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Gnadenlos

von

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Du, ich, er und der andere

„Wir haben entschieden, dass du zu Rowena gehst, Kiddo. Es wird Zeit, dass wir herausfinden, mit wessen Wahnsinn wir es hier zu tun haben: Mit deinem oder mit Lucifers.“
 

„Ach, das habt ihr also entschieden“, wiederholt Sam und klingt nicht halb so forsch, wie er es gern würde. Wie soll eine Hexe etwas herausfinden, woran ein Erzengel scheitert?
 

Selbst, wenn der kaum noch Mojo hat …
 

Er sagt nicht laut, was er denkt, ist viel zu erschlagen und hungrig für noch mehr Konflikte im Raum, die sich zu dem unausgesprochenen gesellen, in dessen Zentrum Dean und Cas einen (Nicht-)Starr-Wettbewerb der besonderen Art austragen. Vielleicht beachtet deshalb niemand seinen halbherzigen Protest.
 

Gabe ist inzwischen aufgestanden, hat den Kühlschrank geöffnet und kramt darin herum, so dass sein Oberkörper beinahe gänzlich darin verschwindet. Er trägt heute ein schlichtes schwarzes Hemd und eine dunkle Jeans und zur Abwechslung ist nichts an seiner Aufmachung überspitzt oder gar anzüglich.

Sam starrt ungeduldig auf seinen Rücken, versucht, das anhaltende Klingeln in seinen Ohren zu ignorieren und sieht ihm von hinten dabei zu, wie Gabe Lebensmittel in seine Arme türmt. Er versperrt ihm auf diese Weise den Zugang zu einer schnellen Mahlzeit und Sam hat wirklich Hunger. Außerdem fällt es ihm schwer, nach diesem Morgen so lange zu stehen und der Punkt ist bald erreicht, an dem er sich einfach nur noch mit etwas zu Essen in die schützende Stille seines Zimmer zurückziehen will.
 

‚Schützende Stille‘, denkt er bissig und schließt für einen Moment erschöpft die Augen.
 

Wenn man es genau nimmt, ist er nirgendwo mehr sicher vor Lucifer, aber dort wäre er wenigstens allein. Oder zumindest so etwas in der Art. Möglicherweise ist es jetzt soweit und Sams ‚soziale Kapazität‘, wie Dean es einmal augenrollend nannte, als Gabriel zu ihnen in den Bunker kam, ist nun doch erschöpft.
 

Ja, er hat versprochen, mit Cas zu reden – der in diesem Moment außerordentlich beschäftigt zu sein scheint – und ja, es tut gut zu wissen, dass ein Großteil der wichtigsten Personen seines Lebens so bemüht um ihn ist. Aber es gefällt ihm nicht, dass sie ‚ihn hintergehen‘, wie Cas es vorhin bezeichnet hat. Denn genau so fühlt es sich für ihn an, dagegen kann er nichts tun.
 

Dean und Engel, wenn es um Sams Leben geht. Deals, bei denen er nicht das geringste Mitspracherecht zu haben scheint.

Sam und Engel, wenn es um Sams Seelenheil geht. Besessenheit, Ohnmacht.
 

Das kann einfach nicht gut enden, denkt Sam, niemals!
 

Mit gemischten Gefühlen zwingt er sich dazu, die Augen zu öffnen und auf Gabriels Schultern zu richten, um dem stummen Gefecht zwischen den beiden anderen zu entgehen. Bloß nicht zwischen noch mehr Fronten geraten …

Es ist merkwürdig beruhigend, einem übernatürlichen Wesen bei etwas so Banalem zuzusehen und dabei festzustellen, dass die Bewegungen routinierter wirken, als man es erwarten würde. Zumindest ist Sam bislang davon ausgegangen, dass sich Gabes Dasein unter Menschen auf herzlich wenig menschliche Tätigkeiten beschränkt hat. Aber er scheint tatsächlich so, als wisse er ganz genau, was er tut.
 

Sam schafft es, die Störgeräusche immer mehr aus seinem Kopf zu verbannen, während er Müdigkeit und Hunger allmählich wachsen fühlt. Am Rande bemerkt er, dass Gabriels Jeans ihm ziemlich gut stehen. Der Erzengel richtet sich in diesem Moment auf und Sam wird klar, dass er ihm auf den Hintern gestarrt haben muss, um eine solche Feststellung aus dieser Perspektive treffen zu können.
 

Sam hebt eine Braue über sich selbst, nicht ganz sicher, ob er deshalb amüsiert oder peinlich berührt sein sollte. Die fremde und doch allgegenwärtige sexuelle Anspannung und Frustration im Raum sind definitiv daran schuld, dass er sich einlullen lässt. Und die nicht zu vernachlässigende Tatsache, dass sich sein Verstand anfühlt wie die matschigen Überreste von etwas, das bis vor kurzem noch Funktion und Nutzen besessen hat.
 

Gabriel dreht sich in diesem Moment weg vom Kühlschrank. Er kickt die Tür auf dem Weg mit dem Fuß lässig hinter sich zu und trägt zur Anrichte, was ganz nach allen möglichen Zutaten für ein reich belegtes Sandwich aussieht. Er neigt fragend den Kopf, als er Sams hochgezogene Braue sieht; wirkt dabei aber ganz anders als Sam es von Castiel kennt. Verspielter. Herausfordernd.
 

Sam schüttelt nur den Kopf und tappt nun, da der Weg endlich frei ist, selbst Richtung Kühlschrank. Als er die Hand an den Türgriff legt, lässt ihn Gabriels Stimme zusammenfahren.
 

„Halt, halt, Samoose, was gibt das denn?“, fragt er.
 

„Was zu Essen und zwar hoffentlich schnell“, antwortet Sam, ohne sich umzudrehen.
 

Gabriel macht ein missbilligendes Geräusch hinter ihm.
 

„Das mache ich gerade für dich, also setz dich hin und halt die Hufe still“, befielt er.
 

Sam ist so überrascht, dass er sich wortlos fügt. Was sich als schlechte Entscheidung herausstellt, denn er gerät auf diese Weise in die direkte Starr-Line, auf der sich Cas und Dean seit nunmehr fünf Minuten auszuweichen – oder zu finden – versuchen.
 

„Hey …“, sagt Sam behutsam, nachdem er für einen Moment stumm zwischen den beiden hin und her gesehen hat.
 

„Hey, Cas … Dean. Wie wäre es, wenn ihr beiden … na ja, redet? Kommt schon, Leute. Das kann so doch nicht weitergehen!“
 

Er weiß, dass er damit die Tore zu einer gänzlich anderen Hölle aufgestoßen hat, als die, die er bereits kennt, aber er hält diese Anspannung im Bunker einfach nicht mehr aus. Außerdem ist jeder Groll seitens Dean, den er mit seiner Aufforderung geschürt haben könnte, ein Witz im Vergleich zu Sams derzeitigen Problemen.

Und eigentlich … eigentlich kann es zwischen Cas und Dean nur besser werden. Ein bisschen mehr Frieden zu Hause, innerhalb seiner Familie – ja, das wäre tatsächlich schön.
 

Sam fühlt, wie er von gleich drei Augenpaaren durchlöchert wird; von jedem auf eine gänzlich individuelle Art und Weise, so dass er gar nicht weiß, wohin er zuerst sehen soll. Der Blick, den er schließlich schweren Herzens sucht, ist der seines Bruders, der ihn mit einer eigentümlichen Mischung aus Emotionen im Gesicht ansieht, über deren Existenz Dean garantiert niemals auch nur ein Wort über die geschundenen Lippen kommen würde. Wut, Scham, Reue, Sehnsucht, Hoffnung, Angst, Zweifel, Schuld, Unsicherheit, Trauer, Liebe. Von allem zu viel, aber doch nicht genug, um ihn über den eigenen Schatten springen zu lassen.
 

Sam seufzt müde und sieht über den Tisch, als er merkt, dass das Geräusch wie zweistimmig erklingt: Auch Cas hat seiner Kraftlosigkeit bezüglich diesen Themas Luft gemacht und schenkt Sam nun ein kleines, trauriges Lächeln.
 

„Ich schätze deine Bemühungen, Sam. Sehr sogar. Aber im Moment gibt es Wichtigeres ...“
 

„Ja, Sam. Hotel Detroit in deinem Kopf, zum Beispiel!“, sagt Dean laut und auf eine Weise, die keinerlei Widerspruch oder Themenwechsel duldet.
 

„… auch, wenn ich der Auffassung bin, dass es besser ist, zeitnah über belastende Dinge zu sprechen, anstatt vor ihnen davon zu laufen“, fügt Cas unerbitterlich hinzu, als wäre er nie unterbrochen worden.
 

Stop, Cas!“, sagt Dean und es klingt wütend, wie eine Warnung.

Sam weiß genau, dass Deans Grenzen an dieser Stelle deutlich überschritten sind. Es fehlt vermutlich nicht mehr viel, um ihn in die Flucht zu schlagen. Schlimmstenfalls wählt er die Offensive zur Verteidigung und dann wird es für alle Anwesenden äußerst schmerzhaft.
 

Aber obwohl Cas es eigentlich besser wissen müsste, bleibt sein Blick fest und er spricht weiter, als überkomme ihn plötzlich ein nicht zu bewältigender Mitteilungsdrang. Vielleicht ist dem tatsächlich so, vielleicht ist Cas das fruchtlose Warten und Zurückhalten einfach leid. Sam hat das Bedürfnis, sich klein zu machen. Die Luftlinie zwischen Dean und Cas, auf der er sich leider immer noch befindet, ist zur Schussbahn geworden.
 

„Weil man nie wissen kann, wie viel Zeit einem bleibt. Und, sicher kann ich da nur für mich selbst sprechen, aber ich, für meinen Teil, möchte nicht vergeuden, was mir bleibt.“
 

Castiels Worte kommen einem Frontalangriff gleich, passen viel zu sehr zu der Predigt, die Sam seinem Bruder noch am Vorabend auf dem Küchenfußboden gehalten hat. Aber der Krach, mit dem Sam gerechnet hat, bleibt aus. Der Engel hat kaum zu Ende gesprochen, als Dean auch schon an ihnen vorbei und aus der Küche rauscht. Wortlos, mit stur erhobenem Kopf und verbissenem Gesichtsausdruck. Sie starren ihm nach; niemand gibt einen Ton von sich oder unternimmt den Versuch, ihn aufzuhalten.
 

Gabriel räuspert sich, nachdem Dean verschwunden ist, und durchbricht damit das ungemütliche Schweigen, das sich erneut im Raum einnisten will.
 

Unangenehm. Junge, Junge!“
 

Er widmet seine Aufmerksamkeit wieder dem Sandwich, das er im Begriff ist, für Sam zusammenzustellen.

Sam schnaubt, während sein Blick abwesend Gabes Händen folgt, die ein paar Blätter frisch gewaschenen Salates über dem Spülbecken ausschütteln.
 

„Das war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.“
 

Es ist immer noch merkwürdig, Gabriel bei einer solch menschlichen Tätigkeit zu beobachten und er richtet seine Konzentration wieder voll und ganz auf Cas neben sich. Cas ist vertrauter. Anders vertraut. Auf jeden Fall irgendwie beruhigend.
 

„Es tut mir leid, Cas … Ich hätte ihn nicht so in die Ecke drängen sollen. Ich wollte nur helfen“, sagt er entschuldigend und sieht mit wachsender Reue den Schmerz der Zurückweisung über das Gesicht seines besten Freundes kriechen. Tatsächlich hat der Engel noch nie so alt ausgesehen. So, als würden die Jahrmillionen seiner bisherigen Lebenszeit mit einem Mal sichtbare Spuren an der Hülle hinterlassen.
 

„Du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen. Dean braucht manchmal den ein oder anderen Schubser in die richtige Richtung … Zu seinem eigenen Wohl.“
 

„Dein Wort in Dads Ohren, Cassiekins“, sagt Gabe, wohl eine Spur zu optimistisch.

„Vielleicht solltest du Dean-o hinterhergehen?“
 

„Vielleicht.“
 

Es klingt nicht annähernd so unentschlossen, wie es das Wort selbst impliziert und Sam muss insgeheim dem deutlichen ‚Nein‘ hinter Cas‘ Antwort zustimmen. Dean jetzt hinterher zu gehen, ist ein Fehler. In dieser Hinsicht hat Castiel menschliche Untertöne inzwischen fast besser gemeistert als Gabriel, der mit Cas‘ nunmehr stoischem Ausdruck offensichtlich nichts anzufangen weiß.

Gabe zuckt die Achseln und kommt mit einem Teller in der Hand um die Kücheninsel herum.
 

„Ein Sandwich für Sammich – nichts zu danken, gern geschehen!“
 

Statt die Augen zu verdrehen, muss Sam ein bisschen grinsen. Und das Sandwich sieht tatsächlich gut aus; besser hätte er es selbst nicht belegen können. Gabriel scheint eine gute Vorstellung davon zu haben, was seinem Geschmack entspricht, denn zwischen den beiden Brothälften steckt eine Menge fein geschnittenes, frisches Gemüse.
 

„Wow, du verstehst ja wirklich was von Essen. Und das ohne Tricks!“, sagt er anerkennend, nachdem er den ersten Bissen hinuntergeschluckt hat.
 

„Och, na ja. Ich will mein Mojo lieber fürs Traumland sparen.“
 

Er zwinkert und macht sich tatsächlich daran, die Küche hinter sich aufzuräumen. Auf Menschenart.
 

Sam wird nicht rot, aber er sieht peinlich berührt auf sein Sandwich, als er Cas‘ forschen Blick spürt. Soll das etwa bedeuten, dass Gabriels Traum auf Bestellung keine einmalige Sache zwischen ihnen war?

Ihm wird unbehaglich bei der Anspielung darauf, dass Gabe offenbar nur so wenig Mojo besitzt, dass er sogar für etwas so Simples wie ein paar kleine Handgriffe im Haushalt darauf verzichtet. Damit er es stattdessen seinetwegen vergeuden kann? Natürlich ist das absolut indiskutabel und keine Option. Gabe braucht jeden Tropfen Gnade, den er noch hat! Himmel, vielleicht sind sie alle früher oder später einmal darauf in ihrem Kampf gegen Lucifer angewiesen!
 

Sieht so aus, als müsste ich mit ihm reden.
 

„Komm schon, Kiddo. Hau rein, du brauchst deine Kraft“, ermuntert Gabe ihn und setzt sich, zu Sams großem Unbehagen, zu Cas und ihm an den Küchentisch.
 

Vielleicht hat er jetzt die Garantie, so bewacht von den beiden Engeln in seinem Leben, mit keiner Halluzination – oder Dissoziation – rechnen zu müssen. Vielleicht reicht ihre Anwesenheit aus, damit Lucifer die Klappe hält. Trotzdem ist es ein verdammt eigenartiges Gefühl, von zwei himmlischen Wesen interessiert dabei beäugt zu werden, wie er isst. Vor allem, weil Gabriel dabei so zufrieden mit sich und der Welt wirkt, wie ein Kater, der den unbewachten Topf Sahne für sich erobert hat.

 

 

 

*
 

Sam hat keine Vorstellung davon, wie das Zimmer, das Rowena im Bunker belagert, wohl aussehen mag. Zu seiner Erleichterung ist heute nicht der Tag, an dem er das in Erfahrung bringt, denn sie treffen die Hexe am Weltkartentisch.
 

Die Atmosphäre ist bei weitem nicht so ungemütlich, wie noch vorhin in der Küche, aber von so etwas wie angenehmer Stimmung lässt sich auch nicht gerade sprechen. Der kleine Flirt zwischen Gabe und Rowena hat nicht unbedingt dazu geführt, das Zusammenleben im Bunker für sie alle einfacher zu gestalten und obwohl sich die zwei offensichtlich Mühe geben, über ihrem One-Night-Stand zu stehen, lässt die Anwesenheit des Erzengels einen missbilligenden Zug um Rowenas rot geschminkte Lippen erscheinen.
 

„Ihr wollt also, dass ich für euch herausfinde, wie es um Samuels Zurechnungsfähigkeit bestellt ist“, sagt die Hexe statt einer Begrüßung und mustert sie der Reihe nach.
 

Sam zuckt innerlich zusammen; nicht, weil ihn Rowenas Wortwahl verletzt, sondern, weil die Art, wie sie ihr Vorhaben auf den Punkt bringt, danach klingt, als wäre es Drecksarbeit. Und zwar eine, von der er im Moment nicht sicher ist, inwiefern er sich ihr gewachsen fühlt.

Ihr mitleidiges Lächeln ruht für seinen Geschmack eine Spur zu lange auf seinem Gesicht, wird aber hämisch, als es weiter zu Gabe wandert.
 

„Haben wir etwa immer noch Probleme mit dem Stehvermögen oder warum brauchen ein Erzengel und ein Seraph Hilfe von einer armen, kleinen, menschlichen Hexe?“
 

Zu Sams großer Überraschung sind es Cas‘ Augen, die sich bei ihren Worten zu Schlitzen verengen und er ist sich nicht ganz sicher, ob Cas den schützenden Schritt nach vorn, halb vor Gabriel, bewusst oder instinktiv macht.
 

„Der Verlust von Gnade ist kein Anlass für diese Art von Humor!“, sagt er dunkel und es klingt bedrohlich.

Doch Rowena geht darüber hinweg, kichert glockenhell und wendet ihre Aufmerksamkeit wieder Sam zu.
 

„Weißt du, Kiddo. Was die himmlischen Herrschaften hier von mir verlangen, ist keine Magie und auch nichts Übernatürliches. Es ist kein Wunder, dass sie damit zu mir kommen.“
 

Ihr Lächeln hält an, aber es erreicht mit einem Mal ihre Augen nicht mehr. Stattdessen wirkt ihr Gesicht nun geschäftlich; eine kontrollierte Maske, der jegliche Amüsiertheit abhanden gekommen ist. Der Ausdruck lässt Sam noch wachsamer werden.
 

„Was ist es denn dann? Spann uns nicht so auf die Folter, Rowena!“, sagt er scharf.
 

Von Anfang an hat sich das hier nicht wie eine gute Idee angefühlt und der Verdacht verhärtet sich mit jedem undurchsichtigen Wort der Hexe.
 

„Menschlichkeit, Samuel, nichts anderes ist es. Nichts, was ein Engel so berühren kann, wie sie es offenbar gern würden.“
 

Sam runzelt die Stirn, hinter der sein inzwischen viel zu vertrauter Kopfschmerz neu aufflackert. Das ihn immer begleitende Klingeln in seinen Ohren ist zu einem schwachen Dauerstörgeräusch im Hintergrund geworden.
 

„Aber Engel können mit unserer Einwilligung Besitz von uns ergreifen und -“
 

„Ah!“, unterbricht Rowena mit erhobenem Zeigefinger.
 

„Von eurem Körper, Samuel, nur von eurem Körper! Euren Geist können sie maximal in eine Ecke drängen und für eine sehr lange Weile zum Schweigen bringen. Das ändert nichts daran, dass der Geist im Kopf der Hülle weiterlebt und dem frechen gefiederten Parasiten einiges an Scherereien bereiten kann.“
 

Sie zwinkert in Castiels Richtung, als teilten sie beide ein Wissen, das allen anderen fehlt. Zeitgleich ignoriert sie Gabriel mit bemühter Offensichtlichkeit, so als sei der gar nicht mehr anwesend.

Sam überlegt einen Moment, was ihm erschreckend schwer fällt. Er fühlt sich einmal mehr, als sei sein Hirn nur durch einen Nebel hindurch für ihn verfügbar, wie in Watte gepackt.
 

„Aber die menschliche Seele können Engel berühren … Sie können sogar Energie davon abzapfen!“
 

„Das liegt daran, weil der Geist zwar mit der Seele verbunden ist, Samsquatch“, schaltet sich Gabe ein und riskiert dabei einen tadelnden Blick von der Hexe.

„Aber er ist nicht das gleiche. Noch nicht genug Erfahrung mit der Seelenlosigkeit gemacht, oder wie, hm?“
 

Der Spruch bringt ihm auch von Sam einen (zumindest halbherzigen) Todesblick ein, aber der Erzengel redet einfach weiter: „Der Verstand – dein Geist – bleibt dir in dem Fall erhalten. Der Körper allein, das alles sind nur Gene und Vitalfunktionen. Die Seele ist die Essenz, das, was den Pfeffer ausmacht, dein persönlicher kleiner Kernreaktor, aus dem Dinge wie Fantasie, Liebe und dergleichen kommen. Der Geist, das ist Logik und der ganze Quatsch.“
 

Sam nickt bedächtig, lässt Gabes Erklärung sacken, die tatsächlich irgendwie logisch klingt; selbst durch seine Erschöpfung und Überforderung hindurch.
 

„Und wie kann uns das helfen? Was hat das alles mit mir zu tun? Oder mit Rowena?“
 

„Wir brauchen jemanden, der an die Verbindung von allen drei Komponenten herankommt“, sagt Cas und es klingt so argwöhnisch, als bezweifele er stark, dass Rowena die richtige Ansprechpartnerin dafür sei.
 

„Wenn wir es mit dem echten Lucifer zu tun haben, gibt es … Dinge, die er nicht persönlich beeinflussen kann. Egal, wie mächtig er ist. Übrigens einer der Gründe, warum er so sehr auf die Menschen herabsieht.“
 

„Aber ich dachte, wenn es nicht Lucifer persönlich ist, dem ich das alles zu verdanken habe, dann geht es hier um meine Psyche. Ist die Psyche nicht ein Zusammenspiel aus Erlebtem, also äußeren Einflüssen, genetischer Veranlagung und Hormonen?“, kombiniert Sam langsam. Auf seine Psyche oder seine Hormone mag Lucifer vielleicht keinen Einfluss haben, was ein direktes Eingreifen betrifft, aber in Form nachhaltiger Traumata sieht das schon wieder anders aus.
 

Gabe wirkt jedoch äußerst zufrieden mit seiner Auffassungsgabe, für deren Langsamkeit er sich eher befangen fühlt und Rowena klatscht sogar begeistert in die Hände.
 

„Das ist es, Kiddo! Die Psyche ist das, was dabei herumkommt, wenn man all diese drei Dinge miteinander verbindet. Sie ist quasi die Schnittstelle zwischen all diesen Komponenten, der große gemeinsame Nenner!“
 

Sam ignoriert das unbehagliche Gefühl darüber, dass sowohl Gabe als auch Rowena ihn beide ‚Kiddo‘ nennen und nimmt sich einen Moment Zeit, das eben Gelernte sacken zu lassen. Wie kommt es eigentlich, dass er sich bisher noch nie Gedanken darüber gemacht hat, dass Menschen keine vor sich hin vegetierenden sabbernden Zombies werden, wenn sie ihre Seele verlieren? Oder dass der Unterschied zwischen einer ruhelosen Seele, also einem Geist, und der Seele eines Verstorbenen, die von einem Sensenmann geerntet wurde, so himmelschreiend gravierend ist?
 

„Behält eine Seele, die zu einem Geist wird, ihren … naja, ihren Geist?“, fragt er nach einiger Zeit des Schweigens, das die anderen drei ihm offensichtlich gönnen, schließlich. „Also ist ein Geist das Gegenstück zu einem Menschen ohne Seele?“
 

Gabriel und Rowena kichern einstimmig über die Frage, hören aber augenblicklich damit auf, als sie merken, dass der jeweils andere gerade auch lacht. Cas verdreht die Augen.
 

„Du bist auf dem richtigen Weg, Sam. Die Seele ist das einzige von allen drei Teilen, die auch allein Bestand hat. Sobald man zwei von ihnen zusammenfügt, sehnen sie sich nach dem dritten im Bunde … Aber das führt jetzt alles zu weit, denke ich. Wir sollten uns auf unsere eigentliche Mission konzentrieren … Also, bist du bereit?“
 

Nein, das ist er nicht wirklich. Und bereit wofür überhaupt? So viel er innerhalb der letzten paar Minuten auch gelernt haben mag – das zusätzliche Wissen hat nur weitere Fragen aufgeworfen und ihm bei seinen Problemen bisher kein Stück weitergeholfen.
 

Dean ist nach der kleinen Auseinandersetzung in der Küche immer noch verschwunden, aber die beiden Engel drängen Sam, nicht auf ihn zu warten. Cas sieht dabei allerdings nicht allzu glücklich aus und auch Sam hätte seinen großen Bruder lieber dabei. Ihn bei so etwas Wichtigem nicht dazu zu holen, fühlt sich falsch an.
 

Rowena und Gabe überzeugen ihn jedoch davon, dass es nun keine Zeit mehr zu verlieren gilt und schweren Herzens fügt sich Sam.

 

 

 

*
 

Die Schwärze war keine Dunkelheit. Sie war das Nichts. Etwas Absolutes, wie ein gähnender Schlund, der sich bis zur Unendlichkeit ausgedehnt hatte – wären da nicht die Gitterstäbe gewesen.

Man hatte das abgrundlose Nichts in Eisen gepfercht, wie ein wildes Tier, das nun in sich selbst tobte, zog, zerrte. Und Sam war mittendrin.
 

Am Anfang fühlte es sich an, wie unter Wasser zu treiben. Zu lange, zu tief, bis sich der Kopf über die Ohren mit Flüssigkeit füllte, bis Druck auf Gesicht und Lunge fast unerträglich wurde. Rein rational wusste Sam, dass er sich irgendwo in der Hölle in einem Käfig befand, aber anstatt Flammen und Hitze war da nur das drückende, allgegenwärtige, alles schluckende Nichts um ihn herum.
 

Doch Sam war nicht allein. Etwas regte sich in ihm, reagierte auf die vertraute Umgebung, auf die unerwartete Niederlage mit unbändigem Zorn.
 

Lucifer, Lichtbringer.
 

Das Hirn schien ihm sich zusammenzuziehen, bis es sich anfühlte, als bilde sich ein Sog in seinem Kopf, der stark genug war, um seinen Schädel zum Platzen zu bringen. Sam riss vor Schmerz und ungeahnter Panik die Augen auf, die Licht ins schwarze Nichts aussandten, wie Scheinwerfer mit der Intensität eines verglühenden Sterns. Genau so sehr brannte sein Inneres plötzlich, als ihn die Hitze doch noch heimsuchte; Sam stand wie in Flammen. Aber das Feuer kam nicht von außen. Es war nicht der Teufel, der brannte. Lucifer selbst war, so wie er einst gesagt hatte, wie Eis. Derjenige, der brannte, war Sam. Seine Eingeweide schienen sich vor Hitze in ihm zu verflüssigen und er schrie und schrie und hörte doch keinen einzigen Ton aus seinem Mund. Nichts. Nur ewiges Rauschen.

Er wusste nicht, wie lange es anhielt. Vielleicht Minuten, vielleicht ganze Zeitalter. Es war der schlimmste Schmerz, den er je in seinem Leben erfahren hatte; es fühlte sich an, als würde sein Herz verglühen, während es weiter in seinem Brustkorb schlug, vor Panik raste und dabei kochendes Blut durch seinen ganzen Körper pumpte.
 

Irgendwann war es vorbei. Sam saugte verzweifelt Luft in seine Lungen und merkte, dass er nicht atmen konnte. Es gab keinen Sauerstoff und sein Körper schien auch nicht drauf angewiesen zu sein, um weiter existieren zu können. Trotzdem hatte er plötzlich das Gefühl, zu ersticken und er japste und würgte am Nichts, das ihn immer weiter auszufüllen schien. Sam hatte keine Zeit, sich an das Gefühl zu gewöhnen, nicht atmen zu müssen. Hatte keine Zeit, sich auf das Ende der unerträglichen Qualen zu besinnen.
 

Lucifer hatte Sam, seine wahre Hülle, freigegeben. Und der Lichtbringer verschluckte die Schwärze, die nie Dunkelheit gewesen war, machte das Nichts zu einem Raum, den er ausfüllte, bis seine Gestalt die Grenzen der Physik sprengte. Es war nun nicht mehr der Teufel, der ihn als menschlichen Fleischanzug trug, nein, es war genau andersherum: Lucifer war überall, Sam mittendrin.
 

Lucifers blinder Zorn ließ ihn Sam offensichtlich für einige Zeit ignorieren. Zumindest schien er nicht im Zentrum der sich entladenden Energie zu stehen, die das Produkt von Lucifers Niederlage sein mochte. Sam blieb keine Zeit, Erleichterung darüber zu verspüren. Etwas rebellierte gegen Lucifer und es schien nicht das Nichts zu sein, das Teil der Hölle, Teil seiner Strafe sein musste, um ihn in Gefangenschaft und in Schach zu halten. Sam und Lucifer waren nicht allein.
 

Am Boden des Käfigs kauerte eine Gestalt. Sie war menschlich, kleiner als Sam. Seine Sicht flimmerte zu stark, durch Hitze, Kälte, Nichts, Präsenz, um den Ausdruck in ihrem Gesicht deuten zu können und es dauerte eine Weile, bis Sam erkannte.
 

Adam. Ein paar Armeslängen entfernt vor ihm auf dem Boden kniete Adam. Und das, was um ihn herum tobte, wie Lucifer um Sam, musste eindeutig Michael sein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Angel_of_Thursday
2019-02-28T11:18:30+00:00 28.02.2019 12:18
Mehr, mehr, mehr!!!
Antwort von:  Platypusaurus
03.03.2019 15:11
War schon unterwegs! ;)
Von:  Natsuno
2019-02-24T17:09:02+00:00 24.02.2019 18:09
Es kam lange nicht mehr vor, das ich so sehnsüchtig auf ein neues Kapitel bei einer FF gewartet habe, aber hier war das genau der Fall und ich wurde nicht Enttäuscht. Ich bin echt schon gespannt, was kommt :D
Antwort von:  Platypusaurus
03.03.2019 15:10
Das ist ein großes Lob! Habe mich sehr darüber gefreut - dankeschön. Hoffe, ich kann diesen Erwartungen auch weiter gerecht werden. :)


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