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Gnadenlos

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Willkommen zurück – diesmal ging es für meine Verhältnisse ja sehr schnell.
Unter anderem liegt das daran, dass Teile dieses Kapitels nicht nur parallel zum letzten, sondern auch schon dieses Frühjahr entstanden sind. Wie gesagt, ich habe WIRKLICH kontinuierlich an der FF gearbeitet (auch, wenn es nach außen hin sicher nicht so aussah).

Das heutige Kapitel darf ich euch am ersten Jahrestag meines Accounts auf fanfiktion.de präsentieren:
Seit etwa einem Jahr spamme ich das Internet also nun schon mit meinen Supernatural Fanfics voll!

Ich danke allen Menschen von Herzen, die dafür sorgen, dass mein liebstes Hobby und mein größter Fels in schweren Zeiten nicht ohne Anerkennung bleibt. Ihr wisst nicht, was es mir bedeutet, mit meinem Herzblut bei anderen positiven Anklang zu finden. Danke.

Auf ein weiteres erfolgreiches Schreibjahr!

Dino

PS: Die FF ist jetzt vollständig in der überarbeiteten Fassung hier auf Mexx verfügbar! Komplett anzeigen

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Persönlicher Freiraum

Lucifer ist irgendwann von selbst aus seinem Zimmer – oder seinem Kopf – verschwunden, nachdem Sam sich lange genug auf die Worte der Hexe konzentriert hat. Rowena hat sich nicht leicht damit getan, herauszurücken, warum sie den Bunker bis auf Weiteres verlassen will, aber es fällt Sam andersherum nicht schwer, nachzuvollziehen, dass ihr eigenes Trauma mehr als Grund genug ist, sich von ihm fernzuhalten. ‚Wunder‘, wie sie ihn genannt hat, hin oder her – seine Besonderheiten machen ihn nicht gerade zu der Gesellschaft, in der es sich am angenehmsten die eigenen Wunden lecken lässt.
 

Aber da ist noch mehr; überaus vorausschauende, überraschend logische Hintergründe, die Rowena dazu bewegen, den Winchesters und Team Free Will den Rücken kehren zu wollen und so schnell das Weite zu suchen, wie Dean, der sich vermutlich immer noch ungeduldig vor der Tür die Beine in den Bauch steht, es zulassen wird:

Natürlich wird Lucifer, in seinem Streben nach alter Größe und um den ganzen Planeten seinem persönlichen Vergnügen zu unterwerfen, kein Mittel zu schade sein, und unter Garantie schreckt er auch nicht davor zurück, jedem noch verbliebenen Engel auch den letzten Tropfen Mojo abzuzapfen, den dieser in sich trägt. Rowena macht allerdings ihre Überzeugung davon deutlich, dass die eigene Gnade ihren ganz besonderen Reiz auf den Teufel ausüben muss. Hinter all der Impulsivität und kindischen Zerstörungswut gegen die Schöpfung seines Vaters steckt eine gute Portion Eitelkeit, die auch Sam über die Jahre hinweg nicht verborgen geblieben ist. Lucifer schätzt die eigene Handschrift viel zu sehr, als dass er sich dauerhaft mit Alternativen begnügen würde, wenn er auf anderen Wegen das zurückerlangen kann, was ursprünglich sein ist.
 

Die Frage ist nur, wie lange er verzweifelt und geschwächt genug war, um sich mit der Gnade anderer Engel auszuhelfen, die irgendwann wieder aufgebraucht ist …
 

Und wann ihm die Idee kam, nach der eigenen zu suchen.
 

Sam kann Rowena nicht dazu bringen, Vermutungen anzustellen, wann dieser Zeitpunkt in etwa eingetroffen ist – zu groß sind ihre eigene Unruhe und der Drang, davonzulaufen.

Feststeht jedenfalls, dass es nur eine einzige Möglichkeit für Lucifer gibt, an Rückstände seiner Gnade heranzukommen, die sich derzeit außerhalb seiner Präsenz befinden: Es ergibt in Sams Augen erschreckend viel Sinn; insbesondere die Szenen, die Lucifer ihn in den letzten Tagen hat sehen lassen, scheinen Rowenas Befürchtung zu bestätigen, dass er auf der Jagd nach jedem ist, der irgendwann einmal in Berührung mit seiner Gnade gekommen ist.

Möglicherweise auch ein Grund, warum Lucifer so interessiert daran sein mag, sich mit Jack, seinem eigen Fleisch und Blut, in Verbindung zu setzen. Die Quelle von dessen Gnade ist schließlich sein Erzeuger, Satan, allein. Mit Schaudern muss Sam an das Szenario von vor zwei Tagen zurückdenken, als er Lucifer das erste Mal gestaltlich im Bunker hat auftauchen sehen: Die unverhohlene Begeisterung darüber, Jack, Sam und Gabe auf einem Haufen versammelt zu sehen. Alle drei haben im entferntesten Sinne eine Verbindung zur Gnade des Teufels – sogar Gabriel als dessen einziger noch lebender und auf Erden verweilender Bruder. Gabes Mojo muss dem Lucifers ähnlicher sein als von jedem anderen noch existierenden Engel, wovon Lucifer sich zweifellos irgendetwas zu versprechen scheint.
 

Sam ist sich nicht im Klaren darüber, wie die Familienbande unter Engeln tatsächlich funktionieren; sowohl Gabe als auch Cas bezeichnen einander als ‚Brüder‘ und auch ihr derzeitiger Umgang miteinander lässt nichts anderes vermuten als das, wenngleich sich ihr Verhältnis zueinander nicht mit dem von Sam und Dean vergleichen lässt. Was vermutlich gut ist. Sam ist sehr wohl bewusst, dass er und sein Bruder nicht immer in gesündester Beziehung zueinander stehen.

Aber auch fast alle der anderen himmlischen Soldaten, die Sam je begegnet sind, wurden von den beiden Engeln in seinem Leben als ‚Geschwister‘ bezeichnet, obwohl sich ihr Verhältnis zueinander von Fall zu Fall gravierend unterscheiden konnte.

Die vier Erzengel scheinen, abgesehen davon, dass sie lange Zeit die einzigen gewesen sein sollen, die das Antlitz Gottes tatsächlich gesehen haben, nicht nur eine Art Sonderstellung unter den anderen Engeln zu genießen; ihre Verbindung zueinander schien einmal deutlich intensiver gewesen zu sein, als zu sämtlichen anderen Engeln, bevor das Band zwischen ihnen unwiderruflich in die Brüche ging. Sam ist sich bis heute nicht ganz sicher, ob die Bezeichnung ‚Erzengel‘ einen Rang oder eine Unterart meint, weiß sehr wohl, dass Cas ein Seraph ist, aber da die Bezeichnung in seinem Fall synonym benutzt wird, wie ‚Nephilim‘ bei Jack, ist es schwer zu sagen, ob es sich nicht um zwei völlig verschiedene Dinge handelt.
 

Vielleicht können Erzengel auch gleichzeitig Seraphim sein …?
 

Wirklich mit Gewissheit sagen kann er nur, dass Erzengel (normalerweise) deutlich mehr Macht besitzen als andere Engel. Das empfindet er als entschieden zu wenig handfestes Wissen; gerade vor dem Hintergrund, wie viele Jahre Engel nun schon fester Bestandteil seines Lebens sind. Vor allem, um in Zukunft noch besser auf Jack eingehen zu können, den bestmöglichen Zugang zu ihm und seinen Bedürfnissen zu finden, könnten derartige Informationen noch von Nutzen sein. Aber ihm hämmert der Kopf nach all den neuerlichen Überlegungen zu sehr, so dass Sam den Gedanken, Gabe bei ihrem nächsten ‚Schäfchenzählen‘, wie Dean es heute Mittag noch so spitz genannt hat, auf all das anzusprechen, schnell wieder verwirft. Andererseits wäre es wohl an der Zeit, Gabe oder auch Cas endlich einmal nach den näheren Hintergründen zu all diesen Dinge zu fragen, denn würde es Sam nicht so schlecht gehen, wäre die ganze Angelegenheit um Lucifer nicht so himmelschreiend brenzlig, würde er seine Unwissenheit über die beiden Engel, die er inzwischen als festen Bestandteil seiner Familie betrachtet, beinahe als eine Art Unverschämtheit werten müssen.
 

Außerdem hängt Rowenas bevorstehender Abschied schwer und unnachgiebig wie eine Drohung über ihrer beider Köpfe, hält die Stimmung bedrückt, auch nachdem Lucifers verhältnismäßig harmlose Mätzchen Sam nicht mehr in seinem eigenen Bett terrorisieren.

Rowena verspricht ihm hoch und heilig, sich nicht einfach mitten in der Nacht aus dem Staub zu machen, sondern ihre Flucht, so wenig sie ihn verständlicherweise auch darüber wissen lassen will, genau zu durchdenken. Und sich vorher noch einmal von ihm zu verabschieden. Sam versucht, es nicht persönlich zu nehmen, dass sie bei dieser letzten Bitte aussieht, als koste es sie größte Überwindung, sie ihm zu gewähren. Im Anbetracht der Befürchtung, dass sie selbst noch einen Rest der Gnade Lucifers in sich tragen könnte, und sei dieser auch noch so winzig, scheint ihre Angst vor dem abtrünnigen Erzengel jedenfalls mehr als berechtigt. Schließlich ist da auch noch Cas, der ebenfalls vor gar nicht allzu langer Zeit und erschreckend lange unbemerkt lebende Fleischhülle für den Lichtbringer gespielt hat …

Im Bunker treffen zu viele potentielle Quellen des Teufelsmojos aufeinander, scheinen auf das Erscheinen des echten Lucifers zu warten, wie ein besonders schmackhaft hergerichtetes Buffet.

Wenn er könnte, würde Sam selbst die Beine in die Hand nehmen, um die Gefahr für die anderen zu verringern und Lucifer auf eine falsche Fährte zu locken.

 

*
 

Rowena hat die Tür nicht richtig hinter sich geschlossen, und die schattenhaften Bewegungen, die Sam durch den Türspalt an der Steinwand im Flur ausmachen kann, erinnern ihn daran, dass Dean draußen immer noch darauf wartet, allein mit ihm zu sprechen. Sein Bruder muss eigentlich gesehen haben, wie Rowena sein Zimmer verlassen hat, doch seltsamerweise macht er keinerlei Anstalten, zu ihm hereinzukommen. Langsam aber sicher wird Sam unruhig. Er traut seiner Stimme nicht die nötige Stabilität zu, um bis auf den Gang hinaus zu rufen, also rappelt er sich aus dem Bett auf, um selbst nach Dean zu sehen. Das Herz schlägt wieder einmal so schnell in seiner Brust, dass das Pochen die meisten Außengeräusche zu übertönen scheint.

Das Gespräch mit Rowena war nach den Ereignissen des Tages nervenaufreibend genug, und flatternde Schatten lösen in Sam derzeit alles andere als positive Gefühle aus. Aber er will jetzt nicht klein bei geben; vielleicht gerade weil Rowena sich dazu entschieden hat, den Bunker zu verlassen. Es fühlt sich an, als wäre die Anzahl der viel zu wenigen Vertrauten gegen den mit Abstand größten seiner Gegner um eine wertvolle Person geschrumpft. Was bedeutet, dass er sich jetzt doppelt ins Zeug legen muss, um nicht vor Lucifer – oder vor den durch dessen Gnade hervorgerufenen Halluzinationen – einzuknicken.
 

Vor der Tür ist nur Dean. Nur Dean. Nichts anderes! Niemand anderes, sagt er sich in Gedanken immer wieder, als er barfuß und auf unsicheren Beinen in Richtung Tür schleicht. Erst jetzt, außerhalb der vermeintlichen Sicherheit seines Bettes, fällt ihm auf, dass jemand ihn in saubere Jogginghosen und eines der Shirts gesteckt hat, die er üblicherweise zum Schlafen trägt.
 

War das Dean? Seit wann ist er überhaupt wieder zurück im Bunker?
 

Vielleicht Cas …?
 

Außerdem ist der Verband von seinem linken Unterarm verschwunden; vermutlich hat jemand bei dem Versuch, ihn zu wechseln, bemerkt, dass von der vermeintlichen Wunde darunter nichts mehr zu sehen ist. Dunkel erinnert Sam sich daran, welch heilende Wirkung die bloße Berührung von Gabes Flügel auf ihn gehabt hat.
 

Wieder sieht er Bewegungen in Form von Schatten im Gang. Sam hält den Atem an und stößt die Tür behutsam noch ein winziges Stück weiter auf, um von draußen nicht bemerkt zu werden.
 

„Hallo, Dean!“
 

Cas‘ dunkle, raue Stimme ist in ihrer Vertrautheit eine Wohltat gegen Sams Anspannung, auch wenn er aus diesem Winkel weder den Engel noch seinen Bruder durch den Türspalt sehen kann. Cas muss in diesem Augenblick um die Ecke gebogen sein und wäre, den Geräuschen nach zu urteilen, offensichtlich beinahe mit Dean zusammengeprallt.
 

„Cas, uhm … Hey!“
 

Dean lacht nervös auf, und er klingt dabei so hilflos, dass Sam kurz in Erwägung zieht, die Tür einfach zu schließen und ihnen etwas mehr Privatsphäre zu gönnen. Er selbst würde nicht wollen, von Dean in einer derart verletzlichen Lage belauert zu werden. Aber entgegen seiner Moral überwiegt Sams natürliche Neugier. Er schämt sich wirklich, ein bisschen zumindest, allerdings ist das Schweigen vor seinem Zimmer nach Deans Gestammel so laut und ungemütlich, dass er einfach nicht anders kann, als angestrengt in den Gang hinaus zu lauschen. Wenn er könnte, würde er seinem Bruder gern einen Schubs geben.
 

Komm schon, Dean! Reiß dich zusammen …
 

Mit einer Hand noch am Türgriff und gespitzten Ohren fragt er sich kurz, ob Cas vielleicht bemerken könnte, dass Sam die beiden belauscht, doch falls dem so ist, scheint es den Engel nicht unbedingt zu stören.
 

„Du gehst mir aus dem Weg“, sagt er nämlich in diesem Moment ungeachtet des heimlichen Lauschers – und es ist keine Frage.
 

„Ich ... Nein. Wie kommst du darauf?“
 

Sam schließt gequält die Augen. Spätestens jetzt hat Dean den Punkt erreicht, an dem Sam ihn gerne bei den Schultern packen würde, um ihn kräftig zu schütteln.

Cas scheint einen Schritt auf Dean zugemacht zu haben, denn plötzlich schiebt sich Dean rückwärts gehend, und so, als würde er dem Engel vor sich ausweichen wollen, in Sams durch die angelehnte Tür sehr beschränktes Sichtfeld. Außerdem kann Sam nun Cas‘ Hand an der Wange seines Bruders sehen, und er erkennt von seinem Lauschposten aus unschwer die tiefe Röte, die Dean allmählich bis in den Nacken kriecht. Die Hand verschwindet wieder.
 

„Deine Lippen, Dean. Was machst du nur?“
 

Cas klingt so sanft und traurig, dass es Sam einen Stich versetzt. Wie wird es dann Dean erst ergehen? Vorsichtig wagt er, die Tür noch eine Winzigkeit weiter aufzustoßen, bis er nicht nur das Profil seines Bruders, sondern auch das des Engels sehen kann. Sie stehen einander gegenüber, Deans Gesichtsausdruck wie versteinert. Cas umfasst seine Oberarme und auf die Entfernung ist Sam nicht ganz klar, ob er Dean so an der Flucht hindern oder sich selbst mit der Armeslänge Abstand davon abhalten will, ihm um den Hals zu fallen.
 

„Warum machst du das, Dean?“, wiederholt Cas, den Blick immer noch auf Deans Mund gerichtet, wie Sam mit leichtem Schaudern registriert.

Münder, Lippen, Blut – selbst im Rahmen einer derart zärtlichen Szene fällt es ihm schwer, bei diesen Reizbildern nicht die Fassung zu verlieren.
 

„Ich mach‘ gar nichts!“

Deans Antwort entfährt ihm viel zu hoch, zu laut, ist zu überstürzt, so dass seine Stimme fast ins Stolpern gerät.
 

„Du beißt dir seit neun Tagen die Lippen wund, Dean! Bitte hör damit auf, dir weh zu tun!“

Es ist mehr als nur eine Bitte; Cas klingt nahezu flehentlich und Dean senkt den Blick, während er mit sichtlichem Unbehagen das Gewicht von einem Bein aufs andere verlagert.
 

„Kann nicht“, presst er unwirsch hervor.
 

„Natürlich kannst du!“
 

„Nein, ich meine, ich will nicht, dass... Oh, Fuck.

Er stößt einen so tiefen Seufzer aus, dass Sam ihn sogar auf die Entfernung hören kann.
 

„Darf ich?“, fragt Cas behutsam und bringt Dean so dazu, endlich wieder aufzusehen.

„… dich heilen?“
 

Sam erwartet, dass Dean ablehnt, weiter mauert, um Castiel von sich und seinen wahren Gefühlen für ihn fernzuhalten. Doch zu seinem großen Erstaunen nickt Dean schließlich langsam, nachdem er Cas für einen Augenblick stumm gemustert hat. Etwas muss im Blick des Engels gelegen haben, das ihn weich werden lässt.

Sam erwartet außerdem, dass Cas, wie unzählige Male zuvor, zwei Finger heben und sie zum Heilen an Deans Stirn legen wird. Cas hebt tatsächlich den Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand und überrascht Sam (und diesmal wohl auch seinen Bruder) abermals – denn er legt sie sacht und ohne Umschweife an Deans zerkaute, schorfige Lippen.

Deans Augen weiten sich für einen winzigen Moment und er hält sichtlich den Atem an, bevor er sie schließt und wie in Trance nach Cas‘ Hand vor seinem Gesicht greift. Gleißend hell verbirgt die heilende Gnade den zärtlichen Kontakt zwischen ihnen. Sam blinzelt und wendet den Blick ab, bis das bläuliche Licht verblasst ist. Noch nie zuvor hat er sich wie ein Störenfried dabei gefühlt, einem Engel beim Heilen zuzusehen …

Doch als er wieder durch den Türspalt schaut, hält Cas noch immer seine Finger gegen Deans Mund gepresst. Sam kann sich plötzlich des Eindrucks nicht erwehren, dass Dean Cas' Fingerspitzen küsst. Was er offenbar wirklich tut, denn er hört, wie Cas einen Laut von sich gibt; tief und grollend, seltsam widerhallend, nahezu unmenschlich in seinem Echo. Eine Sehnsucht schwingt darin mit, deren Intensität selbst Sam durch Mark und Bein geht. Er fühlt ein flaues Ziehen in der Magengrube. Es ist eine Mischung aus Beschämung, dieser Intimität ungefragt beizuwohnen, und Triumph darüber, dass Dean sich endlich in winzigen Schritten über die albernen, selbstgesteckten Grenzen hinauswagt. Und, möglicherweise, eine Prise Bedauern für sich selbst, diese Art von Nähe schon seit geraumer Zeit nicht mehr erfahren zu haben. Vielleicht sogar so etwas wie Neid, dass Dean zu Engeln im Allgemeinen einen so viel besseren Draht zu haben scheint, als Sam ihn hat.

Er schlägt sich erschrocken die Hand vor die Mund, als hätte er diesen einen letzten Gedanken laut ausgerufen, während sich die Beklemmung allmählich auch in seiner Brust breit macht, sich mit eiserner Faust unnachgiebig um sein Herz schließt. Der einzige Engel, der immer noch auf Sam zu setzen scheint, ist der Teufel höchstpersönlich. Und der Teufel ist außerdem der einzige, über den er sich jetzt Gedanken machen sollte! Nicht über die überaus komplizierte Liaison zwischen seinem Bruder und seinem besten Freund, nicht über die eigene Einsamkeit, die Sehnsucht …
 

Cas entzieht sich behutsam Deans Griff, der in diesem Moment die Augen wieder aufschlägt.
 

„Besser?“, fragt der Engel mit einer Zärtlichkeit, bei der Sam sich wundert, dass sie Dean nicht auf der Stelle zum Schmelzen bringt. Oder dazu, Castiel endlich richtig zu küssen. Aber Dean schüttelt den Kopf.
 

„Es ...“

Er muss sich räuspern. Seine Stimme ist unwahrscheinlich rau. Prüfend fährt er mit der Zunge über die geheilten, sichtlich glatteren Lippen, bevor er den Satz endlich vollendet.

„...tut weh.“
 

Sam braucht einen Moment, um zu begreifen, dass Dean nicht über seinen Mund spricht. Einen Moment, in dem Cas Dean prüfend ansieht, so dass Deans Wangen schließlich erneut unter seinem Blick zu glühen beginnen.
 

„Es gibt Dinge, die kann ich nicht heilen, Dean“, sagt Cas ernst und wieder klingt er so unendlich traurig und liebevoll zugleich.

„Sag mir, wie ich dir helfen kann. Was soll ich tun?“
 

Sam fragt sich, wie Dean mit dem unverhohlenen Flehen hinter Cas‘ ernstem Tonfall fertig wird, als ihm auffällt, wie hilflos Dean erneut wirkt. Sein Bruder hebt die Schultern, durch die ein eigenartiges Beben fährt, was Indiz für höchstens einen Bruchteil seines inneren Kampfes sein mag. Einen Moment lang befürchtet Sam, dass Dean in Tränen ausbricht und alles in ihm schreit danach, sich endlich zurückzuziehen, seinem Bruder in seiner Verletzlichkeit die Privatsphäre zu gönnen, die er benötigt. Doch bevor er sich zurück schleichen kann, stolpert Dean den halben Schritt vorwärts, der sie noch voneinander trennt. Und endlich, endlich küsst er Cas richtig – mitten auf den Mund.
 

Wenn es einen Moment zwischen den beiden gegeben hat, in dem es Sam schwer fällt, sich von ihrem Anblick zu lösen, dann ist es unbestreitbar dieser. Sam weiß nicht, ob einer der beiden ein Feuerwerk hinter geschlossen Liedern sieht, aber er sieht es beinahe selbst, so sehr schwillt ihm das Herz in diesem Moment an, als er das Bild vor sich betrachtet: Sein Bruder und sein bester Freund, seine Familie, vielleicht nun endlich doch noch vereint.

Er ist sich nicht sicher, ob tatsächlich Tränen über Deans Gesicht laufen und er weiß auch nicht, ob das Lächeln ein glückliches ist, das die Winkel von Cas' geschlossenen Augen kräuseln lässt. Aber die beiden liegen sich in den Armen und küssen sich mit einer Art leidenschaftlichen Vorsicht, als wüssten sie selbst nicht, ob sie gerade Traum oder Realität durchleben.
 

Als Deans Hand ihren Weg in Cas' Haar findet, wendet Sam sich endlich ab. Er hat mehr als genug gesehen. Ihm ist klar, dass ein Kuss für die beiden kein Happy End bedeutet und dass Deans Ängste damit nicht für alle Zeiten behoben sind. Auch wird Sam sich jetzt, wie aus heiterem Himmel, mit dem beinahe glücklichen Bild der beiden im Herzen, all der Schwierigkeiten gewahr, die einer gemeinsamen Zukunft für sie im Wege stehen. Immerhin handelt es sich bei ihnen nicht nur um ein ungleiches Paar, sondern um zwei völlig verschiedene Spezies, deren Liebe zueinander spätestens durch Deans Altern, wenn nicht schon erheblich früher durch äußere Umstände, ein jähes Ende finden wird.

Nichtsdestotrotz hofft Sam von Herzen, dass es ein guter Schritt in die richtige Richtung war. Und als er die Tür leise hinter sich zuzieht, glaubt er, Deans Stimme heiser „... brauch' dich, Cas!“ zwischen zwei Küssen flüstern zu hören.
 

 

*
 

Die heimliche Freude über Deans und Cas‘ Annäherung reicht nicht aus, um Sam gänzlich vor dem Abgrund zu bewahren, in den ihn sein Grübeln zurück zu drängen versucht. Rowenas Entscheidung, das Gespräch mit ihr, und nicht zuletzt die Nachwirkungen der Hypnose sind eine Menge zu schlucken. Nüchtern stellt Sam fest, dass sein Sehnen nach dem schützenden Nichts dennoch wie in weite Ferne gerückt ist. Fürs erste hat er sich bei weitem genug Zusammenbrüche und Ohnmachtsanfälle geleistet; er ist fest entschlossen, auf den Beinen und bei Bewusstsein zu bleiben, bis er irgendeine Lösung für die Probleme gefunden hat, die sich seit den Ereignissen des Vormittags nur noch höher vor ihm aufzutürmen scheinen. So kommt es, dass er sich nach der Rückkehr von seinem Lauschposten nicht wieder zurück ins Bett, sondern an seinen Schreibtisch begibt und den Laptop hochfährt. Den zusätzlichen Stuhl, den Rowena oder Dean mit hereingebracht haben, schiebt er achtlos neben den Tisch an die Wand, und trommelt ungeduldig auf der Tischplatte herum, während er seufzend darauf wartet, dass sein Computer ungebetene Systemupdates durchführt.
 

Sam rechnet nicht allzu schnell mit Deans Rückkehr, ist, um ehrlich zu sein, nicht allzu betrübt über die Zeit, in der er sich, zum ersten Mal seit langem, beinahe allein und ungestört fühlt. Es ist nicht nur die Angst vor Lucifer und dem, was ihm der Rest seiner Gnade, der in Sams Körper umherirrt, als nächstes präsentieren könnte. Auch Rowena und selbst Gabriel haben sich während der Hypnose angefühlt wie Eindringlinge in etwas, in dem er eigentlich mit sich selbst allein sein sollte. Sam kommt nicht umhin, sich seltsam schmutzig zu fühlen und plötzlich ist auch der unbequeme Opfer-Gedanke wieder da. Er unterdrückt das dringende Bedürfnis nach einer heißen Dusche, will das Zimmer jetzt nicht verlassen, denn …
 

… vielleicht knutschen sie immer noch vor der Tür …
 

… und außerdem hat er das Gefühl, den Verlust Rowenas als Verbündete durch ein persönliches Erfolgserlebnis wieder wettmachen zu müssen. Er will endlich weiterkommen, zumindest den Ansatz einer Lösung für sein größtes Problem in Sicht wissen. Und das erreicht er nicht, indem er sich weiter in Selbstmitleid suhlt.

Sam zwingt sich dazu, jede der Halluzinationen noch einmal in Gedanken Revue passieren zu lassen, und beginnt sogar damit, sich Notizen zu machen, während er immer noch auf seinen Laptop wartet. Eisern meidet er dabei gedanklich alles, was direkt mit der Hypnose zu tun hat.
 

Obwohl plötzlich eine Menge von dem, was er gesehen und erlebt hat, Sinn zu ergeben scheint, kann er sich doch auf Vieles noch keinen rechten Reim machen:

Warum ist Lucifer (oder seine Gnade) so besessen davon, ihn mit blutigen Mündern zu terrorisieren? Hat er Sam am Vortag in der Küche wirklich Whiskey mit Milch verwechseln lassen, um Sam betrunken zu machen? Aus welchem Grund? Und die Szene mit den Vögeln im Wald mag auf metaphorischer Ebene vielleicht stimmig erscheinen– Sam versteht sie als deutliche Botschaft dafür, dass Lucifer sowohl Cas als auch Gabe töten wird, bevor er sich Sam selbst widmet – aber das erklärt nicht, wieso Sam in Sportkleidung und voller Moos und Erde und mit einer echten Verletzung in seinem eigenen Bett zu sich gekommen ist.

Und da ist noch mehr; Kleinigkeiten, die er bislang gänzlich ignoriert hat und von denen er befürchtet, jetzt vielleicht zu viel in sie hinein zu interpretieren. Beispielsweise glaubt er nun mit ziemlicher Sicherheit sagen zu können, warum ihn im Wald diese niederschmetternde Gier danach befiel, dem elsterfarbenen Bussard Federn auszureißen, um sie selbst zu besitzen. Er versucht, sich nicht zu sehr in seiner Abscheu vor sich selbst zu verirren und konzentriert sich lieber auf das Gefühl, die eigene Seele in seinem Körper umherschwappen gefühlt zu haben, als er Lucifer das erste Mal im Bunker zu sehen glaubte. War das in Wahrheit ein Rest seiner Gnade, der mit aller Macht aus ihm herauszudrängen versuchte, als Sam sich in Gabriels und Jacks Nähe befand?
 

Dabei hat Gabe im Moment selbst so wenig Gnade, seit er von Asmodeus gefangen gehalten wurde … Wieso haben die Rückstände in mir so stark auf seine Anwesenheit reagiert, als Jack dabei war?
 

Mit Schaudern kommt Sam in den Sinn, dass Gabriels Trauma große Ähnlichkeit mit seinem eigenen haben muss; der ständige Entzug der eigenen Gnade, die Sam in ihrer Bedeutung insgeheim mit der menschlichen Seele vergleicht, die körperliche Folter, und nicht zuletzt die emotionale Erniedrigung durch ein Geschöpf Lucifers über Jahre hinweg.
 

Vielleicht ist das der Grund, warum Gabe sich so viel Mühe gibt. Warum er sein Mojo aufspart, damit ich schlafen kann?
 

Sam schämt sich für seinen vorherigen Gedanken, Lucifer sei der einzige Engel auf seiner Seite. Wie konnte er nur Gabe vergessen? Oder Cas?

Aber sentimental zu werden, hilft ihm jetzt nicht weiter. Sam öffnet den Browser und seine bevorzugte online Suchmaschine, nachdem es sein Laptop endlich geschafft hat, in den Arbeitsmodus zu fahren. Während er weiter grübelt, durchsucht er alte Überlieferungen und Folklore nach Anzeichen von Besessenheit, die durch das Aussprechen bestimmter Worte oder Phrasen wachgerufen werden.

Vielleicht war es nicht nur das Zusammentreffen von Lucifers Bruder, seinem Sohn und seiner wahren Hülle, sondern auch die Tatsache, dass sie über den Teufel gesprochen haben. Wenn Sam sich richtig erinnert, ging es in dieser Situation um Jacks wahren Vater, aber ob der Name Lucifer tatsächlich gefallen ist, kann er nicht mehr sagen, lediglich, wie sehr Sam versucht hat, dessen Erwähnung aus der Unterhaltung vor dem Jungen herauszuhalten.

Ein weiteres Mal kommt ihm dabei der Begriff ‚Dissoziationen‘ in den Sinn und, in diesem Zusammenhang, auch erstmalig der Ausdruck Trigger. Er schaudert bei der Wendung, die seine Suche plötzlich in Richtung Psychologie zu nehmen droht, denn das ist wirklich nichts, womit er sich jetzt auch noch befassen will.
 

Sams Flut aus Überlegungen und Recherche findet ein jähes Ende, als es plötzlich an seiner Zimmertür klopft.
 

Dean!, ist sein erster Gedanke und es ist ein willkommener, denn ja, natürlich hat er etwas Ruhe für sich gewollt und selbstverständlich hat er seinem Bruder nach den neusten Entwicklungen mehr Zeit mit Cas gegönnt. Aber auch zwischen Dean und Sam gibt es nun die ein oder andere Angelegenheit, die es zu klären gilt und nicht zuletzt trägt Deans Anwesenheit dazu dabei, die eigene Panik ein wenig besser in Schach zu halten. Zumindest meistens.
 

Aber als sich mit Sams hoffnungsvollem „Herein!“ die Tür öffnet, ist es nicht Dean, der unsicher über die Schwelle tapst. Es ist Jack.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  JoeyB
2019-09-22T18:19:07+00:00 22.09.2019 20:19
Hallo :)

Das ging ja richtig fix mit den neuen Kapiteln. Mir gefällt die Richtung, die die Geschichte jetzt einschlägt, richtig gut. Die Idee, dass Sam nicht verrückt wird, sondern tatsächlich noch etwas von Lucifers Gnade in ihm steckt, birgt eine Menge Storypotential... Ich bin echt gespannt, wie du das ganze weiterentwickelst!

Du schilderst die Charasktere auch wieder sehr gut. Dass Rowena sich zurückzieht (und deshalb offenbar ein sehr schlechtes Gewissen hat) passt einfach total zu ihrer Vergangenheit mit Lucifer und den Momenten, in denen sie auch in der Serie über ihn spricht. Sie weiß genau, dass es falsch ist, Sam in so einer Situation im Stich zu lassen, aber ihre Angst ist einfach größer.
Und es gefällt mir auch richtig, dass Sam sich nicht kampflos ergibt, sondern das Problem auf seine Weise angeht - durch Recherche vergleichbare Situationen und Lösungsansätze finden. Das wird zwar vermutlich nicht viel bringen, aber ich kann mir vorstellen, dass es ihm hilft, beschäftigt zu sein und zumindest das Gefühl zu haben, aktiv etwas gegen Lucifer zu tun.

Irgendwie bin ich gerade ein bisschen enttäuscht von Deans Verhalten. Einerseits Cas gegenüber (obwohl sich das ja langsam zu lösen scheint) und andererseits gegenüber Sam. Natürlich fühlt er sich jetzt hilflos, aber ich finde es trotzdem traurig, dass er nicht zu Sam ins Zimmer geht und einfach mit ihm redet. Sogar Rowena hat sich dazu überwunden, obwohl sie vermutlich am liebsten sofort ihre Sachen gepackt hätte und abgehauen wäre...

Ich bin gespannt, wie es weitergeht :D

LG


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