie unverständlich, da er mit Religion überhaupt nichts anfangen konnte, aber wenn es Marco half, ein ehrliches Leben zu führen, war es ihm auch Recht. Und wäre er nicht gewesen, dann wären Jesse und Chibi immer noch auf dem Strich und wahrscheinlich sogar in die Drogenszene abgerutscht. Zu Marco hatte Jesse nie eine besonders freundschaftliche Beziehung gehabt, da er jegliche Art von zwischenmenschlicher Beziehung strikt ablehnte. Aber er sah in ihn einen guten Ratgeber und Helfer, auf den er sich im Notfall immer verlassen konnte. So zum Beispiel, als er mit seiner Hilfe diese Menschenhändler aus dem Verkehr ziehen konnte, die beinahe Charity entführt hätten. Zwar hatte es Marco nie offen gesagt, aber manchmal hatte Jesse den Eindruck, als sähe dieser in ihn so etwas wie einen Boten Gottes. Und das war für ihn noch unverständlicher. Mit einem gut gelaunten Grinsen im Gesicht grüßte der ehemalige Rocker ihn und hob kurz zur Begrüßung seine Hand. „Hey Jesse, was verschlägt dich denn hierher? Willst du dir jetzt etwa die Zunge piercen lassen?“

„Nein, ich hab schon genug davon. Ich will ein Tattoo, hättest du Zeit?“ Überrascht hob der Hüne die Augenbrauen, als er das hörte. Eigentlich kannte er Jesse als jemanden, der nicht so wirklich auf Tattoos stand. Die Piercings konnte man ja alle zur Not rausnehmen, aber bei Tattoos war das eine ganz andere Sache. Aber das war ja seine Entscheidung und wenn er das nun so wollte, würde Marco ihn auch nicht aufhalten. „Klar, kein Problem. Dann komm mal mit.“ Jesse folgte dem Hünen in eines der Zimmer und setzte sich schon mal hin. „Dann schieß mal los, was hättest du denn gerne und wo willst du es haben?“ Wortlos holte Jesse eine Zeichnung aus seiner Tasche und zeigte sie dem Ex-Rocker. Er hatte es sehr detailliert gezeichnet und Marco war erstaunt, als er das Motiv sah, denn das war sogar noch untypischer für jemanden wie Jesse. War es nur seine Einbildung, oder hatte sich der Junge seit ihrer letzten gemeinsamen Rettungsaktion irgendwie verändert? „Und dann auch noch am Fußrücken? Bist du dir auch ganz sicher? Ich sag dir jetzt schon, das wird echt wehtun. Du könntest es auch am Rücken haben, da wird es nicht so schmerzen.“ „Das geht schon klar. Wie viel wird’s kosten?“ Marco begann alles vorzubereiten und zog sich die Handschuhe an. „Nichts. Betrachte es als Geschenk nachträglich zu deinem Geburtstag.“ Jesse machte seinen Fuß frei und beobachtete, wie Marco nun damit begann, die Stelle zu desinfizieren und grob vorzuzeichnen, damit es auch perfekt wurde. Solche Motive hatte er hin und wieder schon mal gestochen und es war auch nicht so schwierig, dass er länger als maximal eineinhalb Stunden brauchen würde. Für Jesse hingegen war dies sein allererstes Tattoo und sollte auch gleichzeitig sein einziges bleiben. Er hatte nämlich keine Lust, seinen ganzen Körper zu einem Gesamtgemälde zu machen wie Marco oder Chibi. So etwas war überhaupt nicht sein Geschmack. Ein klein wenig nervös war er schon, allerdings nahm er es nicht direkt als Nervosität, sondern lediglich als innere Unruhe wahr. Seine Augen ruhten auf das, was Marco machte, während der Tätowierer selbst Jesse kein einziges Mal dabei ansah. Er musste sich ja auf seine Arbeit konzentrieren. Immer, wenn Jesse vorbei kam, um sich piercen zu lassen, unterhielten sie sich dabei ein wenig, wodurch die Prozedur meistens mehr wie eine Art bizarres Kaffeekränzchen war. „Und?“ fragte Marco schließlich. „Wie schaut’s bei dir so aus? Hab gehört, dass du dich letztens wieder irgendwo auf der Straße herumgetrieben hast. Ehrlich gesagt war ich schon besorgt, du würdest wieder auf den Strich gehen.“

„Nein, die Phase hab ich hinter mir gelassen und ich habe dir ja versprochen, so eine Scheiße nicht mehr zu machen. Der Vorfall mit meinem Klassenlehrer hat mir gereicht. Erinnerst du dich noch an das Mädchen, das wir vor den Menschenhändlern gerettet haben?“

„Die Blonde mit dem Rosenkranz?“ Jesse nickte. „Sie hat mich betrunken an der Unterführung aufgegabelt und bei sich zuhause aufgenommen.“

„Obwohl du ihr die Tasche geklaut hast und sie dich gar nicht kennt?“

„Sie ist ein wenig treudoof, ist aber ganz in Ordnung. Das mit Walter ist jetzt auch vorbei. Als er beim Pferderennen verloren hat, wollte er mich mit Handschellen ans Heizungsrohr fesseln. Er ist komplett durchgedreht, aber ich konnte noch rechtzeitig abhauen, bevor er mich einsperren konnte.“ Marco war deutlich anzusehen, dass er nicht wirklich eine positive Meinung über Walter hatte und schüttelte mit einem leicht verfinsterten Blick den Kopf. Zwar hatte er ihm einiges zugetraut, aber diese Aktion schockierte ihn. „Ich hab sowieso nicht verstanden, wieso du bei ihm geblieben bist, Jesse. Walter ist eine miese kleine Ratte und weiter nichts. Und diesem Andy traue ich auch nicht über den Weg. Der ist so aalglatt, dass es schon fast nicht mehr normal ist. Aber die Kleine wirkte recht süß. Ein wenig unschuldig und naiv vielleicht. Was genau ist da zwischen euch?“ Genau auf diese Frage wusste Jesse auch keine Antwort. Zwar wusste er, dass Charity in ihn verliebt war, aber er konnte einfach nicht sagen, was er dabei fühlte. Und das war problematisch. „Sie scheint auf mich zu stehen und sie weiß auch über alles Bescheid. Das mit meiner Vergangenheit und meiner Fähigkeit.“

„Hast du es ihr etwa gesagt, oder ist sie selbst dahinter gekommen?“

„Ich hab es ihr selbst gesagt. Und sie war gar nicht entsetzt oder hat versucht, mich großartig auszufragen.“ Nun holte Marco die Nadel und setzte sie vorsichtig an. Jesse lehnte sich zurück und biss sich auf die Unterlippe, als er spürte, wie die Nadel unter seine Haut drang. Wie Marco ihn bereits gewarnt hatte, tat es wirklich weh und so schnell würde es auch nicht vorbei sein, wie beim Piercingstechen. Denn ein Tattoo brauchte Zeit und in der musste er wohl oder übel die Schmerzen aushalten. Er hatte es ja selbst so gewollt, also musste er da jetzt durch. Marco fuhr währenddessen mit der Konversation fort. „Mir ist übrigens aufgefallen, dass du irgendwie anders bist als sonst.“

„Kann sein, ich hab krank im Bett gelegen.“

„Nein, das meine ich nicht. Du wirkst irgendwie viel lebendiger als sonst und hast dich zum Positiven verändert. Zwar nur ein wenig, aber mir ist es sofort bei dir aufgefallen. Wie kommt es überhaupt, dass du bei ihr wohnst? Normalerweise nimmst du niemals Hilfe an, außer in solchen Fällen, wenn du irgendwelches Unglück verhindern musst. Hattest du einen plötzlichen Sinneswandel?“ Jesse versuchte sich zu entspannen, um die brennenden Stiche an seinem Fußgelenk besser ertragen zu können, aber das erwies sich als gar nicht mal so einfach. Er drückte seinen Handrücken gegen die Stirn und schloss die Augen. „Ich weiß es selbst nicht. Momentan verstehe ich meine eigenen Symptome nicht mehr. Aber der Grund, wieso ich eigentlich zu dir gekommen bin ist der, weil ich dich um etwas bitten möchte.“ Marco unterbrach kurz seine Arbeit und hob den Blick, um Jesse ansehen zu können. Er ahnte, dass sein alter Bekannter wieder eine Vorahnung oder einen seiner Träume gehabt hatte und dass wieder ein Unheil in Anmarsch war. „Natürlich, wie kann ich dir denn helfen?“ „Könntest du ein Auge auf Charity werfen, wenn ich weg bin? So wie ich sie kenne, wird sie nach mir suchen und wieder nur in irgendwelche Schwierigkeiten geraten, so gutgläubig und naiv wie sie ist.“ Nun wurde Marco ernst und er nickte langsam. „Hab mir schon gedacht, dass du es schon längst weißt. Hast es sicher schon in einem deiner Träume gesehen, nicht wahr?“

„Ja. Dann weißt du es also auch schon bereits?“

„Na klar doch. Auch wenn ich nicht mehr zur Szene gehöre, hab ich immer noch einige Kontakte und erfahre von meinen Kunden so allerhand. Deshalb weiß ich auch darüber Bescheid. Du willst sicher untertauchen, solange es brenzlig ist, nicht wahr? Du weißt aber schon, dass ich dich solange bei mir verstecken könnte.“

„Nein, du sollst dich bitte um Charity kümmern. Ich komm schon allein zurecht. Tust du das für mich?“ Marco gab ihm sein Wort und fuhr mit seiner Arbeit fort. Es dauerte knapp eine Stunde, bis das Tattoo fertig war und Marco endlich die Nadel beiseite legte. Schweigend betrachtete Jesse das Ergebnis ohne eine erkennbare Gefühlsregung, oder überhaupt etwas dazu zu sagen. Seine Haut war ungesund gerötet und es brannte immer noch ein wenig. Schließlich aber nickte er und murmelte „Es ist gut geworden.“ „Freut mich, wenn es dir gefällt. Aber sag mal Jesse, wo willst du denn überhaupt hingehen und wo wirst du unterkommen?“ Nur ein Schulterzucken kam zur Antwort, dann zog Jesse wieder seinen Schuh an und stand auf. Noch immer brannte sein Fuß und es würde wohl noch eine Weile dauern, bis auch diese hässliche Rötung verschwunden war. Aber wenigstens hatte er jetzt, was er wollte und allein darauf kam es an. „Das weiß ich noch nicht. Jedenfalls ist es besser, wenn ich eine Weile von der Bildfläche verschwinde, bis sich die Lage wieder beruhigt hat. Mach dir keine Sorgen, ich komme schon klar. Sorg du nur dafür, dass Charity und ihrer Großmutter nichts passiert. Dann hab ich weniger Probleme am Hals.“

„Du kannst dich auf mich verlassen. Aber pass trotzdem gut auf dich auf.“ Marco bemerkte, dass Jesse ziemlich bedrückt war und ihm diese ganze Sache wirklich zu schaffen machte. Und er machte sich auch große Sorgen um ihn, denn er wusste, dass Jesse nicht wirklich viel auf sein eigenes Leben gab nach alledem, was er durchmachen musste. Immerhin hatte ihn sein Alkoholproblem schon oft genug ins Krankenhaus gebracht. Was, wenn er wieder so leichtfertig sein Leben aufs Spiel setzte und es dieses Mal nicht überleben würde? Aber wenn Jesse der Ansicht war, es war die beste Entscheidung, wenn er schnellstmöglich verschwand, dann musste er ihm vertrauen. Der Junge wusste schon, was er tat. „Hast du geträumt, dass das Mädchen sterben wird, wenn du bei ihr bleibst?“ „Nein, in meinem Traum habe ich dieses Mal Sariel gesehen. Und das, was sie mir gezeigt hat, war schon schlimm genug und ich kann nicht riskieren, dass Charity so etwas passiert.“

„Okay, ich hab verstanden.“ Marco wusste von Jesses Träumen und den Personen, die dort regelmäßig in Erscheinung traten. Deshalb wusste er auch, dass Sariels Erscheinen in seinen Träumen immer schlimme Dinge bedeuteten, die in der Zukunft passierten. Und wenn diesem Mädchen tatsächlich etwas zustoßen sollte, wenn Jesse in ihrer Nähe blieb, dann konnte Marco ihn schlecht aufhalten. Aber trotzdem war ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass der Junge wieder einfach so abhaute und damit erneut auf der Straße landete. Zwar hatte dieser ihm versprochen, nie wieder auf den Strich zu gehen, aber Marcos größte Sorge galt Jesses Alkoholproblem. Was, wenn er sich wieder so betrank und dann im schlimmsten Falle unter die Räder kam? Er konnte nur das Beste hoffen und seiner Bitte Folge leisten. Chibi konnte ja solange den Laden übernehmen, wenn er sich um den Schutz dieses Mädchens und seiner Großmutter kümmerte. Das sollte ja kein Problem sein.
 

Nachdem sich Jesse kurz und knapp auch von Chibi verabschiedet hatte und die Tür hinter ihm zugefallen war, ging er zu einer Bank hin, setzte sich und holte aus seiner Tasche eine kleine Schnapsflasche. Eigentlich war es noch viel zu früh zum Trinken, aber das war ihm jetzt auch egal. Er brauchte jetzt dringend einen starken Drink, um das alles erst einmal zu verarbeiten. Die Sorge, dass immer noch etwas schief laufen könnte, war immer noch präsent, aber es war schon ein tröstlicher Gedanke zu wissen, dass Marco sich um alles Weitere während seiner Abwesenheit kümmern würde. Auf ihn war zum Glück immer Verlass. Trotzdem schlug ihm die ganze Sache auf den Magen und er fühlte sich furchtbar. Aber warum bloß ging es ihm so schlecht? Etwa, weil er schon wieder davonlief und auf der Straße leben würde? Oder war es wegen ihr? So ganz sicher war er sich auch nicht. Er kam sich so verloren vor und wenn er nicht diese Blockade hätte, dann hätte er sicher geweint. In diesem Moment wünschte er es sich sogar und das war ihm bislang noch nie vorgekommen. Wie gerne wäre er bei den Witherfields geblieben. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl gehabt, wirklich irgendwo zuhause zu sein und dass man ihn so akzeptierte, wie er war. Und nun musste er das alles wieder aufgeben. Der Gedanke daran, vielleicht nie wieder dorthin zurückkehren zu können, war kaum zu ertragen und am liebsten hätte er sich komplett betrunken, damit er sich nicht mehr so miserabel fühlen musste. Aber dieses Mal würde er es nicht tun. Was brachte es ihm denn, sich wieder bis zur Bewusstlosigkeit zu betrinken? Davon würden seine Probleme auch nicht gelöst werden und er musste bei klarem Verstand bleiben. Also warf er die angebrochene Schnapsflasche in den Abfalleimer um sich selbst davor zu bewahren, wieder die Kontrolle zu verlieren und die ganze Flasche leer zu trinken. Wenigstens hatte der Alkohol seine Wirkung getan und nun war auch nicht mehr das Gefühl so präsent, als würde eine tonnenschwere Last auf seinen Schultern liegen. Ein lautes Donnern riss ihn aus seinen Gedanken und ein Blick zum Himmel verriet ihm, dass es wohl bald anfangen würde zu regnen. Auch das noch. Eigentlich mochte er ja Gewitter, aber in dieser Situation konnte er das unmöglich gebrauchen. Zu seinem Unglück hatte er ja nicht einmal einen Regenschirm dabei und er hatte überhaupt keine Lust, schon wieder krank zu werden. Der Wind nahm zu und es wurde deutlich kühler, wodurch Jesse ein wenig zu frösteln begann. Besser war es, wenn er sich für gleich irgendwo einen Unterschlupf suchte, bevor es zu regnen begann. Damit erhob er sich, schulterte seine Tasche und eilte die Straße runter, wobei er wieder von einem sonderbaren Gefühl ergriffen wurde. Es war keines seiner körperlichen Symptome, sondern eine Vorahnung… sein siebter Sinn. Er wurde unruhig und eine unheimliche Gewissheit wuchs in ihm. Wahrscheinlich würde diese Konfrontation wohl schneller stattfinden, als ihm lieb war. Besser war es, sich schnell irgendwo zu verstecken, bevor er noch gefunden wurde.

Wiedersehen mit Marco

Charity verstand die Welt nicht mehr und fühlte sich völlig hilflos. Als sie mit ihrer Großmutter vom Arzt zurückkam und bemerkte, dass Jesse gar nicht da war, hatte sie noch zuerst gedacht gehabt, dass er bloß einkaufen gegangen war. Aber nun war es schon Abend und er war immer noch nicht zurück und er ging auch partout nicht an sein Handy ran. Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf und sie versuchte zu verstehen, warum Jesse nicht mehr zurückkam. War ihm etwas zugestoßen? Lag er vielleicht irgendwo betrunken herum, oder war ihm sogar etwas passiert? Konnte es etwa sein, dass es vielleicht ihre Schuld war, dass er wieder abgehauen war? Womöglich glaubte er ja immer noch, dass sein siebter Sinn der Verursacher dieser Unglücke und Katastrophen war, die er vorhersah und war deshalb abgehauen, weil er sie nicht in Gefahr bringen wollte. Ihre Großmutter hatte Mühe, sie zu beruhigen und erklärte ihr, dass Jesse längst erwachsen sei und deshalb auch seine eigenen Entscheidungen treffen konnte. Und im Übrigen wäre Charity nicht seine Aufpasserin! Das war ihr leider auch keine große Hilfe und als er selbst nach sieben Uhr immer noch nicht zurückgekehrt war und nicht mal auf ihre SMS antwortete, schnappte sie sich ihre Jacke und beschloss, ihn zu suchen. Grace versuchte ihr das sofort wieder auszureden. „Cherry, abends ist es viel zu gefährlich für dich. Weißt du denn nicht, was sich für Individuen auf der Straße herumtreiben? Es wird auch nichts bringen, wenn du dich in Gefahr begibst. Lass es lieber sein und warte lieber. Vielleicht kommt er ja bald wieder zurück und brauchte nur seine Ruhe.“ Aber die Angst um Jesse war einfach zu groß und so zog Charity ihre Laufschuhe an und machte sich auf den Weg. Sie dachte in diesem Moment nicht daran, dass ihre Großmutter Recht hatte und es wirklich gefährlich war, bei Anbruch der Dunkelheit die ganze Stadt zu durchsuchen. Denn in den ganzen Obdachlosenverschlägen gab es auch Betrunkene und Kriminelle, mit denen nicht zu spaßen war. Nicht zu vergessen, dass es noch genügend andere zwielichtige Gestalten gab wie Vergewaltiger und Drogendealer. Aber Charity konnte nur noch an Jesse denken und die Angst um ihn war größer als ihre Vernunft. Also schwang sie sich auf ihr Fahrrad und bat ihre Großmutter, sofort anzurufen, wenn Jesse sich melden sollte oder falls er wieder zurück war. Zuerst steuerte sie die Unterführung an, wo sie Jesse zuvor gefunden hatte und wo er vielleicht wieder war, wenn er sich betrunken hatte. Immerhin war er dort ungestört und somit wäre dieser Ort ideal für ihn. Es donnerte in der Ferne und das war kein gutes Zeichen. Oh bitte nicht auch noch ein Gewitter, dachte sie und trat nun kräftiger in die Pedalen, um schneller zu werden. Schließlich erreichte sie die Unterführung und begann nach Jesse zu rufen. Es kam keine Antwort, also fuhr sie weiter und im schwachen Licht der Neonröhren versuchte sie etwas zu erkennen. „Jesse, bist du da?“ Keine Reaktion, nur ihr eigenes Echo war zu hören. Da sie befürchtete, dass er vielleicht gar nicht mehr in der Lage war zu antworten, suchte sie die ganze Unterführung ab. Aber nirgendwo fand sie eine Spur, dass Jesse hier gewesen sein könnte. Nicht einmal leere Schnapsflaschen lagen herum. Also begann sie in der Stadt nachzusuchen, fragte an der Tankstelle nach und als sie schon in Richtung Park fahren wollte, um dort die Obdachlosenverschläge abzuklappern, begann es zu regnen. Zuerst war es nur ganz schwach, aber dann wurde es zu einem einzigen Platzregen und binnen kürzester Zeit war Charity nass bis auf die Knochen. Das Wasser tropfte ihr von den Haarspitzen, die Kleidung klebte wie eine zweite Haut an ihrem Körper und je länger sie nachsuchte, desto hilfloser fühlte sie sich und die Angst in ihr war unbeschreiblich. Jesse musste etwas passiert sein. Sie spürte tief in ihrem Inneren, dass noch etwas Schlimmes passieren würde, wenn sie ihn nicht schnellstens fand. Was, wenn er auch nie wieder zurückkehren würde, so wie ihre Eltern? Nein, das durfte sie nicht zulassen. So einfach wollte sie ihn nicht gehen lassen und wenn sie jeden Stein in der Stadt einzeln umdrehen musste. Sie schrie sich fast heiser und Tränen vermischten sich mit dem Regen. Nachdem sie fast zwei Stunden gesucht hatte, blieb sie stehen und wählte noch einmal Jesses Nummer. Doch anstatt, dass er ranging, meldete sich wie immer nur die Mailbox. Und auch als sie zuhause anrief, hatte ihre Großmutter keine guten Nachrichten für sie. Er war immer noch nicht zurück und so langsam beschlich Charity das Gefühl, dass sie Jesse vielleicht nie wieder sehen würde und davor hatte sie entsetzliche Angst. Sie wollte ihn nicht verlieren, sie wollte, dass er bei ihr blieb und seine Lebensfreude wieder fand. Warum nur musste das passieren und wieso kam er denn nicht wieder zurück? Da der Regen zu stark war und sie bei der Fahrt kaum etwas sehen konnte, stieg sie schließlich ab und ging zu Fuß weiter. Sie erreichte schließlich den Bahnhof und beschloss, dort als nächstes nachzusuchen. Von Jenna hatte sie bei ihrem Gespräch erfahren, dass Jesse dort schon mal betrunken gelegen hatte und vielleicht hatte sie ja Glück und fand ihn dort. Die Polizei konnte sie ja auch nicht verständigen, die würde erst nach 48 Stunden aktiv werden, wenn überhaupt! Da Jesse erwachsen war und er schon des Öfteren in der Vergangenheit abgehauen war, würden sie sich nicht die allzu große Mühe machen. Außerdem war sie weder eine nahe Verwandte, noch seine Freundin. Streng genommen war er nur ein Mitbewohner und das würde auch nicht sonderlich helfen. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als selbst nach ihm zu suchen. Sie stellte ihr Fahrrad schließlich ab, wischte sich die tropfnassen Haarsträhnen aus dem Gesicht und begann nun vor dem Bahnhof nachzusuchen. Einige Leute starrten sie mit einem leicht herablassenden Blick an, aber das war ihr in dem Moment völlig egal. Sie sah sich überall um und rief weiterhin nach Jesse, aber sie sah ihn nirgendwo. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als herumzufragen in der Hoffnung, dass irgendjemand den Verschwundenen gesehen haben und ihr Informationen geben konnte. Doch die vorbeigehenden Passanten konnten ihr leider nicht weiterhelfen und hatten es größtenteils selbst eilig. Aber dann sah sie eine Gruppe Bier trinkender junger Männer etwas abseits stehen und eilte zu ihnen hin. Dass es vielleicht nicht gerade eine gute Idee sein könnte, kam ihr in dem Moment nicht in den Sinn. Sie dachte einfach nicht darüber nach und gleich schon als die Gruppe sie mit einem interessierten Blick beäugte, hätten eigentlich ihre Alarmglocken klingeln müssen. „Entschuldigung!“ rief Charity und eilte zu ihnen. „Hat einer von euch einen jungen Mann mit rotbraunem Haar und Piercings im Gesicht gesehen? Er ist knapp 1,80m groß und 23 Jahre alt. Sein Name ist Jesse Wyatt.“ Blicke wurden in der Runde ausgetauscht und ein kräftiger, braun gebrannter Junge mit einem hässlichen Nasenpiercing, der offenbar der Anführer war, kam direkt auf sie zu. Er trug genauso wie die anderen eine zerschlissene Lederjacke und hatte rotschwarz gefärbte Haare. Dieser baute sich vor ihr auf, verschränkte die Arme und musterte sie erst einmal, wobei sein Blick an ihrem durchnässten Shirt haften blieb. „Bist du eine Freundin von Jesse?“ „Ja, ich mach mir Sorgen um ihn. Wisst ihr vielleicht, wo er ist? Ich hab schon die ganze Stadt nach ihm abgesucht.“

„Na klar weiß ich, wo Jesse ist. Wenn du willst, kann ich dich zu ihm bringen. Er ist gleich da hinten.“ Erleichtert atmete Charity durch und ihr fiel ein Stein vom Herzen als sie hörte, dass Jesse doch nicht verschwunden war. Offenbar hatte Jesse ein paar Bekannte getroffen und war wahrscheinlich wieder betrunken, weshalb er nicht auf ihre Anrufe reagiert hatte. Oder vielleicht hatte er ja sein Handy auch nur verloren. „Danke, vielen Dank! Ich heiße übrigens Charity.“

„Yo Charity, ich bin Donny. Sollen wir dich eben zu Jesse bringen?“ Ohne groß zu überlegen, antwortete sie sofort mit „ja“ und folgte Donny, während die anderen drei sie begleiteten. Zuerst ging Charity davon aus, dass sich Jesse vielleicht irgendwo in den Wartehäuschen an den Gleisen aufhielt oder vielleicht irgendwo, wo es trocken war, aber als sie bemerkte, dass Donny sie stattdessen vom Bahnhof wegführte und sie eine abgelegene Ecke ansteuerten, begann ihr langsam zu dämmern, dass es vielleicht doch keine so kluge Idee gewesen war, ihnen einfach so zu folgen. Langsam wurde sie ein wenig nervös und als sie sich kurz zur Seite umsah, bemerkte sie auch, dass die drei anderen immer mehr zurückgefallen waren und nun hinter ihr liefen. Etwas verunsichert wandte sie sich schließlich an Donny. „Ist Jesse ein Freund von euch?“ Das breite Grinsen des Typen gefiel ihr überhaupt nicht und noch weniger seine Antwort. „Na klar doch. Wir sind echt dicke Kumpels. Er hat auch schon so einiges über dich erzählt.“ Charity blieb stehen, als sie das hörte. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Dieser Donny log doch! Sie wusste genau, dass Jesse den Kontakt zu anderen Menschen mied, aus Angst davor, dass er sie mit seinen Fähigkeiten in Gefahr bringen könnte. „Du lügst“, sagte sie und wollte gerade einen Schritt zurückgehen, doch da merkte sie, dass sie eingekreist wurde. „Jesse hat keine Freunde.“ „Tja“, sagte Donny und drehte sich nun zu ihr um. Und sein Blick jagte ihr Angst ein. „Und ich kenne diesen Jesse nicht mal. Aber dafür werden wir noch eine Menge Spaß miteinander haben.“ Nun bekam sie wirklich Angst, als sie das hörte. Erst jetzt erkannte sie, in was für eine gefährliche Lage sie sich da gerade reinmanöviert hatte und was diese Kerle eigentlich mit ihr vorhatten. Sie drehte sich um und versuchte wegzulaufen, doch da wurde sie gepackt und an den Armen festgehalten. „Nein, lasst mich! Hört auf!“ schrie sie und versuchte sich loszureißen, aber sie wurde mit unglaublicher Kraft festgehalten. Donny bekam ihr Shirt zu fassen und versuchte es hochzuziehen, doch da rammte die Studentin ihm ihr Knie in seine Magengrube und stieß ihn mit einem Fußtritt von sich. Sogleich kamen aber die beiden anderen, um sie so festzuhalten, dass sie sich nicht mehr wehren konnte. Charity geriet in Panik und schrie um Hilfe. Wenn nicht gleich irgendein Wunder geschah, würden diese widerlichen Kerle sie noch… Oh Gott, bitte nicht. Bitte alles, nur das nicht. Jesse, dachte sie und vor Verzweiflung kamen ihr die Tränen. Bitte komm schnell und hilf mir. Bitte Jesse! Sie hörte das sadistische Gelächter von Donny und seiner Gang, während diese sie mit rabiater Gewalt festhielten. Mit aller Kraft, zu der sie nur fähig war, wehrte sie sich gegen Donnys Versuche, ihr den Gürtel zu öffnen und fragte sich, ob denn nun alles zu spät war und sie nichts und niemand davor bewahren konnte, von diesen Widerlingen vergewaltigt zu werden. Jesse, dachte sie in ihrer Verzweiflung. Warum kommst du denn nicht? Bitte, ich brauche dich… Ein lautes Bellen ertönte plötzlich und eine laute Stimme war zu hören. Sofort wurde Charity losgelassen und fiel zu Boden. Sie sah, wie ein ausgewachsener Pitbull Terrier Donny zu Boden riss und ihn mit gefletschten Zähnen anknurrte. Dieser bekam es bei dieser Bedrohung mit der Angst zu tun und versuchte, mit seinen Armen sein Gesicht zu schützen. Als die anderen drei Donny zu Hilfe eilen wollten, ließ der Terrier ein lautes Bellen ertönen und stürmte auf sie zu, woraufhin diese sicherheitshalber auf Abstand gingen. Sofort sprang der Pitbull auf sie zu und riss einem der Flüchtigen fast die Hosen runter. Die drei liefen feige davon und ließen ihren Anführer zurück. Im selben Moment tauchte aus der Dunkelheit ein großer Schatten auf und eine Hand, die die gefühlte Größe einer Baggerschaufel hatte, packte Donny und riss ihn mit Leichtigkeit von den Füßen. Charity brauchte einen Moment um zu erkennen, dass es der Rocker war, mit dem sie vor einigen Tagen versehentlich zusammengestoßen war, bevor Jesse ihr die Handtasche geklaut hatte. Das war Marco Stevens, Jesses alter Bekannter. Mit einem finsteren Blick hielt er Donny am Kragen gepackt und man hätte in diesem Moment glauben können, dass er dem Jungen gleich den Schädel einschlagen würde. „Wag das noch ein Mal Junge und ich schwöre bei Gott, dass ich dir höchstpersönlich den Arsch aufreißen werde. Lass die Finger von dem Mädchen und geh mir aus den Augen. Lass dich hier nie wieder blicken, hörst du? Wag es auch nur und dann mach ich dir persönlich die Hölle heiß, du kleiner Drecksack!“ Damit schleuderte er ihn weg, woraufhin Donny gegen einen Müllcontainer prallte. Durch das Bellen des Hundes zusätzlich eingeschüchtert, kam er schnell wieder auf die Beine und lief davon. Der Pitbull Terrier jagte ihm noch ein Stück hinterher, bis der Riese ihn wieder zurückpfiff. Charity, die immer noch vor Angst am ganzen Körper zitterte, konnte nicht fassen, was da gerade passiert war. Ausgerechnet Marco war im allerletzten Moment gekommen, um sie zu retten, bevor die ganze Situation eskaliert wäre. Mit Tränen in den Augen sah sie ihren Retter an und fragte mit heiserer Stimme „Marco Stevens?“

„Ja, ich bin ein alter Bekannter von Jesse.“ Er reichte ihr die Hand und half ihr wieder auf die Beine. Da ihre Beine aber wie Gummi waren und sie dementsprechend kaum stehen oder laufen konnte, stützte er sie. Der Hund kam schließlich zu ihr getrottet und wollte sie schon anspringen, da wich sie erschrocken zurück. Sie wusste, dass amerikanische Pitbull Terrier extrem gefährliche Kampfhunde waren und mit ihnen nicht zu spaßen war. Marco bemerkte ihre Angst und rief sofort „Shy, lass das! Aus!“ Und dann wandte er sich wieder der völlig verängstigten Charity zu. „Keine Angst, Shy tut dir schon nichts. Aber hör mal: was hast du dir eigentlich dabei gedacht, so spät noch in so einer Gegend unterwegs zu sein und dann auch noch solche Kerle anzusprechen? Hast du keine Augen im Kopf?“ Sie sagte nichts, sondern senkte nur beschämt den Kopf. Er hatte ja Recht. Eigentlich hätte sie doch selbst sehen müssen, dass diese Kerle keine guten Absichten hatten. Aber sie war so in Sorge um Jesse gewesen, dass sie einfach viel zu naiv und gutgläubig gewesen war, um das zu erkennen. Wenn Marco sie nicht gerettet hätte… kaum auszudenken, was dann passiert wäre. Sie brach in Tränen aus und vergrub schluchzend ihr Gesicht in den Händen. Tröstend legte der Ex-Rocker ihr eine Hand auf die Schulter. „Ist ja zum Glück nichts passiert. Na komm, besser wir gehen, bevor noch was passiert.“ Charity nickte und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Sie begleitete Marco in die nahe gelegene Innenstadt zu seinem Tattoostudio, wo noch Licht brannte. Charity stellte ihr Fahrrad ab und betrat gemeinsam mit ihm das Studio. Sogleich wurden sie von einer rothaarigen, gepiercten und tätowierten Frau von ca. 28 Jahren begrüßt, die sich der Studentin als Chibi vorstellte. Sie war ein wenig zu kurz geraten und sah auf dem ersten Augenblick unheimlich aus, aber sie hatte eine sympathische Ausstrahlung. Als sie aber die durchnässte und verweinte Charity sah, war sie erschrocken und fürchtete zunächst das Schlimmste. „Marco, was ist passiert? Soll ich die Polizei rufen?“

„Nein, nicht nötig. Sei doch so nett und bring ihr ein Handtuch und setz einen Kaffee auf.“

„Klar doch.“ Damit verschwand die Rothaarige und Charity setzte sich erst einmal auf einen der Stühle. Marco setzte sich zu ihr und begann dem Pitbull Terrier den Kopf zu kraulen. „Geht’s wieder?“ fragte er besorgt und wirkte mit einem Male nicht mehr wie ein bedrohlicher Hüne, sondern ganz sanft und freundlich, als wäre er plötzlich ein ganz anderer Mensch. Die 22-jährige nickte und versuchte, sich wieder zu beruhigen und sich von dem Schrecken zu erholen. Wenig später kam Chibi mit einem Handtuch und zwei Tassen Kaffee zurück. Schweigend begann sich Charity die Haare zu trocknen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war ihr furchtbar peinlich was geschehen war und dass es noch viel schlimmer hätte werden können, nur weil sie mal wieder zu blauäugig gewesen war und die Gefahr nicht erkannt hatte. Dabei hatte sie doch nur versucht, Jesse zu finden, doch stattdessen war sie selbst in eine gefährliche Situation geraten. Was war sie doch für eine Idiotin. „Danke für vorhin…“, murmelte sie niedergeschlagen und senkte den Blick. Marco gab etwas Milch und Zucker in seinen Kaffee und trank einen Schluck. „Was hast du dir überhaupt bei dieser Aktion gedacht, hm? Weißt du denn nicht, wie gefährlich das für junge Mädchen und Frauen wie dich ist?“ „Ich hab nicht nachgedacht. Ich war wegen Jesse so besorgt, weil er nicht zurückgekommen ist und da dachte ich, es könnte ihm etwas passiert sein. Also wollte ich jede Möglichkeit ausschöpfen, um ihn zu finden.“ Die Terrierhündin kam nun auf Charity zu und schaute sie mit ihren großen Augen an, wobei sie den Kopf ein wenig zur Seite neigte. Irgendwie wirkte der Hund gar nicht mehr so aggressiv und gefährlich wie zuvor. Doch sie blieb trotzdem skeptisch. „Hab keine Angst, Shy ist eine ganz Liebe. Jesse hat sie als Welpe gefunden, als ihre Besitzer sie am Straßenrand ausgesetzt hatten. Ich hab sie aufgenommen und gut erzogen. Sie kann zwar ziemlich bedrohlich werden, aber sie hat noch nie jemanden wirklich gebissen. Allerhöchstens verbeißt sie sich in die Kleidung.“

„Aber sind das nicht Kampfhunde?“

„Das schon, aber im Prinzip ist jeder Hund eine potentielle Killermaschine, selbst Labradore, Pudel und diese kleinen Handtaschen-Fiffis. Es kommt auf die Erziehung an, aber das Problem bei Pitbulls ist, dass sie sehr loyal und schon fast ein wenig treudoof sind. Wenn sie in die falsche Richtung erzogen werden, werden sie eben eine Gefahr für andere. In unserer Szene haben wir eben deshalb ausschließlich Pitbulls gehabt und das hat natürlich für den schlechten Ruf gesorgt. Aber Shy ist ganz anders. Sie lässt sich sogar von kleinen Kindern auf der Nase herumtanzen. Du brauchst also keine Angst zu haben.“ Zögerlich streckte Charity eine Hand nach der Hündin aus, die sich brav von ihr streicheln ließ. Trotzdem blieb noch ein klein wenig die Angst, denn als sich Shy auf Donny gestürzt hatte, hatte sie erst danach ausgesehen, als würde sie ihm gleich die Kehle durchbeißen. Aber wahrscheinlich hatte Marco sie wohl so trainiert gehabt, dass sie andere bedrohte, aber nicht durch Beißen angriff. Ansonsten schien die Hündin tatsächlich ganz friedlich zu sein. Nun begann sich aber Charity zu fragen, ob es denn Zufall war, dass Marco ihr im entscheidenden Moment zu Hilfe geeilt war, oder ob sie es vielleicht Jesses siebten Sinn zu verdanken hatte. „Hat Jesse dich gebeten, mir zu helfen?“ Der Ex-Rocker lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände. „So sieht’s aus. Er ist heute Morgen zu mir gekommen und hatte mich gebeten, ein Auge auf dich zu werfen.“ Dann war er also hier gewesen. Wenn er Marco darum gebeten hatte, auf sie aufzupassen, dann war er tatsächlich abgehauen. Doch warum? Wieso nur hatte er ihr keine Nachricht hinterlassen und warum war er denn wieder weggelaufen? Sie verstand das alles nicht und wäre beinahe wieder in Tränen ausgebrochen. „Warum ist er denn verschwunden? Ich verstehe das alles nicht. Habe ich irgendetwas falsch gemacht oder ist er wütend auf mich?“ Sie vergrub wieder das Gesicht in den Händen und schluchzte. Marco tröstete sie und sprach ihr beruhigend zu. „Nein, du hast rein gar nichts falsch gemacht und es hatte auch überhaupt nichts mit dir zu tun. Jesse ist untergetaucht, weil er dich schützen will. Deswegen sollte ich auch ein Auge auf dich haben.“

„Aber warum hat er denn nichts gesagt? Ich hätte ihm doch vielleicht helfen können. Stattdessen such ich wie eine Blöde nach ihm.“

„Glaub mir, es ist ihm auch nicht leicht gefallen. Doch hätte er dir eine Nachricht hinterlassen, hättest du bereits viel früher nach ihm gesucht und das wollte er nicht. Er hat gerade einige Schwierigkeiten und will dich da nicht mit reinziehen. Deshalb musste er das tun.“ Schwierigkeiten? Was denn für Schwierigkeiten? Machte sein Onkel wieder Stress und hatte er deshalb die Flucht ergriffen, weil er in einem seiner Träume gesehen hatte, dass ihr vielleicht etwas zustoßen könnte? „Was hat er denn für Probleme?“ Zuerst überlegte Marco noch, ob er ihr das auch wirklich sagen sollte. So wie er Charity einschätzte, würde ihre Sorge um Jesse nur noch größer werden, aber andererseits verdiente sie auch die Wahrheit. Vielleicht hatte sie ja dann etwas mehr Verständnis für die Situation. „Seine Mutter ist aus dem Gefängnis ausgebrochen. Ich hatte es heute Morgen von ein paar Bekannten aus der Szene erfahren und Jesse hatte es sicher schon vorher in einem seiner Träume gesehen.“ Nun begriff Charity langsam die ganze Situation, die plötzliche Flucht und diese Geheimnistuerei. Aber so wirklich glauben konnte sie es noch nicht. Jesses Mutter war aus dem Gefängnis ausgebrochen? Wie war das denn passiert und was bedeutete das nun? Bevor sie fragen konnte, erzählte er weiter. „Veronica ist seit dem Tod ihres jüngsten Sohnes und dem Verschwinden ihres Mannes total verrückt geworden, anders kann man es nicht sagen. Sie ist unberechenbar und es ist ihr auch zuzutrauen, dass sie nicht nur versuchen wird, Jesse zu töten. Wenn sie erfährt, dass du ein engeres Verhältnis zu ihm hast, dann könnte es gut möglich sein, dass sie auch hinter dir her sein wird.“

„Hinter mir?“ fragte Charity entsetzt. „Wieso sollte sie es auf mich abgesehen haben?“

„Weil sie Jesse nicht das geringste Glück im Leben gönnt. Wie gesagt: Sie ist nicht mehr klar bei Verstand und deshalb ist es zu gefährlich für dich. Jesse ist deshalb untergetaucht, um seine Spuren zu verwischen und für den Fall der Fälle sollte ich da sein, um auf dich und deine Großmutter aufzupassen. Und wie man vorhin gesehen hat, war das auch ganz gut so.“ Fassungslos schüttelte die Studentin den Kopf. Dann war Jesse also nicht weggelaufen, weil er immer noch glaubte, dass seine Gabe eine Gefahr für andere darstellte. Er selbst war die Gefahr, weil seine Mutter wirklich alles tun würde, um ihn zu töten und ihm alles zu nehmen, was er noch hatte. Dafür würde sie auch Unbeteiligte mit hineinziehen und das wollte er verhindern. Und dazu musste er verschwinden. Irgendwie fühlte sie sich schlecht und ihr Magen begann sich zu verkrampfen. Der Gedanke daran, vor der eigenen verrückten Mutter zu flüchten, war wirklich furchtbar. Aber was würde nun passieren? Wie lange würde es denn dauern, bis Veronica Wyatt wieder gefasst und eingesperrt wurde? Und was würde mit Jesse passieren? „Kann die Polizei denn nichts machen? Ich meine, Jesse gehört doch unter Polizeischutz, wenn bekannt ist, dass seine Mutter es auf sein Leben abgesehen hat.“ Doch Marcos Miene verriet, dass die ganze Sache nicht ganz so einfach war, wie sie es sich vorstellte. „Nur weil sie vor zehn Jahren auf Jesse losgegangen ist, besteht nicht gerade Gefahr im Verzug. Und selbst wenn, sie wird nicht als gefährlich genug eingestuft, dass die Polizei den Riesenaufwand machen würde, um Jesse zu beschützen. Das muss er auch gewusst haben, sonst wäre er nicht extra untergetaucht. Die Bullen müssen sich eben an die Vorschriften halten und deshalb sind denen die Hände gebunden. Außerdem hat Jesse keinerlei Vertrauen in die Polizei. Es kann immer wieder passieren, dass Personen unter polizeilichen Schutz dennoch angegriffen und getötet werden. Und er hat selbst schon miterlebt, dass manche von denen nicht gerade eine weiße Weste haben. Sein siebter Sinn ist alle Male zuverlässiger und wenn irgendeine Gefahr bevorsteht, wird er sie bemerken, bevor sie überhaupt da ist.“ Doch wirklich erleichtert war Charity nicht, als sie das hörte. Denn irgendwie gefiel ihr die ganze Sache nicht. Das Ganze kam ihr merkwürdig vor und so fragte sie „Warum ist er denn nicht bei dir, wenn ihr euch so gut versteht?“

„Er wollte das nicht. Stattdessen sollte ich auf dich aufpassen, damit dir nichts passiert.“

„Das klingt für mich irgendwie danach, als würde Jesse wissen, dass er nie wieder zurückkommt…“ Der Tätowierer sah sie mit einem forschenden Blick an und legte die Stirn ein wenig in Falten. „Wie kommst du darauf?“ „Na weil… ich weiß auch nicht genau. Es ist bloß so ein Gefühl. Ich meine, wenn Jesse wirklich weiß, dass seine Mutter ausgebrochen ist, dann wird die Polizei doch nach ihr fahnden. Und dass er komplett von der Bildfläche verschwindet und er dich trotzdem bittet, lieber auf mich aufzupassen, dann kann es doch nur eines bedeuten: Jesses Leben ist in ernster Gefahr und er glaubt, dass er es vielleicht nicht überleben könnte.“ Das klang plausibel, doch Marco blieb skeptisch und meinte „Ich glaube, du steigerst dich vielleicht zu sehr rein. Du hast Angst um ihn, weil du seine Geschichte kennst und ich finde das auch wirklich rührend von dir. Ehrlich gesagt war ich schon sehr erleichtert zu hören, dass Jesse nicht mehr bei diesem Schmierlappen Walter bleiben musste. Auch ist mir aufgefallen, dass er sich zum Positiven verändert hat und das hat er mit Sicherheit dir zu verdanken. Aber du musst auch mal Jesse vertrauen, okay? Er weiß schon, was er tut.“ Marco sagte das so einfach, aber trotzdem fand sie keine Ruhe. Sie hatte große Angst um Jesse und irgendeine Stimme in ihr sagte, dass sie ihn unbedingt finden musste, weil er in großen Schwierigkeiten steckte. Dieses Gefühl konnte sie sich nicht so wirklich erklären. Es war so eine Art Bauchgefühl, als hätte sie so eine Vorahnung. In diesem Moment erinnerte sie sich an Jesses Worte: Jeder Mensch kam mit diesem siebten Sinn zur Welt, nur war er bei jedem unterschiedlich ausgeprägt. Was, wenn sich ihre Vorahnung tatsächlich bewahrheiten könnte und Jesse wirklich etwas zustoßen würde? Dieser Gedanke ließ ihr einfach keine Ruhe und am liebsten wäre sie wieder losgezogen, um weiterzusuchen. Aber nach dem Vorfall am Bahnhof hatte sie auch Angst vor einem weiteren Übergriff. „Tut mir Leid Marco, aber ich kann nicht einfach so nach Hause zurückkehren, als wäre nichts gewesen. Mag sein, dass Jesse durch seinen siebten Sinn im Vorteil sein könnte, aber ich habe diese schlimme Vorahnung, dass ihm etwas passieren könnte.“

„Und was willst du jetzt tun? Willst du etwa wieder die Stadt nach ihm absuchen?“

„Nein, ich gehe zur Polizei. Eigentlich hätte ich das ja auch früher tun können, aber vielleicht sind sie in der Lage, Jesses Handy zu orten. Immerhin ist es ja noch eingeschaltet und womöglich kann ich ihn so finden.“ Der Tätowierer schüttelte den Kopf, als er das hörte und es fiel ihm ein wenig schwer zu verstehen, wieso sie unbedingt nach Jesse suchen und sich selbst in Gefahr bringen musste. „Jetzt komm doch zur Vernunft, Mädchen. Hysterisch zu werden, wird auch nichts bringen. Jesse hat diesen ganzen Aufwand betrieben, damit Veronica nicht auch noch auf dich losgeht. Und ich habe ihm versprochen, dass ich dich beschützen werde.“

„Und wer wird Jesse beschützen, wenn seine Mutter ihn findet? Wenn du dein Versprechen halten willst, dann kannst du mich gerne zur Polizei begleiten und so auf mich aufpassen.“ Marco schüttelte seufzend den Kopf und musste wohl einsehen, dass er Charity nicht so einfach überzeugen konnte, die Füße still zu halten. Aber wenn er so darüber nachdachte, war vielleicht etwas Wahres dran. Was, wenn Jesse tatsächlich gewusst hatte, dass es entweder auf ihn oder auf Charity hinauslief und er deshalb so geheimnisvoll getan hatte? Diese Möglichkeit war nicht ganz auszuschließen, so wie er seinen Lebensretter kannte. Und wenn es wirklich stimmte und Jesse steckte in Schwierigkeiten, dann musste er ihm helfen. Also gab er sich geschlagen. „Okay, ich begleite dich zur Polizei.“ Marco pfiff kurz und schon kam die Pitbull Terrierhündin herbei gelaufen, woraufhin er ihr die Leine anlegte. „Wenn Jesse das Gefühl bekommt, wir sollten das besser sein lassen, wird er sicher eine Nachricht senden.“ Charity war wirklich erleichtert, dass Marco sie nun doch begleiten wollte. Mit ihm an ihrer Seite fühlte sie sich doch gleich viel sicherer, besonders nach der Rettungsaktion am Bahnhof. Als sich Marco erhob, sah Charity eine Pistole an seinem Gürtel, was ihr dann doch ein klein wenig Unbehagen bereitete. Er bemerkte ihren Blick und erklärte „Keine Sorge, ich hab das Ding ganz legal und benutz es für gewöhnlich auch nicht. Aber manchmal ist es schon besser, eine Knarre dabei zu haben, besonders bei so einer Verrückten wie Veronica. Früher war ich mal ganz anders drauf und habe echt viele Leben zerstört. Aber als Jesse als 13-jähriger Knirps zu mir kam und mir mit seiner Warnung das Leben rettete, wurde mir klar, dass Gott mir eine zweite Chance gegeben hat. Und seitdem mach ich so eine Scheiße nicht mehr. Bringt eh auf Dauer nichts, außer Ärger mit den Bullen oder ein paar Löcher und Stichverletzungen bei Bandenkriegen.“ Eine zweite Chance… Marco glaubte also auch daran, dass selbst jemand wie er einen Neuanfang verdient hatte, wenn man seine Fehler bereute und sein Leben ändern wollte. Dank Jesse hatte er der kriminellen Szene den Rücken zugekehrt und sich eine eigene Existenz aufgebaut. Und im Grunde schien Marco ein wirklich netter Kerl zu sein. Jedenfalls fiel es Charity schwer sich vorzustellen, dass er mal ganz anders gewesen war und Leute bedroht, zusammengeschlagen und erpresst hatte. „Danke Marco“, sagte sie schließlich, als sie ihn nach draußen begleitete. „Vielen Dank für alles.“ „Kein großes Ding.“ Als sie draußen waren, rief Charity bei ihrer Großmutter an, die sich schon Sorgen gemacht hatte und sofort fragte, wo sie denn sei. Die Studentin erklärte ihr, dass sie einen guten Bekannten von Jesse getroffen hätte und er sie eben zur Polizei begleite. Dass sie nun nicht ganz so allein war und wenigstens einen Begleiter dabei hatte, beruhigte die Pensionärin ein wenig. Nach einer Weile fragte Marco neugierig „Wie heißt denn deine Großmutter?“ „Grace Witherfield, wieso?“ Der Tätowierer musste lachen, als er das hörte und erklärte „Sie war mal meine Klassenlehrerin an der Grundschule. Eine tolle Dame, hart aber herzlich. Wirklich ein verrückter Zufall, dass du ihre Enkelin bist. Wie klein die Welt doch ist…“ Es war inzwischen wirklich stockfinster geworden, aber wenigstens wehte der Wind nicht mehr so stark. Trotzdem war es ein wenig kühl geworden und in den nassen Klamotten war es auch nicht gerade angenehm. Netterweise hatte Marco ihr eine Jacke geliehen, die ihr zwar viel zu groß war, aber wenigstens musste sie nicht frieren. Es war still geworden und irgendwie herrschte eine seltsame Atmosphäre in der Luft. Obwohl Marco eine Waffe bei sich trug und er außerdem noch seinen Hund dabei hatte, war Charity nervös. Nicht etwa, weil sie sich selbst nicht sicher fühlte. Sie wusste, dass sie bei Marco in den besten Händen war und sie sich auf ihn verlassen konnte. Es war wegen Jesse. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass sie ihn unbedingt finden musste. Vielleicht war es tatsächlich ihr angeborener siebter Sinn und wenn er es war, dann durfte sie jetzt nicht einfach so nach Hause gehen. Ganz egal was Jesse auch wollte, sie würde nicht zulassen, dass ihm etwas passierte! Da er zum Glück sein Handy angeschaltet hatte, konnte sie der Polizei die Lage erklären und ihn dann über das Handy orten lassen. Nun gut, er könnte es auch genauso gut entsorgt haben, aber sie wollte wenigstens diese Möglichkeit noch ausschöpfen.

Die Konfrontation

Jesse rieb sich müde die Augen und schaute auf sein Handy um nachzusehen, wie spät es eigentlich war. Schon knapp zehn Uhr. Unfassbar, dass er in einer solchen Situation überhaupt schlafen konnte. Na, eigentlich war es ja auch kein Wunder. Die ganze Aufregung hatte ihn schon erschöpft und außerdem fühlte sich sein Körper auch irgendwie etwas schwächer an als sonst. Es konnte am Wetter liegen, vielleicht aber auch an diesen merkwürdigen Symptomen, welche inzwischen zum Dauerzustand geworden waren. Diese hatten sich seit seiner Flucht sogar noch verschlimmert und er spürte, dass es ihm dreckig ging. Nicht nur, dass er sich müde und ausgezehrt fühlte, seine Stimmung war auf einem Tiefpunkt und er bekam seine Gedanken einfach nicht richtig sortiert. Außerdem war dieses Gefühl allgegenwärtig, dass er in einer Sackgasse steckte. Obwohl er es für gewöhnlich vermied, seinen siebten Sinn einzusetzen, hatte er es getan, um alle verschiedenen Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, wie er am besten vorgehen sollte. Seine Fähigkeit brachte ihm zwar den Vorteil, Gefahren frühzeitig zu erkennen und entsprechend dagegen zu steuern, aber er war kein Hellseher. Er konnte nicht alle Details erkennen und musste dann immer gut überlegt handeln und stets alles genauestens beobachten. Hellseher sahen in ihren Visionen direkt vor sich, was sich alles abspielen würde, so als ob sie einen Film vor ihrem inneren Auge sehen würden. Doch bei ihm war es anders, in seinen Träumen konnte er lediglich kleinere Schlüsselerlebnisse sehen und im Wachzustand bekam er nur ein unbestimmtes Gefühl. Instinktiv wusste er dann sofort, wenn Gefahr drohte und welche ungefähren Konsequenzen die Handlungen bestimmter Menschen in seiner Umgebung haben konnten. Das galt auch für ihn. Dies war oft zum Vorteil, denn so konnte er Gefahrenquellen frühzeitig orten, bevor überhaupt etwas passierte. Aber dieser siebte Sinn hatte natürlich auch seine Schattenseiten. Denn seit dieser siebte Sinn immer stärker zutage trat, konnte Jesse keine Bücher mehr lesen. Allein schon nachdem er die ersten Seiten gelesen hatte, kannte er schon die Auflösung, ohne dass er das Buch jemals zuvor angerührt oder davon gehört hatte. Und was sollte er denn mit einem Buch anfangen, wenn er die Auflösung schon nach den ersten gelesenen Seiten kannte? In solchen Momenten hasste er seine Gabe, besonders weil er nicht jedes Unglück verhindern konnte, das er vorherahnte. Besonders schlimm wurde es, wenn er in einen Bus einsteigen wollte und spürte, dass dieser in einen Verkehrsunfall geraten würde. Eine Zeit lang hatte er noch versucht gehabt, diese ganzen Dinge zu verhindern, aber wer würde ihm denn schon glauben? Er konnte ja schlecht die ganze Welt davon in Kenntnis setzen, dass sein siebter Sinn so stark ausgeprägt war, dass er bestimmte Dinge in der Zukunft sehen oder erahnen konnte. Das würde nur Probleme zur Folge haben und jeder würde dann versuchen, seine Gabe auszunutzen.

Die normalen Durchschnittsmenschen, die Wissenschaftler, die Polizei, wahrscheinlich auch die Regierung. Sein Leben wäre vorbei und auf so ein Dasein, wo wirklich jeder seine Gabe für persönliche Interessen nutzen wollte, konnte er wirklich verzichten. Überhaupt fragte er sich, warum ausgerechnet er mit dieser Fähigkeit zur Welt kommen musste, mit seinen Vorahnungen stets richtig zu liegen, selbst wenn er es nicht wollte. Wahrscheinlich wäre sein Leben ganz normal abgelaufen und er würde in einer ganz normalen Familie leben. Aber stattdessen hatte es ihm persönlich nur Unglück gebracht. Aber andererseits hätte er niemals Charity kennen gelernt, zumindest nicht so. Charity… ob sie wohl nach ihm suchte? Natürlich tat sie das, er hatte es ja geahnt, ebenso dass sie sich mit ihrer naiven Gutgläubigkeit in ernsthafte Schwierigkeiten bringen würde. Dafür hatte er ja Marco gebeten gehabt, auf sie aufzupassen und er wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte. Aber er selbst hatte sich irgendwie in eine ausweglose Lage manövriert und musste sich nun überlegen, wie er da am besten rauskam, ohne zu viele Menschenleben in Gefahr zu bringen. Dazu hatte er verschiedene Möglichkeiten in Betracht gezogen und seinen siebten Sinn dabei gezielt eingesetzt um schon mal erfahren zu können, ob dieser Entschluss nicht vielleicht das Leben seiner Mitmenschen kosten konnte. Den genauen Verlauf sah er nicht, wusste aber zumindest das Endergebnis und das war das Wichtigste. Die Stadt zu verlassen war ihm natürlich als Erstes in den Sinn gekommen, doch der Gedanke wurde sofort wieder fallen gelassen. Wenn er das tun würde, dann würden nicht nur Grace und Charity, sondern auch sogar Marco sterben. Bei den Witherfields zu bleiben, würde zumindest Marcos Leben retten, aber nicht das der anderen beiden. Und wenn er bei Marco blieb, würde es sowohl für ihn, als auch für Chibi den Tod bedeuten.

Die allerletzte Möglichkeit bestand darin, seine Mutter alleine zu stellen. Das würde das Überleben der anderen sichern, aber was ihn betraf, war er sich unsicher und auch sein siebter Sinn konnte ihm keine klare Auskunft geben. Zwar hatte er wieder einen Traum gehabt, doch Mr. Deadman war nicht aufgetaucht, der ja der Bote von zukünftigen Toden war. Womöglich, weil er sich wohl selbst nicht in der Kutsche sehen könnte. Demnach war es also ungewiss, ob er die Konfrontation mit seiner Mutter überstand oder nicht. Bevor es aber dazu kam, wollte er wenigstens noch eine letzte Zigarette rauchen. Nach trinken war ihm jetzt nicht zumute, obwohl er wusste, dass es hier und heute zur letzten Konfrontation kommen würde, die vielleicht seinen Tod bedeuten konnte. Aus seiner Jackentasche holte er die kleine Schachtel und sein Feuerzeug, dann zündete er sich einen Glimmstängel an und blies den leicht bläulichen Nikotinqualm aus. Wie hatte das alles nur so weit kommen können, fragte er sich und merkte, wie seine Stimmung weiter sank. Hätte es vielleicht anders werden können, wenn er nicht bei den Witherfields geblieben wäre? Insgeheim hatte er schon ein schlechtes Gewissen Charity gegenüber, vor allem weil er wusste, dass sie ihn liebte. Aber als er so darüber nachgedacht hatte, war es vielleicht das Beste für sie beide, wenn er für immer aus ihrem Leben verschwand. Er konnte ihr doch rein gar nichts bieten. Er hatte weder Job noch Schulabschluss, geschweige denn ein eigenes Zuhause. Zudem war er ein Alkoholiker, der nicht in der Lage war, Gefühle wahrzunehmen und sie auszudrücken. Charity war da ganz anders. Sie stand mit beiden Beinen im Leben (auch wenn sie schusselig und etwas treudoof war), hatte eine liebevolle Großmutter und ging aufs College. Im Gegensatz zu ihm hatte sie Pläne und Ziele und sie brauchte jemanden, der ihre Gefühle verstand und ihr dann auch Mitgefühl entgegenbrachte. Er konnte das alles nicht und sein ganzes Leben war ein einziger Scherbenhaufen. Und wenn er es im Gesamtpaket betrachtete, passten sie einfach nicht zusammen und es würde so oder so nicht gut gehen. Das sagte ihm zwar nicht sein siebter Sinn, aber er wusste es dennoch.

Charity würde sich nur unglücklich machen und dann würde sie ihn auch alleine lassen. Und bevor das geschah, ging lieber er zuerst und ließ sie mit einem gebrochenen Herzen zurück. So etwas würde die Zeit schon irgendwann heilen und dann würde sie jemanden finden, der besser zu ihr passte und der sie auch glücklich machen könnte. Aber warum fühlte er sich dann so schrecklich bei dem Gedanken? Seit Charity in sein Leben getreten war, herrschte in ihm ein emotionales Chaos und er wusste nicht, wie er sich eigentlich fühlte und was diese diversen Symptome zu bedeuten hatten. Warum nur löste sie so viel bei ihm aus? Waren es seine Hormone, weil sie schon sehr attraktiv war, oder lag es daran, weil sie ihm Mitgefühl und Verständnis entgegenbrachte? In solchen Momenten hasste Jesse seine Gefühlsblindheit, die ihm in den letzten zehn Jahren überhaupt keine Probleme gemacht hatte. Im Gegenteil, sie hatten ihm vieles erleichtert. Durch seine Unfähigkeit, Gefühle wahrzunehmen, hatte er die Schikanen an der Schule, die Zeit auf dem Straßenstrich und den jahrelangen Terror seines Onkels ertragen können. Aber Charity nicht verstehen zu können, das war für ihn wesentlich schlimmer. Er wollte sie ja gerne verstehen und ihr endlich sagen, was er fühlte, um auch selbst Gewissheit zu haben. Doch er konnte das nicht so einfach abstellen, selbst wenn er es wollte. Und selbst wenn er lernen würde, Gefühle zu verstehen, würde es dann wirklich wieder ganz wie früher werden? Würde er sie tatsächlich so wahrnehmen können wie jeder andere Mensch? Das wagte er zu bezweifeln und so langsam verließ ihn der Mut. Womöglich hatte sich Charity bloß etwas vorgemacht mit ihrer Naivität und er würde niemals der Freund sein, den sie sich wünschte und den sie brauchte. Er war definitiv nicht der Richtige für sie und er wollte ihr auch nicht noch mehr wehtun mit seiner Unfähigkeit, Gefühle zu verstehen. Charity… die ganze Zeit konnte er nur noch an sie denken und sich fragen, ob es ihr und ihrer Großmutter auch gut ging. Dabei hatte er sich noch nie über einen anderen Menschen solche Gedanken gemacht. Höchstens, als er noch klein war und sein Vater verschwand.
 

Der Wind wurde kühler und Jesse wickelte sich fester in seine Jacke. Der Container an der Baustelle hatte zwar den Vorteil, dass er ihn vor Wind und Wetter schützte, aber es war trotzdem kalt und vor allem dunkel. Die einzige Lichtquelle war das Display seines Handys, welches fast ununterbrochen geklingelt hatte, bis er es einfach auf stumm geschaltet hatte. Charity versuchte ihn schon die ganze Zeit zu erreichen, aber er konnte ihre Anrufe einfach nicht entgegennehmen. Das würde die ganze Sache noch schlimmer machen. Aber er wollte es insgeheim trotzdem. Er wollte sie sprechen und ihr alles erklären und er wollte sie wieder sehen. Unglaublich, dass er solch einen Drang nach Nähe verspürte, obwohl er sie doch kaum kannte. So etwas hatte er noch nie in seinem Leben erlebt. Aber was war das bloß für ein Gefühl, das er für sie empfand? Es ließ ihm einfach keine Ruhe, er wollte unbedingt wissen, was er für Gefühle für sie hegte. Da er keine Ruhe fand, entschloss er sich, noch ein wenig spazieren zu gehen und auf diese Weise einen klaren Kopf zu bekommen. Die frische Luft würde ihm sicher ganz gut tun und vielleicht half ihm das, seine Gedanken wieder sortiert zu bekommen. Er warf die Zigarette zu Boden und trat sie aus, dann streckte er sich. Der Himmel war nach dem Regen sternenklar und es herrschte absolute Stille. Da er sowieso nicht befürchten musste, dass seine Sachen hier geklaut werden konnten, ließ er sie im Container und machte sich auf den Weg. Durch den Regen hatten sich überall riesige Pfützen gebildet und auf dem Kies klangen seine Schritte viel zu laut. In der Dunkelheit wirkten die Baumaschinen wie schlafende Ungeheuer und Jesse erinnerte sich an eine Szene aus seiner Kindheit, als er mit seinem Vater abends unterwegs gewesen war. Da war er neun Jahre alt und hatte die Silhouette eines Baggers für einen Dinosaurier gehalten. Erst jetzt fiel ihm auch auf, dass er sich überhaupt nicht mehr an das Gesicht seines Vaters erinnern konnte. An das seines Bruders Luca konnte er sich noch erinnern, denn er hatte ja immer ein Foto von ihm dabei. Er erinnerte sich auch noch an die Stimme seines Vaters, aber nicht an sein Gesicht. Nun gut, er war damals erst zehn Jahre alt gewesen, als dieser einfach abgehauen war, ohne sich zu verabschieden. Sogar der Name wollte ihm nicht mehr einfallen. Manchmal hatte er sich schon gefragt, wieso sein alter Herr einfach verschwunden war und sich nie gemeldet hatte. Warum hat er uns im Stich gelassen? Geht es ihm gut? Ist ihm vielleicht etwas passiert? Diese Fragen hatte er sich damals immer wieder gestellt, als er noch klein war. Aber dann hatte er erkannt, wieso es so kommen musste: Sein Vater war seinetwegen abgehauen. Ihm war klar geworden, dass sein Sohn diesen siebten Sinn hatte und deshalb war er verschwunden, ohne ein Wort zu sagen. Aber wieso war er deswegen weggelaufen? Etwa weil er Angst vor diesen Fähigkeiten hatte? Drei Jahre hatte sich Jesse genau das gefragt und sich die Schuld gegeben, bis dieser eine Tag kam. Sein kleiner Bruder wurde umgebracht und seine Mutter versuchte daraufhin, ihn mit einem Messer zu töten. Danach hatte er rein gar nichts mehr für seinen Vater empfunden. Für ihn war er ein selbstsüchtiger Feigling, der die Familie im Stich gelassen hatte und wenn Jesse jetzt noch etwas wirklich empfinden könnte, dann wäre es Hass. Sein Vater war ein feiges Arschloch, weiter nichts. Aber war er, Jesse Wyatt, denn so anders als sein alter Herr?
 

War er nicht auch einfach weggelaufen?
 

Natürlich war er das, aber er hatte einen guten Grund gehabt. Wäre er bei Charity und Grace geblieben, wären sie bloß in Gefahr geraten und das konnte er ihnen nicht antun. Und sein Vater war bloß ein Egoist und mehr nicht. Mit Sicherheit hatte er schon damals irgendeine neue Frau kennen gelernt und war mit ihr zusammen durchgebrannt, ohne dabei an seine Familie zu denken. Diese ganze Liebe war doch genauso gelogen gewesen wie die geheuchelte Fürsorge seines Klassenlehrers, der ihn, als er auf dem Strich gewesen war, fast umgebracht hätte. Wirklich jeder hatte ihn bis jetzt enttäuscht, außer Marco und Charity. Und schon wieder musste er an sie denken. Ein seltsames Gefühl beschlich Jesse und abrupt blieb er stehen und sah sich um. Er war unruhig und hörte nicht weit entfernt, wie jemand durch den Kies lief. Ein Obdachloser oder sonst irgendein harmloser Nachtschwärmer war das nicht, das wusste er sofort. Nein, es war jemand, der gezielt hierher gekommen war, nämlich wegen ihm. Es war seine Mutter und so wie sich sein siebter Sinn meldete, ging eine unmittelbare Gefahr von ihr aus. Verdammt, er war so in seinen Gedanken versunken gewesen, dass er erst jetzt gemerkt hatte, dass sie hierher kam. Und so wie die Schritte im Kies klangen, musste sie noch knapp 100 oder 200 Meter entfernt sein. Das Beste war, sich erst einmal zu verstecken und dann zu überlegen, was er als nächstes tun sollte. Zum Glück war es so dunkel, dass sie ihn wahrscheinlich noch gar nicht bemerkt hatte. Aber woher wusste sie bloß, dass er sich hier aufhielt? Er hatte doch zu niemandem ein Wort gesagt, nicht einmal Marco! Womöglich war es Zufall, vielleicht hatte sie einen Komplizen, oder aber es war ihr eigener siebter Sinn. Manchmal vergaß er, dass jeder Mensch über diesen verfügte und er hoffte nur, dass Walter wenigstens die Klappe gehalten hatte was Charity betraf, wenn Veronica schon dort gewesen war. Wer weiß, was Charity in ihrer Naivität alles ausgeplaudert hatte. Im schlimmsten Fall wirklich alles, zuzutrauen wäre es ihr. Immerhin brachte sie sich mit ihrer Gutgläubigkeit oft genug in Schwierigkeiten. Geduckt schlich Jesse zu einem der Bagger hin, um dort in Deckung zu gehen. Lange würde ihm das aber auch nicht helfen, das wusste er jetzt schon. Er hatte keine Waffe bei sich und zum Container zurück konnte er auch nicht. Da war er ungeschützt und saß dann auch in der Falle. Seine Möglichkeiten waren mehr als begrenzt und er fragte sich, ob er die ganze Sache überleben würde. Sein siebter Sinn ließ ihn zumindest erahnen, dass es nicht gut für ihn ausgehen würde. Warum nur musste dieser siebte Sinn immer nur so ungenau sein? Das nervte ihn immer wieder.
 

Ein Schuss fiel hinter ihm und mit einem Hechtsprung brachte er sich in Sicherheit, wobei er merkte, wie sein Herz zu rasen begann und er noch unruhiger wurde. Offenbar bekam er Angst. Das wurde ja immer schlimmer. Jetzt war seine Mutter auch noch mit einer Pistole bewaffnet und nun war sie anscheinend so durchgedreht, dass sie auf jeden schoss, den sie in der Dunkelheit ausfindig machen konnte. Die hatte sie ja nicht mehr alle. Offenbar war es ihr völlig egal, dass sie vielleicht Unschuldige treffen könnte. Fast blind tastete er sich voran und bekam eine massive Rohrstange zu fassen, die er gut als Waffe benutzen konnte. Nun gut, gegen eine Pistole würde die eher wenig ausrichten, aber zumindest war das besser als nichts. Als Erstes musste er sich überlegen, wie er seine Mutter unschädlich machen konnte, ohne sie zu töten. Egal was sie in der Vergangenheit auch getan hatte, so war sie immer noch seine Mutter und deshalb brachte er es einfach nicht übers Herz, sie umzubringen. Er begann zu überlegen, wo er sie am besten hinlocken konnte und der Container, wo er zuvor geschlafen hatte, kam ihn als Erstes in den Sinn. Wenn er sie dort hineinlocken konnte, war es ihm vielleicht möglich, die Containertür mit der Rohrstange zu verriegeln. Dann galt es nur noch die Polizei zu rufen. Dumm nur, dass er sein Handy dort hatte liegen lassen. Wäre er nicht so abgelenkt gewesen durch seine Gedanken an Charity und seine Symptome, dann hätte er diesen Fehler nicht begangen. Er hatte sich einfach zu sicher gefühlt! Jetzt hatte er den Salat und musste nun überlegen, was er jetzt tun sollte. Erste Möglichkeit: Ein Ablenkungsmanöver starten und dann zum Container laufen. Der erste Teil würde noch gut werden, aber danach würde es eher schlecht für ihn aussehen. So zum Container laufen war noch dümmer und sich direkt zum Angriff stellen genauso. Noch eine Alternative war, zum Container zu eilen und sich dort irgendwie zu verbarrikadieren. Diese Möglichkeit war auch gut, aber ihn beschlich dennoch das Gefühl, als würde es lebensgefährlich werden. Nicht für ihn, sondern für jemand anderen, der zur Baustelle kommen würde. Wer es war, konnte er noch nicht sagen, aber er konnte schlecht zulassen, dass seine gestörte Mutter noch andere Menschen in Gefahr brachte. Also blieb die beste Alternative, dass er sie ablenkte und dann zum Container eilte. Na hoffentlich ging das auch gut. Ein gutes Gefühl hatte er nämlich nicht dabei. Wieder kniete er sich hin und tastete umher. Viel gab es ja nicht, aber dann fand er einen größeren Stein. Besser als nichts, dachte er und sah sich um, wo er das Ding am besten hinwerfen konnte. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und so konnte er nicht weit entfernt einen Bagger erkennen. Nun kam er aus seiner Deckung hervor und warf mit aller Kraft. Der Stein traf sein Ziel und es gab ein metallisches Knallen, woraufhin der Schatten seiner Mutter in Richtung der Geräuschquelle eilte. In dem Moment rannte Jesse in Richtung des Containers und lief so schnell er konnte. Dummerweise waren seine Schritte auf dem Kies so laut, dass sie seine Mutter natürlich sofort aufmerksam machen mussten. Es wurde wieder geschossen und gerade, als er den Container erreichte, durchzuckte ein brennender Schmerz sein linkes Bein und beinahe wäre er gestürzt. Nur mit Mühe konnte er sich wieder fangen und weiterlaufen. Doch jeder Schritt schmerzte entsetzlich und so wie es sich anfühlte, schien der Streifschuss eine tiefe Wunde gerissen zu haben. Doch wenn er jetzt stehen blieb, war er tot. Also biss er die Zähne zusammen und kurz darauf traf bohrte sich eine zweite Kugel in seine Hüfte. Der irrsinnige Schmerz durchzuckte seinen ganzen Körper und er schrie auf. Ein dritter Schuss verfehlte ihn nur knapp und er verlor die Kontrolle über seine Beine, woraufhin er zu Boden stürzte. „Hab ich dich endlich gefunden!“ hörte er seine Mutter rufen und kurz darauf fiel der nächste Schuss, doch es gelang ihm noch rechtzeitig, sich zur Seite zu drehen und somit auszuweichen. Hätte er nur eine Sekunde später reagiert, hätte die Kugel seinen Kopf erwischt. Nun stand sie direkt vor ihm und zielte mit einer Smith & Wesson auf ihn. Im schwachen Licht des Mondes sah sie nur noch mehr wie eine lebende Leiche aus und ihr Gesicht wirkte wie ein Totenschädel. Noch immer trug sie unverkennbare orangefarbene Kleidung einer Gefängnisinsassin und ihr Blick verriet, dass sie keine Gnade walten lassen würde. In ihren staubgrauen und trüben Augen war nichts als purer Hass zu sehen. „Hab ich dich endlich gefunden, Jesse. Jetzt wirst du mir nicht mehr davonlaufen. Du wirst dafür bezahlen, dass du mir mein Leben zerstört und Luca getötet hast. Nun habe ich endlich die Chance, das zu beenden, was ich damals nicht zu Ende bringen konnte. Und du wirst leiden, genauso wie ich leiden musste!“

Damit gab Veronica ihm einen Tritt gegen sein verletztes Bein, woraufhin ein entsetzlicher Schmerz durch Jesses ganzen Körper fuhr. Er schrie auf und sogleich setzte es einen weiteren Tritt in sein Gesicht und dann noch einen in die Magengrube. So einfach würde seine Mutter ihn wohl nicht erschießen wollen. Nein, sie wollte ihn leiden sehen, bevor sie ihn tötete. Aber dieses Mal würde er sich zur Wehr setzen und nicht wie vor zehn Jahren alles hinnehmen, weil er glaubte, er hätte es nicht anders verdient. Lange genug hatte er sich von anderen herumschubsen, verprügeln, verarschen oder ausnutzen lassen, nur um sich selbst für den Tod seines kleinen Bruders und für das Verschwinden seines Vaters zu bestrafen. Das war nun vorbei, denn nun wusste er selbst, dass seine Träume nicht verantwortlich für Lucas Tod waren. Diese Gabe war ein Geschenk, damit er Menschen retten konnte. Ohne sie hätte er Charity und ihre Großmutter nicht retten können und Marco wäre nach wie vor noch kriminell oder er wäre auch gestorben. Diese brennenden Schmerzen in seinem Bein und seiner Hüfte sowie die Angriffe seiner Mutter schienen irgendetwas in ihn zu wecken. Er konnte nicht genau beschreiben was es war. Irgendwie war es ungefähr das gleiche Gefühl, welches er gehabt hatte, als er auf Walter eingetreten hatte. War es etwa Hass? Konnte es tatsächlich sein, dass er seine Mutter hasste? Aber wie sollte das möglich sein, wenn er sich so sehr wünschte, endlich Frieden mit ihr zu schließen und er sie sogar jeden Monat im Gefängnis besuchen kam, obwohl sie ihn beinahe umgebracht hätte? War es etwa so, dass er sie hasste, obwohl er sie nach alledem immer noch als seine Mutter liebte? Fakt war aber nun, dass er jetzt nicht mehr bloß diese körperlichen Symptome verspürte. Nein, es war weitaus mehr und ein wenig bereitete es ihm auch Angst. Es war, als wäre in diesem Moment, da sich der gleiche Alptraum von damals zu wiederholen schien, eine Blockade gebrochen worden. Zum ersten Mal seit zehn Jahren spürte er wirklich wieder etwas in seinem Inneren und das war brennende Wut. Es war die Wut gegen die Grausamkeit und Ungerechtigkeit seiner Mutter, gegen seinen selbstsüchtigen Onkel und alle anderen, die ihn all die Jahre wie Dreck behandelt hatten. In dem Moment, als seine Mutter ihn wieder zu Boden trat wie so viele Male zuvor nach dem Tod seines kleinen Bruders, brach alles hervor und dieser brennende Zorn war stark genug, dass er ihn wirklich wahrnahm. Und dieser Zorn half ihm, die Schmerzen zu ignorieren und sich endlich zur Wehr zu setzen. Für ihn war es in diesem Moment mehr als reiner Selbstschutz, um nicht erschossen oder totgeprügelt zu werden. Er setzte sich gegen seinen Selbsthass, seine Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zur Wehr und auch gegen all das ihm widerfahrene Unrecht. Mit aller Kraft trat er seiner Mutter die Beine weg, woraufhin diese das Gleichgewicht verlor. In dem Moment setzte er sich auf und schlug ihr die Rohrstange gegen das Schienbein. Schreiend sank sie in die Knie und wollte schießen, doch da stürzte sich Jesse auf sie und nagelte sie am Boden fest. Nun sah er ihr direkt in die Augen und spürte wieder diesen intensiven Schmerz in seinem Innersten. Und nun wusste er auch, was es war: Hass und Liebe zugleich, die nichts anderes als Verzweiflung und Wut hervorbrachten. „Ich lasse mich nicht mehr von dir herumschubsen, Mum. Glaub mir, du bist nicht die Einzige, die Luca vermisst und seinen Tod betrauert. All die Jahre habe ich diese ganze Scheiße ertragen, weil mir alle eingeredet haben, ich hätte es nicht anders verdient. Ich hab mich von dir fast umbringen lassen, weil ich Schuld an Lucas Tod haben soll. Walter hat mich verprügelt, auf die Straße gesetzt oder eingesperrt, wenn ich nicht nach seiner Pfeife getanzt habe. Und diese diese ganzen perversen Schweine, die mir den einen Sommer zur Hölle gemacht haben, hatten mir teilweise Dinge angetan, wovon sogar dir schlecht wird. Meine Mitschüler haben mich drangsaliert und zusammengeschlagen, weil ich der Sohn einer Verrückten bin, der sich auf dem Strich von irgendwelchen perversen Kinderschändern ficken lässt, weil er auf der Straße lebt und Geld braucht. Alle haben mich wie Scheiße behandelt und ich habe das alles stillschweigend hingenommen. Ich hab sogar deine Vorwürfe ertragen und den Sündenbock für dich gespielt, weil ich dich immer noch als meine Mutter geliebt habe. Aber hab ich endgültig die Schnauze voll! Ich will mir nicht einen Tag länger zum Vorwurf machen lassen, dass ich den Tod anderer Menschen vorhersehen kann und nicht jedes Mal in der Lage bin, sie zu retten. Als Luca starb, war ich gerade mal 13 Jahre alt! Du warst seine Mutter und du hättest ihn beschützen sollen. Stattdessen hast du dir den lieben langen Tag dein scheiß Koks reingezogen und dich um rein gar nichts gekümmert. Ich habe all deine Pflichten übernommen, während du entweder gearbeitet hast oder total zugedröhnt warst. Ich war immer für Luca da und hab mich um ihn gekümmert, was eigentlich dein verdammter Job gewesen wäre. Aber du willst einfach nicht wahrhaben, dass du eine absolute Rabenmutter bist und genauso schuld an Lucas Tod bist. Stattdessen hast du mir all die Jahre Vorwürfe gemacht und mir für alles die Schuld gegeben, was du dir selbst eingebrockt hast!!!“

Jesses Griff wurde immer fester und am liebsten hätte er noch weiter zugedrückt. Eine innere Stimme schrie danach, dass er sie schlagen sollte. Ja, er wollte mit der Rohrstange auf sie einschlagen und das am liebsten so lange, bis ihre erbärmliche Existenz endlich beendet war. Doch als Jesse erkannte, was da in ihm vorging und dass er kurz davor war, seine eigene Mutter umzubringen, verschloss er diese Gefühle sofort wieder. Er war entsetzt darüber, was er da gerade vorgehabt hatte und konnte nicht glauben, dass er wirklich seine eigene Mutter umbringen wollte. Sofort lockerte sich sein Griff und das nutzte Veronica, um ihm in die Seite zu boxen, wo ihn die Kugel getroffen hatte. Der Schmerz raubte Jesses ganze Kraft und so gelang es ihr, ihren Sohn von sich wegzustoßen. „Du nennst mich eine Rabenmutter? Warum habe ich wohl angefangen, Drogen zu nehmen? Doch nur, weil deine Träume Schuld waren, dass dein Vater uns verlassen hat. Du hattest nur eine einzige verdammte Aufgabe: Pass auf deinen Bruder auf! Und selbst das hast du nicht geschafft und ich bin den ganzen Tag arbeiten gewesen. Da kann ich wohl von dir verlangen, dass du dich um die Wohnung und um deinen Bruder kümmerst. Aber dank dir ist alles kaputt gegangen. Dein Vater ist abgehauen, ich saß zehn Jahre im Gefängnis und mein kleiner Luca ist tot. Man hat ihm die Augen herausgeschnitten, während er noch gelebt hat… und dann… dann mussten sie seine Leiche wieder zusammennähen, weil er mit einer Kettensäge zerstückelt wurde! Das alles hätte nicht passieren müssen, wenn du vernünftig auf ihn aufgepasst hättest. Du hast ihn ermordet und dafür wirst du bezahlen.“

„Hör endlich damit auf, immer die Schuld auf andere zu schieben, sondern übernimm endlich mal Verantwortung für deine eigenen Probleme.“

„Das muss ein versoffener, arbeitsloser Penner wie du gerade sagen. Du kriegst doch gar nichts auf die Reihe in deinem Leben, stattdessen zerstörst du mit deinen Träumen das Leben von Menschen. So einen wie dich will doch niemand haben. Du hättest niemals geboren werden dürfen!“ Erneut brach die Wut in Jesse aus und betäubte gänzlich seine Schmerzen. Er konnte sie nicht mehr unterdrücken, griff seine Mutter daraufhin an und es kam zu einem heftigen Handgemenge. Du irrst dich, dachte er und versuchte sie irgendwie zu Boden zu stoßen. Es gibt Menschen in meinem Leben, die mich nicht wegstoßen und verachten. Marco, Grace und Charity glauben daran, dass ich eine Zukunft habe und dass ich mein Leben wieder in den Griff bekommen kann. Charity hat mich von der Straße geholt, obwohl sie mich gar nicht kennt und Marco hat mir so oft geholfen, Menschen vor einem Unglück zu bewahren, wenn ich es vorhergesehen habe. Sie glauben an mich und haben mir geholfen, als ich keinen anderen Ausweg mehr als den Tod gesehen habe. Ich darf also nicht einfach so aufgeben, nur weil meine verrückt gewordene Mutter versucht, mich umzubringen. Ich muss es schaffen, damit ich Charity wenigstens noch ein Mal sehen und sie sprechen kann. Doch der Schmerz in seinem Bein und in seiner Hüfte wurde immer schlimmer und er spürte, dass er zu viel Blut verlor. Lange konnte er jedenfalls nicht mehr durchhalten. Also mobilisierte er seine Kräfte und schaffte es, Veronica Wyatt zurückzudrängen und sie gegen den Container zu drücken. Soweit so gut, jetzt hatte er sie fest genug im Griff, damit sie nichts Dummes mehr anstellte. Aber so konnte er auch nicht die Polizei rufen. Es blieb ihm also keine andere Wahl, als sie bewusstlos zu schlagen. Doch da rammte Veronica ihm ihr Knie unter die Gürtellinie und damit verließ Jesse all seine Kraft, als der Schmerz ihn an seiner empfindlichsten Stelle traf. Er stöhnte und krümmte sich vor Schmerzen, konnte sie nicht mehr festhalten und in dem Moment, als er sie losließ, traf ihn ein weiterer Schuss direkt in die Brust. Zuerst realisierte er es gar nicht, bis er dann selbst das Blut an seiner Hand sah, als er sie auf die Stelle gepresst hatte. In dem Moment versagten seine Beine endgültig den Dienst und er brach zusammen. Seltsamerweise spürte er die Schmerzen kaum, denn in seinem Inneren tat es noch mehr weh. Tränen ließen seine Sicht verschwimmen und zuerst verstand er nicht, wieso ihm schon wieder die Tränen kamen. Normalerweise war es ihm immer egal gewesen, wenn er in solch eine Situation geriet und sein Leben auf dem Spiel stand, denn sein Leben war ihm egal. Aber warum war er denn jetzt plötzlich am Weinen, als er in den Lauf der Waffe blickte, die gleich seine mehr als trostlose Existenz beenden würde? Jetzt, da er zumindest zu einem gewissen Grad wieder seine eigenen Gefühle wahrnehmen konnte, verstand er endlich, wieso er so traurig darüber war, dass er jetzt gleich sterben würde. Und das Schlimmste daran war, dass er jetzt nichts mehr tun konnte, um sich gegen dieses Schicksal zu wehren. So sehr er es auch wollte, sein Körper würde das nicht mehr schaffen und selbst wenn er es könnte, die Kugel würde ihn sowieso gleich in den Kopf treffen und ihn töten. Was für eine verdammte Ironie die ganze Situation doch war. All die Jahre hatte er es sich gewünscht, endlich zu sterben um aus dieser Hölle zu entkommen und jetzt, da er unbedingt am leben bleiben wollte, würde er sterben. Warum konnte das Leben denn nicht ein einziges Mal fair zu ihm sein und ihm wenigstens eine Chance geben? Naja, wenigstens waren Charity und die anderen in Sicherheit und würden überleben. Das war doch ein tröstlicher Gedanke und irgendwann würde Charity schon darüber hinwegkommen und auf andere Weise ihr Glück finden. Ihr Glaube hatte ihr doch schon geholfen, über den Tod ihrer Eltern hinwegzukommen, da würde sein Tod doch sicherlich auch nicht so tragisch für sie werden. Immerhin kannten sie sich beide sowieso kaum und mit Sicherheit wäre sie mit ihm auch niemals glücklich geworden. Ja, es ist okay so wie es ist. Es wäre doch sowieso auf die Entscheidung hinausgelaufen, ob ich oder jemand anderes sterben muss. Aber wenigstens kann ich mit der Gewissheit sterben, dass Charity und ihre Großmutter in Sicherheit sind. Wenigstens konnte dieser Gedanke ihn ein klein wenig trösten.

Der Traum vom Tod

Innerlich hatte sich Jesse vorbereitet und erwartete, dass er hier gleich auf der Stelle sterben würde. Der Gedanke, dass wenigstens Marco, Chibi und die Witherfields in Sicherheit waren, tröstete ihn über seinen bevorstehenden Tod hinweg. So hatte er wenigstens nicht ganz so viel zu bereuen. Das Einzige, was er wirklich bereute war die Tatsache, dass er nun nicht mehr die Chance bekommen würde, sein Leben zu ändern und seine Probleme in den Griff zu bekommen. Und er würde Charity nie wieder sehen und ihr sagen können, dass diese ganze Aktion ihm wirklich Leid tat. Gerne hätte er noch diese eine Chance gehabt, aber es war in Ordnung so. Wenn es die anderen rettete, dann nahm er dieses Ende gerne hin. Doch als er wehrlos am Boden lag und nichts tun konnte, außer den tödlichen Schuss zu erwarten, hörte er plötzlich laute Rufe. Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als er tatsächlich die Stimme von Marco erkannte. Sogleich ertönte lautes Hundegebell und als er aufsah, erkannte er tatsächlich die Pitbull Terrierhündin Shy, die direkt herbeigelaufen kam. Mit gefletschten Zähnen und einem angriffslustigen Bellen sprang sie auf Veronica und vergrub ihre Zähne in die Jacke. Und kaum, dass sie sich festgebissen hatte, begann sie wie verrückt am Ärmel ihres Opfers zu zerren. Als es Veronica aber dann gelang, sich loszureißen, griff die Hündin erneut an und bekam wieder den Ärmel zwischen die Zähne. Die dabei wirkende Kraft war so enorm, dass Veronica kaum imstande war, gegen Shy vorzugehen. Bei diesem heftigen Gerangel ließ sie versehentlich die Waffe fallen und versuchte sich stattdessen loszureißen, doch Shy zerrte mit ihrem ganzen Gewicht, den ein ausgewachsener Pitbull Terrier auf die Waage brachte, an ihrem Ärmel. Im selben Moment eilte Marco herbei und pfiff die Hündin zurück. Er nahm die Waffe an sich und griff in dem Moment an, als Shy brav von ihrer Beute losließ und sich zurückzog. Nach einem kurzen Kampf schaffte er es, Veronica zu fesseln. Diese schrie und wehrte sich wie eine Furie, aber gegen einen Mann von Marcos Format hatte selbst sie nicht den Hauch einer Chance. Mit Mühe gelang es ihm, ihre Hände mit Klebeband zu fixieren, danach versuchte er, auch ihre Füße zu fesseln. Jesse glaubte zuerst an eine durch hohen Blutverlust verursachte Halluzination oder an einen Traum. Das konnte doch unmöglich sein. Wieso war Marco denn hier? Er sollte doch auf Charity aufpassen! Wieso war er denn nicht bei ihr? Aber sogleich hörte er noch weitere Schritte und eine vertraute Stimme seinen Namen rufen. Und tatsächlich sah er Charity, die sich selbst in einem fürchterlichen Zustand befand. Ihre Kleidung war nass und auch ihr Haar sah nicht viel besser aus. Sie musste während des Platzregens die ganze Zeit nach ihm gesucht haben und bei diesem Anblick überkam ihm das schlechte Gewissen. Seinetwegen hatte sie sich solche Sorgen gemacht und sah jetzt so aus. Aber vor allem schmerzte es ihn, sie so traurig zu sehen. „Jesse!“ rief sie und kniete sich neben ihn hin. Sie hatte Tränen in den Augen und konnte kaum ein Wort hervorbringen, außerdem zitterte sie am ganzen Körper und hatte Mühe, in dieser Situation ruhig zu bleiben. „Keine Sorge, der Notarzt kommt gleich. Halte bitte durch, okay? Versprich mir, dass du durchhalten wirst!“ Jesse war völlig verwirrt und verstand das alles nicht. Woher wusste sie, dass er hier war und dass er in Schwierigkeiten steckte? „Charity… woher wusstest du…“ Sie holte ein Taschentuch hervor und drückte es auf seine Brust, wo die Kugel ihn getroffen hatte, um wenigstens den Blutverlust zu verringern. Dabei kämpfte sie selbst mit den Tränen und brachte kaum ein Wort hervor. Er selbst musste die Zähne zusammenbeißen, da erneut ein wahnsinniger Schmerz durch seinen Körper zuckte und er beinahe geschrieen hätte. „Ich hatte Angst um dich. Irgendwie hatte ich das Gefühl, du würdest nie wieder zurückkehren, genauso wie meine Eltern. Also hab ich dich gesucht und als ich dich nicht finden konnte, bin ich mit Marco zur Polizei gegangen und habe dein Handy orten lassen. Und als wir die Schüsse hörten, haben wir sofort die Polizei und den Notarzt verständigt.“ Verstehe, dachte Jesse und betrachtete ihre von Tränen geröteten Augen. Ihr siebter Sinn war dafür verantwortlich, dass sie und Marco jetzt hier waren. Jeder Mensch kam ja mit so etwas zur Welt und offenbar hatte Charity deshalb gespürt, dass er in Schwierigkeiten steckte. So langsam begann er wirklich zu glauben, dass es tatsächlich Schicksal gewesen sein könnte, dass sich ihre Wege gekreuzt hatten. Er rettete ihr das Leben, sie holte ihn daraufhin von der Straße. Dann rettete er ihre Großmutter und sie war ihm im letzten Moment zusammen mit Marco zu Hilfe geeilt. Vielleicht hatte sie ja tatsächlich Recht und es war vorherbestimmt gewesen, dass sie zueinander finden würden. Zwar hatte er nie an Gott oder überhaupt an ein allmächtiges und höheres Wesen geglaubt, aber wäre diese eine Begegnung mit Charity nicht gewesen, wären sie beide nicht mehr am Leben. Und er wäre in den Glauben gestorben, dass die Welt auf Rücksichtslosigkeit, Habgier und Grausamkeit aufgebaut war. Nur mit Mühe konnte er die Augen offen halten, denn seine Kraft wich immer schneller und es würde nicht mehr lange dauern, bis er das Bewusstsein verlieren würde. Doch bevor das geschah, musste er es ihr unbedingt sagen. Danach konnte er getrost ohnmächtig werden. „Charity…“ Er hob seinen Arm, legte sanft seine Hand um sie und führte sie näher zu sich heran. Dann richtete er sich selbst auf und küsste sie. Und dieses Mal schien dieser Kuss anders zu sein als das letzte Mal, als sie ihn im Affekt geküsst hatte. Tatsächlich nahm er dabei Gefühle wahr und er spürte sie, aber das war so fremd für ihn, dass er sie nicht beschreiben und klar definieren konnte. Sie lösten sich recht schnell wieder und die Studentin war sichtlich verwirrt darüber. Denn so etwas hätte sie von ihm niemals erwartet. „Jesse… wa-was…“ So wirklich konnte sie das in ihrer aufgewühlten Gefühlslage nicht richtig einsortieren, denn sie wusste ja, dass er gefühlsblind war. Deshalb überraschte sie dieser plötzliche Kuss. Jesse selbst rang mit dem Bewusstsein und versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu halten, um ihr unbedingt das zu sagen, was er ihr schon längst sagen wollte. „Ich habe sehr viel nachgedacht. Über meine eigenen Symptome und über das, was du bei mir mit deinen Worten und deiner Fürsorge auslöst. Immer wenn ich dich traurig sah, ging es mir ebenfalls schlecht und als ich wieder abgehauen bin, konnte ich fast nur an dich denken. Und so etwas ist mir bis dahin noch nie wirklich passiert. Zwar habe ich Schwierigkeiten damit, die Gefühle anderer zu verstehen und auch meine eigenen wahrzunehmen. Aber inzwischen sind meine Gefühle so stark, dass ich sie trotz meiner Unfähigkeit in einem gewissen Grade erkennen kann.“

„Was willst du mir damit sagen?“ fragte sie und wurde ein wenig nervös. Hierauf hin nahm er ihre Hand und hielt sie fest, so wie sie es zuvor mit ihm getan hatte, wenn sie sein Leid geteilt hatte. „Ich will damit sagen, dass ich dich liebe… Ja, obwohl ich absolut unfähig in solchen Dingen bin, weiß ich endlich, was ich für dich wirklich empfinde. Nämlich, dass ich mich in dich verliebt habe.“ Damit war sie endgültig sprachlos und sogar Marco, der das alles mitgehört hatte, war völlig baff. Er hatte ja mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass Jesse von selbst erkannte, dass er Charity liebte und er es sogar offen aussprechen würde. Nicht weit von ihnen entfernt hörten sie die Sirenen der Polizei und die des Notarztes. Jesses Atmung wurde flacher und so langsam wurde ihm schwarz vor Augen. Aber vorher wollte er noch etwas loswerden. „Charity, es tut mir wirklich Leid, dass ich wieder abgehauen bin. Ich wollte nur nicht, dass euch etwas passiert.“ Mit einem traurigen Lächeln schüttelte sie den Kopf und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Schon gut, Marco hat mir alles erzählt. Ich verstehe, warum du das getan hast. Aber bitte, du darfst jetzt nicht sprechen, hörst du? Du brauchst deine Kräfte noch.“ Gerne wäre Jesse weiterhin bei ihr geblieben, doch als die Notärzte herbeieilten, während die Polizisten seine gefesselte Mutter abführten, wurden er und Charity auch schon wieder voneinander getrennt. Nur mit Mühe konnte er noch ein paar letzte Reaktionen auf die Worte des Sanitäters geben, dann verlor er endgültig das Bewusstsein. Sofort wurde er in den Krankenwagen gebracht, während dafür gesorgt wurde, dass sein Zustand stabilisiert wurde. Charity wollte sich nicht davon abbringen lassen, mit ins Krankenhaus zu fahren. Marco hingegen begleitete die Polizisten, um seine Aussage zu machen. Gerne hätte er Charity begleitet, aber er wusste mehr als jeder andere, dass er sowieso nichts bewirken konnte. Einer musste der Polizei den Vorfall erklären und Charity liebte Jesse nun mal. Also war es für ihn selbstverständlich gewesen, dass sie mitfahren würde und er erst einmal da blieb. In aller Ausführlichkeit schilderte er den Vorfall und wiederholte die gleiche Geschichte mindestens drei Male. Schließlich deutete einer der Beamten auf Shy und fragte nebenbei, ob Marco überhaupt die Auflagen für die Haltung eines solchen Kampfhundes erfülle. Damit holte der Tätowierer ein paar Papiere hervor, welche belegten, dass Shy einen Wesenstest bestanden hatte. „Shy tut nichts. Sie hat noch nie einen Menschen gebissen, sondern höchstens an den Klamotten gerissen. Aber sagen Sie bitte, was denn jetzt mit Mrs. Wyatt passiert.“

„Es wird einen weiteren Prozess geben. Immerhin ist sie aus dem Gefängnis ausgebrochen und hat versucht, ihren Sohn umzubringen. Auf sie wird also noch mal eine mehrjährige Haftstrafe zukommen.“

„Hoffentlich sperren sie diese Verrückte lebenslänglich weg. Oder noch besser: Sie sollten die Frau am besten in die geschlossene Anstalt einweisen lassen. So eine wie die ist gemeingefährlich. Wie ist sie denn überhaupt aus dem Knast entkommen?“

„Sie hatte einen Komplizen von außerhalb, der sie unauffällig aus dem Gefängnis schmuggeln konnte. Allerdings haben wir noch keinerlei Informationen, wer ihr zur Flucht verholfen hat. Momentan ermitteln wir noch. Fällt Ihnen vielleicht jemand ein?“ Hierauf musste der Ex-Rocker den Kopf schütteln. „Nein, tut mir Leid. Ich kenne die Frau selbst gar nicht, nur ihren Sohn Jesse. Aber ich hab noch ein paar Kontakte zur Szene. Wenn ich also etwas erfahre, werde ich mich sofort bei Ihnen melden.“ Damit gab der Polizist ihm seine Karte und nun konnte Marco endlich selbst zum Krankenhaus. Er rief sich ein Taxi und fuhr sofort los, denn er machte sich wirklich große Sorgen um Jesse. Der Junge war für ihn mehr als nur ein alter Bekannter oder bloß irgendein Kumpel. Und er war auch nicht irgendjemand, den er von der Straße aufgelesen hatte. Jesse war für ihn ein besonderer Junge, der mit seiner Gabe vielleicht zu etwas Höherem bestimmt war. Und deshalb musste er ihn begleiten und ihm helfen. Obwohl der Altersunterschied vielleicht gerade mal 16 Jahre betrug, fühlte sich Marco in gewisser Art und Weise auch wie ein Vater für ihn. Er respektierte seinen Wunsch, dass er keine zwischenmenschlichen Beziehungen eingehen wollte, aber er war dennoch immer für ihn da. Und Jesse kam dann auch auf ihn zu, wenn er merkte, dass er Hilfe brauchte. Auch wenn es dann meist nur solche Fälle wie bei Charity waren, wo sein Lebensretter ein bevorstehendes Unglück verhindern musste. Auch wenn er nie Dankbarkeit oder Freude gezeigt hatte, war sich Marco sicher, dass Jesse schon froh war, dass er sich wenigstens auf einen verlassen konnte. Doch die Aktion mit dieser verrückten Mutter hatte ihn schon zum Nachdenken gebracht. Vielleicht hätte er besser auf den Jungen aufpassen müssen, dann hätte es vielleicht nicht so weit kommen müssen. Wenn Charity nicht so hartnäckig geblieben wäre, dann hätte es seinen Tod bedeutet. Na hoffentlich überlebte er das Ganze auch. Marco war selbst schon mal angeschossen worden bei einem Bandenkrieg und wusste, dass besonders ein Schuss in die Brust lebensgefährlich werden konnte. Wenn Jesse bereits zu viel Blut verloren hatte, konnte das für ihn lebensgefährlich werden.

Vor dem Operationssaal traf er schließlich Charity und ihre Großmutter Grace an. Als die alte Dame gehört hatte, dass Jesse von seiner Mutter niedergeschossen wurde, hatte sie alles stehen und liegen lassen und war sofort zum Krankenhaus gefahren. Da Charity noch neben der Spur war und es nicht schaffte, ihr das alles zu erklären, stellte sich Marco ihr vor und übernahm diese Aufgabe. Etwas verwundert sah die pensionierte Lehrerin ihn an und fragte „Marco Stevens? Etwa der Marco Stevens?“ „Ja, ich war vor einer Ewigkeit in Ihrer Klasse gewesen. Habe aber leider nicht zu den Fleißigsten gehört.“

„Und Sie sind ein alter Freund von Jesse?“ Unsicher zuckte er mit den Schultern. „Er hat mir vor zehn Jahren das Leben gerettet und ich hab ihn auch damals von der Straße geholt, als er weggelaufen war.“ Er führte sie zu einem Stuhl und erklärte in aller Ruhe alles, was passiert war und auch die Hintergründe zu Jesses Verschwinden. Auch, dass er gebeten wurde, auf sie und Charity aufzupassen, während Jesse sich seiner Mutter offenbar alleine stellen wollte. Diese Geschichte nahm die alte Dame schon sehr mit, woraufhin Marco ihr und Charity erst einmal einen Kaffee holen ging. Chibi war auch kurz da gewesen, hatte ein paar Worte mit Marco gewechselt und ging dann auch schon wieder mit Shy nach Hause, da Hunde innerhalb des Krankenhauses nicht erlaubt waren. Nachdem Marco mit seinem Bericht fertig war, fragte er besorgt „Gibt es schon etwas Neues von Jesse?“ Doch da konnte Charity nur mit bedrückter Miene den Kopf schütteln. „Er ist noch im OP-Saal. Er hat einen Streifschuss am rechten Bein, außerdem wurde er an der Hüfte und in die Brust getroffen. Wir wissen leider noch gar nichts und können erst mal nur abwarten. Allerdings war sein Zustand bereits sehr kritisch, weil er schon so viel Blut verloren hat.“ Grace betrachtete ihre Enkelin mit Besorgnis und sah, dass sie sehr unter der Situation litt. Kein Wunder, denn das alles erinnerte sie zu sehr an den Verlust ihrer Eltern, auch wenn es schon 15 Jahre her waren. Für sie kam noch hinzu, dass sie Jesse liebte und da war es ganz anders, als wenn er bloß ein einfacher „Untermieter“ war. Was Grace besonders traf, waren die Umstände von Jesses Verletzungen. Seine eigene Mutter hatte ihn niedergeschossen und hätte ihn getötet, wenn Marco nicht dazwischen gegangen wäre. Sie konnte und wollte beim besten Willen einfach nicht begreifen, wie eine Mutter nur so grausam zu ihrem Kind sein konnte. Jesse war doch kein schlechter Mensch und er selbst litt unter der ganzen Situation. Wie also kam sie dazu, ihrem eigenen Sohn so etwas nur anzutun? Bedrücktes Schweigen herrschte und Charity hielt ihren Rosenkranz umklammert, als wolle sie beten. Tröstend legte Grace einen Arm um ihre Schultern und versuchte, ihr gut zuzureden. Schluchzend umarmte die Studentin sie und alle Gefühle brachen aus ihr heraus. „Was, wenn er es nicht schafft?“ fragte sie und klammerte sich fester an sie. „Oma, was ist, wenn die Ärzte ihn nicht retten können?“

„Beruhige dich doch, Cherry. Noch wissen wir nichts und können nur das Beste hoffen.“ Doch die Wartezeit schien sich ewig hinzuziehen. Und die Angst um Jesses Leben wurde immer größer. Zwar wusste Charity noch nichts Genaues, aber so wie die Sanitäter gesagt hatten, sah es nicht gut aus und somit stand auch die Befürchtung im Raum, dass Jesse noch in dieser Nacht sterben könnte. In solchen Momenten konnte sie nur tatenlos warten und beten, dass die Ärzte sein Leben retten konnten.
 

Es war derselbe Ort, an dem er schon so viele Male gewesen war. Normalerweise hatte er in seinen Träumen immer Angst davor, hier zu sein, denn er wusste, was dieser Traum für eine Bedeutung hatte. Die Luft war kühl, in der Ferne hörte er die Raben und die ganze Landschaft lag grau und düster da und erinnerte ein wenig an einen düsteren Tim Burton Film. Anders konnte man diese trostlose Gegend einfach nicht beschreiben, in der es nichts gab. Keine Menschen, keine Farben, kein Licht, keine Hoffnung. Für Jesse war dieser Anblick nichts Neues, er kannte das alles schon seit knapp 13 Jahren und hatte schon längst keine Angst mehr vor der Gegend. Nein, seine Angst galt immer demjenigen, der ihn hier erwartete. In der Ferne hörte er das Geräusch beschlagener Hufe und als er seinen Blick nach rechts wandte, sah er bereits die pechschwarze Kutsche und die ebenso schwarzen Pferde. Auf dem Kutschbock saß niemand anderes als Mr. Deadman und seine roten Augen funkelten unheimlich. Er summte ein Lied, das Jesse zwar bekannt vorkam, jedoch konnte er es nicht wirklich zuordnen. Und er ahnte nichts Gutes, als er die Kutsche sah, welche schließlich direkt vor ihm stehen blieb. Nun stieg der Kutscher ab und seine rot leuchtenden Augen wirkten fast schon dämonisch, genauso wie sein breites Grinsen. Aber obwohl er etwas Bedrohliches an sich hatte, wusste Jesse, dass Mr. Deadman nicht gefährlich war. Er würde nichts tun, um ihm zu schaden, oder ihm zu helfen. „Hallo Jesse“, grüßte er ihn, wobei er seinen Zylinder kurz zur Begrüßung abnahm. Jesse seinerseits grüßte ihn nicht, sondern wich einen Schritt vor ihm zurück. Als der Kutscher das sah, musste er lachen. „Nach all den Jahren hast du immer noch Angst vor mir, mein Junge? Dabei weißt du doch selbst, dass ich nur ein Bote bin. Und der Tod selbst steht auf keiner Seite. Er ergreift niemals Partei und ist vollkommen neutral. Demnach ist er weder dein Freund, noch dein Feind.“

„Warum zeigst du mir all diese Dinge überhaupt? Wieso ausgerechnet mir?“

„Weil du in der Lage bist, es zu erkennen und zu verstehen. Du besitzt nun mal diese Gabe, deshalb bin ich auch der Bote. Nicht immer hat alles einen Grund oder folgt einem höheren Prinzip, auch wenn es schwer zu verstehen, oder zu akzeptieren ist. Manche Dinge geschehen einfach und man muss lernen, mit ihnen zu leben. Aber nun mein Junge, wird es langsam Zeit.“ Ein ungutes Gefühl beschlich Jesse, als er das hörte. Normalerweise sagte Mr. Deadman so etwas nicht, sondern nannte ihm meist nach einem kurzen Wortwechsel den Namen der Person innerhalb der Kutsche und zeigte sie ihm. Doch als die Tür geöffnet wurde, sah Jesse, dass da niemand drin war. Nun bekam er Angst, als er in diese schwarze Leere blickte. Denn insgeheim beschlich ihn eine schlimme Vorahnung. Und dann legte Mr. Deadman ihm eine Hand auf die Schulter. „Es wird Zeit, Jesse. Du weißt, was zu tun ist.“ Obwohl er nichts Klares sagte, wusste Jesse, was das zu bedeuten hatte: Er war es, der in der Kutsche sitzen sollte. Er war es, der sterben würde! Entsetzt wich er zurück und konnte nicht fassen, dass er tatsächlich sterben sollte. „Nein, ich geh da nicht rein!“ „Warum nicht?“ fragte der Kutscher mit den rot leuchtenden Augen und sah ihn neugierig an. „Immerzu hast du dir gewünscht, dich selbst eines Tages in dieser Kutsche zu sehen und deinen Namen zu hören. Und jetzt willst du auf einmal nicht? Woher denn der plötzliche Sinneswandel?“

„Weil ich nicht mehr vor dem Leben davonlaufen will, ebenso wenig wie vor meiner Gabe. Ich dachte all die Jahre, dass mein Traum für Lucas Tod verantwortlich gewesen war. Aber das stimmt nicht, das habe ich endlich erkannt. Es gibt Menschen, die daran glauben, dass ich mit diesem siebten Sinn Leben retten kann und dass ich auch mein eigenes Leben in den Griff bekommen kann. Ich will eine zweite Chance!“

„Tut mir Leid mein Junge, aber ich mache die Regeln leider nicht. Ich befolge sie bloß und tue das, was ich tun muss. Und ich kann keinerlei Einfluss ausüben.“

„Und wer kann das?“ Hierauf gab Mr. Deadman keine Antwort, aber Jesse kannte sie schon. Er gehörte ja auch zu ihnen. Es waren Menschen, deren siebter Sinn anders funktionierte als der von anderen. Indem sie ahnten, was passieren würde, konnten sie in das Geschehen eingreifen. Sie konnten das Schicksal beeinflussen. Aber konnte er aus eigener Kraft auch sein eigenes ändern und seinen Tod verhindern? Fakt war, dass er nicht gehen wollte. Er wollte nicht sterben! „Ich gehe definitiv nicht mit dir mit. Vergiss es!“ Jesse wollte davonlaufen, doch er war wie erstarrt und konnte sich nicht bewegen. Sein ganzer Körper war wie gelähmt und er sah das Grinsen des Kutschers, welcher nichts Gutes im Schilde führte. „Es ist zwecklos, dich dagegen zu wehren, Jesse. So wie auch Luca in diese Kutsche gestiegen ist, so wirst das auch du tun.“ Jesse bekam nun Todesangst, denn er wollte nicht gehen. Er wollte nicht in diese unheimliche Kutsche steigen! Plötzlich packte ihn jemand von hinten und das war nicht Mr. Deadman. Diese Hände waren so kalt, dass sich ihre Berührungen wie tausend Nadelstiche anfühlten. Und als er sich umwandte, erschrak er, als er in die Augen einer Person blickte, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hatte schwarzes Haar, trug eine rote Kapuzenjacke und ihre Augen… sie waren weiße Kugeln ohne Pupille und Iris. Diese Augen sahen unmenschlich und seelenlos aus, trotzdem aber schienen sie ihn direkt anzustarren. Die Person grinste ihn an und drückte ihn gewaltsam zur Kutsche hin. „Du wirst gehen! Und dann gehörst du mir.“ „Nein, lass mich los!“ schrie Jesse und fand nun endlich die Kraft, sich zur Wehr zu setzen. Er stieß die unheimliche Person mit den leeren Augen von sich und rannte davon. Wohin er fliehen sollte, wusste er selbst nicht, er folgte einfach seinem Gefühl, das ihn in eine unbestimmte Richtung führte. Hinter sich hörte er das Getrappel der Hufe und ihm war klar, was das bedeutete: Mr. Deadman war hinter ihm her und wollte ihn holen. Er sollte als nächstes sterben, aber er wollte nicht. Doch wie konnte er seinen eigenen Tod verhindern, wenn er nicht mal bei Bewusstsein war? Plötzlich hörte er eine Stimme. Eigentlich hörte er sie nicht direkt, sie kam aus seinem Kopf. Irgendjemand rief ihn zu sich, aber wer es war, konnte er nicht genau sagen. Doch er spürte, dass er dieser Stimme besser folgen sollte, wenn er nicht von Mr. Deadman eingeholt werden wollte. Also rannte er weiter und erreichte schließlich eine Art Kathedrale, die einen ebenso düsteren Eindruck machte wie der Rest. Doch als er schon die Stufen hinaufstieg, sah er aus dem Inneren des Gebäudes eine Gestalt in einer Kutte gekleidet herbeieilen, deren Gesicht er wegen der Kapuze nicht erkennen konnte. Trotzdem wusste er, wer diese Person war: Der namenlose Fährmann aus seinen Träumen. Er kam direkt zu ihm gelaufen, ergriff seinen Arm und zerrte ihn mit sich. Im allerletzten Moment gelang es ihnen, sich ins Innere der Kathedrale zu retten, bevor die Kutsche sie eingeholt hatte. Mit einem donnernden Laut fiel die Tür zu und wurde direkt verriegelt, damit niemand hineingehen konnte. Keuchend lehnten sie sich gegen die riesige Tür und Jesse sah sich erst einmal um. Die Kathedrale war gigantisch und schien überhaupt kein Ende zu haben. Stattdessen sah er nur eine endlose Reihe von Säulen und Licht strahlte durch die Mosaikfenster, wodurch bunte Reflexionen auf dem Boden zu sehen waren. Drinnen war es viel größer als draußen und der 23-jährige fragte sich, was nun passieren würde. Was hatte der Fährmann denn mit ihm vor und wieso hatte er ihn gerettet? Naja, eigentlich brauchte er sich diese zweite Frage ja nicht mehr zu stellen. Der Fährmann beschützte ihn immer. Er zeigte ihm alle positiven Dinge, die in der Zukunft passieren würden und versuchte ihn auch davor zu bewahren, mit Sariel konfrontiert zu werden. Jesse wandte sich zu seinem Retter um und sah, dass der namenlose Fährmann seine Kapuze abgenommen hatte. Zum allerersten Mal sah er sein Gesicht und stellte fest, dass er sehr jung war, sogar noch jünger als er selbst. Es war ein blondhaariger Junge von knapp 15 oder 16 Jahren mit einer sehr blassen Haut. Ein wenig kränklich und schwach sah er schon aus. „Was geht hier vor sich und warum tauchst du in diesem Traum hier auf? Ich… ich verstehe das nicht.“ „Du wolltest doch nicht gehen, oder?“ fragte der Fährmann, ohne direkt auf Jesses Frage zu antworten. „Du wolltest eine zweite Chance und vor dem dir vorbestimmten Schicksal fliehen.“

„Etwa, dass ich sterben werde?“ Der Fährmann nickte und sah ernst aus. „Keine Sorge, du wirst nicht sterben. Du wirst überleben und dann werden wir uns irgendwann wieder sehen, versprochen.“ Damit umarmte er den 23-jährigen und irgendwie fühlte sich diese Umarmung seltsam an. Es war, als ob irgendetwas Jesse die ganze Kraft entzog und ihm langsam aber sicher das Bewusstsein raubte. Er verlor die Kraft in den Beinen und sank zu Boden. Die Welt vor ihm begann ins Dunkel zu versinken, doch bevor er endgültig bewusstlos wurde, wollte er den Fährmann noch etwas fragen. Er wollte wissen, was das alles zu bedeuten hatte, doch als er in das Gesicht des Fährmanns blickte, blieben ihm diese Worte im Hals stecken. Denn mit Entsetzen sah er, dass es plötzlich nicht mehr der Fährmann war, sondern wieder diese unheimliche Person mit den leeren Augen. Und sie grinste ihn diabolisch an und lachte. Jesse wurde von Angst ergriffen und wollte sich losreißen, doch da wurde alles schwarz um ihn herum. Das Einzige, was er noch hörte, war das Gelächter der Person mit den leeren Augen und in der Ferne das Getrappel von Hufen. Und dann vernahm er von irgendwo her weit weg die Stimme des Fährmanns, der seinen Namen rief und immer leiser wurde, bis seine Stimme Jesses Ohren nicht mehr erreichte. Und dann hörte er etwas anderes. Eine andere Stimme, die er überhaupt nicht kannte, rief jemanden und irgendwo ertönte ein monotones Piepen, welches schließlich zu einem kurzen Piepen in rhythmischen Intervallen wurde. Was war das für ein Ton, der solch ein Unbehagen in ihm auslöste? Ja richtig, es war ein EKG. Er hatte wohl gerade einen Herzstillstand gehabt. Also war das nicht bloß ein Traum gewesen und er wäre beinahe wirklich gestorben, hätte der Fährmann ihn nicht gerettet. Doch eines kam ihm seltsam vor: Wieso nur hatte der Fährmann seine Kapuze abgenommen und ihm damit sein Gesicht offenbart? So etwas hatte er noch nie zuvor getan und er selbst war verwundert, dass er so jung war. Wieso nur war es ausgerechnet der Fährmann gewesen, der ihn vor Mr. Deadman gerettet hatte und was hatten seine Worte zu bedeuten? Irgendwie war dieser Traum ganz anders als jene, die er sonst immer hatte. Und wer war diese seltsame Gestalt mit den leeren Augen gewesen? Allein die Erinnerung an diese vollkommen weißen Augen jagte Jesse Angst ein und irgendwie beschlich ihn das Gefühl, als hätte dieser Traum eine ganz bestimmte Bedeutung. Vielleicht… vielleicht hatte es mit seiner Vergangenheit zu tun. Oder mit seiner Zukunft. Seine Träume waren anders als die von anderen Menschen, denn in seinen hatte er einen Blick auf die Zukunft. Also musste die Person mit den leeren Augen eine wichtige Rolle spielen. Und wahrscheinlich hatte auch der Fährmann irgendeine wichtige Funktion bei der ganzen Sache. In diesem Moment fiel Jesse auch auf, dass er dem Fährmann nie einen eigenen Namen gegeben hatte. Bei den anderen war es ihm nicht sonderlich schwer gefallen. Den Kutscher hatte er einfach Mr. Deadman genannt, weil es ihm so passend schien, da dieser ihm ja die Personen zeigte, die bald sterben würden. Und Sariel war nach dem biblischen Todesengel benannt worden. Aber einzig der Fährmann war namenlos. Warum eigentlich? Das konnte sich Jesse selbst nicht erklären, aber Fakt war, dass er dank ihm wahrscheinlich dem Tod entkommen war. Dank dem Fährmann hatte er nicht in diese furchtbare Kutsche einsteigen müssen, so wie damals sein kleiner Bruder Luca. Er war dem Tod entronnen und war am Leben… Doch damit wich auch der Rest von Jesses Bewusstsein und er versank gänzlich in dieser schwärzlichen Tiefe. Seltsamerweise fühlte es sich ganz angenehm und vertraut an, er fühlte sich vollkommen schwerelos und frei. Was war das wohl für ein Zustand, in dem er sich gerade befand? War er jetzt doch tot? „Jesse…“ Wie aus weiter Ferne hörte er diese Stimme, die da zu ihm sprach. Er kannte diese Stimme, aber wem gehörte sie denn? Jesse wollte es unbedingt wissen. Sein Gefühl sagte ihm, dass er diesen Zustand verlassen und die Augen öffnen musste. Doch es war nicht so einfach, wie er dachte. Es kostete ihn eine unglaubliche Kraftanstrengung, ins Bewusstsein zurückzukehren und seine Augen zu öffnen. Zuerst sah er nichts außer blendendem Licht und er hörte nur das rhythmische Piepen des EKGs. Aber als er blinzelte, wurde seine Sicht ein wenig klarer und er spürte auch jetzt, dass sich sein Körper schwer wie Blei anfühlte und offenbar mit Schmerzmitteln vollgepumpt war. Sein Kopf dröhnte noch und für einen Moment fragte er sich, wieso er sich dazu entschlossen hatte, überhaupt aufzuwachen. Aber als er dieses vertraute Gesicht sah, da verstand er es endlich. Charity… er wollte ihretwegen wieder aufwachen. Sie sah schrecklich aus. Ihr Haar war unfrisiert und ihre Augen von Tränen gerötet. Wie gerne hätte Jesse ihr etwas gesagt, aber er schaffte es ja kaum, seine Augen offen zu halten und bei Bewusstsein zu bleiben. „Charity…“ Nun trafen sich ihre Blicke und die Erleichterung bei ihr war nicht zu übersehen. Sie nahm seine Hand, zitterte aber selbst am ganzen Körper. „Gott sei Dank, ich hatte schon solche Angst. Als es hieß, dass du einen Herzstillstand hattest, dachte ich, ich würde dich nie wieder sehen.“ Also doch, er hatte einen Herzstillstand gehabt und es war kein Traum gewesen. Er hätte sterben sollen, aber er war am Leben, weil der Fährmann ihn gerettet hatte. „Du hast uns echt ganz schön erschreckt, Junge.“ Mit Mühe erkannte er Marco und Grace, die ebenfalls hier waren. Und auch sie sahen aus, als hätten sie Angst um ihn gehabt. „Ruh dich erst einmal aus und komm schnell wieder auf die Beine, ja? Mach dir keine Sorgen, es kann dir nichts mehr passieren.“ „Und was ist mit Mum?“

„Sitzt wieder im Gefängnis. Und so wie es aussieht, wird sie die nächsten Jahre dort bleiben.“ Was für ein Glück, dachte er und schloss die Augen. Seine Mutter würde wieder weggesperrt werden, damit sie niemandem mehr etwas tun konnte. Und zum Glück hatte sie Charity und den anderen nichts getan. Es ging ihnen gut und auch er lebte. Er hatte tatsächlich eine zweite Chance bekommen. Doch so wirklich konnte er es noch nicht glauben, bis Charity seine Hand nahm und er mit Gewissheit wusste, dass dies die Realität war und nicht bloß ein Traum. Er war wirklich am Leben! Obwohl er kaum Kraft in seinem Körper hatte, drückte er ihre Hand fest, als wolle er sie nie wieder loslassen. Und wieder spürte er diesen stechenden Schmerz in seinem Inneren, der aber nicht von seinen Verletzungen herrühren konnte. Seine Brust schnürte sich zusammen und ihm kamen schließlich die Tränen. Aber wieso weinte er denn und hatte diese Schmerzen, wenn es keinen Grund gab, traurig zu sein? Ganz einfach, er war glücklich. Glücklich, dass er am Leben war und dass er nun endlich verstand, was er für Charity empfand. Er liebte sie, genauso wie sie ihn liebte. Und er hatte die Chance, sein Leben zu ändern. „Charity…“ Mit einem zärtlichen Lächeln und von Tränen glänzenden Augen strich sie ihm durchs Haar. „Wir kriegen das alles schon hin, okay? Werde du erst mal wieder gesund. Du hast wirklich großes Glück gehabt. Die Kugel selbst hatte keine wichtigen Organe verletzt, aber dein Blutverlust war bereits so kritisch, dass du deswegen sogar einen Herzstillstand hattest. Das Schlimme aber war, dass sie nicht mehr genügend Blutkonserven hatten. Aber glücklicherweise hatte sich jemand gemeldet, der dieselbe Blutgruppe hat wie du und damit konnte dir das Leben gerettet werden.“ Jesse sah, wie sie am ganzen Körper zitterte, weil sie sich so zusammenreißen musste. „Ich… ich hatte solche Angst um dich…“ Schließlich aber legte die alte Frau einen Arm um ihre Enkelin und führte sie raus, da Jesse jetzt dringend Ruhe brauchte. Marco wartete, bis die beiden das Zimmer verlassen hatten, dann legte er eine Hand auf Jesses Schulter. „Mach mir nie wieder so einen Scheiß, ja? Auch wenn es dir schwer fällt zu glauben, es gibt Menschen, die sehr unglücklich wären, wenn du sterben würdest. Und mit 23 Jahren bist du noch definitiv zu jung, um schon zu gehen. Also mach nie wieder solche Alleingänge, kapiert? Du weißt ja: Wenn du Probleme hast oder Hilfe brauchst, du kannst jederzeit zu mir kommen. Und die Kleine ist ein wahres Gottesgeschenk für dich. Sie liebt dich und sie nimmt dich so wie du bist. Mag sein, dass dich deine Eltern, dein Onkel und all die anderen in deiner Vergangenheit im Stich gelassen haben, aber wir werden dich nicht fallen lassen. Aber dafür darfst du dich nicht selbst aufgeben.“

„Das werde ich nicht“, brachte Jesse mit schwacher Stimme hervor. „Ich werde nicht aufgeben. Mir hat mal jemand gesagt: Wenn man ganz unten ist, kann es ja nur noch nach oben gehen. Und ich will auf jeden Fall wieder nach oben…“

„Dort ist auch die Aussicht bei weitem schöner. Glaub mir, das weiß ich aus Erfahrung. Dank dir bin ich jetzt hier und konnte mein Leben ändern. Du schaffst das auch, da bin ich mir ganz sicher. Ich komm dich aber morgen wieder besuchen.“ Damit verabschiedete sich auch der ehemalige Sträfling und ließ Jesse allein. Und dieser fiel bereits kurz darauf wieder in einen tiefen, aber traumlosen Schlaf.

Neue Pläne

Obwohl die Zeit im Krankenhaus relativ einsam und eintönig war, ging sie trotzdem überraschend schnell vorbei, insbesondere weil Charity die meiste Zeit bei Jesse verbrachte und sie viel miteinander redeten. Als er nach zwei Wochen wieder einigermaßen fit genug war, saßen sie auch mal draußen im Park des Krankenhauses und genossen die restlichen Sonnenstrahlen vor dem Herbst. Auch Marco, Grace und Chibi kamen häufig zu Besuch, wodurch es eigentlich kaum langweilig wurde. Über die Geschehnisse an der Baustelle hatten sie eigentlich noch nicht wirklich gesprochen. Zwar wurde Jesse bereits von der Polizei befragt und hatte seine Aussage gemacht, aber trotzdem fiel es allen Beteiligten schwer, darüber zu sprechen. Charity und die anderen wollten bei Jesse keine Wunden aufreißen und er wusste einfach nicht, wie er darüber sprechen konnte. Obwohl er seit der Auseinandersetzung mit seiner Mutter in einem sehr geringen Grad wieder seine Gefühle wahrnehmen konnte, fiel es ihm dennoch sehr schwer, über sie zu sprechen und sie zu erklären. Also schwieg er lieber darüber, oder versuchte es zumindest Charity zu erklären, die ihn inzwischen besser verstand als jeder andere Mensch sonst. Schließlich, als sie gemeinsam wieder im Park saßen und das sonnige Wetter genossen, wurde Jesses Blick wieder etwas trübsinnig und Charity ahnte, dass ihn etwas beschäftigte. Doch er brauchte eine Weile, bis er einen Anfang fand. „Weißt du Charity… es gibt einen bestimmten Grund, warum ich keine Bücher lese“, sagte er und machte wieder eine Pause, um zu überlegen, wie er seine Worte am besten formulieren konnte. „Eigentlich ist es nicht so, dass ich grundsätzlich etwas gegen das Lesen habe. Früher habe ich gerne Bücher gelesen, aber irgendwann konnte ich es einfach nicht mehr. Mein siebter Sinn wurde immer stärker und ich konnte ihn nicht unterdrücken. Zuerst waren es bloß kleinere Dinge, aber mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Wenn ich ein Buch lesen will, brauche ich nur die ersten Zeilen zu lesen und weiß schon, wie der Schluss aussehen wird. Ich kenne das Ende bereits, bevor ich überhaupt die erste Seite fertig habe und was nützt es mir dann, es dennoch weiterzulesen, wenn ich doch schon die Auflösung kenne? Genauso funktioniert mein siebter Sinn auch im richtigen leben: Indem ich verschiedene Lösungswege ausarbeite, kann ich schon von vornherein genau erkennen, wie es ausgehen wird. So wusste ich auch, dass du und deine Oma sterben werden, wenn ich bei euch geblieben wäre. Dasselbe Schicksal wäre Chibi und Marco ereilt, wenn ich mich bei ihm versteckt hätte. Und gänzlich abzuhauen hätte euch alle ins Unglück gestürzt. Also blieb mir nur dieser eine Weg, doch meine Gabe hat einen entscheidenden Haken: Zwar kenne ich die Auflösung, aber nicht das, was bis dahin passiert. Ich bin kein Hellseher, also bin ich gezwungen, immer die Augen offen zu halten und spontan zu reagieren, eben weil ich nie alle Details kenne. Deshalb wusste ich auch nicht, dass du und Marco mich finden würden. Ich wusste nur, dass du mich suchen und in Schwierigkeiten geraten würdest. Deshalb bat ich Marco, auf dich aufzupassen.“ Die Studentin sagte nichts dazu, sondern betrachtete ihn eine Weile. Ihr war schon aufgefallen, dass Jesse nach der Konfrontation mit seiner Mutter irgendwie anders war als sonst. Er verhielt sich überhaupt nicht mehr so abweisend wie sonst und er hatte auch nicht mehr dieses ausdruckslose und emotionslose Gesicht wie sonst. Es schien so, als wäre ein Teil seiner inneren Blockade durch diese ganze Sache gebrochen und tatsächlich schaffte er es mit großer Mühe, seine Gefühle zu erklären und sie auch auszudrücken. Zumindest in seinem sehr geringen Grade, aber das störte sie auch nicht. Stattdessen freute sie sich, dass er endlich mal über seine Probleme sprach und nicht immer so desinteressiert und kalt wirkte wie zuvor. Sie wusste, dass es für ihn sehr schwer war und ihn teilweise auch Überwindung kostete, sich auch ihr gegenüber zu öffnen. Meist brauchte er auch so seine Zeit, um sich die richtigen Worte zurechtzulegen, damit es auch keine Missverständnisse gab. Doch Charity war sehr geduldig und hörte ihm aufmerksam zu. Aber vor allem hatte sie auch Verständnis und wusste oft, was er sagen wollte und konnte ihm auch so helfen, die richtigen Worte zu finden. Deshalb verstand sie auch, was Jesse ihr mit diesem Buchgleichnis erklären wollte. Der Grund für seine ganzen Alleingänge und seine zynische Art war einfach der, weil er oft genug wusste, wie alles enden würde und dass er nichts dagegen machen konnte. Ihm blieb lediglich die Möglichkeit, den Weg zu wählen, der zumindest keine anderen Leben in Gefahr brachte. Aber meist war er dann derjenige, der den Schaden davontrug. So wie auch, als er von seiner Mutter mehrfach angeschossen wurde. Die Studentin seufzte und nahm seine Hand. „Jesse, du siehst das alles viel zu pessimistisch. Weißt du, ich habe schon viele Bücher gelesen. Gute und schlechte. Es gibt aber ein Buch, das ich besonders gerne lese und ehrlich gesagt, weiß ich schon gar nicht mehr, wie oft ich es schon gelesen habe. Wahrscheinlich schon um die 20 Male und ich hab es als Hörbuch genauso oft gehört und kenne es nahezu in und auswendig. Trotzdem würde ich es jederzeit wieder lesen, obwohl ich den Schluss bereits kenne.“

„Und warum? Was macht es denn für einen Sinn, ein Buch zu lesen, wenn man das Ende schon kennt?“

„Aus demselben Grund, wieso wir Frauen uns immer Schnulzen ansehen, obwohl wir wissen, dass sich beide immer am Ende kriegen: Weil die Geschichte schön genug ist, um sie sich immer wieder anzusehen. Und deshalb lese ich dieses eine Buch immer und immer wieder: Weil der Weg zur Auflösung einfach so unterhaltsam ist. Im Grunde verhält es sich mit dem Leben doch nicht anders: Manchmal wissen wir von vornherein, wie irgendetwas enden wird, aber wir tun es trotzdem. Einfach weil es die Erfahrung wert ist.“ Jesse lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück und sein Blick rückte in die Ferne, wodurch er einen sehr abwesenden Eindruck machte. Daran konnte Charity immer sofort erkennen, dass er nachdachte. Seitdem sie ihm gesagt hatte, dass sogar er eine zweite Chance verdiente, ließ er sich ihre Worte immer durch den Kopf gehen und nahm sie sich zu Herzen. Er selbst wusste, dass er ein zynischer Pessimist war, der weder eine hohe Meinung vom Leben, als von den Menschen hatte. In seinen Augen funktionierte die ganze Welt nur auf dem Prinzip „Geben und Nehmen“ und dass man für alles eine entsprechende Gegenleistung erbringen musste. Aber nun, da Charity seine ganze Weltansicht in Frage gestellt hatte, war er zum Umdenken gezwungen. Denn obwohl sie in vielen Dingen gutgläubig und naiv war, entgegnete sie seinen Anschauungen und Behauptungen mit schlagfertigen Argumenten. Irgendwie war ihr Optimismus schon ansteckend. Sie beide waren schon grundverschiedene Menschen. Jesse war ein zynischer und pessimistischer 23-jähriger Alkoholiker ohne Abschluss und Job und hatte nur dank Charity ein Dach über den Kopf. Und Charity war eine 22-jährige Studentin, eine naive und gutgläubige Frohnatur, die immer optimistisch blieb und von einer eigenen Konditorei träumte. Im Grunde waren sie verschieden wie Tag und Nacht und passten eigentlich auf dem ersten Blick überhaupt nicht zusammen. Doch auf den zweiten Blick schien es Schicksal zu sein, dass sie zueinander gefunden hatten. Charitys Optimismus und ihr unerschütterlicher Glaube schafften es, Jesse aufzubauen und ihm Kraft und Hoffnung zu geben, sein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Und Jesse beschützte sie, wenn sie sich durch ihre unüberlegten Aktionen in Gefahr zu bringen drohte. Nach einer Weile sagte er schließlich „Vielleicht sollte ich es tatsächlich mal versuchen und einfach mal ein Buch lesen, ganz egal, ob ich den Schluss bereits kenne. Womöglich hast du ja Recht.“ Aber sie spürte, dass ihn immer noch etwas beschäftigte und so fragte sie nach. Doch er traute sich offenbar noch nicht so wirklich, es ihr zu sagen. Nach einer Weile nahm er seinen Mut zusammen und erklärte mit etwas leiser Stimme (wobei er ihrem Blick auswich) „Ich werde nächste Woche aus dem Krankenhaus entlassen. Aber… ich werde nicht nach Hause kommen.“

„Und wieso nicht?“

„Ich habe einen Therapieplatz in einer stationären Einrichtung bekommen. Dort gibt es entsprechende psychologische Betreuung, Marco hat sich netterweise darum gekümmert und ich kann direkt vom Krankenhaus dorthin. Mir ist klar geworden, dass ich mit meiner Vergangenheit abschließen muss, um meine Probleme in den Griff zu bekommen. Sowohl meine Trinkerei, als auch meine emotionale Blockade.“ Natürlich war das erst einmal eine kleine Enttäuschung für Charity, denn sie hatte schon gehofft, dass sie und Jesse wenigstens ein bisschen Zeit miteinander verbringen konnten, wenn er entlassen wurde. Immerhin waren sie beide jetzt ein Paar. Aber sie verstand auch, dass es ihm ungeheuer wichtig war, so schnell wie möglich seine Probleme in Angriff zu nehmen, denn er wollte sie nicht verlieren. Und sie war auch bereit, dieses Opfer zu bringen, wenn es ihm dadurch besser ging. Nach all dem, was er in der Vergangenheit erlebt hatte, brauchte er dringend psychologische Behandlung. Zwei Male hatte seine Mutter versucht, ihn zu töten und er war dabei fast gestorben. Sein Vater war einfach abgehauen und sein kleiner Bruder wurde ermordet. Er war mit 13 Jahren auf dem Straßenstrich gewesen und sein eigener Klassenlehrer hatte sich an ihm vergriffen. Nicht zu vergessen die Mobbingattacken an seiner Schule und die rücksichtslose Ausbeuterei seines Onkels. Jesses gesamtes Leben war ein riesiger Scherbenhaufen und wenn er wirklich wieder Gefühle zulassen wollte, brauchte er Hilfe. Und dass er jetzt sogar bereit war, freiwillig Hilfe in Anspruch zu nehmen, war ein unglaublicher Fortschritt für ihn. „Und wie willst du das finanziell hinbekommen?“

„Keine Sorge, ich habe noch genügend Geld von meinem letzten Casinobesuch übrig.“ Wie viel Geld er bei seinem Ausflug ins Casino gewonnen hatte, darüber hatte er selbst mit Charity nicht gesprochen. Sie wusste aber, dass es sich um eine große Summe handeln musste, denn damit hatte er auch den Krankenhausaufenthalt finanziert, da er keine Krankenversicherung hatte. Er hätte sie sich auch nicht leisten können, da sein Onkel ihn nie bezahlt hatte. Doch Jesse hatte für den Fall der Fälle immer vorgesorgt, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Charity konnte nicht anders, als zu schmunzeln. „Du bist echt unglaublich, Jesse.“ Nun wich er ihrem Blick aus und er wusste anscheinend nicht, wie er auf diese Bemerkung antworten oder reagieren sollte. Aber das fand sie umso süßer an ihn. „Ich werde deine Sachen packen und dich dann vom Krankenhaus abholen. Zwar sind meine Semesterferien nächste Woche vorbei, aber ich komm dich trotzdem so oft besuchen, wie es geht.“

„Übertreib nicht gleich. Außerdem kann ich die Wochenenden auch außerhalb der Klinik übernachten.“ Das war natürlich die schönste Nachricht für Charity und sofort schloss sie Jesse in die Arme. Für ihn war diese ganze Sache aber immer noch ziemlich ungewohnt, denn zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine Beziehung und da er immer noch große Schwierigkeiten hatte, Charitys Gefühle zu verstehen, war er recht schnell überfordert und unsicher. Da er ein Leben als Einzelgänger gefristet hatte und seit zehn Jahren keinen einzigen Menschen an sich herangelassen hatte, fehlte ihm auch die Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen. Normalerweise verhielt er sich immer abweisend und kalt anderen gegenüber, aber das konnte er ja auch nicht tun. Denn Charity war ein wichtiger Mensch in seinem Leben und er wollte sie nicht verlieren. Also wollte er ihr auch nicht weiterhin mit seiner Art vor den Kopf stoßen und versuchte ihr gegenüber ein wenig offener und emotionaler zu werden. Aber wenn man zehn Jahre lang keine Gefühle wahrnahm, war das nicht gerade einfach. Meist verfiel er dann in grübelndes Schweigen und wusste dann immer noch nicht, wie er am besten reagieren sollte. Wenigstens kam er bald in eine Klinik und lernte dann auch hoffentlich, Gefühle wieder richtig wahrzunehmen und sie zu verstehen. „Ich hatte schon eine Art Vorstellungsgespräch gehabt. Da ich ja noch nicht das Krankenhaus verlassen kann, kam Dr. Myers zu mir und dabei hab ich so einige Dinge über mein Problem erfahren, also diese Gefühlsproblematik: Er nennt so etwas Alexithymie. Es ist keine richtige Krankheit oder Störung, sondern eher ein Persönlichkeitsmerkmal, das noch nicht ganz erforscht ist. Normalerweise tritt so etwas schon sehr früh in der Kindheit auf und diese Schmerzen, die ich dann immer empfinde, sind psychosomatische Symptome. Es sind körperliche Beschwerden, die durch Stress oder andere Emotionen ausgelöst werden. Ein gutes Beispiel wären zum Beispiel Magenbeschwerden oder Kopfschmerzen, wenn man viel Stress hat. Man kann aber auf der körperlichen Seite keinerlei organische Gründe erkennen, weshalb dann immer von psychisch verursachten Beschwerden ausgegangen wird. Bei mir ist der Fall aber ein klein wenig anders. Diese Einschränkung ist nicht in der frühkindlichen Entwicklungsphase aufgetreten, sondern erst viel später, nämlich als ich 13 Jahre alt war. Der Grund dafür sind meine Mutter und mein Bruder.“ Jesse machte wieder eine kurze Pause und presste eine Hand auf seine Brust, wo ihn die Kugel getroffen hatte. „Der Tod meines kleinen Bruders war wirklich sehr traumatisch für mich und dieses Bild vom Anblick seiner Leiche verfolgt mich sogar bis heute noch. Als ich ihn fand, war er in einem wirklich schrecklichen Zustand. Er war mit einer Kettensäge zerstückelt worden und man hat ihm die Augen entfernt. Das alles geschah, als er noch gelebt hat. Für meine Mutter war das ebenfalls ein Schock und daraufhin begann sie mich zu hassen. Sie verprügelte mich fast jeden Tag und schließlich stach sie mit dem Messer sechs Male auf mich ein, um mich zu töten. Dr. Myers erklärte, dass diese beiden Traumata zusammen meine Gefühlsblindheit verursacht haben und sich mein Unterbewusstsein daraufhin vollständig gegen jegliche Gefühle abgeschirmt hat, weil ich Angst vor negativen Gefühlen habe. Da also keine Entwicklungsstörung vorliegt, stehen meine Chancen ganz gut, dass ich wieder richtig Gefühle empfinden und verstehen kann, wenn ich die Therapie mache.“ Charity betrachtete ihn und bemerkte, dass ihr Freund trotzdem ein wenig bedrückt war. „Sonderlich zu freuen scheinst du dich ja nicht. Kann es sein, dass du Angst davor hast, wieder Gefühle wahrzunehmen?“ Unsicher zuckte er mit den Achseln und musste sich wieder an diese Szene an der Baustelle erinnern. „Als ich meine Mutter kurz zu Boden ringen konnte, kam auf einmal diese ganze Wut in mir hoch, dass ich beinahe die Kontrolle verloren hätte. Wenn ich nicht sofort wieder meine Gefühle unterdrückt hätte, dann… dann hätte ich sie umgebracht. Verstehst du? Ich wollte meine eigene Mutter töten.“

„Aber das ist doch verständlich, nach alledem, was sie dir angetan hat“, erklärte sie und strich sanft durch sein Haar. „In deiner Situation wäre doch jeder wütend geworden und hätte sie geschlagen.“ „Nein. Ich hätte sie wirklich getötet, wenn ich nicht wieder zu mir gekommen wäre. Was, wenn mir das wieder passiert und ich mich dann nicht mehr rechtzeitig beherrschen kann?“ So langsam verstand Charity, was ihm wirklich Sorgen bereitete. Er fürchtete sich davor, keine Kontrolle über seine Emotionen zu haben und andere Menschen zu verletzen, oder im Affekt sogar zu töten. Das Schlimmste, was ihm passieren konnte war, dass seinetwegen Menschen sterben könnten. Um ihn ein wenig aufzubauen, nahm die Studentin ihn in den Arm und er erwiderte nach einigem Zögern ihre Umarmung. „Du bist kein Mörder, Jesse. Das, was passiert ist, war eine Extremsituation und in der reagieren Menschen manchmal über. In dem Moment ist eben einfach so viel auf einmal hochgekommen. Nur wegen deiner Mutter hast du so viele Jahre in einer Hölle gelebt und nach all der Zeit gibt sie immer noch dir die Schuld, dabei konntest du nichts dafür, dass dein kleiner Bruder ermordet wurde. Ausgerechnet die Person, die dich zur Welt gebracht hat und die dich lieben sollte, tut dir so etwas Grausames an. Glaub mir, wenn ich in deiner Lage wäre, dann hätte ich vielleicht auch den Wunsch verspürt, sie umzubringen. Aber nur wegen diesem einem Vorfall auf der Baustelle darfst du nicht glauben, dass deine Gefühle andere Menschen verletzen könnten. Es gibt doch so viel mehr Gefühle, als bloß Hass und Wut. Natürlich können Gefühle einem manchmal wehtun. Jeder Mensch wird mal enttäuscht oder verletzt, aber es ist besser zu ertragen, wenn man sein Leid mit anderen teilt. Und es gibt auch positive Gefühle, die du doch sicherlich auch vermisst hast. Denk einfach daran, wie schön es sein wird, wenn wir gemeinsam über irgendwelchen Unsinn lachen können und uns über die schöne Zeit zusammen freuen.“ Jesse nickte etwas abwesend und wirkte immer noch ein wenig bedrückt, aber Charity wusste, dass er seine Zeit brauchte, bis er ihre Worte wirklich annehmen konnte. Er war ein absoluter Kopfmensch und dachte deshalb sehr viel nach. Das würde sich auch so schnell nicht ändern, aber für sie war es in Ordnung so. Wenigstens redete er jetzt über das, was ihm durch den Kopf ging und so etwas hatte er auch nie getan. Selbst Marco gegenüber hatte er sich nie wirklich geöffnet. Aber dann kam ihr ein anderer Gedanke, was Jesses Sorgen betraf. Was war, wenn er nicht bloß Angst davor hatte, seine Gefühle nicht unter Kontrolle halten zu können? Womöglich hatte er auch Sorge, dass sich ihre Beziehung zueinander verändern könnte, wenn er wieder Gefühle wahrnehmen konnte. Er wäre dann ein ganz anderer Mensch und er befürchtete, dass sie ihn dann nicht mehr lieben würde. Ach Mensch, dachte sie und konnte nicht anders als zu lächeln. Er macht sich einfach zu viele Sorgen. Sie gab ihm einen Kuss und kniff ihm dann scherzhaft in die Wange, was ihn zunächst sehr irritierte. „Es wird alles gut werden, okay? Ich hab dich als miesepetriger und pessimistischer Zyniker geliebt, dann werde ich dich auch lieben, wenn du wieder Gefühle wahrnehmen kannst. Du musst einfach nur Vertrauen haben und auch hin und wieder mal positiv denken. Die Hauptsache ist, dass es dir wieder besser geht und ich werde dich dabei unterstützen, Oma übrigens auch. Inzwischen gehörst du ja schon quasi zur Familie.“ Jesse wich ihrem Blick aus und sah etwas verlegen aus. Schließlich aber beugte er sich herunter, krempelte sein Hosenbein hoch und zog seinen Schuh aus. Charity verstand zuerst nicht, was er mit dieser Aktion vorhatte, aber als sie seinen Fußrücken sah, blieb ihr der Mund offen stehen. Jesse hatte sich einen Rosenkranz tätowieren lassen und er sah ganz genauso aus wie ihrer. Sie war vollkommen sprachlos und sah ihn an, der sein Tattoo mit einem nachdenklichen Blick betrachtete. „Ich habe es mir an dem Tag stechen lassen, als ich wegen meiner Mutter abgehauen bin. Ehrlich gesagt hatte ich damit gerechnet, dich nie wieder zu sehen, deshalb wollte ich wenigstens das hier zur Erinnerung haben. Nämlich daran, dass du mir wieder auf die Beine geholfen hast, als ich am Boden lag. Sinnbildlich und wortwörtlich.“ Sie war überwältigt von ihren Gefühlen als sie erfuhr, dass sich Jesse ihretwegen ein Rosenkranztattoo hatte stechen lassen, um selbst ein Erinnerungsstück von ihr zu haben. Und als er wieder dieses etwas unbeholfene Lächeln aufsetzte, da kamen ihr die Freudentränen. „Das ist… das ist so süß von dir. Aber hat das nicht wehgetan?“

„Schon, aber das war es wert. Währenddessen hab ich mich auch mit Marco unterhalten und ihn gebeten, auf dich aufzupassen. Ich hatte nämlich schon geahnt, dass du dich mal wieder mit deiner Naivität in Schwierigkeiten bringen wirst.“ Verlegen und ein wenig beschämt senkte Charity den Blick und seufzte. Glücklicherweise hatte Marco geschwiegen, was diesen Vorfall mit den Jungs am Bahnhof betraf und was ihr beinahe zugestoßen wäre. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und betrachtete den leicht bewölkten Himmel. „Ich sollte mir vielleicht etwas von deinem Misstrauen abschauen. Dann müsste ich nicht immer gerettet oder beschützt werden, oder?“

„Misstrauen ist gar nicht mal so schlecht“, erklärte Jesse und seine bedrückte Stimmung schien sich ein wenig zu lockern. „Denn wer seinen Mitmenschen misstraut, der versucht sie zu durchschauen und lernt sie so näher kennen. Ganz anders, als wenn man ihnen von vornherein vertraut. Zwar ist das eine positive Eigenschaft von dir, aber wenn du nicht etwas mehr Misstrauen an den Tag legst, dann wirst du dich immer wieder in Schwierigkeiten bringen.“ So wie er das erklärte, schien es tatsächlich Sinn zu machen. Sie dachte immer es wäre eine schlechte Eigenschaft, Menschen zu misstrauen, aber im Grunde hatte er Recht. Mit ihrer Vertrauensseligkeit hatte sie sich nie wirklich die Mühe gemacht, ihre Mitmenschen besser kennen zu lernen und sowohl ihre guten als auch schlechten Absichten zu erkennen. Deshalb geriet sie so oft an irgendwelche dubiosen Typen und Vertreter. Vielleicht war es besser, auch mal Jesses Ratschlag zu beherzigen und tatsächlich mal etwas mehr Misstrauen an den Tag zu legen. Schließlich aber fiel ihr noch etwas anderes ein und so fragte sie „Gibt es eigentlich schon was Neues wegen deiner Mutter?“ Hier wurde sein Blick ein klein wenig düster und er seufzte leise. „Bis zum Prozess dauert es noch eine Weile. Offenbar will ihr Anwalt auf verminderte Schuldfähigkeit plädieren und sie als unzurechnungsfähig darstellen. Das passt dem Staatsanwalt überhaupt nicht und jetzt zanken die sich eben. Und da ja Gutachten erstellt werden müssen, wird sich der ganze Prozess noch ziemlich in die Länge ziehen. Außerdem wird sich die Presse um diesen Fall reißen und das wird ziemlich viel Gerede geben. Glücklicherweise hab ich dann erst mal in der Klinik meine Ruhe und danach ist sowieso erst mal Gras über die Sache gewachsen.“

„Und was sagt dir dein Gefühl?“

„Sie wird wieder ins Gefängnis kommen, aber vorher wird es noch ein Riesentamtam geben und das Ganze wird sich noch ziemlich in die Länge ziehen. Aber das ist mir auch egal. Hauptsache ist, dass sie wegkommt und ich sie danach auch nicht mehr sehen muss. Ich bin endgültig fertig mit ihr.“ Trotzdem konnte Charity erkennen, dass es ihn schon sehr mitnahm und er auch unter dieser Situation litt. Kein Wunder, denn er hatte nach zehn Jahren gehofft, dass sie endlich zur Vernunft gekommen war und sie beide endlich Frieden schließen konnten. Obwohl seine Mutter ihn immer vernachlässigt und fast umgebracht hatte, liebte er sie noch und hatte diese Vorwürfe still ertragen. Zuerst hatte die Studentin schon Sorge gehabt, dass Jesse sie immer noch nicht wirklich dafür hassen konnte und vielleicht versuchte, sie in Schutz zu nehmen. Sie hatte ja schon mal von Fällen gehört, wo Menschen ihre Geiselnehmer oder Entführer plötzlich in Schutz nahmen und Sympathie für sie empfanden. Man nannte so etwas Stockholm-Syndrom. Womöglich gab es ja so ein ähnliches Phänomen in den Familien. Kinder, die von den Eltern misshandelt werden, geben sich selbst die Schuld und nehmen ihre Eltern in Schutz, weil sie sie lieben. Und bei Jesse verhielt es sich nicht anders. Er hatte seine Mutter trotz allem immer noch sehr geliebt, aber jetzt, da er erneut fast gestorben wäre, war das Maß bei ihm endgültig voll und er wollte einfach nicht mehr der Sündenbock für alle sein. Deshalb hatte er es auch geschafft, sich endlich von seiner Mutter loszulösen und sie für das zu verurteilen, was sie ihm angetan hatte. Natürlich war das unglaublich schwer für ihn und er würde noch eine ganze Weile brauchen, um das alles zu verarbeiten. Aber dafür ging er ja nach der Entlassung aus dem Krankenhaus in diese stationäre Einrichtung, um sich dort helfen zu lassen. „Egal was auch ist, Oma, Marco und ich sind für dich da. Gemeinsam kriegen wir das schon hin. Aber weißt du was? Wir sollten noch ein klein wenig spazieren gehen und das schöne Wetter genießen. Morgen soll es ja schon wieder regnen.“ Damit stand Charity von der Bank auf und schob Jesses Rollstuhl vor sich her. Sie selbst brauchte jetzt eine Ablenkung von diesem trübsinnigen Thema und wollte auch ihren Freund auf andere Gedanken bringen. Also sprach sie von anderen Dingen und erzählte ein paar witzige Anekdoten aus ihrer Schulzeit, auch wenn sie wusste, dass sie Jesse damit nicht zum Lachen bringen konnte. Aber sie wollte die Stimmung lockern und wieder etwas gute Laune zurückbringen. Und schließlich hatte sogar Jesse etwas zu erzählen. „Gestern kam übrigens Walter ins Krankenhaus.“ „Oh Gott, was wollte der denn?“ rief Charity fassungslos, als sie das hörte. Dass sein Onkel ihn besuchen kam, hatte wahrscheinlich irgendwelche Gründe. So wie sie den Kerl einschätzte, hatte er mal wieder irgendwelche Hintergedanken. „Er wollte, dass ich zu ihm zurückkomme und er war erstaunlich kleinlaut gewesen. So wie es aussieht, konnte er das Glücksspiel nicht sein lassen und hat deshalb ganz schön viele Schulden gemacht und jetzt braucht er Geld. Deshalb brauchte er mich wieder.“ Fassungslos über so eine Dreistigkeit konnte Charity nur lachen und den Kopf schütteln. Auch Jesse konnte kaum glauben, wie unverschämt sein Onkel eigentlich war, noch mal bei ihm aufzukreuzen, nachdem er ihn mit Handschellen ans Heizungsrohr ketten wollte. „Ich hab ihm gesagt, er kann sich zum Teufel scheren und sich einen anderen Vollidioten suchen. Danach ist er wieder sauer und ausfallend geworden und wäre fast wieder gewalttätig geworden. Selbst die Krankenpfleger haben ihn nicht unter Kontrolle bekommen. Also haben sie ihn von der Polizei abholen lassen.“

Sie verbrachten den ganzen Tag zusammen und redeten über alles Mögliche. Obwohl sie sich fast jeden Tag sahen, fanden sie erstaunlicherweise immer ein Gesprächsthema und manchmal saßen sie einfach schweigend zusammen und genossen die gemeinsame Stille. Als sie sich dann am Abend verabschieden mussten, ging Charity nach Hause und erzählte ihrer Großmutter von Jesses Plänen. Wie von ihr zu erwarten war, zeigte sie sich nicht sonderlich überrascht, sondern nickte bloß und meinte „Ich finde es wirklich sehr vernünftig, dass er sich freiwillig Hilfe sucht. Eine stationäre Einrichtung ist vielleicht das Beste für den Jungen. Aber irgendwie ist es schon ein klein wenig einsam ohne ihn. Ich hab ihn inzwischen wirklich ins Herz geschlossen.“ Charity konnte dem nur zustimmen und setzte sich gemeinsam mit ihr ins Wohnzimmer, wo sie sich ihre gemeinsame Lieblingssendung ansehen wollten. Irgendwie wirkte das Haus tatsächlich um einiges leerer, seit Jesse im Krankenhaus lag und anstatt, dass er endlich bald zurückkam, würde er sogar noch länger weg bleiben. Zwar konnte er selbst noch nicht genau sagen wie lange, aber sie mussten sich alle schon mal auf drei Monate einstellen. „Wenigstens kommt er an den Wochenenden zu Besuch. Aber er wirkte schon ein wenig bedrückt, weil er ein wenig Angst davor hat, sich wieder auf seine eigenen Gefühle einzulassen.“

„In der Klinik ist er in den besten Händen, Cherry. Dort bekommt er jede Hilfe, die er nur kriegen kann und auf unsere Unterstützung kann er sich ja auch verlassen. Und außerdem sind es ja nur drei Monate. Die gehen schnell vorüber und dann ist er zumindest zum Winter wieder zurück.“ Die Studentin sagte nichts dazu, sondern ging ihren eigenen Gedanken nach. Sie musste wieder an Jesses Tattoo denken und konnte nicht anders, als darüber zu kichern. Er hatte sich ihren Rosenkranz tätowieren lassen. Einen schöneren Liebesbeweis hätte er ihr sicherlich kaum machen können.
 

Müde und erschöpft legte sich Jesse wieder ins Bett und war selbst erstaunt, dass er heute so energielos gewesen war. Nun ja, er lag ja auch schon knapp zwei Wochen im Krankenhaus und zudem hatte er eine schwere Operation hinter sich. Der Arzt war selber erstaunt, dass er sich so gut erholte, obwohl er zwischendurch mit dem Tod gerungen hatte. Wahrscheinlich wäre er jetzt auch tot, hätte sich nicht im letzten Moment jemand gefunden, der sich freiwillig bereit erklärt hatte, Blut zu spenden. Aber genau diese Sache kam ihm ein wenig komisch vor. Genau konnte er sich das nicht erklären, es war einfach sein siebter Sinn, der sich bemerkbar machte. Immerhin hatte er geträumt, dass der Kutscher ihn holen wollte und dann wurde er von seinem alten Freund, dem namenlosen Fährmann gerettet. Und tatsächlich wurde er durch einen anonymen Blutspender gerettet. Natürlich hatte er sofort nachgefragt, wem er sein Leben zu verdanken hatte, aber leider war die Sache nicht ganz so einfach. Denn das Personal musste sich an die Vorschriften halten und durfte die Namen von Spendern nicht preisgeben. Selbst wenn es nur Blutspender waren. Was er aber von der Krankenschwester erfahren konnte war, dass dieser Spender ganz gezielt ins Krankenhaus gekommen war mit dem Ziel, Blut zu spenden. Offenbar hatte er gewusst, dass die Reserven erschöpft waren und dass er die nötige Blutgruppe hatte, die Jesse brauchte. Sowohl die Ärzte als auch die Krankenpfleger erklärten sich dieses Phänomen damit, dass der anonyme Spender irgendwo aufgeschnappt hatte, dass eine bestimmte Blutgruppe gesucht wurde. Aber Jesse wusste es besser. Wer auch immer ihm das Leben gerettet hatte, er besaß vielleicht auch diesen besonderen siebten Sinn. Wirklich an Zufälle hatte Jesse sowieso nie so ganz geglaubt und besonders in diesem Fall nicht. Sein anonymer Retter hatte gewusst, dass er im Sterben lag, weil er zu viel Blut verloren hatte. Und wenn ihn sein Gefühl nicht täuschte (er lag ja sowieso immer richtig), dann würde er seinem Lebensretter schon recht bald gegenüberstehen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Anmerkung: Jesses Vorahnung zum elften September ist einem ähnlichen Ereignis nachempfunden worden, das auf wahren Tatsachen basiert! Tatsächlich gab es einen Vorfall an einer High School, an der ein Unbekannter überall mit Graffiti "Denkt an Pearl Harbour" geschrieben hat. Den Täter hat niemand finden können, aber zwei Tage später fand der japanische Überraschungsangriff auf Pearl Harbour statt, von dem nicht einmal die US-Marine etwas wusste. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Jesses Buchgleichnis war der Ursprung für die Entwicklung seiner Figur. Ich weiß nicht mehr genau, wann und wo ich mir das ausgedacht hatte. Meine erste Idee sah so aus, dass Jesses Vorgänger Fear eine riesige Sammlung von Büchern hatte und Charitys Vorgängerin Kathy Barrell (sie wurde auf die gleiche Weise gerettet) fragte dann, wieso er denn keines der Bücher je zu Ende gelesen hatte. Und da erklärt er ihr, dass er das Ende eines Buches schon kennt, wenn er nur die ersten Zeilen liest. Sie argumentiert dann genauso wie Charity, dass man trotzdem Spaß am Lesen haben kann, selbst wenn man das Ende schon kennt. Ich wollte diese Szene unbedingt mit reinbringen, weil sie etwas sehr Tiefgründiges und Philosophisches hat. Denn man kann dieses Buchgleichnis auch auf das Leben selbst anwenden.

Das Ende der Geschichte habe ich extra offen gelassen, weil ich auf jeden Fall noch einen zweiten Teil plane. Zuerst sollte das Ende so aussehen, dass Jesse Charity von sich stößt und absichtlich ihre Gefühle verletzt, weil er voraussieht, dass sie seinetwegen sterben wird. Dann aber taucht er wieder auf und rettet sie, als sie fast von einem Auto überfahren wird. Dafür aber gerät er selbst unter die Räder und liegt im Koma. Dann verschwindet er überraschend aus dem Krankenhaus und in der Fortsetzung, die zuerst den Titel „Das Verschwinden des Jesse Wyatt“ tragen sollte, sollte sie nach ihm suchen und Marco kennen lernen. Die Idee hab ich aber verworfen, weil Jesse dann in beiden Teilen jeweils am Ende schwer verletzt wird und das wäre irgendwie unspektakulär. Außerdem wäre der zweite Teil nicht ganz so unterhaltsam gewesen. Dafür aber habe ich eine ganz andere Idee und die wird Jesses ganze Vergangenheit in Frage stellen. Denn ich plane endlich aufzuklären, warum sein Vater damals abgehauen ist und wer seinen kleinen Bruder ermordet hat. Und es werden noch weitere Menschen in Erscheinung treten, die genauso wie Jesse über einen besonderen siebten Sinn verfügen. Die Namen kann ich schon mal verraten: Seth Weaver und Ain Soph. (Ich stehe eben auf ungewöhnliche Namen xD)

Die Fortsetzung wird voraussichtlich „Das Erbe des Jesse Wyatt“ heißen. Ich überlege aber noch, ob der Titel nicht vielleicht doch noch geändert wird. Das erste Kapitel ist jedenfalls schon in Arbeit.

Ich hoffe wir sehen uns in der Fortsetzung wieder! Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (7)

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Von:  epicbrofist
2014-05-20T08:59:42+00:00 20.05.2014 10:59
Super Ende einer besonderen fanfic und ich freue mich schon auf den zweiten Teil Mfg epic
Antwort von:  Sky-
20.05.2014 15:53
Das ist ja immer die größte Freude: Wenn deinem Leser die Geschichte gefallen hat. Dankeschön für das Lob, ich hoffe, dass ich die Fortsetzung genauso gut hinkriege ;-)
Von:  epicbrofist
2014-05-17T08:40:23+00:00 17.05.2014 10:40
Super Kapitel hoffe es geht schnell weiter :) und das er nicht stirbt:)
Von:  epicbrofist
2014-05-15T15:58:34+00:00 15.05.2014 17:58
Was soll ich schreiben wieder ein sehr gutes Kapitel und ich freue mich riesig wenn es weiter geht
Von:  epicbrofist
2014-05-11T18:34:38+00:00 11.05.2014 20:34
Super Kapitel was anderes kann ich nicht sagen und ich freue mich für die beiden na gut so ganz ist ja noch nicht alles geklärt aber die Hoffnung stirbt zuletzt:)
Von:  epicbrofist
2014-05-10T17:40:39+00:00 10.05.2014 19:40
Wieder super Kapitel alle beide und du machst es richtig spannend es gefällt mir sehr mach schnell weiter :)
Von:  Yakuen
2014-05-10T06:19:40+00:00 10.05.2014 08:19
Die Geschichte ist großartig. Ich freue mich schon auf die restlichen Kapitel und die Beschreibung vom Kutscher gefällt mir. XD
Ich bin wirklich gespannt, was du aus dem gemacht hast was ich dir erzählt habe, bisschen was ist ja schon aufgetaucht.
Warte ungeduldig auf das nächste Kapitel.

Lg
Von:  epicbrofist
2014-05-09T19:04:15+00:00 09.05.2014 21:04
Super Geschichte du hast echt Talent ich warte mit Spannung aufs nächste Kapitel
Mfg epic
Antwort von:  Sky-
09.05.2014 21:51
Dankeschön für den superlieben Kommi. Nun, die nächsten beiden Kapitel sind zwar schon von mir hochgeladen worden, hängen aber leider noch in der Warteschleife fest...


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