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Gnadenlos

von

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Auf Tuchfühlung

Sam sitzt auf einem Stuhl im Kriegszimmer, direkt am Weltkartentisch. Rowena hat darauf bestanden, dass die beiden Engel aus seiner Sichtweite verschwinden, auch wenn sie ihnen ausdrücklich gestattet, ja, sogar empfohlen hat, dass sie in der Nähe bleiben. Sam ist sich nicht sicher, ob er sich deshalb beruhigter oder eher noch unwohler fühlt.
 

„Was genau machen wir jetzt?“, fragt er nach einigen Anlaufschwierigkeiten. Seine Kehle ist vor Nervosität so unangenehm trocken, dass er sich ein paar Mal räuspern muss, bevor ihm das Sprechen gelingt.
 

Auch Rowena steht hinter Sam, aber im Gegensatz zu den beiden anderen so dicht, dass er ihre Körperwärme in seinem Nacken spüren kann. Ihre schlanken Finger legen sich auf seine Schultern; aus den Augenwinkeln sieht er ihre langen, rot lackierten Nägel leuchten, deren Farbe zu ihrem heutigen Lippenstift passt. Sie antwortet ihm nicht. Sam stellt fest, dass Rowena ziemlich angenehm riecht; gar nicht nach Hexe aus dem Mittelalter, die sich bloß mit Magie das gute Aussehen und ihre Jugend erhält. Zugegeben, sie ist auch die einzige Hexe, die er nicht mit Sabber, Schleim und ausfallenden Zähnen in Verbindung bringt.
 

„Füße auf den Boden, Samuel, du bist kein Tier!“
 

Sam zuckt ertappt zusammen. Rowena hat leise gesprochen, doch in ihrer Stimme liegen Nachdruck und eine schulmeisterliche Strenge. Er löst seine langen Beine aus dem halben Schneidersitz von der Sitzfläche seines Stuhles und stellt beide Füße gesittet nebeneinander unter den Tisch.
 

Gabe gluckst im Hintergrund: „Doch, ein Elch!“
 

„Ruhe!“
 

Gelassen beginnt die Hexe damit, Sam die Schultern zu massieren. Sie macht das ganz gut, aber den Umständen entsprechend fühlt es sich nicht unbedingt angenehm an. Sam schließt die Augen, um den Raum um sich herum auszublenden, aber er spürt selbst, dass es ihm nicht gelingt, die Falten aus seiner Stirn zu bügeln oder die Anspannung aus seinem Kiefer zu vertreiben. Rowena seufzt leise über seiner rechten Schulter.
 

„So wird das nie etwas, Kiddo. Entspann dich!“
 

Beinahe hätte Sam aufgelacht. Die Umstände dafür sind nicht gerade einladend und er weiß noch nicht einmal ansatzweise, worauf er sich hier gerade einlässt.
 

„Hypnose“, haucht Rowena direkt in sein Ohr, als hätte sie den Gedanken gehört. Vielleicht ist es auch die verspätete Antwort auf seine Frage von vorhin. Er spürt ihren Atem, der über seine Ohrmuschel streicht und eine ihrer langen, weichen Locken kitzelt seine Wange. Unter anderen Umständen hätte sich ihre derzeitige Nähe mit Sicherheit intim angefühlt, vielleicht sogar irritierend. In diesem Moment kann er sie wohl nur als etwas Zweckdienliches hinnehmen, oder schlicht und ergreifend als nachvollziehbar. Rowena soll, irgendwo zwischen Sams Kopf und seiner Seele, mit seiner Psyche auf Tuchfühlung gehen, die erstere beiden mit seinem Körper verbindet. Näher geht es vermutlich gar nicht.
 

„Ich versetze dich in Trance und wir gehen zu dem letzten Punkt zurück, an dem Lucifer persönlich mit dir gespielt hat. Alles, was dein Kopf später selbst produziert hat, weil er die Erlebnisse nicht verarbeiten konnte, überspringen wir.“
 

„Mhm. Logisch“, nuschelt Sam.
 

Er weiß nicht, wieso, aber es ist, als hätte die Wahrheit über das, was sie hier tun, eine einschläfernde Wirkung auf ihn. Die letzten Reste seines Verstandes scheinen sich zu verabschieden, während sein Körper weiterhin angespannt bleibt. Er muss verlernt haben, wie man locker lässt, doch schließlich hat er seine Gründe dafür. Verfolgungswahn, Ungewissheiten … Wie soll man da bitte zur Ruhe kommen? Und halt – er hat den anderen bisher noch gar nicht von seinen Erlebnissen im Wald erzählt! Vielleicht wäre das angebracht, bevor sie von hier aus weitergehen ...?
 

„Psst“, macht Rowena und ihre weichen kühlen Hände wandern zu seinen Schläfen. „Nur ein klein wenig Magie ... Zur Entspannung ...“

 

 

 

*
 

Lucifer und Michael.
 

Es dauerte lange, Ewigkeiten, bis Sam begriff, was er da vor sich sah. Hier, im Käfig, brannte ihm der Anblick der wahren Gestalt zweier Erzengel nicht die Augen aus dem Kopf, ließ ihm der Klang ihrer Stimmen nicht die Trommelfelle platzen. Trotzdem schien es nahezu unmöglich für seinen menschlichen Verstand, die Eindrücke zu verarbeiten, bis sie einen Sinn ergaben. Und jedes Mal, wenn er glaubte, er habe die wahre Form der Erzengel erfasst, schienen sie sich wieder zu verändern, zu wachsen, zu zerfließen, in die Höhe zu schnellen wie Stichflammen oder Geysire und das Spiel begann von vorn. Adam, der immer noch wenige Fuß entfernt vor ihm kniete, musste es ähnlich ergehen.
 

Lucifers Gestalt war wie ein Meer aus Farben, die teilweise sanft ineinander übergingen, regelrecht miteinander zu verschmelzen schienen, während an anderen Stellen Kontrast auf Kontrast folgte, hart und unnachgiebig, wie ein Störfaktor in einem Bild aus beunruhigender Harmonie. Der Lichtbringer war wie ein brennender Sonnenaufgang; die Morgenröte, die sich über fein gemeißeltem Eis ergoss.
 

Da waren Schwingen, mächtige Flügelpaare – wie viele, konnte Sam nicht sagen. Sie waren mit einem dichten Federkleid überwuchert, das sowohl organisch zu sein, aber auch aus Elementen der Natur zu bestehen schien: Aus Feuer, Asche, Rauch, Stein, Erde, Luft, Wasser, Eis, … Die Flügel schlugen heftig, während Lucifer und Michael miteinander kämpften und erzeugten dabei Druckwellen, Wind, und markerschütternden Schall. Eigentlich sollte im Käfig nicht genug Platz sein, weder für ein Wesen dieser Größe, schon gar nicht für zwei – geschweige denn für einen Kampf zwischen ihnen und von solch gewaltigem Ausmaß. Aber in ihrem ständigen Wachsen und Schrumpfen schienen die Erzengel jeden freien Raum im brennenden Nichts auszufüllen, neu zu definieren, so dass sich der Platz inmitten der Gitterstäben unendlich anfühlte, als wäre genug Raum für Echo, Schatten und darüber hinaus noch für Adam und Sam.
 

Michaels Präsenz war wie ein mächtiges Gewitter über dem gähnenden Schlund eines brodelnden Vulkans. Elektrizität schien den Kern seiner Existenz zu durchziehen, bis in seine unzähligen Flügelpaare zu knistern, die glühten, wie flüssiges Gestein am heißesten Punkt der Erde.

Es war ein ähnlich beeindruckendes und furchteinflößendes Bild wie das des tobenden und faszinierend gegensätzlichen Bruders, doch Sam fiel es seltsam schwer, den Blick von Lucifer abzuwenden. Die wahre Gestalt des Teufels war das Schönste, das er je gesehen hatte, grausam und unerträglich, und für diesen Anblick bezahlte er einen schrecklichen Preis. Der Körper besaß keinerlei Einheitlichkeit, weder in Form noch Konsistenz, schien mal fließend, mal wie Rauch, mal kantig und solide. Da waren zu viele Augen, zu viele Reißzähne, zu viele Köpfe und Gliedmaßen, zu viel von allem und es war grauenhaft.
 

Sam spürte die Kälte auf seinem Gesicht und mit einem Mal wurde ihm klar, dass es seine eigenen Tränen waren, die auf seinen Wangen zu tropfenförmigem Eis gefroren. Mit leisem Klimpern, das er erstaunlicherweise über den Kampfeslärm hinweg hören konnte, fielen sie von seinem Gesicht und landeten auf dem Boden des Käfigs, wo sie zerbrachen wie Glas.
 

Mächtige Stimmen überlagerten die Szenerie. Sam verstand ihre Worte nicht, erkannte das Henochisch nur entfernt am Klang. Die Erzengel hatten sich über ihnen und um sie herum ineinander verkeilt; eine gewaltige Kuppel aus Aggression und Wut umgab Adam und ihn. Sam war sich nicht ganz sicher, ob es Blut und Fetzen ihrer … Haut oder was auch immer ihre Körper, abgesehen von den Federn, bedeckte … waren, die auf sie herab regneten.

Einige der Fetzen verglühten bereits im Fall, andere gefroren, ähnlich wie die Tränen, die Sam eben noch vergossen hatte, ohne sich überhaupt gewahr zu werden, dass er geweint hatte.

Doch ein Großteil der seltsamen Federn und Engelspartikel blieb an Sams Körper haften, benetzte seine Haut.
 

Es kostete ihn unendlich viel Überwindung, den Blick von der Gewalt und Schönheit Lucifers abzuwenden, um die Hände vor das Gesicht zu heben und die eigene Haut zu betrachten. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass er nackt war. Seine Kleidung musste verglüht sein, zerfetzt, aufgelöst im Druck und der Leere, im Feuer der Hölle, das brannte, ätzte, erfrieren ließ – und das alles zugleich.

Und er war mehr als nackt. Sein Körper, seine menschliche Hülle, existierte nicht mehr. Sie hatte sich aufgelöst, bis nicht mehr übrig geblieben war und das, was er von sich erkennen konnte, war …
 

„Deine Seele, Sam. Das einzige, was von dir noch übrig ist.“
 

Die Stimme war nicht menschlich, aber welche Sprache sie auch immer benutzen mochte, Sam konnte sie verstehen, denn sie war überall. In seinem Kopf, den er, rein körperlich, gar nicht mehr besaß. In den unendlichen, begrenzten Weiten des Käfigs.
 

Sams Erkenntnis über seinen Zustand musste irgendetwas an ihm verändert haben, denn es hatte die Aufmerksamkeit beider Erzengel auf ihn gelenkt. Und auf Adam, dessen Existenz ebenfalls nur noch aus seiner bereits geschundenen Seele zu bestehen schien.
 

Ein Impuls flackerte in Sam auf, zu Adam hinüberzukriechen – zu etwas anderem als Kriechen fühlte er sich in seiner jetzigen Form nicht in der Lage. Flucht, das war es, zu was es ihn drängte. Flucht, ein Vorhaben der Unmöglichkeit.

 

 

 

*

 

 
 

„Ich zähle bis zehn und wenn ich ‚zehn‘ sage, bist du in Trance“, flüstert Rowena.
 

„Ich möchte, dass du in Gedanken mitzählst. Bleib ganz ruhig und entspannt.“
 

Das sagt sie so leicht ...
 

Sam glaubt, ein Rauschen hinter sich zu hören, wie von mächtigen, gigantischen Flügeln. Er unterdrückt einen beschämend panischen Laut; seit heute Morgen verbindet er mit Flügeln nicht unbedingt nur positive Dinge. Doch halt – etwa erst seit heute morgen?

Vielleicht rührt das bange Gefühl von der Magie her, die die Hexe über jeden körperlichen Berührungspunkt in sein System jagt. Er spürt deutlich, dass es mehr sein muss, als sie ihm vorhin verraten hat; es ist ein schwaches, beinahe wie geladenes Kribbeln überall dort, wo ihre Finger immer noch sanft seine Schläfen und Schultern im Wechsel bearbeiten.
 

Mit klopfendem Herzen wartet Sam darauf, dass Rowena zu zählen beginnt. Doch stattdessen halten die kreisenden Bewegungen ihrer Fingerspitzen plötzlich inne. Da ist mit einem Mal eine Berührung an seiner linken Seite, die sich nicht wie Rowenas Hände anfühlt. Sie ist so zaghaft, dass Sam nicht ganz sicher ist, ob es sich nicht bloß um einen merkwürdig warmen Lufthauch handelt. Vielleicht haben Mom oder Dean oder Jack irgendwo im Bunker, zwei Gänge weiter, eine Tür zu einem der bewohnten Schlafzimmer geöffnet.
 

Vielleicht ist die Eingangstür nicht richtig zu. Oder das Belüftungssystem ist kaputt.
 

Jemand sollte sich darum kümmern.
 

Gabriel! Muss das sein?“
 

Rowenas lauter Ausruf lässt ihn zusammenzucken. Sam öffnet zaghaft die Augen, nicht ganz sicher, ob er gerade überhaupt blinzeln darf. Andererseits hat sie ihm auch nie gesagt, er solle die Augen schließen. Als ein gewaltiger Schatten aus dem Nichts über ihn und Rowena fällt und sie vor der Deckenbeleuchtung abschirmt, reißt er sie vor Schreck auf und duckt sich instinktiv auf seinem Stuhl.
 

Er entzieht sich damit dem Griff der Hexe, deren Hände bis zu diesem Punkt immer noch locker auf seinen Schultern geruht haben. Rowena lässt es kommentarlos geschehen, scheint von etwas hinter ihnen abgelenkt zu sein. Dass sie nicht ebenfalls in stumme Panik verfällt, ist gleichermaßen beruhigend wie peinlich und Sam sieht zu, dass er schnell wieder Haltung annimmt. Er atmet tief durch.
 

Ich benehme mich wie das reinste Gewaltopfer, denkt er beschämt – bis ihm einfällt dass das gar nicht so abwegig ist. Er hat sich bisher nie so empfunden und Sam hasst den Gedanken, sich so sehen zu müssen. Aber in diesem Zusammenhang trifft es zu: Opfer.
 

Mehr als das. Bloß ist das hier der falsche Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, der falsche Zeitpunkt, um sich selbst leid zu tun. Der dunkle Schleier über ihnen ist noch da und als er zu Rowena aufsieht, merkt er, dass sie sich halb umgewandt hat und die beiden Engel hinter ihnen mit äußerst strenger Mine taxiert.
 

„Jupp, das muss sein! Ich supporte“, erwidert Gabriel in diesem Moment und es klingt nicht im Mindesten einsichtig oder gar entschuldigend.
 

Nun doch neugierig geworden, macht Sam eine halbe Drehung um sich selbst auf dem Stuhl, um sich nach der Ursache des Schattens umsehen zu können. Er bemerkt, dass Cas und Gabe etwa zehn Fuß hinter seiner Rückenlehne nebeneinander stehen. Cas‘ Gesichtsausdruck ist eine bemüht kontrollierte Maske, auch wenn er Gabriel die ganze Zeit über scharf im Auge behält. Gabe selbst wirkt nahezu trotzig. Mit Erstaunen realisiert Sam, dass der Schatten Gabes Schulterblättern zu entspringen scheint. Er erkennt Flügel.
 

Gabes Flügel!
 

Gabriels mächtige Schwingen haben sich nicht tatsächlich im Raum materialisiert, scheinen aber in einer nahezu greifbaren Dimension zu sein. Sams Blick folgt dem Verlauf des Schattens bis zu seiner äußersten Spitze. Aus den Augenwinkeln glaubt er, purpurne und goldene Funken über die Konturen der atemberaubend andersartigen Gliedmaßen springen zu sehen.
 

Wow!
 

Noch nie zuvor hat er mit angesehen, dass die Flügel eines Engels in menschlicher Form so … real wirken, obwohl sie nach wie vor enorme Ähnlichkeit mit Schatten haben. Bloß, dass sie, entgegen jeder Logik, keinen festen Untergrund zu brauchen scheinen, und keine direkte Lichtquelle, sondern frei in der Luft schweben, wie befremdlich verfestigter Rauch.
 

Vielleicht liegt es daran, dass Gabe, im Gegensatz zu den anderen Engeln, keine menschliche Hülle benutzt, sondern die Illusion von Lokis menschlicher Form?
 

Die rechte Schwinge ist, zumindest, wenn man dem eigentümlichen Schatten nachgeht, zur Hälfte angewinkelt und an Gabes Rücken gefaltet. Die linke jedoch schreibt einen eleganten Bogen über Sams und Rowenas Köpfe hinweg, so dass die längsten Flugfedern wie ausgestreckte Finger bis zu Sams linkem Arm reichen; dem mit der Verletzung durch den scharfkantigen Schnabel des Phönix‘. Der Flügel ist Sam bei seiner erschrockenen Umdrehung gefolgt; die schattenhafte Spitze schwebt nun eine Hand breit vor Sams Bizeps in der Luft. Ein bisschen sieht es aus, als habe Gabe ein schützendes Segel über ihnen aufgespannt. Ein Segel mit einer grob geschätzten Länge von mindestens 26 Fuß – und der Flügel ist nicht einmal vollständig ausgestreckt.
 

Zögerlich streckt Sam die rechte Hand nach der Schwinge aus, nicht ganz sicher, ob er sie überhaupt berühren darf. Aber der Erzengel hat ihn immerhin zuerst damit berührt, also wird es wohl in Ordnung sein. Natürliche Neugier und Sams Wissensdurst verdrängen jegliches Gefühl von Unwohlsein. Seine ausgestreckten Finger sind nur noch wenige Inches von der Flügelspitze entfernt, deren eigenartige, surreale Beschaffenheit in der Luft vor ihm flimmert.
 

„Gabriel! Aus!“, sagt Rowena scharf und so, als tadele sie einen besonders ungezogenen Hund.
 

Gabriel reagiert nicht auf sie, doch Sam hört, dass einer der beiden Engel scharf die Luft anhält, als seine Fingerspitzen den Flügelschatten berühren.
 

Gabe, vermutlich.
 

Sam selbst vergisst für einen Moment zu atmen und er spürt – enttäuschenderweise beinahe nichts. Seine Hand gleitet durch die übernatürliche Erscheinung hindurch wie durch Licht. Nur ein wenig wärmer ist die Luft an dieser Stelle vielleicht; beinahe so, als würde man an einem kalten Ort die Tür zu einem gut geheizten Raum aufstoßen und an der Schwelle von angenehm warmer Luft umhüllt werden. Oder als würde man aus dem kühlen Dunkel heraus in direktes Sonnenlicht treten. Es ist das genaue Gegenteil davon, wie durch einen Geist hindurch zu greifen. Lebendig, wärmend, aber … es könnte genauso gut auch nur Einbildung sein. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Schatten dessen, wie sich eine echte Berührung vielleicht anfühlen mag.
 

„Das alles kostet uns viel Zeit, Gabriel“, schaltet sich Cas‘ tiefe Reibeisenstimme plötzlich ein.

„Ich kann verstehen, dass du Sam beistehen möchtest. Immerhin handelt es sich um Lucifer, aber -“
 

„Neidisch, Cassie?“, stichelt Gabriel und Sam reißt sich, überrascht ob des spöttischen Tonfalls, von der körperlosen Engelsschwinge los, um einen fragenden Blick auf seine Freunde zu erhaschen.
 

„Worauf sollte Cas neidisch sein?“, fragt er, immer noch mit ausgestreckter Hand.
 

Castiel seufzt leise, wirkt dabei aber irgendwie verlegen.
 

„Siehst du, Gabriel. Genau das habe ich gemeint“, beschwert sich nun auch Rowena.
 

„Schon gut, schon gut!“, stöhnt Gabe theatralisch und hebt abwehrend die Hände. Sein linker Flügel legt sich währenddessen jedoch um Sams gesamten Arm und seine Schulter. Fast wie eine luftige Decke, die Sam sich über die linke Seite geworfen hat. Es hilft nicht dabei, die Anspannung aus seinem Körper zu vertreiben oder seinen Herzschlag zu beruhigen, aber es ist durchaus nicht unangenehm. Wie Sonnenschein auf bloßer Haut an einem eigentlich trüben Tag.
 

„Schon gut!“, sagte Gabe noch einmal und zieht damit alle Blicke auf sich, lenkt von der halben geflügelten Umarmung ab. Vielleicht ist es Einbildung, aber die Haut unter seinem Verband beginnt zu kribbeln, so als würde die Verletzung in diesem Moment vor aller Augen unbemerkt von Engelsgnade geheilt.
 

„Ich schwöre, ich werde mich nicht mehr einmischen. Aber die Verbindung bleibt. Wer weiß, wofür Sam sie noch brauchen kann!“
 

Weder Rowena, noch Castiel erwidern darauf etwas. Sam überlegt blitzschnell, welche Frage ihm am dringendsten auf der Zunge brennt: Warum Gabe so alarmiert ist, dass er ihn auf einmal Sam nennt, wieso er sich spontan dazu entschieden hat, seine Flügel auszupacken, warum Cas und Rowena das eher weniger gut zu heißen scheinen, oder von was für einer ‚Verbindung‘ Gabriel da eigentlich spricht.
 

„Was für eine – ?“
 

„Später, Samshine.“
 

Sam klappt den Mund wieder zu, schluckt die halb gestellte Frage unverrichteter Dinge hinunter. Was hat er zu Beginn dieser seltsamen Zusammenkunft noch gleich gedacht? Dass das hier unmöglich eine gute Idee sein kann? Inzwischen fühlt es sich an wie Wahnsinn – und wenn es jemanden gibt, der das beurteilen kann, dann wohl Sam. Immer neue schwer verdauliche Informationen prasseln auf ihn ein; Informationen, mit denen er größtenteils kaum etwas anzufangen weiß. Details über Menschlichkeit, Seelen, den Verstand, Engelsflügel. Angeschnittene Geheimnisse, in die ihn niemand einweiht. Und noch dazu ist Dean nicht hier.

Dean, an seiner Stelle, hätte längst auf den Tisch gehauen, protestiert, auf mehr Erklärungen beharrt, wenn eine Hexe und ein Erzengel an seinem kleinen Bruder herum pfuschen. Himmel, normalerweise wäre Sam selbst deutlich misstrauischer, mehr auf der Hut, würde mehr Fragen stellen, stärker auf Antwort beharren, wenn es darum geht, mit seinem labilen Verstand Hexenwerk und Möchtegern-Trickster-Unfug zu treiben.
 

Gabriel muss etwas in seinem Gesichtsausdruck gelesen haben, denn die unsichtbare Decke scheint sich mit noch etwas mehr Nachdruck um Sams Schulter zu hüllen und der Erzengel schenkt ihm ein aufmunterndes Nicken. Es ist bei weitem nicht die Bestätigung, die Sam braucht, um sich zu vergewissern, dass sie hier das Richtige tun. Es hat auch nicht annähernd den gleichen Effekt, wie Deans herrisch-beschützende Präsenz, deren Fehlen Sam in diesem Moment so schmerzlich bewusst ist. Trotzdem zeigt das vertraute Funkeln in den bernsteinfarbenen Augen eine bizarr tröstliche Wirkung und Sam erwidert das Nicken schließlich zögernd.
 

„Können wir dann endlich, die Herrschaften?“, fragt Rowena mit hochgezogenen Brauen. Niemand protestiert.
 

Also dreht sich Sam wieder auf dem Stuhl nach vorn, mit dem Gesicht zum Tisch, die Füße ordentlich nebeneinander am Boden, schließt die Augen und wartet. Er spürt Rowenas massierende Fingerspitzen an seinen Schläfen und Gabriels Flügel um seinen Körper.
 

„Zähl‘ im Geiste mit, Sam“, erinnert Rowena ihn im Flüsterton. Er nickt leicht unter ihren Händen. Mit dem nächsten Wort wird ihre Stimme ganz schwer und tief; rauchig, so wie er es von ihr kennt, wenn sie Beschwörungen murmelt. Das Misstrauen in Sam wird stärker.
 

„Eins.“
 

Eins.
 

Vielleicht zählt sie überhaupt nicht, vielleicht ist das, was sie sagt, in Wahrheit ein Fluch oder ein Zauberspruch. Wie kann er sich da sicher sein? Verlässliche Zurechnungsfähigkeit ist ihm schließlich seit einer ganzen Weile abhanden gekommen. Vielleicht spielt ihm sein krankes Hirn nur vor, dass sie bis zehn zählt und in Wahrheit hat sie ihn über den Hautkontakt unter Drogen gesetzt.
 

„Zwei.“
 

Zwei.
 

Die Fähigkeit, jemandem zu vertrauen, der nicht Dean ist, hat er innerhalb der letzten Tage definitiv endgültig verloren. Sich selbst vertraut er seitdem jedenfalls nicht mehr. Wieder beginnt Sams Herz, schneller zu schlagen. Es ist, als würde der erhöhte Puls auf seine Lungen drücken, ihm das Atmen erschweren. Er hört nun jedes Luftholen in seinem eigenen Kopf widerhallen, während er in Gedanken mit Rowena zählt, wie sie es ihm aufgetragen hat.
 

„Drei.“
 

Drei.
 

Das Klingeln in seinen Gehörgängen ist zurück. Oder ist es etwa nie fort gewesen? Vielleicht hat er bisher nur geschafft, es erfolgreich auszublenden. Ablenkung davon gab es bis eben gerade jedenfalls reichlich.
 

„Vier.“
 

Vier
 

Sam spürt, wie sich Gabriels Flügel noch fester um ihn schließt. Er glaubt, dass er, über Rowenas teures Parfum hinweg, nun eine erdige Note riechen kann, die ihn entfernt an Wald erinnert.
 

Merkwürdig.
 

Sollten Engelsflügel nicht eher … luftig riechen? Weniger … irdisch?
 

„Du schaffst das, Sammy!“, hört er eine Stimme in seinem Kopf und diesmal ist es nicht Lucifers. Es ist auch nicht Dean, der zu ihm spricht.

 

 

 

*

 

 

„Sammy.“
 

Sam zuckte zusammen, machte sich klein auf dem Käfigboden, der unter ihm zu glühen schien. Außerhalb der Gitterstäbe tobten Höllenfeuer und die Hitze schlug zwischen dem Metall hindurch wie heißer Atem.
 

Jetzt, da der Kampf unterbrochen war, hielt der stetige Wandel der Engelsgestalten inne. Sie standen vor ihm, ragten hoch über ihn hinaus, wie zwei marmorne Statuen, aber ob um Meilen oder nur um ein paar Fuß, das konnte er nicht sagen. Er fühlte sich in jedem Fall entsetzlich winzig. Entblößt. Es gelang ihm nicht, zu ihnen aufzusehen.
 

„Deine Seele, Sammy ...“
 

Derjenige, der zu ihm sprach, war zweifelsohne Lucifer, auch wenn dessen Stimme nichts mit derjenigen gemein hatte, die Sam von dessen letzten menschlichen Hülle kannte.
 

„Sieh einer an, sie ist längst nicht so im Eimer, wie ich erwartet hätte.“
 

Ein humorloses Lachen, diesmal von einer anderen Stimme, und es klang, wie die Apokalypse selbst, wie das Ende aller Zeit. Michael. Es war Michael, der lachte.
 

„Deine wahre Hülle hat eine erbärmliche Seele, Bruder“, sagte die Statue, die Michael war.
 

Lucifer machte ein äußerst widerwilliges, aber zustimmendes Geräusch. Es hatte die Macht, Kontinente zu spalten.
 

„Sie ist nichts wert, so wie alle anderen Seelen auch. Aber die Hülle war nett.“
 

„Sprich nicht so über Seelen, Lucifer! Und du, Mensch! Winchester! Sieh uns an!“
 

Sam betete. Er wusste nicht, zu wem. Er war eingesperrt mit seinem Halbbruder und zwei Engeln; Erzengeln, zwei der mächtigsten Engel, die je existiert hatten, und ihr Tonfall sagte ihm, dass sie ihn nicht verschonen würden. Zu wem sollte er beten? Zu einem anderen Engel? Zu ihrem Schöpfer? Sein Gebet kannte keine Worte. Und doch betete er fieberhaft.
 

„Ich sagte, du sollst uns ansehen, du Wurm!“
 

Langsam, wie unter Zwang, hob Sam den Blick.
 

Die Gestalten, die Lucifer und Michael angenommen hatten, konnten unmöglich ihrer wahren Form entsprechen. Wahrscheinlich war ihr derzeitiges Äußeres lediglich eine selbst gewählte Erscheinung, um besser mit Sam und Adam sprechen zu können – obgleich Adam für den Moment seltsam uninteressant zu sein schien. Seit sie zu viert im Käfig waren, hatte Sam nicht ein Wort von dem Jungen vernommen. Erstickte Schmerzenslaute, Schreie, ja. Aber kein menschliches Wort. Sam wusste inzwischen nicht einmal mehr, ob sie überhaupt noch sprechen konnten. Sie hatten keine Körper mehr. Sie waren nicht nur im Käfig gefangen, sondern auch in sich selbst.
 

Die abstrakten, ambivalenten Energien namens Lucifer und Michael, die zuvor noch in einen hitzigen Kampf miteinander verwickelt gewesen waren, waren auf ihre Art unheimlicher, verstörender, schwerer zu erfassen gewesen, als das, was Sam jetzt vor sich sah. Dennoch reichte der Anblick aus, um ihn vor Angst und Grauen erblinden oder dem Wahnsinn verfallen zu lassen, hätte er noch menschliche Augen besessen oder einen letzten Rest Klarheit.
 

Die Statuen sahen sich erstaunlich ähnlich: Beide waren gänzlich unbekleidet und erinnerten im entferntesten Sinne an Humanoide, nach deren grobem, marmornen Vorbild Michelangelo seinen David gemeißelt hatte. Zumindest standen die Engel ähnlich aufrecht, wenngleich auch auf sechs muskulösen Beinen, anstatt nur auf zweien. Ihre Körper waren androgyn und geschlechtslos, stählern, unbehaart, aber an manchen Stellen mit Schuppen und Federn bewachsen, die jeweils die Farben ihrer zwölf mächtigen Schwingen trugen: Lucifer wie der brennende Himmel bei Sonnenaufgang, Michael wie flüssige Lava in einem Gewittersturm. Sam konnte nicht sagen, was am schlimmsten an ihrem Anblick war. Dass sie auf ihren Schultern, aus denen jeweils sechs muskulöse Arme mit sechsfingrigen Händen wuchsen, zwölf ungleiche Köpfe trugen, die teilweise entfernt an irdische Tiere erinnerten. Dass inmitten all dieser Köpfe ein dreizehntes gesichtsloses, annähernd menschliches Haupt saß, das größte von allen, über dem etwas schwebte, das wohl ein Heiligenschein sein musste, der, in Lucifers Fall, seltsam zerbrochen und verdreht und irgendwie falsch herum wirkte, als hinge ihm eine zirkuläre Obszönität über dem Kopf. Dass ihre Körper an allen möglichen und unmöglichen Stellen mit Augen und Mäulern und Dornen in unterschiedlicher Größe übersät waren. Dass ausnahmslos alle Augen auf Sam gerichtet waren. Dass manche Münder wisperten, zischelten, sich jedoch kein einziges zu bewegen schien, wenn einer der Engel tatsächlich zum Sprechen ansetzte. In diesem Moment hätte Sam alles dafür getan, um diesen Anblick nicht weiter ertragen zu müssen. Alles.

 

 

 

*
 

„Fünf.“
 

Das Klingeln in Sams Ohren ist so laut geworden, dass er die geschlossenen Augen fest zukneift und sich am liebsten die Hände an den Kopf schlagen würde. Er spürt, wie etwas Heißes träge seinen Kiefer hinabrinnt, während sich seine Finger in die Armlehnen des Stuhls krallen. Blut? Sind ihm etwa gerade die Trommelfelle geplatzt?
 

Das schafft kein Tinnitus.
 

Gabriels schützender Flügel ist plötzlich nur noch eine Ahnung am Rande seines Bewusstseins.
 

„Du schaffst das. Es wird schlimm, das weiß ich. Aber du schaffst das!“
 

Da ist sie wieder, diese seltsame Stimme, die ihm so vertraut ist – auf eine gute Art. Das schwache Echo einer überirdischen Melodie, glockenartig, surreal, tröstlich. Und plötzlich ist der sanfte, warme Druck seitlich an seinem Oberkörper wieder präsenter.
 

Fünf.
 

„Sechs.“
 

„Gut so, Kiddo. Weiter geht‘s! Bleib bei mir … Zähl weiter!“
 

Sechs.
 

Es ist nicht Rowenas Stimme, die in seinem Kopf erklingt und mit einem Mal wird Sam klar, dass es Gabriel ist, der zu ihm spricht. Vielleicht war das mit der Verbindung gemeint, von der er gesprochen hat? Wenn er ihn mit seinem Flügel berührt – einem kleinen Stück seines wahren Selbst, seiner richtigen Gestalt – kann er dann mit ihm über Sams Gedanken kommunizieren?
 

„Du lässt dich zu leicht ablenken, Samshine.“
 

„Sieben.“
 

Rowenas Stimme durchdringt den schrillen Ton in Sams Kopf inzwischen kaum mehr.
 

„Ich bin bei dir, Sam. Los!“
 

S-sieben.
 

Plötzlich fühlt sich Sam, als würde er von innen verglühen. Als würde sein Herz schmelzen, aber dabei in heller Panik weiter schlagen. Dieses Gefühl hatte er schon einmal. Erst ein einziges Mal in seinem Leben. Und er hatte nicht nur gehofft, sich nie wieder so fühlen zu müssen. Er hat sich darauf verlassen. Die Angst vor Lucifer war immer da, ist nie gänzlich verschwunden. Und trotzdem hätte er nie damit gerechnet, dass er sich eines Tages wieder wie mit ihm im Käfig fühlen würde.
 

„Acht.“
 

Zumindest erinnert ihn dieses verbrennende, alles verzehrende Gefühl an damals.
 

„ACHT!“, schreit Sam vor lauter Schmerz und er kann spüren, dass Gabriel den Flügel mit einem Ruck von seiner Schulter reißt. Er will die Augen öffnen. Doch als er es tut, sieht er nur gähnendes Nichts, während das Blut in seinen Adern kocht und er vergeblich nach Sauerstoff japst.

 

 

 

*
 

Sam wusste nicht, wie schnell oder langsam die Zeit in der Hölle verging. Er wusste von Dean, dass wenige Monate auf Erden sich hier unten wie Jahre anfühlten. Hier gab es nichts, woran sich ein Verstreichen der Zeit festmachen ließ und schnell hatte er jegliches Gefühl dafür verloren.

Das einzige, was messbar war, waren die Qualen, die der Käfig für ihn bereithielt. Allmählich fühlte sich das Dasein in ihm an, wie bei lebendigem Leibe bis auf die Knochen zu verbrennen – und das ohne, dass er noch einen Körper besaß. Und da er nicht mehr verbrennen konnte, nicht wirklich, zumindest, nahm das Leid dieses Zustands auch kein Ende. Sam war eine lebende Fackel, die nicht verglühen konnte. Der Höllenkäfig selbst, ein ewiger Aufenthalt in ihm, war Folter genug und es brauchte nicht viel, um zu verstehen, warum diese Strafe für den Teufel als angemessen erachtet worden war: Ein Wesen mit eisigem Gemüt, dazu verdammt, auf ewig zu brennen.
 

Der Gedanke an Dean war ein schwacher Trost, wie ein Tropfen in einem brennenden Abgrund, und es dauerte nicht lange, bis Sam auch das letzte Stück Hoffnung entglitten war. Es gab keinen Ausweg. Das hier war für die Ewigkeit.

Das himmlische Brüderpaar hatte das Kriegsbeil längst nicht begraben, war sich nach einiger Zeit jedoch einig, dass besagte Ewigkeit innerhalb dieses Käfigs schnell langweilig wurde. Zumindest nach etwas, was Sam mindestens für ein paar Jahrzehnte hielt – und nach den Maßstäben zweier Erzengel. Seitdem Lucifer und Michael das erste Mal zu ihm gesprochen hatten, hatten sie tatsächlich nicht mehr miteinander gekämpft. Auch hatten sie ihre soliden, statuenhaften Gestalten abgelegt und sich für eine ganze Weile wieder in ihre ambivalenten, das Nichts des Käfigs ausfüllenden Formen zurückgezogen, von denen aus sie um Sam und Adam herum zu brüten schienen, als warteten sie auf ein Signal, das ein unbestimmtes Ereignis einläutete.
 

Das Warten und die Gewissheit, im Zentrum der Aufmerksamkeit zweier solch andersartigen, machtvollen und hasserfüllten Wesen zu stehen, war schlimmer, als ihren Kampf gegeneinander mitzuerleben. Es war zermürbend. Qualvoll.

Doch irgendwann fasste Sam genug Mut, um sich Adam tatsächlich zu nähern. Was gab es schon zu verlieren? Er hatte nichts mehr.
 

Es war schwer zu sagen, in welchem Zustand sich der Junge befand. Sie konnten nicht miteinander sprechen; in ihrer Körperlosigkeit hatten sie jedwede Möglichkeit des verbalen, mimischen oder gestischen Austausches verloren. Schnell wurde ihnen jedoch klar, dass ihre neue Daseinsform, aus reiner Energie bestehend, über direkten Kontakt miteinander kommunizieren konnte. Es war schmerzhaft, wenn ihre Seelen aufeinander trafen, nahezu unerträglich, wie ein heftiger Stromstoß. Aber es half auch ein wenig. Sie waren beide Menschen – oder zumindest das letzte Bisschen Essenz zweier Menschen, an diesem von Gott verlassenen Ort. Sie klammerten sich verzweifelt daran und an den zusätzlichen Schmerz ihres unmenschlichen Austausches, immer in dem Bewusstsein, dass die beiden Engel jede noch so kleine Regung beobachteten. Dass sie sie aus ihren tausend Augen heraus anstarrten, die in den unergründlichen Tiefen ihrer formlosen Körper verborgen lagen.

 

 

*

 

 

„Neun!“
 

„Sammy? Bleib bei mir. Komm schon!“
 

N- … N-neun.
 

„Zehn!“
 

„Samshine? Samshine! SAM!“
 

Zehn, denkt Sam. Die Schmerzen sind beinahe so schlimm, wie damals im Käfig. Er spürt, wie sein Körper schreit und schreit, aber er weiß nicht, ob auch nur ein Ton aus ihm herauskommt.
 

„Zehn, Sam! Samuel, ZEHN!“
 

In Gedanken ist er ganz ruhig, hört, wie Rowena die letzte Zahl wieder und wieder in sein Ohr ruft. Was will sie ihm damit sagen?
 

Sam spürt, dass er fällt. Spürt, dass sich jemand an ihn klammert, den er mit sich in die Tiefe reißt. Der Abgrund zu seinen Füßen führt direkt in die Unendlichkeit. Und die Unendlichkeit ist eine Strafe. Seine Strafe.
 

Unsere Strafe.
 

Aber wer ist es, der ihn nicht loslassen will? Oder ist es genau andersherum und Sam zwingt die zweite Gestalt zum Fall?
 

Ist es Adam? Lucifer? Michael?
 

… Gabe?
 

„SAM!“
 

Es sind zu viele Stimmen, die seinen Namen rufen. Zu viele Stimmen, die alle etwas völlig anderes meinen, etwas Unterschiedliches in ihm auslösen.
 

Dean.
 

Cas.
 

Mom. Jack. Jess.
 

Rowena.
 

Dad. Adam. Azazel. Ruby.
 

Lucifer.
 

Gabe. Gabriel.
 

Z-zehn. Zehn!
 

Und dann ist Lucifer bei ihm.

 

 

 

*

 

 

Der eigentliche Spaß begann erst, als Lucifer und Michael sich dazu entschlossen, ihre Hüllen wieder zu besetzen. Michael zog dabei ein wenig den Kürzeren; immerhin war Adam nicht seine wahre Hülle. Aber nachdem die Erzengel ihre sterblichen, menschlichen Körper rekonstruiert hatten, erreichten die Torturen Ausmaße, die sich Sam, selbst nach all dieser Zeit im Käfig, niemals hätte ausmalen können.
 

Lucifer und Michael nahmen den Kampf gegeneinander wieder auf. Dabei trugen sie Adam und Sam wie den lachhaften Abklatsch menschlicher Rüstungen. Aber das, was sie sich antaten, war grausam und fern jeglicher Humanität.

Michael war ein kontrollierter, jedoch reizbarer Gegner, während Lucifer grundsätzlich impulsiv und launenhaft agierte – im Kampf wie auch sonst in jeder Situation. Beide Techniken erwiesen sich gelegentlich als Vorteil und alles in allem gab es bei all den Kämpfen nie einen eindeutigen Ausgang. Es zeigte sich bald, dass sie an diesem Ort nicht töten konnten, weder einander noch sich selbst. Offenbar galt das auch für Sam und Adam. Ihre Körper mochten in Mitleidenschaft gezogen werden, doch sie ganz auszulöschen, bis zum letzten Aufflackern ihrer gemarterten Seelen, gelang den Erzengeln niemals.

Sobald die beiden die Lust an ihrer physikalischen Auseinandersetzung verloren hatten, heilten sie die Wunden von Sam und Adam bis zur vollkommen Unversehrtheit und wenn Lucifer langweilig, aber nicht nach Streitereien mit seinem Bruder zumute war, folterte er Sam in dessen eigenem Körper, während er ihn weiter von innen heraus besetzt hielt.
 

Es gab nichts im Käfig, keinerlei Gegenstände oder Gerätschaften, aber der Erzengel war einfallsreich und benutzte, was Sams Körper eben hergab – Fingernägel, Zähne, selbst Strähnen seiner Haare, um ihm Schmerzen und vor allem seelisches Grauen zu bereiten. An einem Tag skalpierte er Sam mit einem einzigen Griff seiner eigenen Hand. An einem anderen stach er ihm wiederholt die Augen mit den Fingern aus. An wieder einem anderen entmannte er ihn einige Male, bis er auch daran die Lust verlor. Was es zu brechen gab, brach Lucifer, was zu entfernen war, riss Lucifer heraus. Das ewige Brennen der Hölle im Käfiginneren begleitete jeden Schmerz, den der Lichtbringer ihm bescherte.
 

Michael beobachtete Lucifer bei alldem meist gelangweilt. Er zeigte keinerlei Interesse an derartigen Aktivitäten an oder mit Adam, jedoch schien er eine Art perverse Freude dabei zu empfinden, Adam zum Zuschauen zu zwingen.
 

Am schlimmsten war nicht, was Lucifer Sams Körper immer und immer wieder aufs Neue antat. Am schlimmsten war, dass Sam allmählich fühlte, wie seine Seele dabei zugrunde ging. Sie konnte nicht ausgelöscht werden, offensichtlich nicht, aber er fing an, sich danach zu sehnen. Nach dem Ende. Nach einem Nichts, das endgültiger und stärker und erlösender war, als das Nichts im Käfig, das sie umlauerte, wie ein hasserfülltes, vor Wut kochendes Tier.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  JoeyB
2019-09-17T19:00:02+00:00 17.09.2019 21:00
Hallo :)

Nach dem ersten Teil der Story bin ich irgendwie mit einer falschen Erwartungshaltung an die FF hier rangegangen... so amüsant und locker die Destiel-Geschichte war, so krass und verstörend ist die Fortsetzung. Wow. Ich bin gerade ehrlich beeindruckt und gefesselt - und es ist wirklich schlimm, dass es an der spannendsten Stelle plötzlich aufhört ;___; Ich ringe schon die ganze Zeit mit mir, weil ich eigentlich seit über einer Stunde den Computer hätte ausmachen wollen, ich das Weiterlesen aber nicht auf morgen verschieben konnte.

Dein Schreibstil ist wirklich grandios! Ich finde es vor allem irre, wenn man die beiden Geschichten, die ich jetzt von dir kenne, miteinander vergleicht - wie amüsant-machohaft du aus Deans Perspektive geschrieben hast (bzw. süffisant-spöttisch aus Gabriels Sicht im letzten Kapitel) - und wie ernst dein Schreibstil aus Sams Sicht plötzlich wird. Das passte jeweils extrem gut zum erzählenden Charakter und sorgt dafür, dass ich mich richtig in die Geschichte "hineingeschleudert" gefühlt habe.
Richtig irre waren übrigens die Beschreibungen aus dem Käfig. Gänsehaut.

Obwohl den Tonfall in der FF hier sehr schnell sehr düster geworden ist (ich bin eigentlich ein happy-Leser), gefällt mir die Fortsetzung deutlich besser als der erste Teil (und den fand ich ja schon toll!). Diese Halluzinationen und die Frage, was davon real ist, ist einfach megaspannend. Du beschreibst Sams Gefühle total nachvollziehbar, genau wie seine Interaktionen mit den einzelnen anderen Charakteren. Um ehrlich zu sein, wollte ich einfach nur eine nette Sabriel-FF lesen - und jetzt ist das Pairing für mich ziemlich in den Hintergrund gerückt, weil der Rest der Handlung so spannend ist. Und das ist ein großes Kompliment - dass sich die Verbindung/Beziehung zwischen Sam und Gabriel langsam aufbaut/festigt, passt sehr gut zu der Geschichte. In Sams Lage wäre es absolut schädlich, wenn er und Gabriel plötzlich ein Paar werden würden. Er braucht ihn zur Zeit weniger als Liebhaber als als jemanden, der ihn irgendwie versteht und für ihn da ist. Ich finde, das stellst du sehr gut da und ich hoffe, dass die beiden es auch in den nächsten Kapiteln nicht überstürzen, sondern es bei diesem extrem langsamen Aufbau bleibt.

Und jetzt hoffe ich, dass du schnell weiterpostest :3

LG
Von:  Samael87
2019-09-15T15:24:12+00:00 15.09.2019 17:24
Hallo hallo

Habe deine Geschichte bis jetzt durch gesuchtet und frage mich jetzt - wird sie beendet? Schreibst du weiter? Liegt die Geschichte auf Eis?

Du kannst wirklich beeindruckend gut schreiben und ich hoffe inständig dass es mit Sam und Gabe weitergeht.
Auch ich bin ein riesiger Fan dieses parrings ♡

Also ich hoffe es geht bald / irgendwann weiter und man hört noch von dir


Liebe Grüße aus Berlin

Die SaSa
Antwort von:  Platypusaurus
16.09.2019 18:05
Heya!

Es ist witzig, dass du gerade jetzt zu dieser Geschichte
gefunden hast - ich habe alle bisherigen Kapitel überarbeitet und gestern (bzw. am selben Tag, an dem du diesen Kommentar gepostet hast) auf ff/de die aktualisierte Fassung hochgeladen (hier leider noch nicht, also musstest du dich leider mit der low quality Fassung begnügen - I'm sorry!).

Das nächste Kapitel ist fast beendet - ich hoffe, damit in den nächsten Tagen endlich mal zu Rande zu kommen, denn ich arbeite tatsächlich ungelogen seit März diesen Jahres dran und bisher wollte es einfach nicht so recht. Dafür schreibe ich parallel schon am übernächsten Kapitel und die ganze Story ist in Notizen (und meinem Kopf) fertig ausgearbeitet. Also ja, sie wird beendet, ist noch aktuell und ich hoffe sehr, sie bald zu einem (hoffentlich zufriedenstellenden) Ende bringen zu können!

Ich danke dir herzlich für dein Interesse, für den lieben Kommentar und dein dickes Lob. Hat mich sehr gefreut und mich noch mal darin bestärkt, trotz einiger kreativer Hürden nicht aufzugeben. Hoffentlich bis bald und hoffentlich weiterhin viel Spaß!

Sabriel Fans united! ;)

Lg
Dino
Von:  Natsuno
2019-03-02T09:00:59+00:00 02.03.2019 10:00
Ein tolles Chapitel, ich hab teilweise echt Gänsehaut beim lesen bekommen.
Du schreibst wirklich beeindruckend detailiert und verständlich, das es mich persönlich so mitreißt, hier zu lesen. Danke dafür!

Bin schon gespannt aufs nächste Kapitel ^^
Antwort von:  Platypusaurus
03.03.2019 15:11
Ich habe zu danken; für die Lesetreue, das geduldige Warten und die Kommentare. Vielen Dank!


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