Zum Inhalt der Seite

Gnadenlos

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
TRIGGERWARNUNGEN für

- Posttraumatische Belastungsstörung/ Traumata
- psychische Erkrankungen
- Halluzinationen, Dissoziationen, Flashbacks
- Andeutungen von suizidalen Gedanken
- destruktives Verhalten
- Andeutungen diverser Abhängigkeiten (emotionaler und substanzieller Natur)
- psychische und physische Folter (und in diesem Rahmen auch Andeutungen sexualisierter Gewalt), Verstümmlung des menschlichen Körpers, Gefangenschaft
- Andeutungen von übernatürlichen ‚Bodyhorror‘-Elementen
- Verstümmlung von Tieren, Tierleichen
- (nicht selbst zugefügte) Verletzungen
- (fiktiv) religiöse Themen (wahre Gestalt von Engeln, Beschreibung der Hölle etc.) - ‚Blasphemie‘
- Surreales, Horror, Mindf_uck und eine Menge Kopfschmerz
- Tod eines Hauptcharakters (Main Character Death/ MCD)


Bitte entscheidet anhand der oben genannten Triggerwarnungen vorher, ob ihr diese Geschichte lesen möchtet. Die einzelnen Kapitel beinhalten keine separaten Triggerwarnungen.


Diese Geschichte entstand ursprünglich für einen Wettbewerb im Nov/Dez 2018, aus dem ich aus zeitlichen Gründen leider aussteigen musste. Sie war von Anfang an als Sidestory zu Kinky Boots gedacht, da beiden FFs dieselbe Rahmenhandlung zugrunde liegt. Im weiteren Ausarbeiten ist sie auch offiziell das Sequel geworden.

Thematisch liegt der Fokus diesmal vollkommen anders; im sexuellen Sinne wird die Handlung definitiv jugendfrei bleiben. Außerdem steht diesmal Sam im Rampenlicht.
Kinky Boots entspricht leider nicht den Regeln auf fanfiktion.de. Wer Kinky Boots nicht lesen kann oder will:

Gabriel hat mit Crowley einen geheimen Deal ausgehandelt, der dazu führte, dass Castiel und Dean sich näher kamen. Im Eifer des Gefechts wurde eigentlich überdeutlich, wie viel die beiden füreinander empfinden. Am Ende hat Dean jedoch kalte Füße bekommen und Cas eine Abfuhr erteilt. Cas hat Dean wissen lassen, dass er auf ihn warten würde, sollte er es sich noch einmal anders überlegen. Ob Dean sich überwinden konnte, blieb offen.

Ich widme diese Geschichte DragomirPrincess, die Lucifer-Fan ist und meine Liebe für Sabriel teilt. Have fun with Sams Mindf_ck, my dear!

Der Titel der Geschichte, der mir bis zum Zeitpunkt des Uploads Kopfzerbrechen bereitet hat, ist ebenfalls eine Widmung – an SquirrelFeathers. Ich bin dir sehr dankbar und empfinde es als bereichernd und als Ehre, dass du mein Zeug liest! Ganz unabhängig davon, ob du überhaupt in diese Geschichte reinschauen magst oder nicht.
Auch der Name des Prologs ist eine kleine Hommage an einen Kommentar, den ich mal von dir bekommen habe. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
ACHTUNG: Es gibt im Vorwort des PROLOGS eine aktualisierte, vollständige TRIGGERLISTE.
(Für einzelne Kapitel werde ich keine Triggerwarnungen mehr schreiben und die Liste zu Beginn wird auch nicht mehr erweitert oder verändert.)


Herzlich willkommen an die neuen Leser!
Es ist merkwürdig, dass ihr ausgerechnet jetzt zu dieser FF gefunden habt, da ich an diesem Kapitel (beschämenderweise) seit März sitze und es erst jetzt fertiggestellt habe und auch, da ich gerade dabei bin, überarbeitete Fassungen aller bisherigen Kapitel hochzuladen.

Auf fanfiktion.de ist diese FF schon auf dem neusten Stand, hier fehlen mir noch die Kapitel 4 bis 6 (sie folgen demnächst).

Danke an alle, die mir treu geblieben sind. Ich gebe diese Geschichte nicht auf, sie liegt mir am Herzen. Das nächste Kapitel ist bereits begonnen.

Und nun viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Willkommen zurück – diesmal ging es für meine Verhältnisse ja sehr schnell.
Unter anderem liegt das daran, dass Teile dieses Kapitels nicht nur parallel zum letzten, sondern auch schon dieses Frühjahr entstanden sind. Wie gesagt, ich habe WIRKLICH kontinuierlich an der FF gearbeitet (auch, wenn es nach außen hin sicher nicht so aussah).

Das heutige Kapitel darf ich euch am ersten Jahrestag meines Accounts auf fanfiktion.de präsentieren:
Seit etwa einem Jahr spamme ich das Internet also nun schon mit meinen Supernatural Fanfics voll!

Ich danke allen Menschen von Herzen, die dafür sorgen, dass mein liebstes Hobby und mein größter Fels in schweren Zeiten nicht ohne Anerkennung bleibt. Ihr wisst nicht, was es mir bedeutet, mit meinem Herzblut bei anderen positiven Anklang zu finden. Danke.

Auf ein weiteres erfolgreiches Schreibjahr!

Dino

PS: Die FF ist jetzt vollständig in der überarbeiteten Fassung hier auf Mexx verfügbar! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Willkommen zurück!


Schreiben läuft derzeit ganz gut; tatsächlich ist dieses Kapitel so lang geworden, dass ich es teilen musste. Bedeutet also – Achtung, gute Nachrichten – dass es hier bald weitergeht, weil ich quasi wieder vorgearbeitet habe.


Schlechte Nachrichten: Der Titel des Kapitels darf als Warnung betrachtet werden. Vom Wege der Besserung sind wir noch weit entfernt.


Trotzdem bereit für mehr? Auf geht‘s: Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die unglaubliche soziale Kapazität des Sam Winchester

Es ist voll im Bunker geworden. Sie sind noch immer auf der Jagd nach Lucifer, Castiel ist wieder da, gelegentlich arbeiten Crowley und Rowena mit den Winchesters zusammen und dann ist da natürlich Jack.
 

Jack, an dessen Person und Schicksal so viel hängt. Cas hat behauptet, dass durch die Existenz des Nephilim Hoffnung auf eine bessere Welt bestehe. Und es ist mehr als die Tatsache, dass Sam Cas um jeden Preis glauben möchte; es gibt noch andere Gründe, warum Jack für Sam so wichtig ist.
 

Nachdem die Schließung der Höllentore so katastrophal schiefgegangen ist, hat er den Glauben an eine friedliche Zukunft aufgegeben. Insbesondere mit Lucifer auf freiem Fuß.

Die Angst vor Lucifer begleitet Sam bei Tag und Nacht, sie lässt sich nicht abschütteln und nicht zuletzt aus diesem Grund ist er froh darüber, dass der Bunker allmählich immer belebter wird, nicht mehr nur als Unterkunft für seinen Bruder und ihn zwischen zwei Fällen dient.
 

Aber nicht nur deshalb ist Jack Kline schützenswert; nicht nur, weil er nützlich sein könnte, Sam eine Ablenkung bietet oder das Potential zu einer Art Messias besitzt.

Es ist die Tatsache, dass Sam den Jungen wirklich gern hat. Niemals hätte er gedacht, sich einem Lebewesen auf dieser Ebene verbunden zu fühlen. Und dann auch noch einem, das ihn nicht sofort umbringen will. Bisher war das eigentlich immer nur mit Monstern so, die, wie er, mit einer düsteren Macht in den Genen aufgewachsen sind.

Sam kennt dieses Gefühl nur allzu gut. Von Jägern misstrauisch belauert zu werden, ob und wann das Böse in einem die Überhand nimmt. Von der eigenen Familie behandelt zu werden, als sei man eine Gefahr für sich selbst und die Zukunft der Menschheit. Zum Teil spürt er die Folgen seiner Vergangenheit noch immer: Andere Jäger meiden ihn, wenn er nicht mit Dean unterwegs ist. Seine Lebensgeschichte ist ein Stigma, er selbst ein schlechtes Omen – Sam Winchester bringt Unglück.
 

Und wenn er Jack ansieht, in die eigentümlich schimmernden Augen, die einerseits so wissend und alt zurückschauen, andererseits so viel Unerfahrenheit und guten Glauben an die Welt widerspiegeln, fühlt Sam ein dumpfes Ziehen in seinem Inneren. Ein Ziehen von der Art, den Jungen in einer bärengleichen Umarmung an seine Brust drücken zu wollen, es gleichzeitig aber kaum in seiner Nähe aushalten zu können.

Sam überspielt das, in dem er sich ins Zeug legt, dem Nephilim ein guter Mentor und Freund zu sein. Und zusammen mit Cas, der ganz in seiner Rolle als Ziehvater für Jack aufgeht, gelingt es Sam, mitunter doch auf andere Gedanken zu kommen.
 

Und dann ist da noch Mom. Es ist erschreckend, wie leicht es ihm fällt, eine Beziehung zu der Frau aufzubauen, die er zuletzt im Alter von einem halben Jahr an der Decke über sich hat in Flammen aufgehen sehen.

So absurd es auch klingt – er und Mom haben keine gemeinsame Vorgeschichte, keine richtige zumindest, die ihr Verhältnis zueinander belasten könnte. Das macht es zwischen ihnen nicht unbedingt weniger emotional, und manchmal werden Situationen wirklich seltsam. Aber die besonderen Umstände lassen viel Raum für einen Neuanfang. Für gegenseitiges Verständnis.

Was Dean, beispielsweise, für ihre Mutter nicht immer aufbringen kann. Und auch Mary fällt es ihrerseits schwer, sich auf den Dean einzulassen, der, abgesehen von seiner innigen Liebe zu Apfelpasteten, absolut nichts mehr mit ihrem Vierjährigen gemeinsam hat, den sie noch im Herzen trägt.
 

Sam ist derjenige, der neutraler von Dad sprechen kann, wenn Mary das Bedürfnis danach überkommt. Er ist in der Lage, die goldene Mitte zu finden, aus Sicht des zwar liebenden, aber bis aufs Blut rebellischen Sohnes, der seiner Mutter die Illusion des warmherzigen Vaters nicht ganz und gar nehmen will.
 

Der aufwändige Spagat zwischen (fast) allen Parteien das Bunkers gelingt Sam erstaunlich gut. Er pflegt seine Freundschaft zu Cas, wobei Jack sie einander noch näher bringt. Das hilft ihm etwas, darüber hinweg zu sehen, dass Dean seit Cas‘ und Moms Wiederauferstehung und Jacks Geburt … nun, launisch ist, um es nett auszudrücken. Überempfindlich, gereizt und absolut unleidlich trifft es eher. Sein Bruder misstraut Jack und es ist überdeutlich, dass er Cas am liebsten nur für sich will. Dean hat sich so in der Nichtakzeptanz seiner unausgesprochenen Gefühle für seinen besten Freund verrannt, dass ihm in dieser Sache vermutlich nur noch ein gewaltiger Schlag auf seinen Dickschädel weiterhelfen könnte. Sam ist nicht gewillt, ihm den zu geben – tatsächlich hängt er doch mehr an seinem Leben, als gedacht.

Anstatt sich in die emotionale Selbstkasteiung seines Bruders einzumischen, konzentriert Sam sich lieber auf die übrigen Baustellen des Lebens im Bunker. Er tut das nicht, weil Dean ihm egal ist, im Gegenteil! Aber irgendjemand muss schließlich dafür sorgen, dass alle bei Laune bleiben.

Und Dean ist in diesem Punkt leider recht einfach gestrickt: Jack ist potentiell gefährlich, weshalb es aus seiner Sicht keinen Grund gibt, ihn genug Liebe und Aufmerksamkeit erfahren zu lassen, damit der Junge einen guten, menschenfreundlichen Weg einschlagen kann.

Rowena ist … Rowena und Dean betrachtet es nicht als seine Angelegenheit, dafür zu sorgen, dass sie ihre Verbündete bleibt.

Mit Crowley teilt Dean eine gemeinsame Vergangenheit, über die Sam eigentlich am liebsten so wenig wie möglich wissen will. Die Erinnerungen daran scheinen Dean seinerseits zu belasten und so hält er sich leider auch bei der Zusammenarbeit mit dem Ex-König der Hölle deutlich bedeckt.
 

Wenigstens, und das muss man ihm wirklich zugute halten, kocht Dean für die ganze Bande in erstaunlich regelmäßigen Abständen. Er tut es wortlos, mit finsterem Gesichtsausdruck, erwartet von ihnen weder Dank noch Hilfe, aber die Mahlzeiten, die er ihnen auf den Tisch mit der Weltkarte knallt, können sich nicht nur sehen lassen – sie schmecken auch hervorragend.
 

Cas, Jack, Mom, Crowley, Rowena … Sams soziales Umfeld ist nicht nur enorm gewachsen, es hat sogar erschreckenden Bestand in seinem Leben angenommen. Dass dabei sein eigener Bruder (Selbstgewählt, wohlgemerkt!) hinter allem zurückfällt, tut ein wenig weh, aber Sam gönnt ihnen den gegenseitigen Freiraum. Beide haben sie ihre eigene Art, mit Traumata umzugehen und während Dean lieber in der Abgeschiedenheit seines Zimmers oder in der Küche vor sich hin brütet, tut es Sam selbst gut, sich in Arbeit und Gesellschaft zu stürzen.
 

Als hätte das Universum das gehört, schickt es mehr Gesellschaft und neue Aufgaben in Form von Erzengel Gabriel zu ihm.

Sam fällt es sehr schwer zu glauben, dass das Universum einmal auf seiner Seite sein sollte. Zumal es sich bei dem neuen Bewohner des Bunkers eben um Gabriel handelt. Das ist an und für sich schon ein schlechter Scherz, beinahe mieser als die Streiche des vermeintlichen Tricksters.
 

Trotzdem kann Sam nicht verhindern, dass er sich direkt vor die Aufgabe gestellt sieht, dem aus Folter und Gefangenschaft entkommenen Erzengel zu helfen. Er ist schließlich genau so Opfer eines Traumas, wie sie alle hier. So ist es natürlich Sam, der ihm die zusammengenähten Lippen behutsam freischneidet und es ist Sam, dem es gelingt, Gabriel die ersten Worte aus dem malträtierten Mund zu entlocken. Dabei spielt es fast keine Rolle, dass es absoluter Nonsens ist, was Gabe sagt – Sam ist einfach nur erleichtert, dass seine Bemühungen ihre Wirkung nicht verfehlen.
 

Und während sie Pläne schmieden und der Alltag allmählich Einzug in den weitläufigen Gängen des Bunkers hält, fällt es Sam ein wenig leichter, mit der Angst vor Lucifer zu leben.
 

Zumindest bis heute.

 

Soziale Medien

Sam sitzt auf dem einzigen Stuhl in Gabriels Zimmer, die langen Beine umständlich übereinander geschlagen, und mit dem Rücken zum Schreibtisch, zu dem der Stuhl gehört.

Mit gemischten Gefühlen beobachtet er den Erzengel, der sich bäuchlings auf seinem Bett fläzt. Dessen Füße, die in Socken mit geflügelten Würstchen darauf stecken, wippen vergnügt in der Luft, während er vor sich auf der Matratze Sams Laptop stehen hat.
 

„Oi, Sammy, du glaubst ja nicht, wie viel Internetkultur man in sieben Jahren offline verpasst!“, sagt Gabriel begeistert und ohne aufzusehen.
 

Sam verzieht das Gesicht. Schlimm genug, dass Gabe die Dreistigkeit besessen hat, Sam nach seinem Laptop zu fragen.

Noch schlimmer, dass Sam umnachtet genug war, ihn – Unter Aufsicht! – zu verleihen.

Am allerschlimmsten, dass Gabriel sich immer noch nicht an persönliche Grenzen hält.

Dean (und Mom) sind nun mal die einzigen, die ihn bei diesem Spitznamen nennen dürfen.
 

„Doch, das kann ich mir vorstellen“, sagt Sam gequält und verzichtet darauf, Gabriel zu korrigieren. Unnötig, dem Erzengel noch mehr Stoff für Hänseleien zu geben.
 

„Diese ganzen Updates auf Facebook ...“, begeistert zeigt er auf den Bildschirm, der für Sam von seinem Stuhl aus absolut uneinsehbar ist. Er kann nur vermuten, dass Gabriel sich wirklich auf Facebook herumtreibt. Zumindest kann er blaues und weißes Licht ausmachen, das der Bildschirm in das charismatische Gesicht des Erzengels wirft und seine bernsteinfarbenen Augen blitzen lässt.
 

„Ich glaube, du bist einer der wenigen, die sich darüber freuen“, erwidert Sam wenig interessiert und lauscht auf das Scroll- und Klick-Geräusch der Funkmaus, die er Gabriel zusammen mit seinem Laptop gegeben hat und die nun unterhalb der Tastatur über das Gehäuse des Geräts kratzt.
 

Sam gibt sich Mühe, nicht darüber zusammenzufahren, wie Gabriel mit seinem Heiligtum umgeht. Bevor er seinen Computer aus der Hand gegeben hat, haben sie mit Handschlag ausgehandelt, dass Gabe augenblicklich des Bunkers verwiesen werde, sobald Sam nach dessen Benutzung auch nur eine Veränderung an Hard- oder Software feststellt.
 

Er atmet also tief durch und lenkt sich mit dem Gedanken ab, dass es nett ist, Gabe inzwischen so sorglos zu sehen. Kein Vergleich mehr zu der mit Blut verkrusteten, verhärmten kleinen Gestalt, in deren Augen nichts als Angst und Schmerzen liegen.
 

„Hey, Eileen Leahy hat dir heute vor einem Jahr ein GIF mit Hundewelpen über deine Chronik geschickt!“, ruft Gabriel plötzlich und wackelt vielsagend mit den Augenbrauen.

„Wer ist Eileen Leahy?“
 

Sam schließt für einen Moment die Augen, stöhnt ergeben auf. Gabe ist so eine Nervensäge und der Gedanke an Eileen immer noch erstaunlich schmerzhaft, also auf keinen Fall ein Thema, das er mit seinem neusten Mitbewohner diskutieren will.
 

„Das geht dich nichts – Moment mal, was machst du da mit meinem Account!“
 

Sam ist schneller auf den Füßen, als seine verknoteten Beine es zulassen sollten, macht einen Schritt Richtung Bett und klappt den Deckel seines Laptops mit Schwung zu.
 

„Autsch, Samantha!“, mault Gabriel, dessen Finger nur minimal zwischen Tastatur und Bildschirm eingeklemmt worden sind. Die Maus ist glücklicherweise auf die Matratze gerutscht und hat den Laptop bei Sams Kurzschlussreaktion nicht beschädigt.
 

„Du brauchst nicht gleich grob zu werden, ich respektiere deine Privatsphäre!“
 

Sam schnaubt ungläubig und öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, als er plötzlich ein leises Lachen hinter sich hört.
 

Er richtet sich blitzschnell auf und wirft einen Blick über die Schulter. Außer ihnen ist niemand im Raum, die Zimmertür ist nach wie vor geschlossen und doch schwebt das Lachen über ihnen; eine körperlose Stimme, die Sam auf schauderhafte Weise in ihren Bann zieht.
 

Gar nicht gut!
 

Die Haut in seinem Nacken prickelt; er kann spüren, wie sich die Härchen dort alarmiert aufrichten. Das Lachen hält an.
 

Die Stimme ist vertraut, männlich, samtweich und eiskalt. Nicht nur das, auch die Temperatur scheint plötzlich um ein paar Grad zu sinken, als Sam sich umschaut.
 

Gabriels Gezeter ist verstummt; er beobachtet Sam aufmerksam vom Bett aus, was er nur gerade so am Rande mitbekommt. Er kann plötzlich den eigenen Puls in seinem Kopf hören. Das körperlose Lachen verebbt allmählich, wird leiser und leiser, beinahe als würde jemand die Lautstärke der Stimme herunter drehen.
 

„Hey, Sasquatch. Alles in Ordnung da oben?“
 

Sam dreht sich zu Gabriel herum und beeilt sich, ein unbekümmertes Gesicht zu machen.
 

„Sicher, was soll sein!“, erwidert er leichthin – und nimmt Gabriel kurzerhand den Laptop weg.
 

„Das war genug Social Media für den Trickster“, sagt er bemüht trocken und klammert sich an seinen Computer, als würde ihm das dabei helfen, nicht umzufallen.
 

Er hat die Stimme erkannt. Er würde dieses Lachen immer wiedererkennen. Es verfolgt ihn bis in seine schlimmsten Alpträume und jetzt sucht es ihn wohl auch bei Tage heim.

Erneut.
 

Ein prüfender Blick verrät ihm: Das einzige, was Gabriel bemerkt zu haben scheint, ist Sams Reaktion, als er das Lachen gehört hat. Was bedeuten muss, dass es kein Geist war, kein anderes übernatürliches Wesen, das in Unwissenheit (Jack) oder durch einen bösen Scherz (Rowena, Crowley, Gabe) aus der Asservatenkammer befreit worden ist und jetzt an seinem Verstand nagt.
 

Der Erzengel wäre nicht nur in der Lage, eine übernatürliche Präsenz im Raum auszumachen, nein, er könnte selbstverständlich auch die Anwesenheit des echten Lucifers erkennen. Darüber hinaus sind sie Brüder. Und den eigenen Bruder bemerkt man wohl im selben Zimmer.
 

Sam ignoriert das Schmollen Gabriels, von dem sie beide wissen, dass es nur aufgesetzt ist.
 

Einbildung!, sagt er sich stumm immer und immer wieder.

Das Lachen war bloß Einbildung!
 

Doch es hilft nicht, dem flauen Gefühl beizukommen.
 

Sam kann den wachsamen Blick, der ihm folgt, deutlich im Nacken spüren, als er das Zimmer verlässt.

 

 

 

*

 

 

Sam kann das Lachen in Gabriels Zimmer nicht vergessen, auch wenn er mehr und mehr davon überzeugt ist, es sich bloß eingebildet zu haben. Es muss am Stress gelegen haben, am Schlafmangel, daran, dass er inzwischen das Gefühl hat, sich Tag und Nacht mit Lucifer befassen zu müssen. Kein Wunder also, dass sein müdes Hirn ihm einen Streich gespielt hat.

Sam besinnt sich darauf, was ihm bei Stress am meisten hilft – Ablenkung und Gesellschaft – und kümmert sich in den nächsten Tagen ganz besonders um Jack.
 

Sie sitzen nebeneinander im Strategiezimmer am Weltkartentisch, Sams Laptop direkt vor ihnen, positioniert über dem Atlantik, zwischen Uruguay und Südafrika.

Es tut gut, Jack etwas zu zeigen, das so menschlich ist, wie die Handhabung eines Computers, selbst wenn er das Wissen am Ende dafür brauchen wird, um mit ihnen auf die Jagd zu gehen.
 

Willkommen in der Familie, denkt Sam und wird dabei ein bisschen schwermütig.

Aber irgendwo fühlt er auch diese Unverschämtheit einer fixen Idee in sich aufsteigen, dass der Junge in naher Zukunft vielleicht aufs College gehen könnte. Auch für so etwas kann ein kleiner PC-Exkurs durchaus von Nutzen sein. Sollte Jack sich früher oder später für ein menschliches Leben entscheiden, spräche nichts dagegen, einen selbstgewählten Bildungsweg einzuschlagen, ein völlig normaler Student zu werden – ein Leben, das Sam bis auf die winzige bittersüße Kostprobe verwehrt geblieben ist. In Jack ruht nicht nur die Chance auf Weltfrieden, wie Sam die Erzählung von Castiels Vision insgeheim auslegt, nein, er besitzt auch das Potential zur eigenen Freiheit. Team Freier Wille.
 

Nicht ohne einen gewissen Stolz betrachtet er das glatte, junge Gesicht, aus dem die hell schimmernden Augen so vertrauensvoll zu ihm aufblicken. Sam kann nicht behaupten, elterliche Gefühle für Jack zu hegen. Als Vaterfigur hat er sich noch nie selbst gesehen; zu groß ist dafür die Angst, zu viel Ähnlichkeit zum eigenen Vater an sich zu entdecken. Sam mag Kinder und er kommt gut mit ihnen zurecht – zwar nicht so wie Dean, der einen echten Draht zu ihnen hat und den Sam insgeheim als den geborenen Vater betrachtet. Aber Dean weigert sich bislang, sich näher mit Jack zu befassen, reduziert den Jungen auf seine Herkunft und widerspricht damit allem, was das Leben sie über die Jahre eigentlich gelehrt haben müsste. Doch Sam tut der Umgang mit Jack gut. Es fühlt sich an wie der Beginn einer tiefen Freundschaft.
 

Einmal mehr fühlt er sich mit Jack an eine jüngere Version seiner selbst erinnert: Ahnungslos, hoffnungsvoll, getrieben von dem nahezu unstillbaren Hunger nach Wissen und Gerechtigkeit.

Und vor allem nach Anerkennung. Die Sehnsucht danach, um um der eigenen Person willen respektiert und geschätzt zu werden.

Bevor sie in Jägerkreisen für Dinge wie das Öffnen der Höllentore oder seine Abhängigkeit von Dämonenblut in Ungnade gefallen waren, wofür sich Sam auch nach Jahren noch schuldig fühlt, war der Name Winchester, dank Dean und John, einmal fast so etwas wie angesehen gewesen. Und weder dieses Ansehen, noch John Winchester hatten damals erlaubt, dass Sam das Leben einschlagen konnte, das er sich insgeheim schon immer gewünscht hat.
 

Jack hat so viel mit ihm gemeinsam.
 

Sam unterbricht seine Einführung über fundierte Internetrecherche, darüber wie man einzelne Aspekte von Suchanfragen ausschließt oder sich auf sie beschränkt, wie man sich vor dem Aufruf vergewissert, ob Internetseiten sicher sind und wie man seine Browser Historie löscht.

Der Junge soll den unbegrenzten Zugang zu Wissen haben, aber dabei auf der sicheren Seite sein, das ist Sam wichtig.

Die heutige Lektion war keine große und Jacks Neugier und Auffassungsvermögen hätten deutlich mehr Input vertragen können, aber Sam versucht, im Blick zu behalten, dass er ein Kind vor sich hat. Und zwar eines, dem ohnehin schon ein Großteil seines Kindseins abhanden kommt, weil sein leiblicher Vater Jagd auf es macht.
 

„Was machen wir jetzt, Sam?“, fragt Jack mit so etwas wie geduldiger Neugier.

Sam grinst.
 

„Jetzt zeig‘ ich dir, wie man vor 20 Jahren seine Zeit mit Computern vergeudet hat“, sagt er und spürt, wie ihn selbst die nostalgische Begeisterung packt.

Mit einem Doppelklick auf das entsprechende Icon öffnet sich 3D Pinball mit vertrautem, surrenden Getöse. Sam zeigt dem faszinierten Nephilim die paar Tasten, die für das Spiel benötigt werden und schaut dabei zu, wie Jack sich im simplen, aber definitiv einnehmenden Konzept des Simulators verliert.
 

„Du bringst meinem Neffen aber nicht irgendwelchen Blödsinn bei, oder Samshine?“, fragt Gabriels Stimme plötzlich hinter ihnen.

Sam unterdrückt ein Zusammenzucken. Er ist nicht etwa schreckhaft geworden, seitdem er sich die bedrohliche Stimme im Zimmer des Erzengels eingebildet hat; nichtsdestotrotz kann er sich Schöneres vorstellen, als jemand, der sich ihm unbemerkt von hinten nähert. Er steht deshalb von seinem Platz auf und dreht sich seufzend zu Gabriel um, um gegenüber dem Millennia alten, überirdischen Wesen den reifen Erwachsenen heraushängen zu lassen – und muss sich bei dem Anblick, der sich ihm bietet, ein Lachen verkneifen. Der Erzengel trägt einen flauschigen, roten Bademantel offen über einem albernen, klischeehaften Feinrippunterhemd. Und dazu Boxershorts mit denkbar geschmacklosem Aufdruck: Sam kann Lollipops und sabbernde Knutschmünder erkennen.

In der Hand hält Gabriel einen Teller mit Fruchtpastete, und zwar Kirsch, wie es auf die Entfernung den Anschein hat. Auf Gabriels Lippen liegt ein rötlicher, zuckrig glänzender Schimmer, den er sich bedächtig mit der Spitze seiner Zunge abzulecken beginnt.
 

Sams Blick bleibt an dem Lollipop-und-Kussmund-Print der Unterhose hängen.
 

„Sicher, dass ausgerechnet du über guten Einfluss auf Jack reden solltest?“, fragt er , wobei es ihm nur zur Hälfte gelingt, seine Amüsiertheit hinter einer entnervten Mine zu verbergen.

Gabriel folgt seinem Blick, sieht an sich selbst hinunter, und kichert anerkennend über den Konter, als er die eigene Unterwäsche begutachtet, so als sähe er sie in diesem Moment zum ersten Mal. Er lässt es sich nicht nehmen, die Schöße seines Bademantels mit einem dramatischen Hüftschwung aufwirbeln zu lassen.
 

„Sam hat einen guten Einfluss auf mich, Gabriel“, murmelt Jack konzentriert, ohne sich nach ihnen umzudrehen. Im Hintergrund ist das leise Flippern des Spiels zu hören, in das er vertieft ist.

„Er bringt mir bei, wie man in den 1990er Jahren Zeit vergeudet hat.“

Wären seine Finger bei diesen Worten nicht anderweitig beschäftigt, hätte er sie mit Sicherheit für die Andeutung von Anführungszeichen in der Luft verwendet. Sam und Gabriel sehen sich an, offenbar in dieser Sekunde einen ähnlichen Gedanken teilend: Jack kann nicht wissen, wie sehr sein Tonfall eben an Castiel erinnert hat. Mühsam halten sie ein Lachen über den völlig ernsthaften Kommentar zurück und es ist absurd, dass da auf einmal eine Verbindung, dieser stumme Austausch zwischen ihnen besteht. Sam ist nicht ganz sicher, was er davon halten soll. Der Ausdruck in Gabes Gesicht verrät ihm, dass der Erzengel nicht nur seinen amüsierten Gedanken, sondern auch die darauf folgende Irritation teilt. Wie um davon abzulenken, verdreht Gabriel plötzlich theatralisch die Augen und schlägt sich die freie Hand vor die Stirn.
 

„Oh, Jacky! Das war aber gerade nicht Samanthas Einfluss; aus dir spricht Daddy höchstpersönlich!“
 

Das Spiel signalisiert mit einem bedauernden Tonabfall, dass Jack die Runde verloren hat. Der Junge nutzt die Pause, um sich für einen Moment von Sams Laptop loszureißen, und dreht sich auf seinem Stuhl herum.
 

„Mein Dad?“, fragt er und sieht erwartungsvoll zwischen Gabriel und Sam hin und her.

„Meinst du Castiel, oder …?“
 

Sein Blick bleibt schließlich an Gabriel hängen, während die unausgesprochene Frage zwischen ihnen im Raum hängen bleibt. Sie liegt schwer in der Luft, drückend und ungemütlich, und lässt die unbekümmerte Stimmung plötzlich ins Gegenteil umschlagen.

Sam räuspert sich, doch Gabriel scheint sich in diesem Moment dazu entschlossen zu haben, Jack eine Antwort zu geben.
 

„Natürlich meine ich Cassie. Er ist doch dein Vater, wenn ich es richtig verstanden habe?“
 

Erwartungsvoll auf den Ballen seiner Füße wippend, die heute nur in vergleichsweise langweiligen, mit Wolle gefütterten Slippern stecken, sieht er Jack an. Und Jack lächelt schließlich und nickt kurz.
 

„Ja, Gabriel. Castiel ist mein Vater.“
 

„Gut! Dann habe ich eure Familienkonstellation wohl richtig verstanden. Oder Rollenverteilung, wenn du so willst. Manchmal ist das nämlich nicht so ganz ersichtlich!“
 

Gabe schaufelt sich zufrieden eine Gabel voll Pastete in den Mund und beginnt mit vollen Backen zu kauen. Sam hat keine Ahnung, wie der Erzengel das anstellt, aber nachdem er sich die Lippen vorhin erst sauber geleckt hat, sind sie schon wieder über und über mit Kirschfüllung beschmiert. Gabe isst beinahe so unansehnlich wie Dean, und das will schon etwas heißen. Wobei, nein, das stimmt nicht so ganz. Skurrilerweise hat der Erzengel einen Hauch mehr Würde dabei.
 

„Dad Numero Uno und sein aggressives Eichhörnchen, das aber kein Dad ist … Dann unser Samshine, hier … Und der Erzeuger. Verzeiht es mir, wenn ich bei eurer multi-kulti Alternativ-Elternschaft nicht immer ganz durchsteige“, mümmelt Gabriel und zwinkert zu Sam herüber.
 

„Bitte was?“
 

Gabriel spießt mit seiner Kuchengabel ein Stück Pastete auf, bevor er damit schwungvoll auf Sam zeigt. Etwas Kirschfüllung tropft dabei auf den Teller, wobei das Dessert darauf mit einem Mal eher Ähnlichkeit mit einem blutigen Massaker zu haben scheint. Es fällt Sam schwer, den Blick davon abzuwenden.
 

„Aggressives Eichhörnchen?“, fragt Jack erstaunt.
 

„Das ist ein Spitzname für Dean. Crowley hat ihn eine Zeit lang so genannt. Lass dir von Dean irgendwann einmal ‚The Adventures of Rocky and Bullwinkle and Friends‘ zeigen“, erklärt Sam geduldig, nachdem er es geschafft hat, nicht länger auf das matschig rote Trauerspiel auf Gabriels Teller zu starren. Jede weitere Stichelei aus Erzengel-Richtung übergeht er einfach.
 

Jacks Gesichtsausdruck ist immer noch ratlos, aber er nickt langsam – und scheint darauf zu warten, dass noch mehr an Erklärung folgt. Sam seufzt.
 

„Cas ist Jacks Dad. Nur Cas. Nichts weiter, niemand sonst. Verstanden?“

Er bemüht sich, seinen Tonfall nicht zu scharf vor Jack werden zu lassen, würde ihm gern das sich anbahnende Drama ersparen, doch er weiß nicht, wie er Gabriel unauffällig dazu bringen soll, seine große Klappe zu halten. Es ist ja gut, dass er wieder spricht und seine alten Lebensgeister wieder beisammen zu haben scheint. Aber es ist auch … äußerst unbequem.
 

„Was immer du sagst, Champ!“, meint Gabriel achselzuckend und ist schon wieder am Kauen. Sam zuckt kaum merklich zusammen, als er sieht, wie etwas roter Saft über sein Kinn rinnt. Es ist schon unheimlich, wie sehr der Anblick im gelben Licht der Deckenbeleuchtung an Blut erinnert. Nervös leckt Sam sich über die Lippen, was ihm ein fragendes Blinzeln von Gabriel einbringt, als er sich mit dem Handrücken den Kirschsaft aus dem Gesicht wischt.
 

Überraschenderweise meldet sich Jack erneut zu Wort: „Das stimmt nicht, Sam! Ich habe drei Väter!“

Das Lächeln, dass er Sam schenkt, ist so aufrichtig und offen, dass es ihm fast einen Stich versetzt.
 

„Ein Vater ist der männliche Elternteil einer Person. Ein ‚sozialer Vater‘ übernimmt die persönliche Verantwortung über ein Kind, und schützt und umsorgt es. Das habe ich im Internet gelernt“, erklärt Jack und sieht Gabriel stirnrunzelnd an.

„Also bedeutet das, dass ich drei Väter habe. Sie sind sehr verschieden und mein … richtiger Dad ist Castiel.“
 

Eine kurze Pause folgt auf diese Erklärung; eine Minute, in der Gabe die letzten Bissen seiner Pastete vernichtet und in der Sam krampfhaft versucht, ihm nicht dabei zuzusehen. Er weiß, dass er sich vermutlich gerührt darüber fühlen sollte, dass Jack ihn nicht nur als Freund und Mentor, sondern tatsächlich auch als eine Vaterfigur betrachtet. Neben Dean, der Jack bisher mit allem anderen als väterlicher Wärme begegnet ist. Sam bleibt dabei: Der einzige, der die Bezeichnung ‚Vater‘ für Jack in seinen Augen wirklich und wahrhaftig verdient, ist Cas. Doch offensichtlich hat der Nephilim in dieser Angelegenheit seinen eigenen Kopf. Ebenso, wie er offenbar keinerlei Probleme damit hatte, sich bereits vor Sams Unterweisung in den Weiten des World Wide Webs zurechtzufinden. Eine Tatsache, die auch dem Erzengel nicht entgangen zu sein scheint.
 

„Vielen Dank für den Hinweis, Wikipedia-Engel. Ich werde es mir merken“, sagt Gabe nämlich endlich und es klingt erstaunlich sanft.
 

„Immer gern, Onkel Gabriel“, sagt Jack und dreht sich wieder zu Sams Laptop herum, um eine neue Runde Pinball zu starten.
 

Überraschung stiehlt sich bei dem Wort ‚Onkel‘ so rein und offen in Gabes Gesicht, dass Sam nicht anders kann, als ihn fasziniert anzusehen. Es ist ein völlig ungewohnter, befriedigender Anblick, den ehemaligen Trickster einmal aus dem Konzept gebracht zu erleben: Das unverschämte, Jahrmilliarden alte Funkeln aus den Augen gewischt, bis er einfach nur noch verblüffend menschlich aussieht.
 

Gabriel merkt, dass er beobachtet wird und hebt eine Augenbraue. Das schelmische Zwinkern ist augenblicklich zurück, die Verletzlichkeit wieder hinter seinem Vorhang aus überirdischem Spott verborgen. Sam registriert es beinahe mit Bedauern. Nachdem er in den vergangenen Wochen so viel Zeit mit dem Erzengel verbracht hat, genießt er es durchaus, auch andere Seiten an ihm kennenzulernen. Er hat Gabriel zu schätzen gelernt, das kann er nicht leugnen.
 

„Oooaaah, Sammy, das ist ja herzallerliebst!“
 

Etwas hat sich im Raum verändert. Und Gabriels Lippen haben sich nicht bewegt. Sam erstarrt. Es war nicht der Erzengel, der zu ihm gesprochen hat.
 

Zumindest nicht dieser Erzengel.
 

Sam weicht reflexartig ein Stück vor Gabriel zurück.
 

Eine große Gestalt ist hinter dem Trickster aufgetaucht, so plötzlich und wie aus dem Nichts, als sei sie schon immer da gewesen. Es ist Sams schlimmster Alptraum: Das Lachen von vor ein paar Tagen hat wieder ein Gesicht bekommen.
 

„DAS war gerade ein Moment zwischen euch, merkst du was?“, fragt Lucifer über Gabes Schulter hinweg.
 

Gabriel reagiert nicht auf seinen Bruder, scheint ihn überhaupt nicht zu bemerken; er registriert nur am Rande, dass Gabe weiterhin ihn, Sam, ansieht. Wie ihm selbst der Mund offen steht, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht weicht, bemerkt er nicht.
 

„Guck-guck! Ich bin immer noch hier.“
 

Lucifers Gesicht – vielmehr das deutlich harmlosere Gesicht seiner menschlichen Hülle – ist kreidebleich und mit roten, schorfigen Malen und offenen Wunden übersät. Eine dunkle Erinnerung an die Zeit, als ihn seine erste menschliche Hülle, Nick, nicht länger zu halten vermochte und allmählich von innen heraus zu zerfallen drohte. Seine eisblauen Augen sind ein scharfer Kontrast zu Blässe und Blut und der belustigte Blick aus ihnen scheint sich tief in Sams Seele zu bohren.
 

„Sammich?“
 

Ihm war bisher nicht klar, dass man die eigene Seele spüren kann, als sei sie etwas Körperliches, das träge im eigenen Brustkorb umherschwappt. Aber die Art und Weise, wie Lucifer ihn mustert, sorgt dafür, dass seine Seele sich genau so wund und verätzt anfühlt, wie das gefürchtete Gesicht vor ihm aussieht.
 

Halluzinationen. Ich bilde mir das alles nur ein!
 

Der Teufel in seiner geliehenen Gestalt ist plötzlich wie ein Spiegelbild seines Inneren: Genauso abstoßend, genauso krank. Die Ähnlichkeit zu einem Menschen besteht kaum noch. Kalter Schweiß steht Sam auf der Stirn, seine Augen tränen und er blinzelt einige Male.
 

„Überraschung: Ich war nie weg! Die gaaanze Zeit in deinem Kopf und es war so langweilig.“
 

Abgesehen vom hämischen Singsang Lucifers ist sein eigener Atem, der laut in seinem Kopf widerzuhallen scheint, das einzige, was er im Moment hören kann.

Lucifer streckt beide Arme in die Luft, die weit über Gabriel hinausragen, der im eigenen Menschenkostüm gut und gerne einen Kopf kleiner als sein älterer Bruder ist. Lucifer räkelt sich, als sei er aus einem langen Schlaf erwacht.
 

„Samantha? Sam!“
 

Sam schüttelt heftig den Kopf.
 

Einbildung.

Nur Einbildung. Ich – ich bin verrückt geworden! Ich bilde mir das alles nur ein.
 

Lucifer verschwindet nicht, stattdessen grinst er. Er schaut interessiert zu ihm herüber, stützt sich auf Gabriels Schulter ab, der dies nicht zu bemerken scheint, und fährt seinem Bruder summend durchs honigblonde lange Haar.
 

„Gabby lebt also! Schön, schön – damit hätten wir beide nicht gerechnet, hm, Sammy? Lebende kleine Brüder sind sooo wichtig.“
 

„Sam!“
 

Lucifer lässt von Gabriel ab und sieht sich interessiert im Raum um.
 

„Nett hast du‘s hier ja. Hat mir schon beim letzten Besuch gut gefallen. Ist immer wieder ein lauschiges Plätzchen für kleine Familientreffen, oder?“

Während er auf das Aufeinandertreffen mit dem eigenem Vater im Bunker anspielt, macht Lucifer eine ausholende Geste und deutet zwischen Gabriel, Jack, Sam und sich selbst hin und her.
 

„Das ist also der Sohnemann! Wie spannend. Und dann du, als meine wahre Hülle ...“
 

Lucifer spricht nicht weiter, aber das muss er auch gar nicht. Sam beißt sich auf die Lippen. Fest, bis er Blut schmeckt. Es tut weh, aber der Schmerz hilft nicht dabei, dass Lucifer wieder verschwindet.
 

„Erde an Sam, hallo-ho!“
 

Die Finger seiner rechten Hand graben sich reflexartig in den Ballen, auf der Suche nach einer längst verheilten Wunde. Er spürt nur die kleine Narbe, die ihn normalerweise daran erinnert, dass er die Halluzinationen von Lucifer überlebt hat. Dass er den Käfig überlebt hat. Dass er lebt.
 

„Übrigens: Mein Bruder redet mit dir. Seit … hm, etwa fünf Minuten. Er wirkt ein bisschen besorgt, weil du nicht reagierst. Wenn du nicht willst, dass er dir eine knallt, solltest du ihm vielleicht langsam antworten!“
 

„W-was?“, stammelt Sam.
 

Tatsächlich steht Gabriel jetzt direkt vor ihm, weniger als eine Armeslänge entfernt, und mustert ihn aus hellen, wachsamen Augen. Der Größenunterschied sorgt dafür, dass der Erzengel den Kopf in den Nacken legen muss, um ihm ins Gesicht zu sehen.
 

Sam holt zitternd Luft.

„Tinnitus“, sagt er schließlich – das erste, was ihm einfällt. „Ich glaube, das war ein Hörsturz.“

Er wagt es, den Blick ein Stück zu heben und über Gabriels Kopf hinwegzusehen.
 

Lucifer hat sich nicht von der Stelle gerührt, steht mit verschränkten Armen am selben Fleck und beobachtet seinen Bruder und seine wahre Hülle mit unverhohlener Belustigung.
 

„Was ist ein Hörsturz?“, fragt Jack irgendwo in Sams Nähe.
 

Niemand gibt ihm eine Antwort darauf.
 

„Ja, Sam. Was ist ein Hörsturz? Erzähl uns doch mal, wie sich das anfühlt“, keckert Lucifer.
 

Sam reißt sich von seinem Anblick los und sieht sich mit dem scharfen Blick Gabes konfrontiert, der ihn immer noch aufmerksam taxiert.
 

„Soll ich dich heilen, Sam?“

Jack klingt ratlos, aber freundlich.
 

Sam schüttelt den Kopf.
 

„Es geht schon wieder. Entschuldigt.“
 

Er zwingt sich zu einem Lächeln und es fühlt sich sogar halbwegs überzeugend auf seinem Gesicht an.
 

„Wenn ich etwas tun kann, sag mir Bescheid. Ich helfe dir gern, wenn ich kann“, sagt Jack, der jetzt schräg hinter Gabe und halb vor Lucifer steht.

Sam sieht sich selbst in einer Reihe mit einigen von Chucks engsten Angehörigen und nein, ein Grund zur Freude ist das in dieser Kombination ganz sicher nicht. Sie alle haben diese Verbindung zu Lucifer, der nach wie vor begeistert am Ende steht; eine Verbindung zum Teufel, die Sam nicht leugnen kann – egal, wie wichtig ihm Jack und auch Gabriel inzwischen geworden sind.
 

„We are family!“, summt Lucifer irgendwo im Hintergrund und wirkt mit einem Mal seltsam durchscheinend. Es hilft nicht dabei, dass er sich sicherer fühlt, aber als Sam das nächste Mal blinzelt, ist er verschwunden.
 

Gabriel hat die Brauen so hoch gezogen, dass seine Augen darunter riesig wirken.
 

„Bullshit, Sam“, sagt er leise und lässt das B mit einem weichen Ploppen über seine Lippen gleiten, das Doppel-L langgezogen und tief. „Bullshit.“
 

Sam kommt nicht dazu, sich darüber zu wundern, dass Gabe seinen Namen einmal nicht ins Lächerliche gezogen hat. Der Erzengel macht eine unerwartet elegante Drehung um die eigene Achse und verlässt mit wehendem Bademantel das Kriegszimmer.
 

Sam und Jack sehen ihm stumm nach.
 

Sam räuspert sich schließlich und nickt zum Laptop hinüber, der inzwischen in den Standby-Modus gewechselt ist.
 

„Wie sieht‘s aus? Noch eine Runde Pinball?“

Gesellschaftsspiele

Eigentlich scheut Sam vor dieser Redewendung zurück – schließlich weiß er es besser – aber der folgende Tag im Bunker ist für ihn … na ja. Die Hölle.

Gabriel und Jack erwähnen den Zwischenfall nicht weiter, obwohl Gabriel Sam die ganze Zeit über scharf im Auge behält. Es ist äußerst lästig, dass Gabe ihn auf Schritt und Tritt verfolgt, aber wenn er das Thema erst einmal ruhen lassen will, kann er schlecht etwas dagegen sagen. Und ein bisschen Verständnis dafür hat er irgendwie auch.
 

Für den Erzengel und den Nephilim muss es ausgesehen haben, als sei Sam plötzlich zur Salzsäule erstarrt und aus unerklärlichen Gründen für ein paar Minuten wie in Trance gewesen. Zumindest kommt Sam zu diesem Schluss, wenn er die ‚Begegnung‘ mit Lucifer Revue passieren lässt und sich darauf besinnt, dass er die Erscheinung wohl als einziger gesehen und gehört hat.

Himmel, Lucifer hat Gabriel sogar berührt, ohne dass der auch nur mit der Wimper gezuckt hat! Er muss einfach eine Illusion gewesen sein – eine Halluzination, etwas anderes kommt überhaupt nicht infrage. Beim letzten Mal vor sechs Jahren waren all die Abscheulichkeiten Lucifers schließlich auch nur ein Echo seiner Zeit im Käfig. Sehr überzeugende Abscheulichkeiten, die Sam, Echo hin oder her, beinahe nicht überlebt hätte. Ein Rest Zweifel bleibt demnach. Da kann er sich noch so sehr damit herausreden wollen, dass sein Hirn einfach einen Knacks weg hat.

Wenn Lucifer genug Macht besitzt, ist es ein Leichtes für ihn, Sam (und nur Sam) eine Show zu bieten, während alle anderen um ihn herum im Dunkeln tappen. Genau das macht diese Szene ja so beängstigend, so gefährlich. Obwohl Sam sich trotzdem sicher ist, dass Gabe die leibhaftige Anwesenheit des Teufels hätte spüren müssen …

Allerdings bliebe noch die Möglichkeit, dass Lucifer Sam irgendwie aus der Ferne manipuliert – also doch unmittelbar an seinem Geisteszustand beteiligt ist, ohne persönlich vor Ort zu sein.
 

Sam kommt schnell zu dem Schluss, dass es nicht gut ist, mit dieser Sache allein zu bleiben. Er würde die Ereignisse, ob nun eingebildet oder nicht, wirklich gern für sich behalten, denn die ganze Geschichte ist ihm unangenehm. Sie sorgt dafür, dass er sich schwach und verweichlicht vorkommt. Geisteskrank. Und er hat keine Lust darauf, Dean und Mom Sorge zu bereiten, nachdem sie davon schon mehr als genug am Hals haben.

Aber gerade wenn er sich das alles nur einbildet und die Halluzinationen wieder schlimmer werden sollten, muss seine Familie darauf vorbereitet sein. Er kann es ihnen nicht antun, ,einfach so verrückt zu werden‘, wenn er sie doch auch darauf vorbereiten kann. Das erspart ihm schlimmstenfalls vielleicht eine Menge Zeit in der Dämonenzelle des Bunkers und erleichtert den direkten Weg in die Klapse …

Andersherum, sollte Lucifer tatsächlich doch aktiv an seinen Hirngespinsten beteiligt sein, gilt es, die anderen um jeden Preis zu warnen. Und natürlich herauszufinden, was Lucifer mit all dem eigentlich bezweckt.
 

Vielleicht ist es noch ein wenig zu früh, um sich derartig darüber den Kopf zu zerbrechen. Immerhin hat er, über die Erscheinung vom Vortag hinaus, nur ein Lachen gehört. Und er war nie allein, als es passiert ist, aber immer der einzige, der etwas bemerkt hat.

Aber Sam kann nicht anders, als sich Gedanken darüber zu machen, an wen er sich als erstes wenden soll.
 

Aus verschiedenen Gründen kommt Dean nicht infrage. Natürlich ist er derjenige, dem er mit Abstand am meisten vertraut. Aber Dean ist im Moment mehr als mit sich selbst beschäftigt: Seit gut einer Woche hält er es kaum mehr mit Cas im selben Raum aus und lässt den Engel meist schon nach einer knappen Begrüßung stehen. Außerdem läuft er interessanterweise feuerrot an, sobald er Gabriel auch nur aus der Ferne sieht. Sam kann sich bisher noch keinen rechten Reim darauf machen. Möglicherweise ist Gabe Zeuge von etwas geworden, das Dean bereut. In dem Fall sollte sich sein Bruder nicht noch Sams Verrücktheiten anhören müssen, die ihn wahrscheinlich nur aufregen. Denn Dean ist auch derjenige, der ihn entweder zu ernst oder überhaupt gar nicht ernst nimmt. Vermutlich eines seiner unzähligen großer-Bruder-Syndrome, aber bei Sams aktuellem Problem ist das nichts, was er als sonderlich hilfreich betrachten würde.
 

Mom wirkt nach erstem Ermessen wie eine wunderbar neutrale Person, denn sie hat beim letzten Mal nicht mitbekommen, wie Sam in einer geschlossenen Anstalt gelandet ist. Andererseits wäre es durchaus hilfreich, mit jemandem zu sprechen, der die vollen Ausmaße von Lucifers Eskapaden besser einschätzen kann. Und warum sollte er Mom unnötigerweise mit seinen (potentiellen) Hirngespinsten beunruhigen?
 

Rowena kommt ihm kurz in den Sinn. Sie teilt Sams Angst vor Lucifer, hat sein wahres Gesicht gesehen und weiß, wozu er fähig ist. Gleichzeitig traut Sam der Hexe bei weitem nicht genug, um sie als erste und einzige Verbündete ins Boot zu holen. Sie neigt dazu, die Dinge zu überstürzen, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlt und bisher hatten die Folgen ihrer Unüberlegtheit immer Dean und er auszubaden.
 

Gabriel, als Bruder Lucifers, erscheint irgendwie naheliegend. Außerdem ist der Erzengel sowieso misstrauisch, seitdem er zweimal miterlebt hat, wie Sam beinahe den Kopf verloren hat. Ihm einen gewissen Vertrauensvorschuss zu geben, kann ihrer weiteren Zusammenarbeit sicher nicht schaden. Darüber hinaus kann Sam nicht anders, als immer wieder an den Moment zu denken, in dem Lucifer Gabe das Erzengelsschwert in die Brust gerammt hat. Dass es nur eine Illusion war, spielt keine Rolle. Der Zwist mit Lucifer hat Gabe einmal dazu gebracht, sich aus allem heraushalten zu wollen und der Apokalypse mit absoluter Gleichgültigkeit entgegenzublicken. Eine ähnliche Haltung können sie nicht noch einmal riskieren; sie brauchen jede Hilfe, die sie kriegen können. Sam hält es daher für keine gute Idee, zwischen den verfeindeten Brüdern mehr Berührungspunkte als notwendig zu schaffen.
 

Das gleiche gilt natürlich auch für Jack – zwischen ihm und seinem vermeintlichen Vater kann es gar nicht genug Abstand geben. Und, die außergewöhnliche Macht des Nephilim einmal außen vor, Sam will es nicht verantworten, den Jungen mit seinen Traumata zu belasten, die er zufälligerweise 50 Prozent von dessen Erbgut zu verdanken hat.
 

Die beiden letzten Bewohner, oder vielmehr Dauergäste, wenn man so will, die übrig bleiben, sind Castiel und Crowley. Sam muss nicht zweimal überlegen, wem von beiden er mehr vertraut.
 

 

*
 


 

„Hey, Cas! Hast du einen Moment?“
 

„Hallo, Sam. Natürlich!“
 

Sam trifft Castiel in dessen Zimmer. Es ist kein Vergleich zu dem Raum, den Gabriel seit einer Weile belagert: Cas‘ Zimmer ist nicht nur ordentlicher, sondern auch deutlich leerer. Dem Bett ist förmlich anzusehen, dass es das letzte Mal zum Schlafen benutzt wurde, als die Men of Letters vor den Winchesters den Bunker besetzt haben. Und das war vor ungefähr 50 Jahren.
 

Es liegt keine Kleidung herum, natürlich nicht, nur eine Menge Bücher haben sich in ordentlichen Stapeln auf dem Schreibtisch angesammelt. Bücher, von denen Sam sich sicher ist, dass sie pflichtschuldig in der Sekunde wieder an ihren Plätzen in den Bibliotheksregalen stehen werden, sobald Cas sie ausgelesen hat.
 

Er fühlt sich unwohl, kommt sich wie ein Störenfried in der peniblen Ordnung des Engels vor. Als würde er eine Art von Unreinheit mit herein tragen. Vermutlich tut er das auch.
 

Es ist komisch, aber Dad zu sein, passt irgendwie zu ihm, denkt Sam bei sich und betrachtet Cas, der mit einem der Wälzer an seinem Schreibtisch sitzt. Tatsächlich ist der Engel im vollen Besitz seiner himmlischen Kräfte und doch umgibt ihn dieses nahezu irdische Leuchten. Außerdem haben seine sonst so markanten Züge seit einiger Zeit eine gewisse Sanftheit bekommen. Und merkwürdigerweise ein paar mehr Fältchen um die strahlend blauen Augen herum, auf diese äußerst schmeichelhafte, charismatische Art. Bloß seitdem Dean in Gegenwart des Engels von allen guten Geistern verlassen scheint, hat Cas‘ Dad-Funke einen ziemlich bedrückten Dämpfer erhalten. Irgendwann, wenn er selbst wieder klarer denken kann, wird er Dean dafür ein bisschen erwürgen, nimmt Sam sich vor. Er räuspert sich.
 

„Was kann ich für dich tun, Sam?“, fragt Cas. Ein warmes Lächeln liegt auf seinen breiten Lippen und es gilt in vollem und ungerechtfertigtem Maße Sam.
 

„Ich weiß nicht, zu wem ich sonst gehen soll“, gesteht Sam etwas unentschlossen und faltet die Hände vor dem Körper.
 

Sofort schleicht sich Anteilnahme in Castiels Gesichtsausdruck und er schließt das Buch, in dem er gelesen hat.
 

„Natürlich, ich höre dir gern zu!“, ermuntert er und heißt Sam, auf dem ordentlich gemachten Bett Platz zu nehmen.
 

Sam würde am liebsten ablehnen, aber als er zögert, bemerkt er die Irritation in Cas‘ Zügen. Ein Winchester, der Castiel aus dem Konzept bringt – nicht wirklich etwas Neues.

Kleinlaut, fast beschämt lässt Sam sich also doch auf das glatte Laken sinken und fühlt sich jetzt wie ein Schuljunge, der auf einen Tadel wartet. Cas‘ Blick ist gleichbleibend fürsorglich und aufmunternd und er legt das geschlossene Buch nun sogar zur Seite, wie um Sam seine volle Aufmerksamkeit zu signalisieren. Das macht die Sache nicht gerade leichter, aber er weiß die Geste zu schätzen.
 

„Hast du kürzlich was Neues von Lucifer gehört?“, fragt Sam schließlich, in Ermangelung eines geschickteren Einsiegs für das ungemütliche Thema.
 

Cas legt nachdenklich die Stirn in Falten.
 

„Du meinst, ob er eine neue Hülle gefunden hat?“, fragt er langsam.

„Nein, Sam. Ich verfolge die Nachrichten nicht häufiger als du und du weißt, wie es mit dem Engelsradio steht.“
 

Sam nickt. Seitdem die wenigen noch lebenden Engel Castiel fast einstimmig zurück in die Große Leere schicken wollen, hält er es mit der Kommunikation zu seinen Brüdern und Schwestern mehr als knapp.
 

„Weshalb fragst du?“
 

Sam versucht, seine Anspannung beim nächsten Luftholen wegzuatmen und schüttelt den Kopf.
 

„Also… Ich meinte nicht, ob du etwas in den Nachrichten gehört hast. Und ich meine nicht von anderen Engeln. Eher allgemein. Grundsätzlich?“
 

„Es tut mir leid, ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen …?“
 

Der Versuch mit der Atemtechnik war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, aber er reißt sich zusammen. Im Gegensatz zu Dean ist Sam kein Fan von Herumdrucksen und Versteckspielen. Natürlich ist ihm die Lage unangenehm, aber schlimmer, als eine weitere Halluzination – oder Erscheinung – kann es kaum werden. Außerdem vertraut er Cas wie sonst kaum jemandem auf der Welt. Er ist schließlich sein bester Freund.
 

„Hattest du in der letzten Zeit das Gefühl, dass Lucifer in der Nähe ist? Oder irgendeine andere übernatürliche Macht? Vielleicht sogar im Bunker?“, fragt er frei heraus und gibt sich Mühe, Cas fest anzusehen.

Nur die Handflächen hat er aneinander gepresst und zwischen den Knien verborgen. Immer noch wie der beschämte Schuljunge, der sich für seine Fehler vor einer Autoritätsperson fürchtet.
 

Doch was genau ist Sams Fehler?
 

Cas ist zwar ein Engel, aber er würde mich nie verurteilen!, ruft er sich nervös in Erinnerung.
 

Er weiß, wie es ist … Er hat selbst schon mal Lucifer in seinem Kopf gehabt …
 

Cas mustert ihn einen Moment lang scharf und es fühlt sich beinahe an, wie geröntgt zu werden.

Das Trugbild des menschlichen Vaters im Trenchcoat verblasst dabei irgendwie für einen winzigen Augenblick und Sam ist sich ziemlich sicher, dass es nicht nur ein normaler, weltlicher Blick war, der ihn da getroffen hat. Was gut ist. Wäre da etwas Besorgniserregendes in ihm, würde Cas es garantiert entdeckt haben.
 

„Nein. Nein, mir ist nichts aufgefallen“, antwortet er schließlich und, nach einer weiteren Pause: „Was ist mit dir, Sam?“
 

Es wäre natürlich am einfachsten, mit der Wahrheit herauszurücken. Aber die Erleichterung, dass Cas nichts bemerkt hat, ist verführerisch. Das macht Lucifer weniger einflussreich – und Sam auch leider weniger zurechnungsfähig.
 

Oh, Mist.
 

Das muss bedeuten, dass Sam wirklich dabei ist, den Verstand zu verlieren. Nichts, womit er unbedingt hausieren gehen will – vor niemandem. Also die Wahrheit, schön und gut, aber in einer etwas gemilderten Form.
 

„Ich weiß, das klingt jetzt vermutlich total blöd, aber ich hatte das Gefühl, ich hätte … ich hätte Lucifer im Bunker gesehen“, sagt Sam und senkt dabei den Blick auf seine Knie, zwischen denen er immer noch die Handflächen aneinander gepresst hält. Sie sind ganz schwitzig geworden, wie er unbehaglich feststellt.
 

Cas neigt überrascht den Kopf; Sam sieht die vertraute Bewegung aus den Augenwinkeln.
 

„Das kann unmöglich sein“, sagt der Engel und klingt nun wirklich wachsam.

„Gabriel wäre sicher etwas aufgefallen. Oder mir.“

Er fügt sich hinten an, als wäre er ein zu vernachlässigender Faktor, an den er beinahe selbst nicht mehr gedacht hätte.
 

„Das weiß ich“, beeilt sich Sam zu sagen und hebt den Blick wieder. „Und ich bin froh, dass wir dich haben! Es kann auch gut sein, dass ich mir alles nur eingebildet habe. Vermutlich hab ich das sogar, ganz bestimmt! Aber nach allem, was war … Ich halte es nicht für klug, so etwas für mich zu behalten.“
 

„Damit hast du auch vollkommen recht, Sam.“

Cas lächelt jetzt und schaut ihn beinahe so an, wie er Jack ansieht, wenn der sich über einen Schokoriegel freut.
 

Die Dad-Aura. Da ist sie wieder.
 

Und es fühlt sich eigenartig tröstlich an, ihn wieder so zu sehen.
 

„Möchtest du, dass ich mit Gabriel darüber rede? Wir alle hier haben unsere … Erfahrungen mit Lucifer, aber ich denke, es könnte nicht schaden, wenn er eingeweiht ist.“
 

„Nein. Danke, Cas! Aber das mache ich vielleicht lieber selbst. Wenn … falls es noch einmal passiert. Wovon ich nicht ausgehe!“
 

„Das ist gut.“

Cas lächelt immer noch und nickt.
 

„Du bist vermutlich nur überarbeitet, Sam. Ich weiß, dass du zurzeit kaum schläfst … Du solltest nicht zu hart zu dir selbst sein.“
 

„Gleichfalls, Cas“, kontert Sam mit leisem Lachen. Es tut gut, dass Cas ihn ernst nimmt, aber keine akute Gefahr auszumachen scheint. Das heißt nicht, dass er damit aufhört, sich den Kopf zu zerbrechen oder dass die Halluzinationen weniger beängstigend sind, aber er fühlt den Druck hinter seinen Schläfen endlich weichen.
 

„Du weißt, dass ich nicht schlafe, Sam.“
 

Cas sieht ihm mit einem von diesen Blicken an, für die er von Dean nahezu immer ein belustigtes Augenrollen und einen freundschaftlichen Stupser in die Seite bekommt.

Aber Dean ist ein Idiot und Sam findet, dass Cas im Moment eigentlich eher anderes bräuchte. Ein bisschen definitiv nicht brüderliche Liebe, zum Beispiel.
 

„Es ist jedenfalls gut, dass du zu mir gekommen bist“, unterbricht der Engel Sams Gedanken. „Du solltest mit solchen Sorgen nicht allein sein müssen. Hast du schon mit – “
 

Cas hört mitten im Satz auf zu reden. Er wirkt bedrückt.
 

… Dean, wie kannst du nur so verdammt blöd sein!
 

Sam seufzt und schüttelt den Kopf.
 

„Kein Grund, ihn unnötig aufzuregen. Er ist im Moment schon genug durch den Wind. … Was auch immer da zwischen euch passiert ist.“
 

Sam hat den Engel noch nie rot werden sehen, aber es hat eine merkwürdig aufmunternde Wirkung. Es ist irgendwie niedlich. Und bedauerlich, dass ausgerechnet Deans Dickkopf daran Schuld sein soll, dass Cas Kummer hat.
 

„Willst du drüber reden?“, bietet Sam mitfühlend an, als er sieht, dass Cas nach seinen letzten Worten wie auf heißen Kohlen sitzt.

„Ich schwöre, ich werde es für mich behalten! Und – ich urteile nicht.“
 

Cas scheint einen Moment lang mit sich zu kämpfen. Es sieht ihm nicht ähnlich, mit anderen über Sorgen zu sprechen, die nichts mit der nächsten Apokalypse oder dem Kampf um Leben und Tod zu tun haben. Dass er es jetzt doch zumindest in Erwägung zieht, sagt eine ganze Menge.

Außerdem wirkt er, zu Sams Überraschung, plötzlich weder beschämt, noch traurig.
 

Cas ist frustriert.
 

„Dein Bruder ist manchmal so … infantil und undurchsichtig und er … Sam, dein Bruder ist nicht logisch, er benimmt sich vollkommen irrational!“
 

„Das fällt dir erst jetzt auf?“
 

„Nein“, sagt Cas matt.

„Es ist mir von Anfang an aufgefallen. Nur hat es früher nicht so wehgetan.“
 

Sie tauschen ein stummes, bedrücktes Lächeln und Sam denkt bei sich, dass es eine gute Entscheidung war, mit Cas zu reden. Würden sie alle im Bunker offener miteinander sprechen, würde es zumindest einem von ihnen beiden deutlich besser ergehen.

 

*
 


 

Das Abendessen fällt irgendwo unter die weitläufige Definition von ‚Tex-Mex‘ und ist eines von Deans fantasievolleren Experimenten.

Sam weiß zu schätzen, dass Dean diesmal nicht mit Unmengen an Zwiebeln die Abwesenheit von Gemüse symbolisch zu rechtfertigen versucht; die orangefarbene Explosion in der gusseisernen Pfanne beinhaltet tatsächlich auch Mais, Paprika und sogar Bohnen.
 

Sie essen an diesem Abend nicht gemeinsam. Mom hat den Fall einer ruhelosen Seele zwei Ortschaften weiter gewittert und ist mit Cas als Unterstützung zur Jagd aufgebrochen. Rowena hat sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert, Crowley ist ausgeflogen und Gabriel – nun, der braucht natürlich kein Essen. Zumindest lehnt er es meistens ab, wenn es nicht zu mindestens 80 Prozent aus Zucker besteht.
 

Jack, dessen Biorhythmus so unmenschlich ist, wie die Summe aller derzeitigen Bewohner des Bunkers, ist am frühen Abend vor dem Fernseher in Deans Männer-Hohle eingeschlafen. Da Sam es nicht über sich gebracht hat, den Nephilim zu wecken, sitzt er allein in der Küche vor seinem Teller.
 

Ein wenig lustlos rührt er in seiner Portion herum; das Essen riecht extrem scharf und eigentlich hat Sam keine Lust auf eine unschöne Nacht im Badezimmer. Es ist ziemlich unfair, dass Dean einen Magen aus Stahl zu haben scheint, während er selbst so empfindlich auf alles mögliche reagiert, aber wenigsten haben ihn dafür die O-Bein-Gene übergangen. Sam weiß zwar nicht, ob das ein fairer Ausgleich ist, aber tauschen möchte er auch nicht mit ihm. Er hat übrigens keine Ahnung, wo sein Bruder abgeblieben ist, aber nach dessen Gesellschaft ist ihm gerade auch nicht zumute. Das Gespräch mit Cas hat ihn wütend auf Dean gemacht.
 

Der erste Bissen treibt Sam fast die Tränen in die Augen, so sehr hat es jemand mit Chili und Pfeffer übertrieben, doch darüber hinaus schmeckt es ganz gut. Sam holt sich ein Glas Milch dazu, um das Brennen in Schach zu halten und lenkt sich ab, in dem er einen Blick in die Tageszeitung riskiert, die auf dem Küchentisch herumliegt. Abgesehen von dem Fall, der für Moms und Cas‘ Abwesenheit verantwortlich ist, und wirklich sehr nach Geist klingt, gibt es nichts, was auf übernatürliche Aktivitäten hinweist.
 

Oder auf Lucifer.
 

Als sich sein einsames Mal dem Ende neigt und er vor lauter Schniefen kaum noch weiter essen kann, nimmt er am Rande seines Blickfelds plötzlich eine Bewegung wahr. Mit dem Löffel auf dem halben Weg zum Mund, wandert sein Blick von der Zeitung, die er hinter dem Teller ausgebreitet hat, zu seinem Essen, das er zwischen seinen Ellbogen auf der Tischkante balanciert.
 

Ein paar Löffel Reis schwimmen noch in der höllisch scharfen Soße, ansonsten hat er das meiste aufgegessen. Sam blinzelt mit trockenem Hals – die Würze hat ihm die Kehle inzwischen völlig ausgetrocknet – und sein Essen blinzelt zurück.
 

Sam lässt augenblicklich den Löffel fallen, der mit einem lauten Klirren vom Rand des Porzellans abprallt, erst auf den Tisch fällt und endlich geräuschvoll auf dem Küchenboden landet.

Wie elektrisiert springt Sam auf und weicht vom Tisch zurück.
 

Ganz ruhig. Nur Einbildung!
 

Eigentlich absurd, denn der Augapfel, den er in seinem Essen gesehen zu haben glaubt, war lidlos und hätte eigentlich gar nicht blinzeln können – und trotzdem hat Sam den Eindruck, dass er ihm zugezwinkert hat.
 

Was stimmt nicht mit meinem Hirn?
 

Sein Essen sieht völlig normal aus, höchstens ein bisschen matschig ist es durch sein Stochern geworden. Zum Glück ist er allein, er muss sich vor niemandem rechtfertigen. Keiner hat mitbekommen, wie sehr er inzwischen am Rad dreht.
 

Er seufzt, reibt sich die von der Schärfe kribbelnde Nasenspitze und nachdem er sich eine Minute zum Durchatmen gegönnt hat, nähert er sich dem Tisch wieder und bückt sich vorsichtig nach dem Löffel darunter. Blitzschnell, weil er den Teller nicht zu lange aus den Augen lassen will.

Einbildung, ja. Aber man kann auch nie wissen. Schließlich ist es die erste der verstörenden Halluzinationen, die er nicht in Gesellschaft hat. So bequem es das für ihn auch in puncto Scherereien mit seinen Mitbewohnern macht – es ist auch gewaltig beängstigend.
 

Vielleicht habe ich mir das auch gerade nur eingebildet, weil ich schon so sehr damit rechne, Dinge zu sehen …?
 

Sich selbst erfüllende Prophezeiungen als Ursache für diesen Aussetzer sind schon beinahe wieder beruhigend, aber als er die Froschperspektive mit dem schmutzigen Löffel wieder verlässt, sind es keine Augäpfel, die ihn auf dem Teller erwarten. Leider auch nicht die Überreste seines Abendessens.
 

Oh , Scheiße!
 

Der tiefe Teller ist bis zum Rand gefüllt mit dunklem, fast schwarzem Blut. Aus jahrelanger, bitterer Erfahrung weiß er, dass Blut meistens nur aus der Herzgegend so aussieht. Ihm wird schlecht und es gleicht einem Wunder, dass er sich nicht an Ort und Stelle übergibt.

In der zitternden, dunklen Oberfläche spiegelt sich sein kreidebleiches Gesicht. Sam ist vor Entsetzen wie erstarrt.
 

Das ist nicht real. Nein.
 

Etwas zuckt und bebt am Grund des Tellers und wenn Sam richtig atmen könnte, anstatt nur panisch nach Luft zu schnappen, würde er vielleicht schreien.
 

Einbildung, Einbildung, Einbildung!
 

Das zuckende Etwas hat knapp Fingerlänge und treibt in seltsam vertrauten, lappenden Bewegungen durch das rote Nass. Beinahe, als würde es winken. Oder vielmehr … lecken.
 

Neinneinneinneinnein!
 

Plötzlich erhebt sich etwas aus dem Blut. Das dunkle Nass rinnt schnell daran herab, hinterlässt kaum eine Spur. Das Etwas ist organisch, sehr beweglich, fleischfarben, mit einem abgerundeten Ende, wird nach unten hin immer breiter.

Sam erkennt sofort, dass sein Verdacht richtig war; das Etwas ist eine menschliche Zunge. Eine körperlose, gespaltene, menschliche Zunge, die ein Eigenleben zu haben scheint.
 

Die Zunge steht nun im Blut, ihre Spitze ragt über den Tellerrand wie eine fleischige Kobra, die sich drohend vor ihrer Beute erhebt. Der Anblick ist widerwärtig, obskur, lächerlich und Sams erster Impuls ist es, eine Ladung Kugeln auf den Küchentisch abzufeuern – wenn er im Bunker nur seine Waffe dabei hätte. Eine Pistole klemmt natürlich auch in der Küche für den Notfall unter der Tischplatte, aber in seinem Schock und Ekel hält Sam es für unklug, sich dem Ding weiter als nötig zu nähern. Und er kann sich immer noch nicht rühren. Die löffelfreie Hand zuckt hilflos in Richtung Tischkante.

Wer hätte gedacht, dass sein Geist zu so einem gestörten Bild fähig ist?
 

Ein Paar schmaler Lippen, mit strahlend weißen, raubtierhaften Zähnen dahinter, taucht um die Zunge herum auf und mit einem Mal wirkt es nicht mehr so, als würde der Teller Sam die Zunge herausstrecken. Es scheint vielmehr, als sei das Blut ein Durchgang zu einer andere Dimension, aus der jemand mit dem Mund voran bei Sam in der Küche auftaucht. Nur, dass niemand kommt; das dazugehörige Gesicht bleibt verborgen, selbst, als die Zunge hinter den Zähnen verschwindet und der Mund mit einem Mal zu sprechen beginnt.
 

„Ha!“, sagt der Mund.

„Ha! Ha! Ha! Ha!“
 

Es blubbert ein wenig und die dünnen Lippen verziehen sich zu einem breiten Grinsen, wobei Blut von den viel zu weißen Zähnen dahinter abperlt.
 

„Dean, dein Essen ist sooo scharf“, ächzt die Stimme aus dem blutigen Mund. Dunkle Blasen schäumen beim Sprechen zwischen den Lippen, hinterlassen einen roten Schleier auf dem Raubtiergebiss. Auf seine Art ist dieser Schlund grausiger als der eines jeden Monsters, selbst die zahngespickten Rachen der Leviathane eingeschlossen. Weil er zu menschlich ist. Gesichtslos dabei. Weil er Sam verspottet und seine Gedanken nachäfft.
 

„Dean ist dumm! Ha! Du bist so klug, Sammy! Du weißt, dass ich nicht echt bin!“
 

Und plötzlich schießt das Leben zurück in Sams Gliedmaßen; er kann sich wieder bewegen. Entgegen all seiner Jägerinstinkte, auf die normalerweise sogar im Schlaf Verlass ist, ist der erste Impuls ein schlichtes:
 

Lauf, raus hier, LAUF!
 

Doch er kommt nicht weit. Nicht einmal bis zur Küchentür kann er rückwärts stolpern, denn er prallt plötzlich gegen etwas, was vorher nicht da war. Es ist beinahe so groß wie er, fest, weich und … lebendig. Dafür ist der Teller auf dem Tisch mit einem Mal verschwunden; Scherben liegen überall auf dem Fußboden verteilt, zwischen Reiskörnern und Spritzern von orangefarbener Soße.
 

Er kann sich nicht daran erinnern, wie der Teller zerbrochen ist. Auch den Löffel hat er irgendwie längst nicht mehr in der Hand.

Er schafft es nicht, sich zu der Gestalt herumzudrehen, die ihn festhält.
 

„Ich dachte, wir probieren mal was Neues aus! Müssen ja nicht immer Maden und Innereien im Essen sein, oder, Sammyboy?“, fragt eine sanfte Stimme ganz nah an seinem Ohr.
 

Es ist dieselbe Stimme, die Sam in Gabriels Zimmer und am Weltkartentisch gehört hat. Es ist dieselbe Stimme, die vorhin aus dem Mund auf seinem Teller kam. Die Stimme ist überall. Alles dreht sich und plötzlich hat er das Gefühl, dass er die Stimme nicht nur hören kann.

Er kann sie sehen, wie einen blutigen Schleier, der mit einem Mal über der ganzen Küche zu liegen scheint. Er kann sie schmecken. Sie klebt in seinem Hals, wie die Schärfe der Soße, und wird zu seiner eigenen. Das Krächzen, das endlich aus seiner, Sams, Kehle kommt, klingt wie Lucifer.
 

„Oder wie wär‘s beim nächsten Mal mit Deans Gesicht?“
 

Das war‘s, denkt Sam.
 

Es ist vorbei. Er ist hier. Lucifer ist hier.
 

Er kann spüren, dass er geschüttelt wird. Fingernägel bohren sich hart und unnachgiebig in seinen Bizeps, aber er kann nichts dagegen tun.
 

„Oldschool, ein bisschen kitschig, vielleicht … Aber hätte auch Klasse!“
 

Die Stimme hallt hundertfach in seinem Kopf wider, obwohl er spüren kann, dass es sein eigener Mund ist, aus dem die Laute stammen.
 

„Lauf, Sammy, lauf!, singt es lachend aus ihm heraus und es ist das letzte, was er hört, bevor ihm schwarz vor Augen wird und er wie leblos gegen den fremden Körper hinter sich sackt.

Bruderliebe

Er ist hier. Lucifer ist hier.
 

„… Scheiße, Sammy?“
 

Es ist dunkel um ihn herum und er fühlt etwas Kaltes an seiner Wange.
 

Lucifer … Ich muss die anderen warnen!
 

Sam spürt, dass er auf dem Boden liegt; sein Gesicht ist gegen die bloßen Fliesen der Küche gepresst. Es bleibt dunkel.
 

„… warum? ... nicht ähnlich.“
 

Dean … Jack … Muss sie warnen!
 

Wenn er sich doch nur bewegen könnte! Er kann nicht einmal die Augen öffnen. Alles, was er hört, ist das Rauschen in seinen Ohren. Tosendes Rauschen, so schrill, ein Klingeln fast, und Deans Stimme, die sich allmählich immer penetranter durch den Nebel in seinen Kopf bohrt. Bis er in der Lage ist, die Worte richtig zusammenzusetzen. Und endlich, endlich erreicht ihn auch ihre Bedeutung wieder.
 

„Was machst du für ‘ne Scheiße, Sammy? Würd gern wissen, warum? Sieht dir doch nicht ähnlich.“
 

Etwas anderes Kaltes berührt sein Gesicht – seine Stirn und die Wange, die nicht Bekanntschaft mit dem nackten Boden macht. Das Etwas besteht aus Stoff und ist tropfnass. Wasser rinnt über sein Gesicht, sickert in seinen Kragen und in seine Haare.
 

Wo ist Lucifer?
 

„Hey, Sam! Sammy!“
 

Dean seufzt.
 

Es ist Deans Stimme, eindeutig. Und es ist Deans Hand, die ihm feuchte Haarsträhnen aus der Stirn wischt und Deans andere Hand, die mit dem nassen Tuch sein Gesicht abtupft. Der Stein, der Sam vom Herzen fällt, hat nahezu astronomische Ausmaße.

Er hält die Augen noch einen Moment länger geschlossen. Seine Umgebung wirkt jetzt, da er das volle Bewusstsein wiedererlangt hat, viel zu hell, selbst durch die geschlossenen Lider.
 

„Seit wann ersäufst du deine Probleme, hm? Das ist mein Part ...“
 

Seine sonst so tiefe Stimme klingt jetzt ganz sanft und leise über ihm und Sam würde gern für immer neben Dean auf dem harten Fußboden liegen und so tun, als wäre das hier alles nicht real. Aber leider ist es das. Also tut er das einzig Richtige: Er reißt die Augen auf, zwingt sich dazu. Er muss jetzt funktionieren.
 

„Lucifer, Dean! Lucifer ist … er war hier! Hast du ihn gesehen?“
 

Mit der Bewegung fährt auch der Schmerz zurück in seine Glieder. Sam muss husten – so heftig, dass es ihn schüttelt. Unbeholfen rappelt er sich aus einer Position auf, die wohl einmal die stabile Seitenlage gewesen sein muss, bevor sein Kopf auf den Boden gerutscht ist.
 

Das Brennen, das der Husten in seiner Brust und Kehle hinterlässt, und der widerwärtige Geschmack in seinem Mund verraten ihm, dass er sich anscheinend doch noch übergeben hat. Bloß ist davon keine Spur in der Küche zu sehen.
 

„Lucifer?“, fragt Dean überrascht zurück und bestätigt Sam auf diese Weise, was er befürchtet hat. Dean hat ihn nicht gesehen und vermutlich auch sonst nichts, was ihn mehr in Beunruhigen versetzt, als seinen Bruder ohnmächtig in der Küche vorzufinden. Dean hilft ihm, sich richtig aufzusetzen und erschöpft lehnt Sam sich gegen das Vorratsregal.
 

„Hast du deshalb gesoffen?“
 

„Ich … was? Nein!“
 

Was hat er nur die ganze Zeit mit dem Alkohol?
 

„Alter, du kannst einem echt ‘ne Scheißangst machen, weißt du das?“
 

Sam ignoriert Dean und greift sich an den Kopf. Er tut höllisch weh – nicht nur von innen. Er hat auch eine gewaltige Beule an der Stirn, die dumpf vor sich hin puckert.
 

Was, zum Henker, ist passiert?
 

„Bist mit dem Kopf gegen die Tischkante geknallt“, erklärt Dean, als hätte er die stumme Frage gehört.
 

„Du warst sternhagelvoll und hast gezappelt und geschrien und dann gereihert, wie‘n Weltmeister. Hab erst gedacht, du hast ‘nen Anfall … Bis ich gesehen hab, wie viel du gesoffen hast. Vielleicht sollten Gabe oder Rowena mal ‘nen Blick auf dich werfen. Könnt sein, dass du ‘ne Gehirnerschütterung hast. Hast dich am Tisch selber ausgeknockt, als ich dich festhalten wollte!“
 

Sam muss sich zusammenreißen, um seinen Bruder nicht einfach nur mit offenem Mund anzustarren. Das sind gewaltig viele Informationen auf einmal und die Erzählung weicht bemerkenswert weit ab von dem, was tatsächlich passiert ist. Schlimm genug, dass Dean so viel mitbekommen zu haben scheint, aber trotzdem glaubt, er habe gesoffen.

Mit hämmerndem Herzen sieht Sam sich in der Küche um; von einem Kampf mit sich selbst oder dem Teufel persönlich ist nichts zu sehen. Der zerbrochene Teller und die Essensreste auf dem Fußboden sind verschwunden; Dean muss die Schweinerei zusammen mit seinem Mageninhalt beseitigt haben. Nur ein leeres Glas und eine Flasche stehen, als einzige Zeugen des Abends, noch auf dem Esstisch. Zu seiner Überraschung ist es nicht das Milchglas, das er sich eigentlich zu seinem Essen geholt hat, und statt der Milchflasche gibt eine zu drei Vierteln geleerte Whiskeyflasche Hinweis auf die Ursache für Deans Fehlinterpretation. Was hat das zu bedeuten?
 

Ich hab‘ doch nicht …
 

Nein. Kann nicht sein!
 

Ich habe Milch getrunken! Es war Milch!
 

… oder?
 

Steht Sam jetzt doch wieder am Anfang der Frage, was Realität ist und was nur in seinem Kopf passiert? Dabei kann er sich noch deutlich daran erinnern, dass Lucifer ihn von hinten festgehalten hat. Und vor allem daran, dass er, Sam, plötzlich selbst Lucifer war.
 

Und selbst, wenn er aus irgendeinem Grund doch den Whiskey intus haben sollte … Er ist nicht Dean, klar, aber er verträgt einiges und eine dreiviertel Flasche reicht nicht aus, um ihn so umzuhauen, verdammt noch mal!
 

„Hey, ich weiß, dass dich das alles fertig macht“, sagt Dean und presst ihm ohne Umschweife wieder den nassen, kalten Küchenlappen gegen die Beule an der Stirn.

Der karierte Stoff verdeckt ihm zur Hälfte die Sicht. Eigentlich möchte er Dean beiseite schieben, aber er weiß nicht, ob er in diesem Moment die Kraft dazu findet. Außerdem ist er eigentlich froh. Froh über die Berührung, die real ist und von der er nichts zu befürchten hat. Es kann nervig sein, ja, aber gerade ist es … nett, dass Dean sich um ihn kümmert. Tröstlich, vertraut und irgendwie fast heilsam.
 

„Die Jagd nach Lucifer, dass du nicht den Kopf davon frei kriegst und alles … Das Kind hier um dich rum. Ich weiß.“
 

Sam runzelt die Stirn unter dem Küchentuch, was keine gute Idee war, denn es bringt die Beule noch stärker zum Pochen.
 

„Schon klar, du willst vermutlich nicht reden, aber Mann!“, redet Dean weiter und ignoriert Sams wenig begeisterte Reaktion auf die abfällige Art, mit der er über Jack spricht.
 

„Du kannst doch mit dem Mist nicht alleine bleiben, du musst das rauslassen und so. Hol dir Hilfe! Das, was du sonst immer mir predigst. Ich mein, hey, ich bin auch noch da – und das weißt du, Chick Flick Momente beiseite … Komm mit so was zu mir!“
 

Sam schüttelt den Kopf, mit Nachdruck. Noch so eine reichlich blöde Entscheidung, weil das Stechen hinter seinen Augen und im Nacken davon noch intensiver wird. Er stößt Dean schließlich doch weg.
 

„Es gibt nichts zu reden, Dean! Ich habe Lucifer gesehen, okay? Und gehört. Er war hier. Er hat mich Dinge sehen lassen, richtig … abgefucktes Zeug, das du dir nicht vorstellen kannst! Er ist hier, seit zwei Tagen schon, vielleicht länger. Wir haben ein gewaltiges Problem!“
 

Dean sieht ihn nach dem Ausbruch an, kritisch, aber nicht annähernd beunruhigt genug. Die Hand mit dem Tuch hat er immer noch vor Sams Gesicht erhoben und sein Mund steht halb offen, so als wollte er etwas sagen, aber könne sich nicht ganz dazu durchringen.

Sam fällt plötzlich auf, dass Deans Lippen erstaunlich wund aussehen. Eigentlich tun sie das seit einer ganzen Weile schon, wenn er es sich recht überlegt. Sie sind rau, eingerissen, immer mal wieder blutig und mit den Abdrücken seiner Schneidezähne übersät, so als würde er ununterbrochen darauf herum beißen.

Sam sieht schnell weg. Der Anblick von Lippen, insbesondere von blutigen und malträtierten, bekommt ihm gerade nicht allzu gut.
 

Ihm ist schon wieder schlecht.
 

„Wieso sagst du erst jetzt was?“, fragt Dean schließlich und lässt das Geschirrtuch endlich sinken. „Wenn du glaubst, dass Lucifer seit zwei Tagen – Mann, Sam! Was denkst du dir eigentlich …?“
 

„Ich hab' mit Cas geredet!“, unterbricht Sam, weil er keine Lust auf Vorwürfe hat oder darauf, wie ein Kleinkind behandelt zu werden. Tatsächlich bringt der Einwand Dean kurz zum Schweigen.
 

„Ich habe Cas gefragt, ob ihm etwas aufgefallen ist und ihm erzählt, dass ich glaube, Lucifer gesehen zu haben! Er hat gesagt, dass ich mir das vermutlich nur einbilde und wir haben vereinbart, dass ich zu Gabe gehe, falls ich wieder das Gefühl habe, dass etwas nicht stimmt! Zufrieden, Dean?“
 

Dean sieht alles andere als zufrieden aus, aber er schaut pfeilgerade an Sam vorbei – und nickt.
 

„‘kay. Wenigstens redest du mit überhaupt jemandem. Und … und Cas ist nichts aufgefallen?“, fragt er und scheitert kläglich in seinem offensichtlichen Versuch, gleichgültig zu klingen, weil es um Cas geht.
 

„Nein. Gabe übrigens auch nicht. Er war dabei, als ich die ersten beiden Male das Gefühl hatte, dass … dass Lucifer da ist.“
 

Jetzt redet er doch mit Dean, erzählt ihm mehr, als er beabsichtigt hat. Dabei wollte er ihm ja eigentlich sein ‚Drama‘ ersparen, bis sein Bruder das eigene geklärt hat. Aber jetzt kann er auch offen sprechen, jetzt ist es auch schon fast egal.

Dean kaut schon wieder auf seiner Lippe herum. Es erinnert Sam daran, wie er selbst am Vortag auf die Art versucht hat, Lucifer zum Verschwinden zu bringen. Vielleicht haben sie doch mehr miteinander gemeinsam, als er manchmal glauben will.
 

Es ist gut, dass Dean Sams Blick auszuweichen versucht. So sieht er nicht, dass Sam vermeidet, seinem Bruder dabei zuzusehen, wie der seine innere Unruhe auf so destruktive Weise an sich selbst auslässt. Blutige Münder sind ein Anblick, auf den er im Moment gut und gerne verzichten kann; angefangen bei Gabriels grausam verstümmelten Lippen bis hin zu der Halluzination in seinem Abendbrot.
 

„Okay, Sam“, sagt Dean schließlich abwesend und lässt seine zerkaute Unterlippe den eigenen Zähnen entkommen.

„Okay, also … keiner von unseren Flattermännern hat irgendwas davon gemerkt, dass Lucifer da war. Und du bist dir trotzdem sicher, dass es echt ist. Und nicht so, wie … wie beim letzten Mal?“
 

Sam sieht natürlich, worauf Dean hinaus will. Dean unterstellt ihm, wieder einmal reif für die Klapse zu sein. Vielleicht ist er das ja auch. Trotzdem hält er die Bedrohung diesmal für real und nickt deshalb. Vorsichtig nur, damit sein Kopf sich mit den zusätzlichen Schmerzen zurückhält.
 

„Was macht dich so sicher?“, bohrt Dean weiter.
 

Sam seufzt.
 

„Zum einen, dass ich mir zum Essen ein Glas Milch geholt habe. Das war keine Halluzination, es war Milch, kein Whiskey! Und wenn ich irgendwie in Trance gewesen wäre, hätte mich spätestens dein Essen zurück in die Realität geholt. Weißt du eigentlich, wie scharf das Zeug ist?“
 

Er versucht sich an einem kleinen Grinsen, das Dean sogar halbherzig erwidert, bevor er mit den Achseln zuckt. Er lässt offen, was er von den eigenen Kochkünsten hält – und von Sams Rückschluss.
 

„Nur, weil‘s real für dich war, heißt das ja nicht, dass es nicht auch nur in deinem Kopf gewesen sein kann.“
 

„Ist das nicht aus Harry Potter? Du reißt das total aus dem Zusammenhang!“
 

„Kann sein, aber –“
 

„Ich hab anscheinend ohne Ende Whiskey getrunken und es nicht gemerkt, Dean!“, unterbricht Sam und kann nicht verhindern, dass er laut wird.
 

„Was glaubst du, wer oder was mich auf so einen Trip bringen kann, dass ich mich bis zum Erbrechen betrinke und es nicht merke?“
 

„Du hast echt nicht gewusst, dass du dir einen hinter die Binde kippst?“, fragt Dean nach einigem Zögern. Er klingt misstrauisch. Berechtigt, wohl – leider.
 

Trotzdem nervt es.
 

„Nein, ich hab es wirklich nicht gemerkt. Und die Dinge, die ich gesehen und gehört habe, das hatte nichts mit einem normalen Rausch zu tun … Das war wie … wie ein Drogentrip! Anders kann ich es nicht beschreiben.“
 

Nur, dass es kein Drogentrip war, sondern Realität.
 

„Hm“, macht Dean und steht vom Boden auf. Er wirft den nassen Lappen ins Spülbecken, wischt sich die Hände an der Jeans ab und holt die Whiskeyflasche vom Tisch. Er schwenkt sie leicht, so dass der letzte Schluck der honigfarbenen Flüssigkeit darin mit leisem Gluckern hin und her schwappt.
 

„Die war noch ganz voll. Hab sie gestern erst gekauft. Und das hast du alles heute Abend vernichtet – okay, das passt nicht zu dir. Brauchst sonst mehr Gründe.“
 

Die Aussage ist seltsam und tut irgendwie ein bisschen weh, obwohl Sam nicht genau festmachen kann, was ihn daran stört. Sie scheinen sich jetzt offenbar darauf geeinigt zu haben, dass Sam zu viel über den Durst getrunken hat. Unfreiwillig und unwissentlich zwar, das schon, und auch, dass dies auf etwas durchaus Beunruhigendes zurückzuführen sein könnte. Aber das hilft ihm kein Stück weiter.
 

Dean stellt den Whiskey zurück und holt ein frisches Glas aus dem Schrank, das er mit Leitungswasser füllt. Er reicht es Sam und setzt sich dann wieder zu ihm, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass sie zusammen in der Küche auf dem Boden hocken und darüber diskutieren, ob Sam verrückt geworden ist. Oder ob Satan persönlich in ihrem Haus makabere Streiche spielt.
 

„Danke“, murmelt Sam und leert das Wasserglas in wenigen Zügen. Es tut gut, aber es reicht nicht aus, um das Brennen in ihm zu löschen. Er fühlt sich so unbeschreiblich wund und ausgetrocknet.
 

Nicht nur körperlich …
 

Dean starrt wieder wortlos vor sich hin, bis Sam ausgetrunken hat. Schließlich sagt er: „Weißt du, ich glaub dir, was du sagst. Ich glaub dir, dass du das alles wirklich so gesehen hast. Aber versteh mich nicht falsch, Sammy, wenn ich jetzt nicht panisch durch den Bunker renne und Lucifer suche. Er ist nicht hier.“
 

Er macht eine kurze Pause, in der Sam das Herz in die Hose rutscht. Dean glaubt ihm nicht. Er macht sich Sorgen und er hört ihm zu, ja. Er nimmt sogar ernst, was er sagt. Aber er glaubt ihm nicht.
 

„Oder ist er hier, Sam? Kannst du ihn jetzt gerade sehen?“
 

„Nein. Nein, kann ich nicht.“

Das zuzugeben, fühlt sich wie eine Niederlage an. Natürlich ist jede Lucifer-freie Minute wie ein Geschenk, aber er ist sich nun wirklich sicher, dass es keine Halluzinationen sind, die ihn plagen, und dass Dean immer noch so ruhig neben ihm sitzt, grenzt in diesem Moment für ihn an eine Katastrophe. Wenn er sich nicht so sehr wie gerädert fühlen würde, wenn sein Körper ihm gehorchte, ohne dass er bei der kleinsten Bewegung Sorge haben müsste, sich erneut zu übergeben …
 

„Vielleicht solltest du noch mal mit Cas reden“, schlägt Dean in diesem Moment vor und die Pause, die er vor Cas‘ Namen macht, ist so winzig, dass sie Sam nur auffällt, weil niemand Dean so gut kennt, wie er.
 

„Und, äh, mit … Gabriel. Kann ja nicht schaden.“
 

Sam seufzt erneut, diesmal deutlich frustrierter.
 

„Vielleicht solltest du mit Cas reden. Das kann garantiert nicht schaden“, murmelt er halblaut und vergräbt erschöpft das Gesicht in den Händen.
 

Das atemlose Schweigen daraufhin ist so durchdringend, dass er es neben sich fühlen kann.

Das Piepen in seinem Ohr wird mit einem Mal auch wieder lauter. Dieser rauschende, schrille Pfeifton, mit dem er vorhin zu sich gekommen ist. Bis eben gerade hat er es noch geschafft, ihn halbwegs auszublenden.
 

„Wieso sollte ich?“
 

Deans Stimme ist seltsam ausdruckslos und das anschließende Lachen falsch und laut und viel zu hoch. Es tut Sam im Kopf weh. Er presst Daumen und Zeigefinger gegen den Nasenrücken und kneift die Augen zusammen.
 

„Weil‘s dir beschissen geht“, sagt er gegen seine angewinkelten Knie. „Und Cas auch, übrigens.“
 

Dean Lachen erstirbt in einem erstickten Laut, etwa von der Sorte ‚getretener Hund‘, der Sam vor Mitgefühl zusammenfahren lässt.
 

„Weiß gar nicht, was du – “
 

„Oh, bitte, Dean! Komm mir nicht so!“, fährt Sam ihn an und hebt jetzt doch den Kopf, um ihn anzusehen.
 

„Lucifer spielt mal wieder Weltuntergang. Meinst du echt, das ist der richtige Zeitpunkt für Spielchen? Die nächste Apokalypse steht quasi direkt vor der Haustür und wir wissen nicht, wen wir dabei diesmal verlieren! Willst du echt riskieren, dass das so zwischen euch endet? Was, wenn Cas wieder in der Leere landet und nicht zurückkommt, Dean? Was, wenn du stirbst? Hast du mal daran gedacht, was das mit ihm machen würde? Oder mit dir?“
 

Dean sieht ihn auf eine Art und Weise an, die Sam verrät, dass sein großer Bruder in der vergangenen Woche an nahezu nichts anderes gedacht hat. Sie haben im Moment andere Probleme, dringendere, ja, aber es tut verdammt weh, Dean so gefangen in seinen Ängsten und verrannt in den eigenen unsinnigen Regeln zu sehen. Seine Unterlippe verschwindet wie auf Kommando zwischen seinen Zähnen.
 

Wie kann man sich nur so sehr selbst im Weg stehen?
 

„Wir … wir finden eine Lösung, Sammy“, sagt Dean und scheint sich die aufgesetzte Selbstsicherheit nicht einmal selbst abzukaufen.

„Ich sorge dafür, dass du Lucifer nicht mehr siehst. Keine Sorge! Das wird wieder.“
 

Sam lässt die hämmernde Stirn wieder gegen seine Knie sinken.

Jetzt ist ihm tatsächlich nach Heulen zumute und das ist ihm schon seit sehr langer Zeit nicht mehr passiert.

 

 

*
 

Dean hat hoch und heilig schwören müssen, dass er ohne Sams ausdrückliche Zustimmung weder mit Cas, noch mit Rowena und auf gar keinen Fall mit Jack oder Mom über den Zwischenfall spricht. Dean hat darüber nur geschnaubt und zwischen zusammengebissenen Zähnen so etwas vor sich hin gebrummt, wie ob Sam ihn für bescheuert halte?

Andersherum hat Dean ihm das Versprechen abgenommen, noch einmal mit Cas zu reden, sobald der Engel von der Geisterjagd zurück ist.

Sam hätte Dean in dem Zusammenhang gern dazu bewegt, andersherum das gleiche zu tun und das Gespräch mit ihrem besten Freund zu suchen. Aber mehr, als ihn darum zu bitten, kann er nicht für seinen Bruder tun und er weiß auch so, worauf Deans mürrisches „Mal sehen!“ hinauslaufen wird. Vermutlich noch mehr Davonlaufen. Sam hofft, dass wenigstens seine kleine Standpauke über das Ende der Welt ein bisschen Eindruck hinterlassen hat.
 

Er lässt sich noch ein wenig über Lucifer und die letzten Erscheinungen ausfragen, ist aber zu erschöpft für ein größeres Verhör. Dean hat Erbarmen mit ihm und sorgt schließlich nur dafür, dass er noch ein paar Gläser Wasser hinunterkippt, bevor er Sam unter die Dusche und anschließend ins Bett scheucht. Sein Bruder treibt es sogar so weit und macht Anstalten, ihn zudecken zu wollen – aber Sam kommt ihm zuvor und jagt ihn mit der erneuten Erwähnung von einem Gespräch mit Cas aus seinem Zimmer.
 

Den Versuch, den Bunker noch am selben Abend nach Lucifer abzusuchen oder sich hinter die zaghafte Recherche nach satanischen Halluzinationen zu klemmen, gibt er auf, sobald sein Kopf das Kissen berührt. Dean hat wohl recht gehabt: Er muss sich während der letzten Erscheinung in einem krampfartigen Zustand befunden haben, denn er spürt jeden Muskel einzeln und sämtliche Knochen seines Körpers tun ihm weh. Die Folgen eines normalen Katers sind das nicht!

Aber vielleicht die einer Psychose? Sam weigert sich, das zu glauben.
 

Okay, die Möglichkeit besteht natürlich, dass einer von uns früher oder später wahnsinnig wird.
 

Erlebt haben sie beide genug dafür und … offenbar trifft es zuerst Sam.
 

Aber doch nicht – doch nicht so!
 

Halluzinationen lassen kein Geschirr fliegen – oder?!
 

Es sei denn, er hat am Ende selbst im Wahn in der Küche randaliert …

Das Grübeln hindert seinen Geist nicht daran, der Erschöpfung nachzugeben und in einen bemerkenswert traumlosen Schlaf zu sinken.
 

Mitten in der Nacht schreckt Sam hoch. Er liegt in seinem Bett, in seinem Zimmer. Es ist noch alles an ihm dran, er ist in einem Stück, sein Magen lässt ihn, nachdem er sich sein Abendessen noch einmal so gründlich hat durch den Kopf gehen lassen, auch in Ruhe.

Und nein, nach den Ereignissen der letzten Tage sind es erstaunlicherweise wirklich keine Alpträume, die ihn geweckt haben.
 

Verschlafen schaltet Sam die kleine Lampe auf seinem Nachttisch ein. Das schwache Licht lässt einen Großteil des Raumes im Schatten, aber er begreift sofort, was ihn geweckt hat: Am Fußende seines Bettes sitzt Gabriel mit einer solch entspannten Selbstverständlichkeit, als gehöre er zum Mobiliar. Der Erzengel trägt wieder einmal seinen flauschigen, roten Bademantel – zurzeit offensichtlich sein liebstes Kleidungsstück – und sieht ihn offen interessiert an.

Sam ist mit einem Schlag hellwach.
 

„Alter, was willst du denn hier?“, entwischt es ihm wenig begeistert.
 

Gabriel schlägt betont lässig die Beine übereinander (Wenigstens scheint er einen Pyjama unter dem Bademantel zu tragen, und um die darauf gedruckten obszönen Lebensmittel zu erkennen, ist es zum Glück auch zu dunkel!) und verschränkt die Finger über seinem Knie.

Die Geste verrät überdeutlich, dass es wohl leider eine Weile dauern wird, bis Sam ihn wieder los wird. Wie lange er ihm schon beim Schlafen zugesehen hat, will er lieber gar nicht erst wissen. Unauffällig versucht Sam, sich den Mund an der Bettdecke abzuwischen, für den Fall, dass er im Schlaf gesabbert hat.
 

„Du liebe Zeit! Es freut mich ja auch, dich zu sehen“, erwidert Gabe, doch sein Tonfall dabei ist ungewohnt ernst, ein bisschen forsch, geradezu.
 

Sam lässt den Deckenzipfel los. Eigentlich spielt es keine Rolle mehr, welchen Eindruck er jetzt hinterlässt, denn was für Peinlichkeiten er auch immer im Schlaf von sich gegeben hat – Sabber, Worte, seltsame Geräusche – Gabriel hat sie zweifellos mitbekommen.
 

„Lass mich schlafen.“
 

Sam schaltet die Nachttischlampe wieder aus, was selbst für Gabe als Geste des Rauswurfs ausreichen sollte, und lässt den Kopf zurück ins Kissen fallen. Weit gefehlt. Er starrt, horcht und fühlt in die Schwärze seines Zimmers, doch er spürt keine Regung am Fußende der Matratze. Unnachgiebig bleibt Gabriel im Dunkeln auf seiner Bettkante sitzen.
 

„Es ist wichtig. Familiäre Angelegenheiten, Samshine.“
 

Sam seufzt.
 

Die Spitznamen werden auch immer dämlicher.
 

„Kann das nicht warten?“
 

Ihm tut immer noch alles weh und er will einfach nur schlafen, jede Sekunde genießen, in der er nichts sieht oder hört, was mit verrückten Engeln und deren Familienbande zu tun hat.
 

Aber zu seiner Überraschung sagt Gabe: „Dein Bruder war vorhin bei mir.“
 

Bitte was?!
 

Warum hätte Dean ausgerechnet Gabriel freiwillig aufsuchen sollen, da er doch in letzter Zeit so angespannt und unbehaglich in Gegenwart des Erzengels wirkt? Auch darüber hinaus fallen Sam spontan nicht viele Gründe ein, die Dean dazu bringen könnten, zu dieser Uhrzeit mit dem Erzengel zu reden. Aber dass Dean ihn bei Gabe verpetzen würde, dem einzigen, mit dem er ihm nicht zu reden verboten hat, hätte er nicht gedacht. Was die Angelegenheit also automatisch zu einer ihrer beider Familien macht. Nun gut, Gabriel hat schließlich nicht gesagt, um wessen Gene es sich bei ‚familiär‘ handelt.
 

Sam ergibt sich seinem Schicksal, entscheidet sich dafür, mitzuspielen.
 

„Und du verrätst mir sicher gleich, was er von dir wollte …?“
 

„Warum hast du mir nicht sofort erzählt, dass du Lucifer gesehen hast, Sam?“, fragt Gabriel wie aus der Pistole geschossen, kaum dass Sam zu ende gesprochen hat.

Freiheraus, wie immer, und immer genau dahin, wo es am meisten wehtut … So ist Gabe.

Jetzt, so im Nachhinein, ist das aber eigentlich eine ziemlich gute Frage.

Direkt darüber zu sprechen, wäre am einfachsten gewesen. Vielleicht hätte es Sam die schrecklichen Bilder in der Küche erspart. Und vermutlich wäre er mit Gabe sofort beim richtigen Ansprechpartner gelandet, der den Ernst der Lage als einziger realistisch einschätzen kann. Niemand im Bunker kennt die genauen Ausmaße von Lucifers Kräften besser, als dessen eigener Bruder.
 

Ihm fällt keine gescheite Antwort ein, aber vielleicht war es ganz gut, dass er das Licht ausgemacht hat. Zumindest ist er aus irgendeinem Grund froh, Gabe bei seinen nächsten Worten nicht direkt ansehen zu müssen.
 

„Du bist gerade erst hier angekommen“, sagt Sam halblaut und starrt im Liegen in die stechende Dunkelheit.

„Nach allem, was dir passiert ist, wollte ich vielleicht einfach nicht, dass du sofort das Gefühl hast, dass du hier nicht sicher bist? Ich meine, ich war mir ja selbst nicht sicher, ob ich nicht einfach nur spinne, Gabe!“
 

Zumindest bis heute Abend. Kann sein, dass ich spinne und Dinge sehe, die nicht da sind, wie das Auge und … der Mund …
 

Aber der Rest war echt. Lucifer war hier!
 

Gabriel erwidert darauf eine Weile nichts; so lange, bis die Stille wieder einmal in seinen Ohren zu piepsen beginnt. Vielleicht hätte er den Hörsturz nicht als faule Ausrede vor Gabe und Jack benutzen sollen. Allmählich muss er sich fragen, ob er nicht tatsächlich einen hat.

Schweigen sieht dem selbsternannten Trickster jedenfalls so überhaupt nicht ähnlich und es sorgt dafür, dass Sam immer unbehaglicher zumute wird.

Das führt so weit, so dass er sich, entgegen aller Widerstände und Schmerzen, schließlich halb auf seiner Matratze aufrichtet, um einen Blick auf das vertraute Profil zu erhaschen.

Aber es ist zu dunkel. Er kann gerade so einen Schemen erahnen, der vielleicht eine Winzigkeit schwärzer ist, als die Nacht im Raum.
 

„Deine Rücksicht ist ja sehr nett von dir, Samshine. Aber nur, weil ich nichts davon weiß, macht es das nicht weniger gefährlich. Das ist dir bewusst, oder?“, sagt Gabriel irgendwann und mit etwas mehr Wärme in seiner Stimme, als noch zuvor bei der eher unorthodoxen Begrüßung.
 

Leider ist das, was er sagt, treffend richtig und diesmal hat Sam dafür keine gute Ausrede mehr parat.
 

„Ich wusste nicht, ob es real ist“, wiederholt er deshalb lahm, lässt sich schwerfällig zurück ins Bett fallen.

„Dean glaubt mir nicht ...“
 

„Wenn Dean-o dir nicht glauben würde, wäre er vermutlich nicht zu mir gekommen“, entgegnet Gabriel und Sam hört den unerwarteten Anflug von Belustigung in seiner melodischen Stimme.
 

„Ach ja und warum genau denkst du das?“
 

„Lass es mich mal so sagen: Ich habe ihn im Moment ziemlich bei den Kronjuwelen, wenn du verstehst, was ich meine … Ich glaube, er sehnt sich zurzeit nicht unbedingt nach meiner Gesellschaft und wenn er wegen dir sogar höchstpersönlich an meine Zimmertür klopft, dann ist wohl klar, dass er hier gar nichts auf die leichte Schulter nimmt.“
 

Das macht Sinn.
 

So etwas in der Art hat er natürlich schon vermutet, seit Deans Kopf zu glühen beginnt, sobald Gabe auf der Bildfläche erscheint. Sams Neugier lässt ihn die nächste Frage stellen, obwohl er nicht wirklich eine richtige Antwort darauf erwartet. Der Erzengel geht mit seinen Geheimnissen selten hausieren, wenn er keinen ersichtlichen Vorteil daraus ziehen kann.
 

„Okay, und was, bitte, hast du gegen Dean in der Hand? Abgesehen von seinen Eiern. Über die ich übrigens nichts wissen will.“
 

Gabriel lacht.
 

„Oh, zufällig geht‘s genau um die! Dir ist doch sicher aufgefallen, dass zwischen meinem kleinen Bruder und deinem großen eine heiße Nummer gelaufen ist.“
 

Sam kann das Grinsen im Dunkeln natürlich nicht sehen, aber er bildet sich ein, dass er es hören kann. Das diebische Funkeln in den bernsteinfarbenen Augen scheint ihm aus dem Verborgenen entgegen zu blitzen.
 

„… und weiter?“
 

„Ich bin derjenige, dem sie das zu verdanken haben; ich habe es geplant und für die Gelegenheit gesorgt. Na schön, gemacht haben sie es dann ganz alleine“, erklärt Gabriel feierlich und so stolz, als habe er einen Preis für seine Schandtat verdient.

Sam reagiert nicht sofort. Sein Hirn fühlt sich viel zu matschig für die Art von Gespräch an. Erst das schwache Pochen über seinem Auge erinnert ihn an die Beule an seinem Kopf – und lässt ihn realisieren, dass er gerade wieder einmal die Stirn runzelt, was Gabriel offensichtlich trotz der Dunkelheit im Raum überdeutlich sehen kann.
 

„Komm schon, Sammich – ohne Nachhilfe hätte Dean-o doch nie im Leben den Stock aus seinem Arsch gekriegt, das musst du zugeben! Und Cassie, Cassie hätte ihn weiter immer nur mit diesem Rehblick angestarrt und es wäre nichts passiert. Wenn ihr Menschen – vor allem Jäger – nicht so eine begrenzte Lebensdauer hättet, würde dieses Spielchen vermutlich noch Jahrhunderte so weitergehen! Sie starren, sie leiden, sie sterben, sie kommen zurück, und das ganze Drama wieder von vorn. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann starren sie noch heute. Und irgendwann kommt einer von beiden nicht mehr zurück und ja, dann haben wir den Salat.“
 

Sam nickt eifrig auf seinem Kissen, obwohl es seinen Nacken unter Schmerzen protestieren lässt. Aber Gabe spricht ihm mit seiner Einschätzung der Lage aus der Seele.
 

„Ich lebe gefährlich, Sammyboy. Ich wollte noch in diesem Zeitalter erleben dürfen, wie der kleine Jäger und sein Schutzengel endlich in die Puschen kommen! Leider heißt bei deinem Vollpfosten von Bruder auch ein heißer Ritt mit Castiel wohl nicht, dass er sich einen Ruck gibt.“
 

Sam steht jetzt der Mund offen, nicht ohne den Anflug von Übelkeit ob der vielleicht etwas zu detaillierten Natur der Information.
 

„Dean hat mit Cas geschlafen?!“
 

Doch da ist noch mehr, mehr, was ihn beschäftigt.
 

Er hat mit ihm geschlafen und ihn danach abserviert ...
 

Sam hat sich denken können, dass etwas, irgendetwas, zwischen Dean und Cas passiert sein muss und dass Gabe irgendwie darin verwickelt gewesen sein könnte. Aber dass Cas und Dean gleich bis zum Äußersten gegangen sind, das hätte er nicht vermutet. Wahrscheinlich hat er bei Gabriels Erzählung deshalb so langsam geschaltet.
 

„Ja, ja – ich war natürlich nicht live dabei, aber ich weiß aus verlässlicher Quelle, dass es ordentlich zur Sache ging!“
 

Er lacht äußerst dreckig und Sam windet sich aus lauter Mitgefühl für seinen Bruder und Cas förmlich unter der Bettdecke. Selbst er fühlt sich verdammt unwohl dabei, dass Gabe so viel davon weiß.
 

Viel zu viel! Kein Wunder, dass Dean so durch den Wind ist!
 

Es ist nicht so, dass Sam Buch darüber führt, oder dass Dean je über etwas Derartiges sprechen würde. Aber das letzte Mal Sex mit jemandem, der ihm wirklich etwas bedeutet hat, muss Dean vor ungefähr … sieben Jahren gehabt haben. Und – bezogen natürlich auf Personen, die für Sex überhaupt erst infrage kämen – niemand in seinem Leben, absolut niemand hat Dean bisher mehr bedeutet, als Castiel. Da ist sich Sam mehr als sicher. Sein Bruder trennt Körperliches strikt von seinen Gefühlen. Wenn das nun beides miteinander kollidiert ist …
 

Und dann die Sache mit Gabe ...
 

Sam beginnt sich zu fragen, ob vielleicht auch die Hintergründe, wie Cas und Dean miteinander im Bett gelandet sind, dazu geführt haben, dass Dean jetzt so sehr dicht macht. Vielleicht war Alkohol im Spiel. Vielleicht ein Trickster-Streich, vielleicht haben sich diese vermaledeiten Amors wieder einmal in die Liebesangelegenheiten eines Winchesters eingemischt …
 

„Ich sehe schon, wir verstehen uns, Sasquatch“, summt Gabriel, doch Sam ist sich da nicht ganz so sicher. Was die passenden Umstände für ein erstes Mal mit der Liebe seines Lebens anbelangt, scheinen die Meinungen zwischen Engeln und Jägern offensichtlich gewaltig auseinander zu gehen.
 

Der Engel auf seinem Bett gibt Sam eine Minute Zeit für seine wirren Gedanken, in der er sich paradoxerweise ein stummes Lächeln auf dessen schelmischen Zügen vorzustellen beginnt.

Das Bild in seinem Kopf hat etwas eigenartig Beruhigendes. Es ist so dunkel, dass Sam weder reale Erscheinungen noch Trugbilder sehen kann und obwohl Gabes Anwesenheit ihn zuvor nicht davor bewahrt hat, sich Lucifer ausgeliefert zu fühlen, spürt er die eigene Paranoia jetzt  genug weichen, um sich gänzlich auf das Dilemma von Dean und Cas zu konzentrieren.
 

Bis Gabe plötzlich abrupt wieder in Sams eigener Verletzlichkeit herumzustochern beginnt: „Aber wie sieht‘s jetzt aus mit Lucy? Erzähl mir davon.“
 

Es ist keine Bitte und Sam findet nicht den nötigen Widerstand in sich, um zu protestieren. Außerdem ist da diese seltsame Anwandlung von … Ja, von was eigentlich genau? Hoffnung? Dass der nahezu machtlose Erzengel ihm wird helfen können? Dass er seinen Hirngespinsten Glauben schenkt?
 

Vielleicht ist Sam auch einfach immer noch viel zu müde. Aber er fasst sich ein Herz, schließt die Augen, um die Dunkelheit und die Ahnung des Gabriel-Schattens darin nicht sehen zu müssen, und erzählt.

Von dem Lachen in Gabes Zimmer. Davon, wie begeistert Lucifer war, Jack und Gabe und Sam auf einem Haufen im Bunker vorzufinden. Er erzählt sogar, dass er erst dachte, einen Augapfel in seinem Reis zu sehen und dass er Lucifers Stimme aus seinem eigenen Mund gehört hat. Dass es sich beinahe angefühlt hat, als hätte Lucifer Besitz von ihm ergriffen. Was ohne Sams Einwilligung natürlich nicht tatsächlich funktioniert, aber trotzdem erscheint es ihm zu wichtig, um es zu verschweigen. Dass Lucifer da war, ihm die Halluzinationen persönlich vorbeigebracht hat.
 

Nur von der Herkunft seiner plötzlichen Lippen-Phobie erzählt er nichts. Vielleicht, weil es so verrückt klingt, dass er sich wirklich dafür schämt. Vielleicht, weil er davon ausgeht, dass Gabe sich zurzeit auch nicht unbedingt mit blutigen Lippen auseinandersetzen will.
 

Darüber hinaus erzählt Sam alles mit wenigen Worten, aber so genau wie möglich. Am Ende ist seine Stimme trotzdem völlig heiser, so als habe er stundenlang geredet, obwohl er eigentlich nicht länger als wenige Minuten lang gesprochen haben kann. Gabriel unterbricht ihn nicht ein einziges Mal.
 

„Bin ich jetzt reif für die Gummizelle oder wir alle für den Panikraum?“, fragt Sam am Ende und spürt selbst, wie viel Bitterkeit in seiner kratzigen Stimme mitschwingt.
 

Gabriel seufzt leise und Sam fühlt, wie das, was er zuvor noch für Hoffnung gehalten hat, mit dem Geräusch in seiner Brust zugrunde geht.
 

„Samshine, Samshine … Das ist genau die Art von Späßen, die Lucy lustig findet. Ja. Aber es ist auch so vage, dass es nur in deinem Kopf passiert sein könnte. Alles in allem sind das erst mal nur deine Beobachtungen.“
 

Womit er jetzt also kein Stück weiter wäre. Rat- und hilflos, wie zuvor.
 

„Aber das muss alles nichts heißen! Bedenke, dass ich … Na ja, ich bin gerade nicht so ganz auf der Höhe. Mein geliebter Bruder ist das größte Arschloch, das sich je dazu herabgelassen hat, auf dieser kleinen Erde zu wandeln. Und leider weiß ich nicht, wie viel Saft er so im Moment hat. Es kann sein, dass er – in diesem Zustand – meinem Radar entgeht.“
 

Zu Sams Erstaunen klingt es ein kleines Bisschen gequält. Der Teilverlust seiner Gnade scheint dem Erzengel mehr zu schaffen zu machen, als er vermutet hätte. Was vielleicht auch an den Umständen liegt, wie sie ihm entrissen wurde, doch irgendwie kommt es überraschend, dass Gabriel, für seine Verhältnisse, so offen mit Sam darüber spricht.

Das ist es aber letztlich, was dafür sorgt, dass Sam sich ernst genommen fühlt. Gabe gibt zu, dass er nahezu machtlos ist – und bestätigt ihm, dass es definitiv angebracht wäre, sich Klarheit über die verstörenden Ereignisse zu verschaffen.
 

„Und was schlägst du vor, was ich jetzt tun soll?“
 

„Was hast du beim letzten Mal getan?“
 

„Beim letzten Mal? Woher weißt du – Oh, nein. Lass mich raten: Dean?“
 

Sam schnaubt wütend. Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass Gabriel schon vorher von Sams Klinikaufenthalt und dessen Ursache wusste, aber er zweifelt nicht daran, dass Dean heute Abend in ganz außergewöhnlicher Plauderstimmung war.
 

Wieso hebt er sich das nicht auf, um endlich mal sein eigenes Leben in den Griff zu kriegen?
 

Gabriel gluckst leise.
 

„Ich hab‘ momentan nicht allzu viel übrig für Dean-o, aber lass es mich so sagen: Ich verstehe seine Beweggründe. Es ist nicht leicht, einen kleinen Bruder unglücklich zu sehen. Und manchmal bringt es einen dazu, verrückte Dinge zu tun. Deshalb sitzen wir beide heute hier. Also, Sam. Was hast du beim letzten Mal immer getan, wenn du Lucifer gesehen hast, aber nicht sicher warst, ob er wirklich da war?“
 

Sam versucht, das Gefühl von Verrat hinunterzuschlucken – Dean und dessen Vereinbarungen mit Engeln hinter Sams Rücken werden vermutlich für immer ein wunder Punkt bleiben, obwohl Gabe natürlich schon wieder recht hat – und überlegt.
 

„Ihn ignoriert. Versucht, nicht drauf einzugehen. Wenn es zu schlimm wurde, habe ich versucht, ihn … na ja. Ich hab versucht, ihn mit Schmerzen auszublenden. Ich hatte da diese Verletzung ...“, sagt er zögerlich und rutscht unauffällig tiefer unter seine Decke. Bloß kommt er nicht allzu weit, weil er sich auf die Art natürlich auch Gabe auf seiner Bettkante nähert.
 

„Das kommt diesmal nicht infrage, Sam!“
 

Gabriel klingt jetzt auf alarmierende Weise nahezu autoritär und so viel mehr nach Erzengel denn nach Trickster. Der Stimmungswechsel ist so plötzlich, dass Sam eine Gänsehaut bekommt. Wieder ist er dankbar für die Dunkelheit um sie. Dass Gabe so ungehalten reagiert, hätte er nicht vermutet, und es trifft irgendwie unangenehm, gerade weil es ihm so lächerlich schwer gefallen ist, über diesen speziellen Teil seiner Vergangenheit zu sprechen.
 

„Nein … Wohl nicht“, murmelt er also nur. „Aber was dann?“
 

Zum Glück geht Gabriel auf den Themenwechsel ein und das unerwartete Lodern in seiner Präsenz verebbt augenblicklich.
 

„Unsere Aufgabe für morgen“, sagt er, mit dem Anflug vertrauten Humors in der Stimme, „Herausfinden, wie wir dir helfen und Lucy unschädlich machen können. Aber ich würde vorschlagen, dass du jetzt schläfst. Ich hab mir sagen lassen, dass Riesen-Elche mehr Schlaf als der Durchschnittsjäger brauchen. Zehn Minuten mehr pro Inch – ab Überdurchschnittsgröße!“
 

Wieder schnaubt Sam, aber die vertrauten Witze erreichen ihn kaum.

Er könnte Gabe darauf aufmerksam machen, dass es vielleicht keine gute Idee war, nachts im Dunkeln über so viel feinstes Alptraum-Material zu sprechen, wenn man ohnehin schon unter massiven Schlafstörungen leidet. Doch gerade so, als habe er den Gedanken erraten, kommt Gabriel ihm zuvor.
 

„Ich hab zwar nicht mehr viel Mojo, aber es reicht noch für süße Träume, Sammy. Falls der Bedarf besteht.“

Es klingt behutsam und es ist bemerkenswert selten, dass der Erzengel etwas anbietet, ohne es direkt aufzuzwingen.
 

Der Vorschlag ist nach dem furchtbaren Abend so verführerisch, dass er sogar über das nervtötende ‚Sammy‘ hinwegsehen kann. Außerdem wird Sam nicht noch einmal so viel Glück haben wie vorhin, und in einen traumlosen Schlaf fallen. Aber kann er wirklich um eine derartige Banalität bitten?
 

Sollte Gabe nicht lieber seine Kräfte schonen?
 

Und vor allem: Sollte Sam noch einem weiteren Engel freien Zugriff zu seinem Hirn gewähren?
 

Eigentlich ist da oben schon mehr als genug kaputt. Was kommt es da auf einen mehr an …?
 

Wobei Gabriel es natürlich von sich aus angeboten hat, und – seit wann hat er eigentlich bei Sam am Fußende gesessen? Hat er vielleicht schon vorher über seinen Schlaf gewacht, ungefragt? Der Gedanke sollte beunruhigender sein, als es Sam gerade zumute ist.
 

„Was ist das mit euch Engeln, dass ihr ständig bei uns am Bett hockt und uns beim Schlafen beobachtet? Das ist nicht nur unhöflich, es ist verstörend!“, kann er sich nicht verkneifen.
 

Gabriel lacht kurz auf, freundlich und unbekümmert.
 

„Schlafende Winchesters als persönlicher Kick liegen in der Familie, Samshine“, sagt er und wieder glaubt Sam, in der Dunkelheit das unverkennbare Lächeln zu hören. Es klingt merkwürdigerweise nicht im Geringsten spöttisch.

„Im Schlaf könnt selbst ihr nicht so viel anstellen und vielleicht genießen wir es einfach, mal vollkommen stressfrei über euch wachen zu dürfen. Keine Scherereien. Wenn ihr nicht so finster aus der Wäsche guckt, seid ihr ja sogar beinahe niedlich.“
 

Ich bin nicht niedlich.
 

„Woher willst du wissen, dass ich gerade nicht ‚finster‘ gucke?“
 

„Ich habe zufällig gute Augen und kann ganz genau sehen, wie du guckst. – Ja, den Finger hab ich auch gesehen.“
 

Sam lacht jetzt selbst. Irgendwie hat Gabe es tatsächlich geschafft, die Stimmung zu lockern. Richtig zu lockern. Sam beginnt beinahe, sich in seiner Gegenwart und im eigenen Bett wieder wohl zu fühlen.
 

„Das ist ein bisschen unfair, ich kann dich nämlich gerade überhaupt nicht sehen.“
 

Vielleicht liegt es an der Dunkelheit oder daran, dass Sam kaum noch die Augen offen halten kann, aber er hat das Gefühl, dass sich etwas im Raum verändert.
 

„Du kannst mich auch im Hellen nicht sehen, Samoose“, erwidert Gabriel sanft.
 

Zunächst bemerkt Sam es kaum; vielleicht, weil es das erste Mal seit langem ist, dass sich das Unbegreifliche nicht bedrohlich für ihn anfühlt. Auch sind es diesmal keine Stimmen oder Bilder. Es ist vielmehr wie ein tiefer, voller, überirdischer Ton, der im Raum schwebt, vollkommen gegensätzlich und unwirklich, hauchzart und doch markerschütternd in seiner Präsenz.
 

„Hörst du das?“, gelingt es ihm zu fragen und bekommt kaum mit, wie andächtig er sich dabei anhören muss.
 

Gabriel antwortet nicht sofort, was Sam Zeit gibt, dem unbekannten Klang zu lauschen. Doch je mehr er sich auf ihn konzentrieren will, desto weniger kann er ihn fassen. Ein wenig ist es, als würde er einem Lichtspiel im Wind nachjagen, Sonne durch tanzenden Blättern. Sam fühlt sich plötzlich nicht mehr wie ein Fremdkörper in sich selbst. Der Ton erinnert an ein entferntes, leises Summen, sein eigener Puls wie der passende Takt dazu, so dass es beinahe wie ein Schlaflied klingt. Seine Ohren haben endlich das nervenaufreibende Piepen eingestellt. Die Müdigkeit ist nun willkommen, umgibt ihn wie eine zusätzliche schwere, warme Decke.

Es dauert eine Weile, bis ihm klar wird, dass der überirdische Ton unmittelbar von Gabe stammen muss. Es ist ein bisschen, als würde Sam sehend und bei Tageslicht nicht sämtliche Facetten in der Stimme des Erzengels ausmachen können; in der einen menschlichen, sprechenden Stimme, hinter der das Echo von etwas Mächtigerem verborgen liegt, das Sam durchdringt, als inhaliere er dessen Klang mit jeder Faser.
 

Ist das … seine wahre Stimme?
 

Der Klang unterstreicht, worauf Gabriel eben angespielt hat: Das Bild, was Sam von ihm hat, ist nur eine Illusion und sie überlagert die Wirklichkeit; wie Gabriel wirklich aussieht, wird er wahrscheinlich niemals erfahren. Sam findet keine Erklärung dafür, warum seine Trommelfelle nicht platzen, ihm nicht das Hirn wegschmilzt, aber als er danach fragen will, greift Gabriel seinen Gedanken von selbst auf:
 

Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Das weißt du doch. Gilt, im Übrigen, auch für alle anderen Sinne.“
 

In Sams müdem Verstand beginnt es träge zu arbeiten. Ein seltsamer Zusammenhang für dieses Zitat, denn natürlich hat er de Saint-Exupéry erkannt. Und was für eine merkwürdig sanfte, gefühlsbetonte Anspielung für den sonst so scharfzüngigen Gabriel, insbesondere, wenn er damit auf sich selbst Bezug nehmen will! Allerdings könnte der Erzengel auch noch auf etwas anderes angespielt haben und vielleicht sollte Sam das zu denken geben. Schließlich war auch die Ursache für Sams Qualen bisher für jeden anderen unsichtbar. Und da ist noch mehr ... Wurde er selbst nicht einmal vor vielen Jahren von einem Dämon als ‚Höllenprinz‘ bezeichnet? Ein makaberer Scherz, die Vorlage des kleinen Prinzen zur Erinnerung an diese Zeit heranzuziehen und offenbar immer noch nicht geschmacklos genug für Gabriel.
 

Soll das hier so eine Art Trickster-Lehre sein?
 

„Wenn du damit auf den ‚Kindskönig‘ hinaus willst oder auf Lucif-“
 

„Ich will auf gar nichts hinaus, Sam. Außer auf Der kleine Prinz. Also lass dir ein paar Weisheiten von einem alten Fuchs flüstern und mach‘ endlich die Augen zu und schlaf! Ich verspreche dir, dass du heute keine Alpträume haben wirst.“
 

„Ich- !“
 

„Augen zu, Sammich!“
 

„Der kleine Prinz zähmt den Fuchs aber“, murmelt Sam in einer Art dösigem Trotz und hat tatsächlich die Augen geschlossen. Er kann nicht sagen, wer oder was daran schuld ist – die eigene Erschöpfung oder Gabriel. Jetzt, wo er sich nicht mehr so stark auf das Summen im Hintergrund konzentriert, scheint dessen geheimnisvolle Wirkung wieder deutlich stärker.
 

„Der kleine Prinz besitzt eine Weisheit, die der Fuchs nicht kennt. Egal, wie gerissen er ist. Deshalb kann er ihn zähmen. Das macht den Fuchs nicht weniger gerissen, höchstens … leichtsinnig.“
 

„Die Geschichte geht schlecht aus“, bringt Sam hervor und merkt, wie er immer mehr in Schlaf hinüber gleitet. Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen. Ein Geräusch, das vielleicht gar nicht wirklich da ist, sollte nicht solch eine Wirkung auf ihn haben dürfen! Bis eben war er noch so aufgewühlt … Doch er kann auch nicht locker lassen.

„Der kleine Prinz vermisst seine Rose. Er stirbt“, lässt ihn der Pessimist in sich sagen.
 

Gabriel seufzt leise und Sam ist sich nicht sicher, ob es traurig klingt. Das hintergründige Summen hält für einen winzigen Moment inne.
 

„Die Rose war nie gut für ihn. Er hätte ihr nicht nachgeben dürfen. Der kleine Prinz hätte beim Fuchs bleiben sollen.“
 

Diesmal braucht Sam länger, um zu antworten und als er es tut, ist er nicht sicher, ob die eigenen Worte nicht bereits zu seinem Traum gehören.
 

„Dann mach, dass ich davon träume. Vom Fuchs und dem Prinzen … “, bittet er und kommt sich vor wie ein kleines Kind. Aber Traum und Wirklichkeit gehen bereits so sehr ineinander über, dass es in Ordnung ist. Die Gegenwart des Schlafes verhindert jede Scham.
 

Gabriel zögert einen Moment. Oder vielleicht ist er auch gar nicht mehr da. Vielleicht hat Sam sich nur eingebildet, dass der Erzengel in der Nacht zu ihm ans Bett gekommen ist.

Was in seinem Leben ist überhaupt noch Realität?
 

Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
 

Wie Ihr befiehlt, Eure Hoheit“, sagt eine weiche Stimme plötzlich ganz nah an seinem Ohr. Sie klingt vertraut und er hat keine Angst vor ihr, obwohl etwas in ihr mitschwingt, das nicht von dieser Welt stammt. Durchdringend, gewaltig und erschütternd wie ein Glockenschlag, aber für ihn, Sam, gedämpft, nicht gänzlich unterdrückt, aber doch auf eine Art rücksichtsvoll. Ein Löwe, der wie eine Hauskatze zu schnurren beginnt. Sam weiß, dass die Stimme weh tun kann, aber dass sie ihm nicht böse gesonnen ist. Im Moment bringt sie ihm tiefen Frieden.
 

„Gib der Rose nicht nach. Nicht einmal im Traum.“
 

Er spürt eine leichte Berührung an seiner Stirn, die mit einem Mal nicht mehr schmerzt. Und vielleicht bleiben die Fingerspitzen einen Moment länger dort liegen, auch als die Beule über seiner Braue längst verschwunden ist.
 

Die Stimme summt weiter leise vor sich hin; ein melodieloses, unbekanntes Schlaflied und sein eigener Herzschlag wie ein außergewöhnliches Metronom dazu. Es ist das letzte, was Sam hört, bevor er endgültig einschläft.
 

Und er träumt davon, wie der kleine Prinz den Fuchs zähmt. Er träumt, wie sie sich jeden Tag zwischen den Hügeln treffen und allmählich Freunde werden. Und ihre Geschichte geht weiter. Die Sterne und Planeten blinken in den Nächten auf sie herab, aber das ungleiche Paar hat nur Augen füreinander. Die Augen des Fuchses leuchten hell in der Dunkelheit, unheimlich, unweltlich, aber der kleine Prinz fürchtet ihn nicht.

„Du weißt, es ist die Schlange, die mich töten wird“, sagt der kleine Prinz zu seinem neuen Gefährten und Sam spürt, wie er sich im unergründlichen Blick des Fuchses verliert.

„Aber es ist die Rose, die dich dazu verleitet“, flüstert der Fuchs dem kleinen Prinzen ins Ohr.

„Lass dich nie von einer Rose verführen.“

Und der kleine Prinz verspricht es. Sam spürt, wie die beiden ungleichen Geschöpfe einander ihre Herzen öffnen und er weiß, dass es gut ist.
 

Es ist ein solch kindlicher Traum, so naiv, dass er sich für ihn beim Aufwachen schämen wird.

Insbesondere, weil er Gabriel um diesen Traum gebeten hat. Aber er ist heilsam. Den ganzen Traum über begleitet ihn der glockenartige, überirdische Ton, der ihm Trost spendet und ihm eine nie gekannte, lang ersehnte Sicherheit verspricht.

Natürliche Ordnung

Als er am nächsten Morgen erwacht, muss Sam nicht erst nachsehen, um zu wissen, dass er allein ist. Der eigentümliche Klang ist aus dem Raum verschwunden und das Gespräch mit Gabriel fühlt sich genauso unwirklich an, wie der kindische Traum, den er gehabt hat.

Er erinnert sich an Farben; an etwas sehr, sehr Weiches, ganz in Rot, aber ob es Stoff oder Fell gewesen ist, kann er nicht sagen. Und er erinnert sich an funkelndes Gold unter einem Himmel voller Sterne, den es nur in seinem Traum gegeben hat.

Nach allen Gesprächen über Teufel und Hirngespinste kommt er sich mit diesem Traum seltsam nackt und verletzlich vor, insbesondere mit dem geäußerten Wunsch danach. Er versucht, nicht zu intensiv darüber nachzugrübeln, dass Gabriels Geschenk ein Traum seiner Wahl war.
 

Es ist noch nicht ganz sieben Uhr; recht spät für einen Jäger oder für Sams Verhältnisse, aber früh genug, um sich nicht schlecht zu fühlen, weil er ‚zu lange‘ geschlafen hätte. Er bleibt noch einen Moment auf der Seite liegen, die Decke übers Ohr und bis zur Nasenspitze gezogen, und sieht dabei zu, wie das Display seines Handys neben ihm wieder erlischt, mit dessen Uhr er sich orientiert hat. Einer der Nachteile, wenn man ein Schlafzimmer unter der Erde besitzt: Es gibt keine Fenster, keinerlei Anhaltspunkte für die Tageszeit. Über die Jahre hat er sich daran gewöhnt. Der Bunker ist nicht, was Sam sich unter einem perfekten Heim vorstellt – aber ein Zuhause ist er inzwischen doch geworden.

Sam wäre nicht Sam, wenn er genießen könnte, dass er ausnahmsweise einmal von selbst aufwacht, und zwar, weil er ausgeruht und erholt ist, und nicht, weil der Wecker, Dean, ein Fall oder Alpträume ihn aus dem Schlaf reißen. Nach einigem Hin- und Herrechnen kommt er zu dem Schluss, dass er, trotz Gabriels Besuch, mindestens fünf Stunden Schlaf am Stück gehabt haben muss.
 

Wann hab‘ ich das letzte Mal so viel geschlafen?
 

Er kann sich nicht erinnern. Viel ist hierbei natürlich relativ zu sehen, aber es geht ihm gut; so gut, dass Sam eigentlich misstrauisch werden sollte. Misstrauisch, was genau Gabriel eigentlich alles geheilt hat, bevor er ihn letzte Nacht ins Land der Träume geschickt hat.

Cas hat Sam einmal erklärt, dass man psychische Erkrankungen nicht mit ‚Mojo‘ heilen kann. Die biochemischen Prozesse im menschlichen Körper sind dafür zu komplex und in den meisten Fällen müsste man den gesamten Hormonhaushalt so massiv umkrempeln und Strukturen auf neuronaler Ebene verändern, dass das Risiko für Wahnsinn oder, schlimmstenfalls, sogar für ein völliges Systemversagen zu hoch ist.
 

Die menschliche Psyche muss sich selbst heilen“, hat Cas gesagt.

Von Jess, die damals Psychologie studiert hatte, hat er genug aufgeschnappt, um nachvollziehen zu können, wovon Cas spricht. Und um sich zusammenzureimen, dass seine Halluzinationen, sollten es denn welche sein, vielmehr Dissoziationen sind.
 

Realitätsverlust infolge einer erheblichen posttraumatischen Belastungsstörung.
 

Er braucht nicht lange zu überlegen, welche Ereignisse wohl genug von der Unversehrtheit seiner Psyche gezehrt haben, um aus ihm ein derartiges Wrack zu machen. Wenn man es genau nimmt, ist es ein Wunder, dass er nicht schon lange vor seiner Zeit in Lucifers Käfig einen nachhaltigen Schaden davongetragen hat.
 

Vielleicht hab ich das sogar. Vielleicht haben wir das beide, Dean und ich, bevor wir überhaupt in der Hölle waren, und sind bisher bloß einfach immer damit klar gekommen …
 

Die Art und Weise, wie sein Bruder und er aufgewachsen sind, kann unmöglich die ideale Voraussetzung für ein durchschnittliches, gesundes Nervenkostüm sein. Allein das unangenehme dumpfe Gefühl in der Herzgegend, weil das Bild von Jess unerwartet vor seinem geistigen Auge erscheint, ist ein gutes Beispiel für die entbehrungsreichsten Erfahrungen seines Lebens. An manchen Tagen denkt er gern an Jess, ist sich inzwischen aber darüber im Klaren, dass der Mensch, der er heute ist, gar nicht mehr zu der Jess passen würde, die er damals geliebt hat. Doch der Gedanke ist ein schwacher Trost, bringt seine große Liebe, die Frau, die er einmal zu heiraten gehofft hat, auch nicht zurück ins Leben – da kann er sich noch so sehr vormachen, dass er sich heute sowieso zu ihrer beider Wohl von ihr fernhalten würde, wäre sie noch da. Das Grübeln darüber bringt ihn nicht weiter, macht womöglich alles nur noch schlimmer. Er spürt, dass es besser ist, diese Gedanken ruhen zu lassen. Schließlich ist gerade einmal, ausnahmsweise, alles gut.
 

Let it be, let it be, let it be.
 

Oder, um es statt mit den Beatles mit den Worten des großen Dean Winchester zu sagen:
 

„Sei wie Elsa und ‚lass‘ los‘!“
 

Er seufzt und landet wieder bei seinen Überlegungen zu den Dissoziationen. Der gestrige Tag wirkt so fern und surreal – mit all seinem Schrecken, genau wie mit den unerwartet deutlich angenehmeren Ereignissen der vergangenen Nacht.

Sam weiß, dass Gabriel nichts in seinem Hirn geheilt haben kann, was dafür verantwortlich wäre, dass er dissoziiert. Aber irgendetwas, abgesehen von dem vermeintlichen Kater und der Beule an seiner Stirn, muss er geheilt haben, da er sich jetzt so erholt fühlt. Sam entgeht nicht die Tragik daran, dass er hinterfragen muss, warum es ihm nicht schlecht geht oder daran, dass er seinen Zustand sogar als ‚zu gut‘ bewertet.
 

Okay, kein Wunder – strategische Überlegungen, wie sie Lucifer davon abhalten können, die Welt ins Chaos zu stürzen, sollte einem bisweilen schon etwas auf die Stimmung drücken. Und sicher ist es nicht allzu tröstlich, herauszufinden, dass Lucifer nebenbei noch Sams Geist zum persönlichen Abenteuerspielplatz umfunktioniert. Aber bisher sieht Sam keinen Ausweg aus dieser Misere und vielleicht lässt einen das einfach von einer pessimistischeren Grundhaltung ausgehen? Sam kann sie nicht in sich finden, selbst, als er es wagt, ein wenig tiefer in seinen Empfindungen zu stochern. Abgesehen von dem kurzen Schmerz bei der Erinnerung an Jessica neben ihm auf dem Sofa, wie sie gemeinsam über ihren Büchern für die Uni brüten, geht es ihm … ja. Es geht ihm gut.
 

Immer noch. Trotz allem.
 

Gabriel glaubt ihm und Cas und Dean wollen ihm zumindest helfen – das sind immerhin schon drei Verbündete mehr gegen Sams Wahnsinn.
 

Er entschließt sich dazu, aufzustehen und den Tag mit einer Laufrunde zu beginnen. Es ist Ewigkeiten her, dass er genug Schlaf bekommen hat, um auch überhaupt nur daran zu denken, in den Morgenstunden in seine Sportschuhe zu schlüpfen. Die Gelegenheit darf er sich nicht nehmen lassen. Es wird garantiert dabei helfen, den Kopf richtig frei zu kriegen und Bewegung tut ihm fast immer gut.

Nach einem schnellen Abstecher ins Badezimmer verlässt er in seinen Laufsachen den Bunker, ohne jemandem auf dem Weg nach draußen zu begegnen. Er nimmt den Ausgang durch die Garage und sieht, dass der Impala zwischen Cas‘ Pickup Truck und seinem goldenen Continental steht. Was bedeutet, dass Mom und der Engel wieder von der Geisterjagd zurück sein müssen. Ein wenig unbehaglich denkt er an das Versprechen, das er Dean gestern Abend gegeben hat; sobald Sam wieder im Bunker ist, wird er mit Cas reden müssen.

Während Sam sich vor der Garage aufwärmt, überlegt er, dass er Cas‘ Einstellung zu der Küchenszene irgendwo zwischen Gabe und Dean vermutet: Ein bisschen weniger Zweifel an Sams Zurechnungsfähigkeit als Dean, aber etwas mehr Abstand zu der Theorie, dass Lucifer tatsächlich im Bunker herumspuken könnte, als Gabe. Er atmet tief in die Dehnung hinein und freut sich einmal mehr darüber, dass sämtlicher Schmerz der vergangenen Nacht spurlos verschwunden ist. Ja, so kann er funktionieren – so kann er dem neuen Tag problemlos gegenübertreten.
 

Der Lauf tut gut. Es ist fast, als würden sich seine Lungen mit jedem Atemzug ein bisschen mehr entknittern und er spürt, dass sich seine Körperhaltung mit jedem Schritt mehr aufrichtet. Er erreicht das kleine Mischwäldchen, in dem er jetzt, im Spätsommer, am liebsten läuft, nach einer halben Meile auf der Landstraße, die direkt am Bunker vorbeiführt. Der Waldboden fühlt sich hohl und weich an unter seinen Sohlen, dämpft seine federnden Schritte mit Moos, Laub und Nadeln. Allein der holzige, leicht modrige Duft hier beruhigt ihn. Es ist still und laut zugleich; herrlich ruhig in seinem Kopf, während Sam den Stimmen des Waldes lauscht. Lautes Gezeter zweier Vögel im Geäst über ihm, heisere Schreie andersartiger Stimmen, und plötzlich ein Knacken zu seiner Linken. Aus den Augenwinkeln sieht er gerade noch einen jungen Rehbock ins Unterholz flüchten und als der kleine Trampelpfad eine Biegung macht, wäre er beinahe mit einem Kaninchen zusammengestoßen, das seinen Weg kreuzt. Er schafft es, das Gleichgewicht zu halten, in dem er scharf abbremst und sich am nächstbesten Baumstamm festkrallt. Außer Atem sieht Sam dem Kaninchen nach, wie es einen Haken schlägt und mit wenigen Sätzen tiefer im Wald verschwindet.
 

Der unerwartete Adrenalinstoß lässt ihn auflachen. Es ist so befreiend, als würden die Anspannung und der Druck der vergangenen drei Tage einfach überlaufen, bist das Lachen aus ihm heraus sprudelt, wie Brause in einem zu vollen Wasserglas. Sam braucht einen Moment, bis er sich wieder gefangen hat.

Keuchend wischt er sich den Schweiß von der Stirn und sieht auf die Uhr an seinem Handgelenk. Er ist seit knapp einer halben Stunde unterwegs und beschließt, dass es am besten ist, sich nun auf den Heimweg zu machen. Er reibt die von der Rinde feucht-grünen Handflächen an seinen Shorts ab und schüttelt sich wie ein nasser Hund, um seine Gliedmaßen zu lockern, bevor er den Weg zurück einschlägt. Seine Atmung normalisiert sich allmählich wieder, und er will sich gerade zurück in den gleichmäßigen Laufschritt fallen lassen. Bis Sam auffällt, wie still es um ihn herum geworden ist. Kein Mucks ist mehr zu hören, kein Knacken, Zwitschern, Rascheln oder Zetern – der Wald um ihn herum ist mit einem Mal wie ausgestorben. Ihm fröstelt und eine Gänsehaut kriecht ihm über den ganzen Körper.
 

Ich sollte nicht hier sein!
 

Der Gedanke ist da, bevor er greifen kann, was genau ihn oder dieses Gefühl auslöst, diesen Impuls, auf der Stelle ins Unterholz zu fliehen, wie das Reh und das Kaninchen von vorhin.
 

Der Morgen hat so gut angefangen …
 

Ja, Sam war sich vollkommen im Klaren darüber, dass sein Zustand nicht über Nacht verschwunden sein kann, dass ein erholtes, angenehmes Erwachen nicht bedeutet, dass er geheilt ist. Dass Lucifers Einfluss auf ihn sich nicht in Luft auflöst, nur weil ein anderer Erzengel ihm alberne Träume aus einem Kinderbuch beschert. Leichtsinnigerweise wäre er nur nicht davon ausgegangen, sich so bald wieder persönlich mit den eigenen Dämonen auseinandersetzen zu müssen …
 

Umkehren, umkehren – lauf. Schnell!
 

Sam rennt schon, bevor er spürt, dass er sich in Bewegung gesetzt hat; seine Beine fliegen mechanisch unter seinem Körper über den unebenen Waldboden. Er fühlt, wie er mit jedem Schritt kleine Zweige und Blätter aufwirbelt, die ihm gegen die Innenseiten seiner bloßen Waden peitschen, spürt, dass seine Lungen das ruhige, kontrollierte Atmen von ganz allein übernehmen, während er sich in seinem Kopf wie von oben beim Rennen zusieht. Er kann nicht sagen, ob er in die Richtung zurückrast, aus der er gekommen ist, kann nicht anhalten, nicht das Tempo drosseln, ist sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt verfolgt wird. Oder ob Lucifer in der Nähe ist.
 

Er weiß nicht, wie lange er bereits rennt, als er in einiger Entfernung etwas vor sich auf dem Weg schimmern sieht. Fünfhundert, vielleicht sechshundert Fuß voraus, von der Größe einer großen Katze, ein gekrümmter dunkler Schatten – und Sam jagt direkt darauf zu.
 

Die Alarmglocken in seinem Kopf, der einzige Teil seines Körpers, der in diesem Moment noch ihm zu gehören scheint, sind erstaunlich leise. Ihr schwacher Weckruf reicht nicht aus, um seine Muskeln zu erreichen, die ihn weiter und weiter vorwärts preschen lassen, während sich der Abstand zwischen ihm und dem seltsamen Ding immer mehr verringert.
 

Vierhundert Fuß.
 

Der Schatten scheint auf dem Blätterweg zu zucken, bevor er endgültig in sich zusammensackt.
 

Dreihundert Fuß.
 

Obwohl das dunkle Etwas sich kein Stück mehr bewegt, reflektiert es das Sonnenlicht, das trübe durch das lichte Blätterdach des Waldes fällt: Kohlschwarz, Mitternachtsblau, Smaragdgrün, Schneeweiß und ein Hauch Silber zittern auf dem Weg, dort, wo die tanzenden Sonnenstrahlen auf das Bündel treffen.
 

Zweihundert Fuß.
 

Sam ergibt sich seinem Schicksal, versucht nicht länger, seinen Körper vom Laufen abzuhalten und lässt es geschehen; sieht weiter dabei zu, wie sich der Abstand zwischen ihm und dem schillernden Etwas rasend schnell verringert. Seit wann hat er eigentlich so viel Puste? Das Tempo, mit dem er rennt, erscheint ihm unmenschlich und ja, seine Kondition ist hervorragend, aber diese nahezu außerkörperliche Erfahrung, die er gerade erlebt, findet er, selbst in diesem abwesenden Zustand, besorgniserregend.
 

Die letzten hundert Fuß beginnt Sam sich zu fragen, ob das Etwas vor ihm vielleicht an allem Schuld ist, weil es ihn anzieht. Vielleicht ist es nicht Lucifer hinter ihm, der ihn zur Flucht antreibt, vielleicht ist es ein unbekanntes Sehnen nach dem Ding da vorn, das ihn vorwärts jagen lässt?
 

Hundertfünfzig.
 

Er kann erst sagen, was es ist, als er direkt davor eine Vollbremsung hinlegt. Milde beeindruckt sieht er sich selbst zu, wie er dabei nicht einmal ins Straucheln gerät; nur auf der Stelle tänzelt er kurz, wie ein junges Pferd mit Anlaufschwierigkeiten.
 

Das katzengroße, dunkel schillernde Bündel ist ein Vogel. Der Leichnam eines Greifvogels, um genau zu sein, aber von einer Art, die Sam noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hat. Seine Kenntnisse in Natur- und Vogelkunde liegen halbwegs über dem Durchschnitt; als Jäger von nicht nur übernatürlichen Dingen hat Bobby ihm in seiner Kindheit eine Menge beizubringen gewusst und heimische Vögel kann Sam im Normalfall problemlos zuordnen. Mit diesem Exemplar erscheint ihm das jedoch nahezu unmöglich. Die breite Brust, der gedrungene Kopf und die ausdrucksstarken Gesichtszüge erinnern entfernt an einen Bussard, bloß dass das Gefieder in seinem Wechselspiel aus Weiß und Dunkel starke Ähnlichkeit mit dem einer Elster hat.

Die Augen des Vogels sind geschlossen, die Flügel in einem seltsam unnatürlichen Winkel dicht an den Körper gelegt, als wären sie gebrochen und mit Gewalt und nicht vom Vogel selbst wieder gefaltet worden. Etwas Feuchtes und Dunkles trocknet allmählich am halb geöffneten, gebogenen schwarzen Schnabel des toten Tieres.
 

„Du hast vielleicht ein Problem mit blutigen Futterluken, Sammy,“ hört er die Stimme seines Bruders in seltsam analytischem Tonfall in seinem Kopf und beinahe hätte er zu dem Gedanken genickt.
 

Das Bild des toten Vogels ist schrecklich und atemberaubend schön zugleich; das Federkleid ist prächtiger, als er es je an irgendeinem Vogel gesehen hat, trotz der entstellten Flügel. Das Tier wirkt außerordentlich exotisch.

Sam beginnt sich zu fragen, was wohl für sein Ende gesorgt haben mag. Seine Atmung und sein Puls sind viel zu ruhig und irgendwo, weit am Rande seines Bewusstseins, ist er sich darüber im Klaren. Ein Greifvogel diesen Kalibers fällt nicht einfach so tot vom Himmel und was ihm auch immer die Flügel gebrochen hat, muss mindestens Hände gehabt haben, um sie dem Tier wieder so geschickt an den Körper gelegt zu haben. Sam kann sich zumindest nicht vorstellen, dass es sie im Sterben selbst noch großartig bewegt haben kann.

Auch die Art der Verletzungen sieht verräterisch wie von Menschenhand aus, allerdings weigert sein Verstand sich zu glauben, dass ein Mensch in der Lage gewesen wäre, Hand an dieses Tier zu legen. Selbst in seinem elendigen Ende wirkt es noch erhaben, nahezu unantastbar.
 

Während er noch weiter darüber nachdenkt, überkommt ihn plötzlich der eigentümliche Drang, sich nach der Leiche zu bücken und ihr eine Feder auszureißen. Eine der längsten Flugfedern, die mit den silbrigen Spitzen. Der Gedanke fühlt sich falsch und verboten an, aber der seltsame Wunsch ist groß, nahezu übermächtig. Als würde all seine Ehrfurcht von einer Art unbekannten Gier überschattet werden, die er sich nicht erklären kann, von einem Hunger nach Erkenntnis, danach, die Federn zwischen seinen Fingern hindurch gleiten zu spüren und sie sich zu eigen zu machen. Es ist dieser innere Zwiespalt, der ihn so sehr erschreckt, dass er Sam endlich aus seiner Trance reißt.
 

Ist das hier echt? Wo bin ich? Was ist das für ein Vogel?
 

Auch sein Kreislauf scheint wieder im Hier und Jetzt angekommen zu sein, denn das Herz schlägt ihm nun bis zum Hals, als er sich umsieht und halb damit rechnet, Lucifer spöttisch lächelnd an den nächstbesten Baum gelehnt zu sehen. Es würde so gut zu Lucifer passen; eigentlich zu allem, was er in den letzten Augenblicken erlebt hat, von denen er immer noch nicht sagen kann, wie viele Minuten sie füllen.
 

Vielleicht Stunden.
 

Nervös sieht er sich um. Sam ist allein. So gut Lucifer auch in dieses irre Szenario passen würde – von ihm ist weit und breit keine Spur zu sehen.
 

Vielleicht ist der Vogel gar nicht hier, vielleicht bilde ich mir ihn nur ein?
 

Er hat sich schon seltsamere Dinge eingebildet – oder durch die Hand des Teufels sehen müssen. Warum nicht auch ein exotisches, grauenhaft verendetes Tier, das es eigentlich gar nicht geben dürfte?
 

Ein Geräusch über ihm lässt ihn zusammenfahren und er zieht den Kopf ein.

Am liebsten würde er gar nicht nachsehen, was dort im Baumwipfel lauert, hält es sogar fast für unvernünftig. Schließlich wurde es auch in der Küche erst so richtig schlimm, als er ein zweites Mal auf seinen Teller geschaut hat. Aber Sam tut es doch, er kann nicht anders; vielleicht ist es Neugier, vielleicht sein Jägerinstinkt.
 

Wenn du dich wehren willst, musst du wissen, wogegen!
 

Sein Blick folgt dem knorrigen Stamm eines verwachsenen alten Laubbaumes, in den wohl vor Jahren einmal der Blitz eingeschlagen haben muss, denn der Stamm ist abgebrochen und der verbliebene meterhohe Stumpf geschwärzt und in der Mitte gespalten. An der Stelle, wo die beiden Hälften des Stammes am weitesten auseinander klaffen, dass sie beinahe aussehen, wie tragende Äste, die in verschiedene Himmelsrichtungen auseinander wachsen, sitzen zwei weitere Vögel.

Beide haben sie große Ähnlichkeit mit dem toten Tier zu Sams Füßen – und doch wieder nicht. Sam kann nur starren, wie in einer Art andächtigem Schock versunken.
 

Es scheinen ebenfalls beides Raubvögel zu sein, doch ähnelt ihre Statur weniger einem Bussard und außerdem sind sie beide deutlich größer.

Der kleinere der beiden erinnert Sam mit dem flachen Kopf und den gefächerten Federn im Nacken stark an einen Milan, auch wenn die Färbung des Vogels eher dem nordamerikanischen Gimpel gleicht: Gesicht und Brust des Tieres leuchten in feurigem Purpur, während die Flügel und seine gegabelten Schwanzfedern einen satten, warmen Braunton tragen, der an den hellsten Stellen wie pures Gold schimmert.

Der Anblick des Vogels wäre wunderschön – wenn ihm nicht die vordere Hälfte seines goldenen Schnabels fehlen würde.
 

Mit Entsetzen sieht Sam, dass das Tier lebt; das rasselnde, erstickte Krächzen, das ihn hat aufsehen lassen, stammte zweifelsohne von ihm. Der Schnabel, der wohl einmal scharf und gebogen war, wirkt oben und unten wie in der Mitte abgebrochen, nur noch eine Öffnung im Gesicht, so dass man die blutverkrustete Zunge im Schlund des Tieres erkennen kann.

Der hübsche Kopf des majestätischen Vogels hängt kraftlos zur Seite. Sam sieht sofort, dass nicht mehr viel Leben in ihm ist, obwohl er ihn seltsamerweise direkt anzuschauen scheint. Es fällt schwer, den unmenschlichen Blick zu deuten, vor allem, weil der zweite, noch größere Vogel in diesem Moment seine mächtigen Schwingen ausbreitet, so als wolle er Sams Aufmerksamkeit endlich auf sich lenken.
 

Das Tier, als einziges von allen dreien unverletzt, und selbst ohne seine ausgebreiteten Flügel fast so groß wie eine ausgewachsene Ziege, besitzt die harten Gesichtszüge eines Habichts, stechende, scharf fokussierende Augen und ein glattes, eng anliegendes Federkleid, dessen Farbgebung Sam unbewusst mit der eines Phönix‘ verbindet: Feuerrot, Zitronengelb, Sattgold, Zartrosa, Wolkenweiß, Königsblau, Blutorange – das Gefieder erinnert an einen brennenden Horizont bei Sonnenaufgang.
 

So atemberaubend die beiden kleineren Vögel, ob nun sterbend oder bereits verendet, auch sein mögen; das Tier, das aufmerksamkeitheischend mit den Flügeln schlägt, ist mit Abstand das schönste von allen. Der Blick aus den eisblauen Augen scheint sich bis in Sams Seele zu bohren, gleichsam scharf und unnachgiebig wie die Klauen seines rechten Beines, die es, bis eben unbemerkt von Sam, tief in den Nacken des Rot-Braunen mit den goldenen Sprenkeln geschlagen hat.

Der Rot-Braune zuckt – und stirbt, ohne den Blick auch nur ein einziges Mal von Sam abzuwenden. Der Laut aus der Kehle des Phönix-Habichts klingt wie Triumphgeschrei.
 

Das majestätische Tier hat den Schnabel auch nach dem Ruf noch leicht geöffnet und obwohl das überhaupt keinen Sinn ergibt, glaubt Sam, in seinen starren Vogelaugen einen Ausdruck des Spottes zu entdecken. Es sieht fast so aus, als würde der Vogel jeden Augenblick zum Sprechen ansetzen, um das dumme Menschlein vor sich zu verhöhnen. Tatsächlich kommt Sam sich in diesem Moment ausgesprochen winzig vor; der Vogel hat eine Flügelspannweite von fast 16 Fuß.
 

Es dürfte dich überhaupt nicht geben!, denkt er wieder.
 

Was bist du?
 

Mit einem Übelkeit erregenden Geräusch löst der ‚Phönix‘ die Klauen aus dem Nacken des frisch Verstorbenen, breitet im selben Moment die Flügel aus, stößt sich von der Leiche ab und erhebt sich in die Luft. Sam kann nicht dabei zusehen, wie der leblose Körper des Rot-Braunen durch den Schwung des Phönix‘ der Schwerkraft zum Opfer fällt, aber er hört den dumpfen Aufprall, als er neben dem schwarzweißen Bussard aufschlägt. Er kann den Blick nicht von dem himmelsfarbenen Vogel wenden, dem es gelingt, mit ruhigen, kraftvollen Flügelschlägen in der Luft vor ihm zu stehen. Die mächtigen Schwingen wirbeln mit jedem Schlag so viel Wind auf, dass Sam Schwierigkeiten hat, auf den Füßen zu bleiben. Einige Flügelschläge lang tut der Vogel nichts, als ihn mit demselben, spöttischen Ausdruck zu mustern. Sam tut das einzig Vernünftige, was ihm in den Sinn kommt, das, was er schon Minuten zuvor hätte tun sollen: Er nimmt die Beine in die Hand und läuft um sein Leben.
 

Er nimmt nicht die Richtung, aus der er gekommen ist, sondern folgt dem Weg auf seiner Flucht weiter, kann im Laufen nicht sagen, ob ihm der Wald hier vertraut vorkommt. Wenigstens ist seine Flucht diesmal zielgerichtet, wenigstens rennt er diesmal nicht nur vor einem unheimlichen Gefühl davon. Das war es schließlich, was ihn überhaupt erst in die Richtung der Vögel getrieben hat …
 

Er hört ein überaus reales Rauschen hinter sich, spürt einen kraftvollen Luftzug, der seinen Rücken mit voller Wucht trifft und ihn beinahe zum Straucheln bringt. Mehr instinktiv als alles andere verlässt er den Trampelpfad und schlägt Haken, wie das Kaninchen von vorhin, bis er Slalom zwischen den Bäumen hindurch läuft. Eigentlich sollte der Vogel ihm dort nicht folgen können; die Bäume stehen viel zu dicht. Trotzdem wagt Sam es nicht, sich umzusehen oder langsamer zu laufen.

Er rennt, bis er nur noch japsen kann, der eigene Puls donnert wie ein Presslufthammer bis in seinen Kopf hinein und er fühlt sich mit jedem Luftholen, als würde es ihm die Brust zerreißen. Die Muskeln in seinen Waden protestieren, weil nicht mehr genug Sauerstoff ankommt, weil er an diesem Tag zu viel von ihnen verlangt hat. Wie weit ist er heute eigentlich schon gerannt? Und wie lange?
 

Der Wald lichtet sich allmählich und Sam spürt nun eine Brise von vorn, anstatt des Flugwindes von hinten. Er muss den Riesenhabicht abgehängt haben! Zumindest wagt er zu hoffen, als er die letzten paar Baumreihen passiert, und –
 

„AH!“, entwischt es ihm mit dem letzten Bisschen Atem, als ein schneidender Schmerz seinen Unterarm durchzuckt.
 

Er bleibt nicht stehen, rennt weiter, bemerkt aber aus den Augenwinkeln die Bewegung des scharfkantigen Schnabels, der nach ihm geschnappt hat; offenbar ist der Vogel vertikal zwischen den Bäumen hindurch gesegelt, um Sam zu verfolgen.
 

Er passiert die Grenze zwischen Wald und Feldweg und der drohende Schatten, der ihm folgt, bleibt zurück. Verschwindet ganz, je mehr Sam sich vom Wald und dem Grauen darin entfernt.

Sam sieht nicht zurück.
 

Er rennt und rennt und rennt, bis der brennende Schmerz an seinem Unterarm verblasst, bis er wieder das Gefühl hat, sein Kopf und sein Körper gehörten eigentlich gar nicht zusammen, weil das eine ohne das Zutun des anderen funktioniert, was schlussendlich dafür sorgt, dass er sich retten kann. Er merkt erst, dass er instinktiv den richtigen Weg eingeschlagen hat, als er den Bunker vor sich sieht. Der Anblick von Zuhause, wie ein Versprechen von Sicherheit, lässt ihn auf dem letzten Stück noch einmal alles geben.
 

Du kannst nicht mehr, Sam, flüstert sein Verstand ihm gelassen zu, der immer noch nicht zu ihm selbst zu gehören scheint. Doch das tut sein Körper leider auch nicht, zu ihm zu gehören, weshalb er nicht auf die Stimme der Vernunft hören kann, die ihm rät, zumindest endlich langsamer zu werden.
 

Na schön, dann sieh selbst, was du davon hast!
 

Die Stimme klingt amüsiert, aber nicht hämisch. Er hört ein Geräusch, das ihn entfernt an ein Fingerschnippen erinnert, als er zum Sprung vor die Bunkertür ansetzt. Er hebt ab; viel höher und weiter, als es seine erschöpften Muskeln und die Gesetze der Physik erlauben dürften. Sam wird schwarz vor Augen, bevor er auf dem Boden aufschlägt.

 

 

 

*
 

Benommen und mit klingelnden Ohren kommt Sam zu sich. Als ihm klar wird, dass er direkt ins Licht seiner Nachttischlampe blinzelt, fährt er mit Schrecken hoch und fällt, vollkommen in seine Bettdecke verheddert, aus dem Bett.
 

Er stöhnt schmerzerfüllt vor sich hin; nicht nur der Aufprall war unangenehm, auch seine Glieder tun ihm weh, als sei er soeben direkt aus dem Boxring gestiegen. Oder hätte mindestens einen Marathon hinter sich gebracht. Doch halt, Marathon …
 

Ich bin … gerannt?
 

Er sieht an sich herunter und merkt, dass er seine verschwitzten Laufsachen trägt – sogar die erdigen Schuhe hat er an den seltsam wunden Füßen und an der Vorderseite seiner Shorts prangen moosige Flecken, als habe er sich die Hände daran abgewischt.

Er fasst sich an die Stirn, an der zwar keine Beule mehr pocht, aber hinter der es trotzdem hämmert, wie von den Nachwehen einer besonders fiesen Migräne, die bis in den Nacken hinein zieht.

Die Bewegung des Armes bringt einen weiteren Schmerz in den Vordergrund, den er bis zu diesem Zeitpunkt erfolgreich ignoriert hat: An seinem Unterarm leuchtet ein vertikaler, langer, unregelmäßiger Schnitt, der entfernt an die Verletzung durch eine Klaue erinnert. Perplex betrachtet Sam die Innenseite seines linken Armes, befühlt die verkrusteten Ränder. Der Schnitt sieht frisch aus; an der tiefsten Stelle glänzt es feucht zwischen dem geronnen Blut und etwas Wundwasser tritt hervor, als er die auseinanderklaffende Haut zwischen den Fingern zusammenpresst.
 

Ich hab‘ so ein unverschämtes Glück gehabt!, denkt er, als er sieht, wie knapp die Verletzung die Hauptschlagader verfehlt hat.
 

Und dann prasseln die Erinnerungen auf ihn nieder, Bilder von Vögeln, Schwingen, stechenden Augen voller Spott. Ein Rehbock auf der Flucht, Sonnenstrahlen, die Jagd durch den Wald. Die Farben eines brennenden Himmels, wie eine Drohung auf dem prächtigen Federkleid des gewaltigen Habichts.
 

Es sind nicht die Schmerzen, die seinen Körper von Kopf bis Fuß durchzucken. Es ist die Flut der Bilder, die seine Gedanken einnimmt, sich nicht ausblenden lassen will, bis sie seine Augen zum Überlaufen bringt. Sam weint nicht. Weinen ist schwer und es ist eine Ewigkeit her, seit ihm das zuletzt gelungen ist. Manchmal wünscht er sich diese Fähigkeit zurück; vielleicht wäre es … befreiend. Heilsam. Aber so liegt er einfach nur auf dem Fußboden neben seinem Bett und fühlt ausdruckslos, wie sein Gesicht allmählich immer feuchter wird, weil Nässe unaufhörlich aus seinen Augen rinnt.
 

„Und du dachtest, du wüsstest, wie sich echter Wahnsinn anfühlt“, sagt eine vertraute Stimme neben ihm mitfühlend. Das Klingeln in seinen Ohren wird lauter, als er die Gestalt bemerkt, die sich zu ihm herunterbeugt.
 

Dissoziationen, denkt Sam, Ich will, dass es Dissoziationen sind! Bitte ...
 

„Ich kann dir versprechen, mein Liebling: Das war noch gar nichts.“
 

Sam unternimmt nichts, um Lucifer daran zu hindern, ihm durch die Haare zu fahren. Die Berührung fühlt sich echt an, aber so ist es auch mit der Wunde an seinem Arm. So ist es mit allem. Mit seinen Erlebnissen im Wald. In der Küche.
 

Alles fühlt sich echt an. Aber nichts davon ergibt Sinn.
 

„Das hat es doch noch nie, Sammy. Aber wann fragst du mich eigentlich endlich, was ich von dir will?“
 

Sam liegt auf dem Boden und schweigt.

 

 

 

*
 

Da Sam in dreckiger, verschwitzter Sportkleidung in seinem Bett zu sich gekommen ist, bleibt ihm kaum eine andere Wahl, als es frisch zu beziehen und einen Abstecher zum unterirdischen Wäscheraum zu machen, nachdem er selbst geduscht hat. Sogar seine Laufschuhe steckt er in eine der Industriewaschmaschinen, um auch den letzten Dreck aus dem Wald loszuwerden.
 

Inzwischen ist es fast Mittag und obwohl jeder Schritt eine Qual für seine wundgelaufenen Füße und die überstrapazierten Muskeln ist, zieht ihn der Hunger bald darauf zurück in den Raum, von dem er dachte, ihn eine ganze Weile nicht mehr betreten zu können: Die Küche.
 

Der Grund, warum er an der Türschwelle beinahe wieder Kehrt gemacht hätte, ist allerdings kein Erinnerungsblitz, keine Bilder in seinem Kopf, sondern ein ungutes Gefühl der gänzlich anderen Sorte.

Gabe und Cas sitzen am Küchentisch, während Dean mit vor der Brust verschränkten Armen und sichtlichem Unbehagen gegen den Tresen gelehnt vor ihnen steht. Sam kann die Anspannung, die in der Raumluft knistert, förmlich spüren. Diese drei ergeben zurzeit eine Kombination, die explosiver nicht sein könnte und Sam könnte schwören, dass in der Küche bis vor wenigen Sekunden noch eine hitzige Diskussion stattgefunden hat.
 

Es geht um mich. Sie raufen sich wegen mir zusammen und reden.
 

Sam schluckt. Wenn seine Probleme auch nur ein Gutes haben, eine nette Begleiterscheinung …
 

„Uhm … Hallo!“, sagt er und sieht sie alle drei der Reihe nach an, die ihn ihrerseits abwartend mustern.
 

„Hallo, Sam.“
 

„Heya, Samshine!“
 

Cas‘ Gesicht ist tröstlich neutral, während in Gabes Ausdruck etwas aufflackert, das Sam entfernt an Mitgefühl erinnert.
 

„Selber ‚hallo‘, Dornröschen“, sagt Dean mit gerunzelter Stirn und mustert Sams mehr schlecht als recht verbundenen Unterarm.

„Was ist passiert?“
 

Sam schüttelt bloß den Kopf. Dieses leidige Gespräch kann warten; viel neugieriger ist er, was Cas, Gabe und Dean ihm nach dieser unheilverkündenden Zusammenkunft zu sagen haben.
 

Sein Bruder seufzt, als er merkt, dass er von Sam jetzt keine Antwort auf seine Frage bekommen wird.

Zu seiner Überraschung spürt er nicht nur Deans, sondern auch den scharfen Blick Gabriels auf seinem linken Arm ruhen.

Cas scheint, erschreckend genug, der einzige zu sein, der genug Einfühlungsvermögen besitzt, um Sam endlich darüber aufzuklären, was es mit dieser ungewöhnlichen Runde auf sich hat.
 

„Sam, wir haben eben darüber gesprochen, was zurzeit mit dir passiert. Wir wollen nicht, dass du das Gefühl hast, wir würden dich hintergehen, aber nachdem uns klar wurde, dass wir alle drei mehr oder weniger Bescheid wissen –“
 

Der da hat uns gezwungen!“, unterbricht Dean grob und nickt mit dem Kopf unwirsch in Gabes Richtung.

„Hat drauf bestanden, dass wir uns treffen, nachdem er letzte Nacht mit dir Schäfchen gezä-“
 

„Ganz ruhig, Cowboy“, sagt Gabe gelassen, doch Sam entgeht nicht der unverblümt frostige Unterton, der in seinen Worten mitschwingt.
 

Dean wird daraufhin erst kreidebleich, dann feuerrot und sein Mund klappt stumm auf und zu, wie bei einem hilflosen Fisch an Land. Cas wirft Dean einen langen, unergründlichen Blick zu, den Dean gekonnt ignoriert und der von Gabe mit einem gequälten Grinsen zur Kenntnis genommen wird. Der Erzengel überlässt Cas und Dean ihrem wortlosen Tanz umeinander und sagt unumwunden zu Sam:
 

„Wir haben entschieden, dass du zu Rowena gehst, Kiddo. Es wird Zeit, dass wir herausfinden, mit wessen Wahnsinn wir es hier zu tun haben: Mit deinem oder mit Lucifers.“

Du, ich, er und der andere

„Wir haben entschieden, dass du zu Rowena gehst, Kiddo. Es wird Zeit, dass wir herausfinden, mit wessen Wahnsinn wir es hier zu tun haben: Mit deinem oder mit Lucifers.“
 

„Ach, das habt ihr also entschieden“, wiederholt Sam und klingt nicht halb so forsch, wie er es gern würde. Wie soll eine Hexe etwas herausfinden, woran ein Erzengel scheitert?
 

Selbst, wenn der kaum noch Mojo hat …
 

Er sagt nicht laut, was er denkt, ist viel zu erschlagen und hungrig für noch mehr Konflikte im Raum, die sich zu dem unausgesprochenen gesellen, in dessen Zentrum Dean und Cas einen (Nicht-)Starr-Wettbewerb der besonderen Art austragen. Vielleicht beachtet deshalb niemand seinen halbherzigen Protest.
 

Gabe ist inzwischen aufgestanden, hat den Kühlschrank geöffnet und kramt darin herum, so dass sein Oberkörper beinahe gänzlich darin verschwindet. Er trägt heute ein schlichtes schwarzes Hemd und eine dunkle Jeans und zur Abwechslung ist nichts an seiner Aufmachung überspitzt oder gar anzüglich.

Sam starrt ungeduldig auf seinen Rücken, versucht, das anhaltende Klingeln in seinen Ohren zu ignorieren und sieht ihm von hinten dabei zu, wie Gabe Lebensmittel in seine Arme türmt. Er versperrt ihm auf diese Weise den Zugang zu einer schnellen Mahlzeit und Sam hat wirklich Hunger. Außerdem fällt es ihm schwer, nach diesem Morgen so lange zu stehen und der Punkt ist bald erreicht, an dem er sich einfach nur noch mit etwas zu Essen in die schützende Stille seines Zimmer zurückziehen will.
 

‚Schützende Stille‘, denkt er bissig und schließt für einen Moment erschöpft die Augen.
 

Wenn man es genau nimmt, ist er nirgendwo mehr sicher vor Lucifer, aber dort wäre er wenigstens allein. Oder zumindest so etwas in der Art. Möglicherweise ist es jetzt soweit und Sams ‚soziale Kapazität‘, wie Dean es einmal augenrollend nannte, als Gabriel zu ihnen in den Bunker kam, ist nun doch erschöpft.
 

Ja, er hat versprochen, mit Cas zu reden – der in diesem Moment außerordentlich beschäftigt zu sein scheint – und ja, es tut gut zu wissen, dass ein Großteil der wichtigsten Personen seines Lebens so bemüht um ihn ist. Aber es gefällt ihm nicht, dass sie ‚ihn hintergehen‘, wie Cas es vorhin bezeichnet hat. Denn genau so fühlt es sich für ihn an, dagegen kann er nichts tun.
 

Dean und Engel, wenn es um Sams Leben geht. Deals, bei denen er nicht das geringste Mitspracherecht zu haben scheint.

Sam und Engel, wenn es um Sams Seelenheil geht. Besessenheit, Ohnmacht.
 

Das kann einfach nicht gut enden, denkt Sam, niemals!
 

Mit gemischten Gefühlen zwingt er sich dazu, die Augen zu öffnen und auf Gabriels Schultern zu richten, um dem stummen Gefecht zwischen den beiden anderen zu entgehen. Bloß nicht zwischen noch mehr Fronten geraten …

Es ist merkwürdig beruhigend, einem übernatürlichen Wesen bei etwas so Banalem zuzusehen und dabei festzustellen, dass die Bewegungen routinierter wirken, als man es erwarten würde. Zumindest ist Sam bislang davon ausgegangen, dass sich Gabes Dasein unter Menschen auf herzlich wenig menschliche Tätigkeiten beschränkt hat. Aber er scheint tatsächlich so, als wisse er ganz genau, was er tut.
 

Sam schafft es, die Störgeräusche immer mehr aus seinem Kopf zu verbannen, während er Müdigkeit und Hunger allmählich wachsen fühlt. Am Rande bemerkt er, dass Gabriels Jeans ihm ziemlich gut stehen. Der Erzengel richtet sich in diesem Moment auf und Sam wird klar, dass er ihm auf den Hintern gestarrt haben muss, um eine solche Feststellung aus dieser Perspektive treffen zu können.
 

Sam hebt eine Braue über sich selbst, nicht ganz sicher, ob er deshalb amüsiert oder peinlich berührt sein sollte. Die fremde und doch allgegenwärtige sexuelle Anspannung und Frustration im Raum sind definitiv daran schuld, dass er sich einlullen lässt. Und die nicht zu vernachlässigende Tatsache, dass sich sein Verstand anfühlt wie die matschigen Überreste von etwas, das bis vor kurzem noch Funktion und Nutzen besessen hat.
 

Gabriel dreht sich in diesem Moment weg vom Kühlschrank. Er kickt die Tür auf dem Weg mit dem Fuß lässig hinter sich zu und trägt zur Anrichte, was ganz nach allen möglichen Zutaten für ein reich belegtes Sandwich aussieht. Er neigt fragend den Kopf, als er Sams hochgezogene Braue sieht; wirkt dabei aber ganz anders als Sam es von Castiel kennt. Verspielter. Herausfordernd.
 

Sam schüttelt nur den Kopf und tappt nun, da der Weg endlich frei ist, selbst Richtung Kühlschrank. Als er die Hand an den Türgriff legt, lässt ihn Gabriels Stimme zusammenfahren.
 

„Halt, halt, Samoose, was gibt das denn?“, fragt er.
 

„Was zu Essen und zwar hoffentlich schnell“, antwortet Sam, ohne sich umzudrehen.
 

Gabriel macht ein missbilligendes Geräusch hinter ihm.
 

„Das mache ich gerade für dich, also setz dich hin und halt die Hufe still“, befielt er.
 

Sam ist so überrascht, dass er sich wortlos fügt. Was sich als schlechte Entscheidung herausstellt, denn er gerät auf diese Weise in die direkte Starr-Line, auf der sich Cas und Dean seit nunmehr fünf Minuten auszuweichen – oder zu finden – versuchen.
 

„Hey …“, sagt Sam behutsam, nachdem er für einen Moment stumm zwischen den beiden hin und her gesehen hat.
 

„Hey, Cas … Dean. Wie wäre es, wenn ihr beiden … na ja, redet? Kommt schon, Leute. Das kann so doch nicht weitergehen!“
 

Er weiß, dass er damit die Tore zu einer gänzlich anderen Hölle aufgestoßen hat, als die, die er bereits kennt, aber er hält diese Anspannung im Bunker einfach nicht mehr aus. Außerdem ist jeder Groll seitens Dean, den er mit seiner Aufforderung geschürt haben könnte, ein Witz im Vergleich zu Sams derzeitigen Problemen.

Und eigentlich … eigentlich kann es zwischen Cas und Dean nur besser werden. Ein bisschen mehr Frieden zu Hause, innerhalb seiner Familie – ja, das wäre tatsächlich schön.
 

Sam fühlt, wie er von gleich drei Augenpaaren durchlöchert wird; von jedem auf eine gänzlich individuelle Art und Weise, so dass er gar nicht weiß, wohin er zuerst sehen soll. Der Blick, den er schließlich schweren Herzens sucht, ist der seines Bruders, der ihn mit einer eigentümlichen Mischung aus Emotionen im Gesicht ansieht, über deren Existenz Dean garantiert niemals auch nur ein Wort über die geschundenen Lippen kommen würde. Wut, Scham, Reue, Sehnsucht, Hoffnung, Angst, Zweifel, Schuld, Unsicherheit, Trauer, Liebe. Von allem zu viel, aber doch nicht genug, um ihn über den eigenen Schatten springen zu lassen.
 

Sam seufzt müde und sieht über den Tisch, als er merkt, dass das Geräusch wie zweistimmig erklingt: Auch Cas hat seiner Kraftlosigkeit bezüglich diesen Themas Luft gemacht und schenkt Sam nun ein kleines, trauriges Lächeln.
 

„Ich schätze deine Bemühungen, Sam. Sehr sogar. Aber im Moment gibt es Wichtigeres ...“
 

„Ja, Sam. Hotel Detroit in deinem Kopf, zum Beispiel!“, sagt Dean laut und auf eine Weise, die keinerlei Widerspruch oder Themenwechsel duldet.
 

„… auch, wenn ich der Auffassung bin, dass es besser ist, zeitnah über belastende Dinge zu sprechen, anstatt vor ihnen davon zu laufen“, fügt Cas unerbitterlich hinzu, als wäre er nie unterbrochen worden.
 

Stop, Cas!“, sagt Dean und es klingt wütend, wie eine Warnung.

Sam weiß genau, dass Deans Grenzen an dieser Stelle deutlich überschritten sind. Es fehlt vermutlich nicht mehr viel, um ihn in die Flucht zu schlagen. Schlimmstenfalls wählt er die Offensive zur Verteidigung und dann wird es für alle Anwesenden äußerst schmerzhaft.
 

Aber obwohl Cas es eigentlich besser wissen müsste, bleibt sein Blick fest und er spricht weiter, als überkomme ihn plötzlich ein nicht zu bewältigender Mitteilungsdrang. Vielleicht ist dem tatsächlich so, vielleicht ist Cas das fruchtlose Warten und Zurückhalten einfach leid. Sam hat das Bedürfnis, sich klein zu machen. Die Luftlinie zwischen Dean und Cas, auf der er sich leider immer noch befindet, ist zur Schussbahn geworden.
 

„Weil man nie wissen kann, wie viel Zeit einem bleibt. Und, sicher kann ich da nur für mich selbst sprechen, aber ich, für meinen Teil, möchte nicht vergeuden, was mir bleibt.“
 

Castiels Worte kommen einem Frontalangriff gleich, passen viel zu sehr zu der Predigt, die Sam seinem Bruder noch am Vorabend auf dem Küchenfußboden gehalten hat. Aber der Krach, mit dem Sam gerechnet hat, bleibt aus. Der Engel hat kaum zu Ende gesprochen, als Dean auch schon an ihnen vorbei und aus der Küche rauscht. Wortlos, mit stur erhobenem Kopf und verbissenem Gesichtsausdruck. Sie starren ihm nach; niemand gibt einen Ton von sich oder unternimmt den Versuch, ihn aufzuhalten.
 

Gabriel räuspert sich, nachdem Dean verschwunden ist, und durchbricht damit das ungemütliche Schweigen, das sich erneut im Raum einnisten will.
 

Unangenehm. Junge, Junge!“
 

Er widmet seine Aufmerksamkeit wieder dem Sandwich, das er im Begriff ist, für Sam zusammenzustellen.

Sam schnaubt, während sein Blick abwesend Gabes Händen folgt, die ein paar Blätter frisch gewaschenen Salates über dem Spülbecken ausschütteln.
 

„Das war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.“
 

Es ist immer noch merkwürdig, Gabriel bei einer solch menschlichen Tätigkeit zu beobachten und er richtet seine Konzentration wieder voll und ganz auf Cas neben sich. Cas ist vertrauter. Anders vertraut. Auf jeden Fall irgendwie beruhigend.
 

„Es tut mir leid, Cas … Ich hätte ihn nicht so in die Ecke drängen sollen. Ich wollte nur helfen“, sagt er entschuldigend und sieht mit wachsender Reue den Schmerz der Zurückweisung über das Gesicht seines besten Freundes kriechen. Tatsächlich hat der Engel noch nie so alt ausgesehen. So, als würden die Jahrmillionen seiner bisherigen Lebenszeit mit einem Mal sichtbare Spuren an der Hülle hinterlassen.
 

„Du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen. Dean braucht manchmal den ein oder anderen Schubser in die richtige Richtung … Zu seinem eigenen Wohl.“
 

„Dein Wort in Dads Ohren, Cassiekins“, sagt Gabe, wohl eine Spur zu optimistisch.

„Vielleicht solltest du Dean-o hinterhergehen?“
 

„Vielleicht.“
 

Es klingt nicht annähernd so unentschlossen, wie es das Wort selbst impliziert und Sam muss insgeheim dem deutlichen ‚Nein‘ hinter Cas‘ Antwort zustimmen. Dean jetzt hinterher zu gehen, ist ein Fehler. In dieser Hinsicht hat Castiel menschliche Untertöne inzwischen fast besser gemeistert als Gabriel, der mit Cas‘ nunmehr stoischem Ausdruck offensichtlich nichts anzufangen weiß.

Gabe zuckt die Achseln und kommt mit einem Teller in der Hand um die Kücheninsel herum.
 

„Ein Sandwich für Sammich – nichts zu danken, gern geschehen!“
 

Statt die Augen zu verdrehen, muss Sam ein bisschen grinsen. Und das Sandwich sieht tatsächlich gut aus; besser hätte er es selbst nicht belegen können. Gabriel scheint eine gute Vorstellung davon zu haben, was seinem Geschmack entspricht, denn zwischen den beiden Brothälften steckt eine Menge fein geschnittenes, frisches Gemüse.
 

„Wow, du verstehst ja wirklich was von Essen. Und das ohne Tricks!“, sagt er anerkennend, nachdem er den ersten Bissen hinuntergeschluckt hat.
 

„Och, na ja. Ich will mein Mojo lieber fürs Traumland sparen.“
 

Er zwinkert und macht sich tatsächlich daran, die Küche hinter sich aufzuräumen. Auf Menschenart.
 

Sam wird nicht rot, aber er sieht peinlich berührt auf sein Sandwich, als er Cas‘ forschen Blick spürt. Soll das etwa bedeuten, dass Gabriels Traum auf Bestellung keine einmalige Sache zwischen ihnen war?

Ihm wird unbehaglich bei der Anspielung darauf, dass Gabe offenbar nur so wenig Mojo besitzt, dass er sogar für etwas so Simples wie ein paar kleine Handgriffe im Haushalt darauf verzichtet. Damit er es stattdessen seinetwegen vergeuden kann? Natürlich ist das absolut indiskutabel und keine Option. Gabe braucht jeden Tropfen Gnade, den er noch hat! Himmel, vielleicht sind sie alle früher oder später einmal darauf in ihrem Kampf gegen Lucifer angewiesen!
 

Sieht so aus, als müsste ich mit ihm reden.
 

„Komm schon, Kiddo. Hau rein, du brauchst deine Kraft“, ermuntert Gabe ihn und setzt sich, zu Sams großem Unbehagen, zu Cas und ihm an den Küchentisch.
 

Vielleicht hat er jetzt die Garantie, so bewacht von den beiden Engeln in seinem Leben, mit keiner Halluzination – oder Dissoziation – rechnen zu müssen. Vielleicht reicht ihre Anwesenheit aus, damit Lucifer die Klappe hält. Trotzdem ist es ein verdammt eigenartiges Gefühl, von zwei himmlischen Wesen interessiert dabei beäugt zu werden, wie er isst. Vor allem, weil Gabriel dabei so zufrieden mit sich und der Welt wirkt, wie ein Kater, der den unbewachten Topf Sahne für sich erobert hat.

 

 

 

*
 

Sam hat keine Vorstellung davon, wie das Zimmer, das Rowena im Bunker belagert, wohl aussehen mag. Zu seiner Erleichterung ist heute nicht der Tag, an dem er das in Erfahrung bringt, denn sie treffen die Hexe am Weltkartentisch.
 

Die Atmosphäre ist bei weitem nicht so ungemütlich, wie noch vorhin in der Küche, aber von so etwas wie angenehmer Stimmung lässt sich auch nicht gerade sprechen. Der kleine Flirt zwischen Gabe und Rowena hat nicht unbedingt dazu geführt, das Zusammenleben im Bunker für sie alle einfacher zu gestalten und obwohl sich die zwei offensichtlich Mühe geben, über ihrem One-Night-Stand zu stehen, lässt die Anwesenheit des Erzengels einen missbilligenden Zug um Rowenas rot geschminkte Lippen erscheinen.
 

„Ihr wollt also, dass ich für euch herausfinde, wie es um Samuels Zurechnungsfähigkeit bestellt ist“, sagt die Hexe statt einer Begrüßung und mustert sie der Reihe nach.
 

Sam zuckt innerlich zusammen; nicht, weil ihn Rowenas Wortwahl verletzt, sondern, weil die Art, wie sie ihr Vorhaben auf den Punkt bringt, danach klingt, als wäre es Drecksarbeit. Und zwar eine, von der er im Moment nicht sicher ist, inwiefern er sich ihr gewachsen fühlt.

Ihr mitleidiges Lächeln ruht für seinen Geschmack eine Spur zu lange auf seinem Gesicht, wird aber hämisch, als es weiter zu Gabe wandert.
 

„Haben wir etwa immer noch Probleme mit dem Stehvermögen oder warum brauchen ein Erzengel und ein Seraph Hilfe von einer armen, kleinen, menschlichen Hexe?“
 

Zu Sams großer Überraschung sind es Cas‘ Augen, die sich bei ihren Worten zu Schlitzen verengen und er ist sich nicht ganz sicher, ob Cas den schützenden Schritt nach vorn, halb vor Gabriel, bewusst oder instinktiv macht.
 

„Der Verlust von Gnade ist kein Anlass für diese Art von Humor!“, sagt er dunkel und es klingt bedrohlich.

Doch Rowena geht darüber hinweg, kichert glockenhell und wendet ihre Aufmerksamkeit wieder Sam zu.
 

„Weißt du, Kiddo. Was die himmlischen Herrschaften hier von mir verlangen, ist keine Magie und auch nichts Übernatürliches. Es ist kein Wunder, dass sie damit zu mir kommen.“
 

Ihr Lächeln hält an, aber es erreicht mit einem Mal ihre Augen nicht mehr. Stattdessen wirkt ihr Gesicht nun geschäftlich; eine kontrollierte Maske, der jegliche Amüsiertheit abhanden gekommen ist. Der Ausdruck lässt Sam noch wachsamer werden.
 

„Was ist es denn dann? Spann uns nicht so auf die Folter, Rowena!“, sagt er scharf.
 

Von Anfang an hat sich das hier nicht wie eine gute Idee angefühlt und der Verdacht verhärtet sich mit jedem undurchsichtigen Wort der Hexe.
 

„Menschlichkeit, Samuel, nichts anderes ist es. Nichts, was ein Engel so berühren kann, wie sie es offenbar gern würden.“
 

Sam runzelt die Stirn, hinter der sein inzwischen viel zu vertrauter Kopfschmerz neu aufflackert. Das ihn immer begleitende Klingeln in seinen Ohren ist zu einem schwachen Dauerstörgeräusch im Hintergrund geworden.
 

„Aber Engel können mit unserer Einwilligung Besitz von uns ergreifen und -“
 

„Ah!“, unterbricht Rowena mit erhobenem Zeigefinger.
 

„Von eurem Körper, Samuel, nur von eurem Körper! Euren Geist können sie maximal in eine Ecke drängen und für eine sehr lange Weile zum Schweigen bringen. Das ändert nichts daran, dass der Geist im Kopf der Hülle weiterlebt und dem frechen gefiederten Parasiten einiges an Scherereien bereiten kann.“
 

Sie zwinkert in Castiels Richtung, als teilten sie beide ein Wissen, das allen anderen fehlt. Zeitgleich ignoriert sie Gabriel mit bemühter Offensichtlichkeit, so als sei der gar nicht mehr anwesend.

Sam überlegt einen Moment, was ihm erschreckend schwer fällt. Er fühlt sich einmal mehr, als sei sein Hirn nur durch einen Nebel hindurch für ihn verfügbar, wie in Watte gepackt.
 

„Aber die menschliche Seele können Engel berühren … Sie können sogar Energie davon abzapfen!“
 

„Das liegt daran, weil der Geist zwar mit der Seele verbunden ist, Samsquatch“, schaltet sich Gabe ein und riskiert dabei einen tadelnden Blick von der Hexe.

„Aber er ist nicht das gleiche. Noch nicht genug Erfahrung mit der Seelenlosigkeit gemacht, oder wie, hm?“
 

Der Spruch bringt ihm auch von Sam einen (zumindest halbherzigen) Todesblick ein, aber der Erzengel redet einfach weiter: „Der Verstand – dein Geist – bleibt dir in dem Fall erhalten. Der Körper allein, das alles sind nur Gene und Vitalfunktionen. Die Seele ist die Essenz, das, was den Pfeffer ausmacht, dein persönlicher kleiner Kernreaktor, aus dem Dinge wie Fantasie, Liebe und dergleichen kommen. Der Geist, das ist Logik und der ganze Quatsch.“
 

Sam nickt bedächtig, lässt Gabes Erklärung sacken, die tatsächlich irgendwie logisch klingt; selbst durch seine Erschöpfung und Überforderung hindurch.
 

„Und wie kann uns das helfen? Was hat das alles mit mir zu tun? Oder mit Rowena?“
 

„Wir brauchen jemanden, der an die Verbindung von allen drei Komponenten herankommt“, sagt Cas und es klingt so argwöhnisch, als bezweifele er stark, dass Rowena die richtige Ansprechpartnerin dafür sei.
 

„Wenn wir es mit dem echten Lucifer zu tun haben, gibt es … Dinge, die er nicht persönlich beeinflussen kann. Egal, wie mächtig er ist. Übrigens einer der Gründe, warum er so sehr auf die Menschen herabsieht.“
 

„Aber ich dachte, wenn es nicht Lucifer persönlich ist, dem ich das alles zu verdanken habe, dann geht es hier um meine Psyche. Ist die Psyche nicht ein Zusammenspiel aus Erlebtem, also äußeren Einflüssen, genetischer Veranlagung und Hormonen?“, kombiniert Sam langsam. Auf seine Psyche oder seine Hormone mag Lucifer vielleicht keinen Einfluss haben, was ein direktes Eingreifen betrifft, aber in Form nachhaltiger Traumata sieht das schon wieder anders aus.
 

Gabe wirkt jedoch äußerst zufrieden mit seiner Auffassungsgabe, für deren Langsamkeit er sich eher befangen fühlt und Rowena klatscht sogar begeistert in die Hände.
 

„Das ist es, Kiddo! Die Psyche ist das, was dabei herumkommt, wenn man all diese drei Dinge miteinander verbindet. Sie ist quasi die Schnittstelle zwischen all diesen Komponenten, der große gemeinsame Nenner!“
 

Sam ignoriert das unbehagliche Gefühl darüber, dass sowohl Gabe als auch Rowena ihn beide ‚Kiddo‘ nennen und nimmt sich einen Moment Zeit, das eben Gelernte sacken zu lassen. Wie kommt es eigentlich, dass er sich bisher noch nie Gedanken darüber gemacht hat, dass Menschen keine vor sich hin vegetierenden sabbernden Zombies werden, wenn sie ihre Seele verlieren? Oder dass der Unterschied zwischen einer ruhelosen Seele, also einem Geist, und der Seele eines Verstorbenen, die von einem Sensenmann geerntet wurde, so himmelschreiend gravierend ist?
 

„Behält eine Seele, die zu einem Geist wird, ihren … naja, ihren Geist?“, fragt er nach einiger Zeit des Schweigens, das die anderen drei ihm offensichtlich gönnen, schließlich. „Also ist ein Geist das Gegenstück zu einem Menschen ohne Seele?“
 

Gabriel und Rowena kichern einstimmig über die Frage, hören aber augenblicklich damit auf, als sie merken, dass der jeweils andere gerade auch lacht. Cas verdreht die Augen.
 

„Du bist auf dem richtigen Weg, Sam. Die Seele ist das einzige von allen drei Teilen, die auch allein Bestand hat. Sobald man zwei von ihnen zusammenfügt, sehnen sie sich nach dem dritten im Bunde … Aber das führt jetzt alles zu weit, denke ich. Wir sollten uns auf unsere eigentliche Mission konzentrieren … Also, bist du bereit?“
 

Nein, das ist er nicht wirklich. Und bereit wofür überhaupt? So viel er innerhalb der letzten paar Minuten auch gelernt haben mag – das zusätzliche Wissen hat nur weitere Fragen aufgeworfen und ihm bei seinen Problemen bisher kein Stück weitergeholfen.
 

Dean ist nach der kleinen Auseinandersetzung in der Küche immer noch verschwunden, aber die beiden Engel drängen Sam, nicht auf ihn zu warten. Cas sieht dabei allerdings nicht allzu glücklich aus und auch Sam hätte seinen großen Bruder lieber dabei. Ihn bei so etwas Wichtigem nicht dazu zu holen, fühlt sich falsch an.
 

Rowena und Gabe überzeugen ihn jedoch davon, dass es nun keine Zeit mehr zu verlieren gilt und schweren Herzens fügt sich Sam.

 

 

 

*
 

Die Schwärze war keine Dunkelheit. Sie war das Nichts. Etwas Absolutes, wie ein gähnender Schlund, der sich bis zur Unendlichkeit ausgedehnt hatte – wären da nicht die Gitterstäbe gewesen.

Man hatte das abgrundlose Nichts in Eisen gepfercht, wie ein wildes Tier, das nun in sich selbst tobte, zog, zerrte. Und Sam war mittendrin.
 

Am Anfang fühlte es sich an, wie unter Wasser zu treiben. Zu lange, zu tief, bis sich der Kopf über die Ohren mit Flüssigkeit füllte, bis Druck auf Gesicht und Lunge fast unerträglich wurde. Rein rational wusste Sam, dass er sich irgendwo in der Hölle in einem Käfig befand, aber anstatt Flammen und Hitze war da nur das drückende, allgegenwärtige, alles schluckende Nichts um ihn herum.
 

Doch Sam war nicht allein. Etwas regte sich in ihm, reagierte auf die vertraute Umgebung, auf die unerwartete Niederlage mit unbändigem Zorn.
 

Lucifer, Lichtbringer.
 

Das Hirn schien ihm sich zusammenzuziehen, bis es sich anfühlte, als bilde sich ein Sog in seinem Kopf, der stark genug war, um seinen Schädel zum Platzen zu bringen. Sam riss vor Schmerz und ungeahnter Panik die Augen auf, die Licht ins schwarze Nichts aussandten, wie Scheinwerfer mit der Intensität eines verglühenden Sterns. Genau so sehr brannte sein Inneres plötzlich, als ihn die Hitze doch noch heimsuchte; Sam stand wie in Flammen. Aber das Feuer kam nicht von außen. Es war nicht der Teufel, der brannte. Lucifer selbst war, so wie er einst gesagt hatte, wie Eis. Derjenige, der brannte, war Sam. Seine Eingeweide schienen sich vor Hitze in ihm zu verflüssigen und er schrie und schrie und hörte doch keinen einzigen Ton aus seinem Mund. Nichts. Nur ewiges Rauschen.

Er wusste nicht, wie lange es anhielt. Vielleicht Minuten, vielleicht ganze Zeitalter. Es war der schlimmste Schmerz, den er je in seinem Leben erfahren hatte; es fühlte sich an, als würde sein Herz verglühen, während es weiter in seinem Brustkorb schlug, vor Panik raste und dabei kochendes Blut durch seinen ganzen Körper pumpte.
 

Irgendwann war es vorbei. Sam saugte verzweifelt Luft in seine Lungen und merkte, dass er nicht atmen konnte. Es gab keinen Sauerstoff und sein Körper schien auch nicht drauf angewiesen zu sein, um weiter existieren zu können. Trotzdem hatte er plötzlich das Gefühl, zu ersticken und er japste und würgte am Nichts, das ihn immer weiter auszufüllen schien. Sam hatte keine Zeit, sich an das Gefühl zu gewöhnen, nicht atmen zu müssen. Hatte keine Zeit, sich auf das Ende der unerträglichen Qualen zu besinnen.
 

Lucifer hatte Sam, seine wahre Hülle, freigegeben. Und der Lichtbringer verschluckte die Schwärze, die nie Dunkelheit gewesen war, machte das Nichts zu einem Raum, den er ausfüllte, bis seine Gestalt die Grenzen der Physik sprengte. Es war nun nicht mehr der Teufel, der ihn als menschlichen Fleischanzug trug, nein, es war genau andersherum: Lucifer war überall, Sam mittendrin.
 

Lucifers blinder Zorn ließ ihn Sam offensichtlich für einige Zeit ignorieren. Zumindest schien er nicht im Zentrum der sich entladenden Energie zu stehen, die das Produkt von Lucifers Niederlage sein mochte. Sam blieb keine Zeit, Erleichterung darüber zu verspüren. Etwas rebellierte gegen Lucifer und es schien nicht das Nichts zu sein, das Teil der Hölle, Teil seiner Strafe sein musste, um ihn in Gefangenschaft und in Schach zu halten. Sam und Lucifer waren nicht allein.
 

Am Boden des Käfigs kauerte eine Gestalt. Sie war menschlich, kleiner als Sam. Seine Sicht flimmerte zu stark, durch Hitze, Kälte, Nichts, Präsenz, um den Ausdruck in ihrem Gesicht deuten zu können und es dauerte eine Weile, bis Sam erkannte.
 

Adam. Ein paar Armeslängen entfernt vor ihm auf dem Boden kniete Adam. Und das, was um ihn herum tobte, wie Lucifer um Sam, musste eindeutig Michael sein.

Auf Tuchfühlung

Sam sitzt auf einem Stuhl im Kriegszimmer, direkt am Weltkartentisch. Rowena hat darauf bestanden, dass die beiden Engel aus seiner Sichtweite verschwinden, auch wenn sie ihnen ausdrücklich gestattet, ja, sogar empfohlen hat, dass sie in der Nähe bleiben. Sam ist sich nicht sicher, ob er sich deshalb beruhigter oder eher noch unwohler fühlt.
 

„Was genau machen wir jetzt?“, fragt er nach einigen Anlaufschwierigkeiten. Seine Kehle ist vor Nervosität so unangenehm trocken, dass er sich ein paar Mal räuspern muss, bevor ihm das Sprechen gelingt.
 

Auch Rowena steht hinter Sam, aber im Gegensatz zu den beiden anderen so dicht, dass er ihre Körperwärme in seinem Nacken spüren kann. Ihre schlanken Finger legen sich auf seine Schultern; aus den Augenwinkeln sieht er ihre langen, rot lackierten Nägel leuchten, deren Farbe zu ihrem heutigen Lippenstift passt. Sie antwortet ihm nicht. Sam stellt fest, dass Rowena ziemlich angenehm riecht; gar nicht nach Hexe aus dem Mittelalter, die sich bloß mit Magie das gute Aussehen und ihre Jugend erhält. Zugegeben, sie ist auch die einzige Hexe, die er nicht mit Sabber, Schleim und ausfallenden Zähnen in Verbindung bringt.
 

„Füße auf den Boden, Samuel, du bist kein Tier!“
 

Sam zuckt ertappt zusammen. Rowena hat leise gesprochen, doch in ihrer Stimme liegen Nachdruck und eine schulmeisterliche Strenge. Er löst seine langen Beine aus dem halben Schneidersitz von der Sitzfläche seines Stuhles und stellt beide Füße gesittet nebeneinander unter den Tisch.
 

Gabe gluckst im Hintergrund: „Doch, ein Elch!“
 

„Ruhe!“
 

Gelassen beginnt die Hexe damit, Sam die Schultern zu massieren. Sie macht das ganz gut, aber den Umständen entsprechend fühlt es sich nicht unbedingt angenehm an. Sam schließt die Augen, um den Raum um sich herum auszublenden, aber er spürt selbst, dass es ihm nicht gelingt, die Falten aus seiner Stirn zu bügeln oder die Anspannung aus seinem Kiefer zu vertreiben. Rowena seufzt leise über seiner rechten Schulter.
 

„So wird das nie etwas, Kiddo. Entspann dich!“
 

Beinahe hätte Sam aufgelacht. Die Umstände dafür sind nicht gerade einladend und er weiß noch nicht einmal ansatzweise, worauf er sich hier gerade einlässt.
 

„Hypnose“, haucht Rowena direkt in sein Ohr, als hätte sie den Gedanken gehört. Vielleicht ist es auch die verspätete Antwort auf seine Frage von vorhin. Er spürt ihren Atem, der über seine Ohrmuschel streicht und eine ihrer langen, weichen Locken kitzelt seine Wange. Unter anderen Umständen hätte sich ihre derzeitige Nähe mit Sicherheit intim angefühlt, vielleicht sogar irritierend. In diesem Moment kann er sie wohl nur als etwas Zweckdienliches hinnehmen, oder schlicht und ergreifend als nachvollziehbar. Rowena soll, irgendwo zwischen Sams Kopf und seiner Seele, mit seiner Psyche auf Tuchfühlung gehen, die erstere beiden mit seinem Körper verbindet. Näher geht es vermutlich gar nicht.
 

„Ich versetze dich in Trance und wir gehen zu dem letzten Punkt zurück, an dem Lucifer persönlich mit dir gespielt hat. Alles, was dein Kopf später selbst produziert hat, weil er die Erlebnisse nicht verarbeiten konnte, überspringen wir.“
 

„Mhm. Logisch“, nuschelt Sam.
 

Er weiß nicht, wieso, aber es ist, als hätte die Wahrheit über das, was sie hier tun, eine einschläfernde Wirkung auf ihn. Die letzten Reste seines Verstandes scheinen sich zu verabschieden, während sein Körper weiterhin angespannt bleibt. Er muss verlernt haben, wie man locker lässt, doch schließlich hat er seine Gründe dafür. Verfolgungswahn, Ungewissheiten … Wie soll man da bitte zur Ruhe kommen? Und halt – er hat den anderen bisher noch gar nicht von seinen Erlebnissen im Wald erzählt! Vielleicht wäre das angebracht, bevor sie von hier aus weitergehen ...?
 

„Psst“, macht Rowena und ihre weichen kühlen Hände wandern zu seinen Schläfen. „Nur ein klein wenig Magie ... Zur Entspannung ...“

 

 

 

*
 

Lucifer und Michael.
 

Es dauerte lange, Ewigkeiten, bis Sam begriff, was er da vor sich sah. Hier, im Käfig, brannte ihm der Anblick der wahren Gestalt zweier Erzengel nicht die Augen aus dem Kopf, ließ ihm der Klang ihrer Stimmen nicht die Trommelfelle platzen. Trotzdem schien es nahezu unmöglich für seinen menschlichen Verstand, die Eindrücke zu verarbeiten, bis sie einen Sinn ergaben. Und jedes Mal, wenn er glaubte, er habe die wahre Form der Erzengel erfasst, schienen sie sich wieder zu verändern, zu wachsen, zu zerfließen, in die Höhe zu schnellen wie Stichflammen oder Geysire und das Spiel begann von vorn. Adam, der immer noch wenige Fuß entfernt vor ihm kniete, musste es ähnlich ergehen.
 

Lucifers Gestalt war wie ein Meer aus Farben, die teilweise sanft ineinander übergingen, regelrecht miteinander zu verschmelzen schienen, während an anderen Stellen Kontrast auf Kontrast folgte, hart und unnachgiebig, wie ein Störfaktor in einem Bild aus beunruhigender Harmonie. Der Lichtbringer war wie ein brennender Sonnenaufgang; die Morgenröte, die sich über fein gemeißeltem Eis ergoss.
 

Da waren Schwingen, mächtige Flügelpaare – wie viele, konnte Sam nicht sagen. Sie waren mit einem dichten Federkleid überwuchert, das sowohl organisch zu sein, aber auch aus Elementen der Natur zu bestehen schien: Aus Feuer, Asche, Rauch, Stein, Erde, Luft, Wasser, Eis, … Die Flügel schlugen heftig, während Lucifer und Michael miteinander kämpften und erzeugten dabei Druckwellen, Wind, und markerschütternden Schall. Eigentlich sollte im Käfig nicht genug Platz sein, weder für ein Wesen dieser Größe, schon gar nicht für zwei – geschweige denn für einen Kampf zwischen ihnen und von solch gewaltigem Ausmaß. Aber in ihrem ständigen Wachsen und Schrumpfen schienen die Erzengel jeden freien Raum im brennenden Nichts auszufüllen, neu zu definieren, so dass sich der Platz inmitten der Gitterstäben unendlich anfühlte, als wäre genug Raum für Echo, Schatten und darüber hinaus noch für Adam und Sam.
 

Michaels Präsenz war wie ein mächtiges Gewitter über dem gähnenden Schlund eines brodelnden Vulkans. Elektrizität schien den Kern seiner Existenz zu durchziehen, bis in seine unzähligen Flügelpaare zu knistern, die glühten, wie flüssiges Gestein am heißesten Punkt der Erde.

Es war ein ähnlich beeindruckendes und furchteinflößendes Bild wie das des tobenden und faszinierend gegensätzlichen Bruders, doch Sam fiel es seltsam schwer, den Blick von Lucifer abzuwenden. Die wahre Gestalt des Teufels war das Schönste, das er je gesehen hatte, grausam und unerträglich, und für diesen Anblick bezahlte er einen schrecklichen Preis. Der Körper besaß keinerlei Einheitlichkeit, weder in Form noch Konsistenz, schien mal fließend, mal wie Rauch, mal kantig und solide. Da waren zu viele Augen, zu viele Reißzähne, zu viele Köpfe und Gliedmaßen, zu viel von allem und es war grauenhaft.
 

Sam spürte die Kälte auf seinem Gesicht und mit einem Mal wurde ihm klar, dass es seine eigenen Tränen waren, die auf seinen Wangen zu tropfenförmigem Eis gefroren. Mit leisem Klimpern, das er erstaunlicherweise über den Kampfeslärm hinweg hören konnte, fielen sie von seinem Gesicht und landeten auf dem Boden des Käfigs, wo sie zerbrachen wie Glas.
 

Mächtige Stimmen überlagerten die Szenerie. Sam verstand ihre Worte nicht, erkannte das Henochisch nur entfernt am Klang. Die Erzengel hatten sich über ihnen und um sie herum ineinander verkeilt; eine gewaltige Kuppel aus Aggression und Wut umgab Adam und ihn. Sam war sich nicht ganz sicher, ob es Blut und Fetzen ihrer … Haut oder was auch immer ihre Körper, abgesehen von den Federn, bedeckte … waren, die auf sie herab regneten.

Einige der Fetzen verglühten bereits im Fall, andere gefroren, ähnlich wie die Tränen, die Sam eben noch vergossen hatte, ohne sich überhaupt gewahr zu werden, dass er geweint hatte.

Doch ein Großteil der seltsamen Federn und Engelspartikel blieb an Sams Körper haften, benetzte seine Haut.
 

Es kostete ihn unendlich viel Überwindung, den Blick von der Gewalt und Schönheit Lucifers abzuwenden, um die Hände vor das Gesicht zu heben und die eigene Haut zu betrachten. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass er nackt war. Seine Kleidung musste verglüht sein, zerfetzt, aufgelöst im Druck und der Leere, im Feuer der Hölle, das brannte, ätzte, erfrieren ließ – und das alles zugleich.

Und er war mehr als nackt. Sein Körper, seine menschliche Hülle, existierte nicht mehr. Sie hatte sich aufgelöst, bis nicht mehr übrig geblieben war und das, was er von sich erkennen konnte, war …
 

„Deine Seele, Sam. Das einzige, was von dir noch übrig ist.“
 

Die Stimme war nicht menschlich, aber welche Sprache sie auch immer benutzen mochte, Sam konnte sie verstehen, denn sie war überall. In seinem Kopf, den er, rein körperlich, gar nicht mehr besaß. In den unendlichen, begrenzten Weiten des Käfigs.
 

Sams Erkenntnis über seinen Zustand musste irgendetwas an ihm verändert haben, denn es hatte die Aufmerksamkeit beider Erzengel auf ihn gelenkt. Und auf Adam, dessen Existenz ebenfalls nur noch aus seiner bereits geschundenen Seele zu bestehen schien.
 

Ein Impuls flackerte in Sam auf, zu Adam hinüberzukriechen – zu etwas anderem als Kriechen fühlte er sich in seiner jetzigen Form nicht in der Lage. Flucht, das war es, zu was es ihn drängte. Flucht, ein Vorhaben der Unmöglichkeit.

 

 

 

*

 

 
 

„Ich zähle bis zehn und wenn ich ‚zehn‘ sage, bist du in Trance“, flüstert Rowena.
 

„Ich möchte, dass du in Gedanken mitzählst. Bleib ganz ruhig und entspannt.“
 

Das sagt sie so leicht ...
 

Sam glaubt, ein Rauschen hinter sich zu hören, wie von mächtigen, gigantischen Flügeln. Er unterdrückt einen beschämend panischen Laut; seit heute Morgen verbindet er mit Flügeln nicht unbedingt nur positive Dinge. Doch halt – etwa erst seit heute morgen?

Vielleicht rührt das bange Gefühl von der Magie her, die die Hexe über jeden körperlichen Berührungspunkt in sein System jagt. Er spürt deutlich, dass es mehr sein muss, als sie ihm vorhin verraten hat; es ist ein schwaches, beinahe wie geladenes Kribbeln überall dort, wo ihre Finger immer noch sanft seine Schläfen und Schultern im Wechsel bearbeiten.
 

Mit klopfendem Herzen wartet Sam darauf, dass Rowena zu zählen beginnt. Doch stattdessen halten die kreisenden Bewegungen ihrer Fingerspitzen plötzlich inne. Da ist mit einem Mal eine Berührung an seiner linken Seite, die sich nicht wie Rowenas Hände anfühlt. Sie ist so zaghaft, dass Sam nicht ganz sicher ist, ob es sich nicht bloß um einen merkwürdig warmen Lufthauch handelt. Vielleicht haben Mom oder Dean oder Jack irgendwo im Bunker, zwei Gänge weiter, eine Tür zu einem der bewohnten Schlafzimmer geöffnet.
 

Vielleicht ist die Eingangstür nicht richtig zu. Oder das Belüftungssystem ist kaputt.
 

Jemand sollte sich darum kümmern.
 

Gabriel! Muss das sein?“
 

Rowenas lauter Ausruf lässt ihn zusammenzucken. Sam öffnet zaghaft die Augen, nicht ganz sicher, ob er gerade überhaupt blinzeln darf. Andererseits hat sie ihm auch nie gesagt, er solle die Augen schließen. Als ein gewaltiger Schatten aus dem Nichts über ihn und Rowena fällt und sie vor der Deckenbeleuchtung abschirmt, reißt er sie vor Schreck auf und duckt sich instinktiv auf seinem Stuhl.
 

Er entzieht sich damit dem Griff der Hexe, deren Hände bis zu diesem Punkt immer noch locker auf seinen Schultern geruht haben. Rowena lässt es kommentarlos geschehen, scheint von etwas hinter ihnen abgelenkt zu sein. Dass sie nicht ebenfalls in stumme Panik verfällt, ist gleichermaßen beruhigend wie peinlich und Sam sieht zu, dass er schnell wieder Haltung annimmt. Er atmet tief durch.
 

Ich benehme mich wie das reinste Gewaltopfer, denkt er beschämt – bis ihm einfällt dass das gar nicht so abwegig ist. Er hat sich bisher nie so empfunden und Sam hasst den Gedanken, sich so sehen zu müssen. Aber in diesem Zusammenhang trifft es zu: Opfer.
 

Mehr als das. Bloß ist das hier der falsche Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, der falsche Zeitpunkt, um sich selbst leid zu tun. Der dunkle Schleier über ihnen ist noch da und als er zu Rowena aufsieht, merkt er, dass sie sich halb umgewandt hat und die beiden Engel hinter ihnen mit äußerst strenger Mine taxiert.
 

„Jupp, das muss sein! Ich supporte“, erwidert Gabriel in diesem Moment und es klingt nicht im Mindesten einsichtig oder gar entschuldigend.
 

Nun doch neugierig geworden, macht Sam eine halbe Drehung um sich selbst auf dem Stuhl, um sich nach der Ursache des Schattens umsehen zu können. Er bemerkt, dass Cas und Gabe etwa zehn Fuß hinter seiner Rückenlehne nebeneinander stehen. Cas‘ Gesichtsausdruck ist eine bemüht kontrollierte Maske, auch wenn er Gabriel die ganze Zeit über scharf im Auge behält. Gabe selbst wirkt nahezu trotzig. Mit Erstaunen realisiert Sam, dass der Schatten Gabes Schulterblättern zu entspringen scheint. Er erkennt Flügel.
 

Gabes Flügel!
 

Gabriels mächtige Schwingen haben sich nicht tatsächlich im Raum materialisiert, scheinen aber in einer nahezu greifbaren Dimension zu sein. Sams Blick folgt dem Verlauf des Schattens bis zu seiner äußersten Spitze. Aus den Augenwinkeln glaubt er, purpurne und goldene Funken über die Konturen der atemberaubend andersartigen Gliedmaßen springen zu sehen.
 

Wow!
 

Noch nie zuvor hat er mit angesehen, dass die Flügel eines Engels in menschlicher Form so … real wirken, obwohl sie nach wie vor enorme Ähnlichkeit mit Schatten haben. Bloß, dass sie, entgegen jeder Logik, keinen festen Untergrund zu brauchen scheinen, und keine direkte Lichtquelle, sondern frei in der Luft schweben, wie befremdlich verfestigter Rauch.
 

Vielleicht liegt es daran, dass Gabe, im Gegensatz zu den anderen Engeln, keine menschliche Hülle benutzt, sondern die Illusion von Lokis menschlicher Form?
 

Die rechte Schwinge ist, zumindest, wenn man dem eigentümlichen Schatten nachgeht, zur Hälfte angewinkelt und an Gabes Rücken gefaltet. Die linke jedoch schreibt einen eleganten Bogen über Sams und Rowenas Köpfe hinweg, so dass die längsten Flugfedern wie ausgestreckte Finger bis zu Sams linkem Arm reichen; dem mit der Verletzung durch den scharfkantigen Schnabel des Phönix‘. Der Flügel ist Sam bei seiner erschrockenen Umdrehung gefolgt; die schattenhafte Spitze schwebt nun eine Hand breit vor Sams Bizeps in der Luft. Ein bisschen sieht es aus, als habe Gabe ein schützendes Segel über ihnen aufgespannt. Ein Segel mit einer grob geschätzten Länge von mindestens 26 Fuß – und der Flügel ist nicht einmal vollständig ausgestreckt.
 

Zögerlich streckt Sam die rechte Hand nach der Schwinge aus, nicht ganz sicher, ob er sie überhaupt berühren darf. Aber der Erzengel hat ihn immerhin zuerst damit berührt, also wird es wohl in Ordnung sein. Natürliche Neugier und Sams Wissensdurst verdrängen jegliches Gefühl von Unwohlsein. Seine ausgestreckten Finger sind nur noch wenige Inches von der Flügelspitze entfernt, deren eigenartige, surreale Beschaffenheit in der Luft vor ihm flimmert.
 

„Gabriel! Aus!“, sagt Rowena scharf und so, als tadele sie einen besonders ungezogenen Hund.
 

Gabriel reagiert nicht auf sie, doch Sam hört, dass einer der beiden Engel scharf die Luft anhält, als seine Fingerspitzen den Flügelschatten berühren.
 

Gabe, vermutlich.
 

Sam selbst vergisst für einen Moment zu atmen und er spürt – enttäuschenderweise beinahe nichts. Seine Hand gleitet durch die übernatürliche Erscheinung hindurch wie durch Licht. Nur ein wenig wärmer ist die Luft an dieser Stelle vielleicht; beinahe so, als würde man an einem kalten Ort die Tür zu einem gut geheizten Raum aufstoßen und an der Schwelle von angenehm warmer Luft umhüllt werden. Oder als würde man aus dem kühlen Dunkel heraus in direktes Sonnenlicht treten. Es ist das genaue Gegenteil davon, wie durch einen Geist hindurch zu greifen. Lebendig, wärmend, aber … es könnte genauso gut auch nur Einbildung sein. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Schatten dessen, wie sich eine echte Berührung vielleicht anfühlen mag.
 

„Das alles kostet uns viel Zeit, Gabriel“, schaltet sich Cas‘ tiefe Reibeisenstimme plötzlich ein.

„Ich kann verstehen, dass du Sam beistehen möchtest. Immerhin handelt es sich um Lucifer, aber -“
 

„Neidisch, Cassie?“, stichelt Gabriel und Sam reißt sich, überrascht ob des spöttischen Tonfalls, von der körperlosen Engelsschwinge los, um einen fragenden Blick auf seine Freunde zu erhaschen.
 

„Worauf sollte Cas neidisch sein?“, fragt er, immer noch mit ausgestreckter Hand.
 

Castiel seufzt leise, wirkt dabei aber irgendwie verlegen.
 

„Siehst du, Gabriel. Genau das habe ich gemeint“, beschwert sich nun auch Rowena.
 

„Schon gut, schon gut!“, stöhnt Gabe theatralisch und hebt abwehrend die Hände. Sein linker Flügel legt sich währenddessen jedoch um Sams gesamten Arm und seine Schulter. Fast wie eine luftige Decke, die Sam sich über die linke Seite geworfen hat. Es hilft nicht dabei, die Anspannung aus seinem Körper zu vertreiben oder seinen Herzschlag zu beruhigen, aber es ist durchaus nicht unangenehm. Wie Sonnenschein auf bloßer Haut an einem eigentlich trüben Tag.
 

„Schon gut!“, sagte Gabe noch einmal und zieht damit alle Blicke auf sich, lenkt von der halben geflügelten Umarmung ab. Vielleicht ist es Einbildung, aber die Haut unter seinem Verband beginnt zu kribbeln, so als würde die Verletzung in diesem Moment vor aller Augen unbemerkt von Engelsgnade geheilt.
 

„Ich schwöre, ich werde mich nicht mehr einmischen. Aber die Verbindung bleibt. Wer weiß, wofür Sam sie noch brauchen kann!“
 

Weder Rowena, noch Castiel erwidern darauf etwas. Sam überlegt blitzschnell, welche Frage ihm am dringendsten auf der Zunge brennt: Warum Gabe so alarmiert ist, dass er ihn auf einmal Sam nennt, wieso er sich spontan dazu entschieden hat, seine Flügel auszupacken, warum Cas und Rowena das eher weniger gut zu heißen scheinen, oder von was für einer ‚Verbindung‘ Gabriel da eigentlich spricht.
 

„Was für eine – ?“
 

„Später, Samshine.“
 

Sam klappt den Mund wieder zu, schluckt die halb gestellte Frage unverrichteter Dinge hinunter. Was hat er zu Beginn dieser seltsamen Zusammenkunft noch gleich gedacht? Dass das hier unmöglich eine gute Idee sein kann? Inzwischen fühlt es sich an wie Wahnsinn – und wenn es jemanden gibt, der das beurteilen kann, dann wohl Sam. Immer neue schwer verdauliche Informationen prasseln auf ihn ein; Informationen, mit denen er größtenteils kaum etwas anzufangen weiß. Details über Menschlichkeit, Seelen, den Verstand, Engelsflügel. Angeschnittene Geheimnisse, in die ihn niemand einweiht. Und noch dazu ist Dean nicht hier.

Dean, an seiner Stelle, hätte längst auf den Tisch gehauen, protestiert, auf mehr Erklärungen beharrt, wenn eine Hexe und ein Erzengel an seinem kleinen Bruder herum pfuschen. Himmel, normalerweise wäre Sam selbst deutlich misstrauischer, mehr auf der Hut, würde mehr Fragen stellen, stärker auf Antwort beharren, wenn es darum geht, mit seinem labilen Verstand Hexenwerk und Möchtegern-Trickster-Unfug zu treiben.
 

Gabriel muss etwas in seinem Gesichtsausdruck gelesen haben, denn die unsichtbare Decke scheint sich mit noch etwas mehr Nachdruck um Sams Schulter zu hüllen und der Erzengel schenkt ihm ein aufmunterndes Nicken. Es ist bei weitem nicht die Bestätigung, die Sam braucht, um sich zu vergewissern, dass sie hier das Richtige tun. Es hat auch nicht annähernd den gleichen Effekt, wie Deans herrisch-beschützende Präsenz, deren Fehlen Sam in diesem Moment so schmerzlich bewusst ist. Trotzdem zeigt das vertraute Funkeln in den bernsteinfarbenen Augen eine bizarr tröstliche Wirkung und Sam erwidert das Nicken schließlich zögernd.
 

„Können wir dann endlich, die Herrschaften?“, fragt Rowena mit hochgezogenen Brauen. Niemand protestiert.
 

Also dreht sich Sam wieder auf dem Stuhl nach vorn, mit dem Gesicht zum Tisch, die Füße ordentlich nebeneinander am Boden, schließt die Augen und wartet. Er spürt Rowenas massierende Fingerspitzen an seinen Schläfen und Gabriels Flügel um seinen Körper.
 

„Zähl‘ im Geiste mit, Sam“, erinnert Rowena ihn im Flüsterton. Er nickt leicht unter ihren Händen. Mit dem nächsten Wort wird ihre Stimme ganz schwer und tief; rauchig, so wie er es von ihr kennt, wenn sie Beschwörungen murmelt. Das Misstrauen in Sam wird stärker.
 

„Eins.“
 

Eins.
 

Vielleicht zählt sie überhaupt nicht, vielleicht ist das, was sie sagt, in Wahrheit ein Fluch oder ein Zauberspruch. Wie kann er sich da sicher sein? Verlässliche Zurechnungsfähigkeit ist ihm schließlich seit einer ganzen Weile abhanden gekommen. Vielleicht spielt ihm sein krankes Hirn nur vor, dass sie bis zehn zählt und in Wahrheit hat sie ihn über den Hautkontakt unter Drogen gesetzt.
 

„Zwei.“
 

Zwei.
 

Die Fähigkeit, jemandem zu vertrauen, der nicht Dean ist, hat er innerhalb der letzten Tage definitiv endgültig verloren. Sich selbst vertraut er seitdem jedenfalls nicht mehr. Wieder beginnt Sams Herz, schneller zu schlagen. Es ist, als würde der erhöhte Puls auf seine Lungen drücken, ihm das Atmen erschweren. Er hört nun jedes Luftholen in seinem eigenen Kopf widerhallen, während er in Gedanken mit Rowena zählt, wie sie es ihm aufgetragen hat.
 

„Drei.“
 

Drei.
 

Das Klingeln in seinen Gehörgängen ist zurück. Oder ist es etwa nie fort gewesen? Vielleicht hat er bisher nur geschafft, es erfolgreich auszublenden. Ablenkung davon gab es bis eben gerade jedenfalls reichlich.
 

„Vier.“
 

Vier
 

Sam spürt, wie sich Gabriels Flügel noch fester um ihn schließt. Er glaubt, dass er, über Rowenas teures Parfum hinweg, nun eine erdige Note riechen kann, die ihn entfernt an Wald erinnert.
 

Merkwürdig.
 

Sollten Engelsflügel nicht eher … luftig riechen? Weniger … irdisch?
 

„Du schaffst das, Sammy!“, hört er eine Stimme in seinem Kopf und diesmal ist es nicht Lucifers. Es ist auch nicht Dean, der zu ihm spricht.

 

 

 

*

 

 

„Sammy.“
 

Sam zuckte zusammen, machte sich klein auf dem Käfigboden, der unter ihm zu glühen schien. Außerhalb der Gitterstäbe tobten Höllenfeuer und die Hitze schlug zwischen dem Metall hindurch wie heißer Atem.
 

Jetzt, da der Kampf unterbrochen war, hielt der stetige Wandel der Engelsgestalten inne. Sie standen vor ihm, ragten hoch über ihn hinaus, wie zwei marmorne Statuen, aber ob um Meilen oder nur um ein paar Fuß, das konnte er nicht sagen. Er fühlte sich in jedem Fall entsetzlich winzig. Entblößt. Es gelang ihm nicht, zu ihnen aufzusehen.
 

„Deine Seele, Sammy ...“
 

Derjenige, der zu ihm sprach, war zweifelsohne Lucifer, auch wenn dessen Stimme nichts mit derjenigen gemein hatte, die Sam von dessen letzten menschlichen Hülle kannte.
 

„Sieh einer an, sie ist längst nicht so im Eimer, wie ich erwartet hätte.“
 

Ein humorloses Lachen, diesmal von einer anderen Stimme, und es klang, wie die Apokalypse selbst, wie das Ende aller Zeit. Michael. Es war Michael, der lachte.
 

„Deine wahre Hülle hat eine erbärmliche Seele, Bruder“, sagte die Statue, die Michael war.
 

Lucifer machte ein äußerst widerwilliges, aber zustimmendes Geräusch. Es hatte die Macht, Kontinente zu spalten.
 

„Sie ist nichts wert, so wie alle anderen Seelen auch. Aber die Hülle war nett.“
 

„Sprich nicht so über Seelen, Lucifer! Und du, Mensch! Winchester! Sieh uns an!“
 

Sam betete. Er wusste nicht, zu wem. Er war eingesperrt mit seinem Halbbruder und zwei Engeln; Erzengeln, zwei der mächtigsten Engel, die je existiert hatten, und ihr Tonfall sagte ihm, dass sie ihn nicht verschonen würden. Zu wem sollte er beten? Zu einem anderen Engel? Zu ihrem Schöpfer? Sein Gebet kannte keine Worte. Und doch betete er fieberhaft.
 

„Ich sagte, du sollst uns ansehen, du Wurm!“
 

Langsam, wie unter Zwang, hob Sam den Blick.
 

Die Gestalten, die Lucifer und Michael angenommen hatten, konnten unmöglich ihrer wahren Form entsprechen. Wahrscheinlich war ihr derzeitiges Äußeres lediglich eine selbst gewählte Erscheinung, um besser mit Sam und Adam sprechen zu können – obgleich Adam für den Moment seltsam uninteressant zu sein schien. Seit sie zu viert im Käfig waren, hatte Sam nicht ein Wort von dem Jungen vernommen. Erstickte Schmerzenslaute, Schreie, ja. Aber kein menschliches Wort. Sam wusste inzwischen nicht einmal mehr, ob sie überhaupt noch sprechen konnten. Sie hatten keine Körper mehr. Sie waren nicht nur im Käfig gefangen, sondern auch in sich selbst.
 

Die abstrakten, ambivalenten Energien namens Lucifer und Michael, die zuvor noch in einen hitzigen Kampf miteinander verwickelt gewesen waren, waren auf ihre Art unheimlicher, verstörender, schwerer zu erfassen gewesen, als das, was Sam jetzt vor sich sah. Dennoch reichte der Anblick aus, um ihn vor Angst und Grauen erblinden oder dem Wahnsinn verfallen zu lassen, hätte er noch menschliche Augen besessen oder einen letzten Rest Klarheit.
 

Die Statuen sahen sich erstaunlich ähnlich: Beide waren gänzlich unbekleidet und erinnerten im entferntesten Sinne an Humanoide, nach deren grobem, marmornen Vorbild Michelangelo seinen David gemeißelt hatte. Zumindest standen die Engel ähnlich aufrecht, wenngleich auch auf sechs muskulösen Beinen, anstatt nur auf zweien. Ihre Körper waren androgyn und geschlechtslos, stählern, unbehaart, aber an manchen Stellen mit Schuppen und Federn bewachsen, die jeweils die Farben ihrer zwölf mächtigen Schwingen trugen: Lucifer wie der brennende Himmel bei Sonnenaufgang, Michael wie flüssige Lava in einem Gewittersturm. Sam konnte nicht sagen, was am schlimmsten an ihrem Anblick war. Dass sie auf ihren Schultern, aus denen jeweils sechs muskulöse Arme mit sechsfingrigen Händen wuchsen, zwölf ungleiche Köpfe trugen, die teilweise entfernt an irdische Tiere erinnerten. Dass inmitten all dieser Köpfe ein dreizehntes gesichtsloses, annähernd menschliches Haupt saß, das größte von allen, über dem etwas schwebte, das wohl ein Heiligenschein sein musste, der, in Lucifers Fall, seltsam zerbrochen und verdreht und irgendwie falsch herum wirkte, als hinge ihm eine zirkuläre Obszönität über dem Kopf. Dass ihre Körper an allen möglichen und unmöglichen Stellen mit Augen und Mäulern und Dornen in unterschiedlicher Größe übersät waren. Dass ausnahmslos alle Augen auf Sam gerichtet waren. Dass manche Münder wisperten, zischelten, sich jedoch kein einziges zu bewegen schien, wenn einer der Engel tatsächlich zum Sprechen ansetzte. In diesem Moment hätte Sam alles dafür getan, um diesen Anblick nicht weiter ertragen zu müssen. Alles.

 

 

 

*
 

„Fünf.“
 

Das Klingeln in Sams Ohren ist so laut geworden, dass er die geschlossenen Augen fest zukneift und sich am liebsten die Hände an den Kopf schlagen würde. Er spürt, wie etwas Heißes träge seinen Kiefer hinabrinnt, während sich seine Finger in die Armlehnen des Stuhls krallen. Blut? Sind ihm etwa gerade die Trommelfelle geplatzt?
 

Das schafft kein Tinnitus.
 

Gabriels schützender Flügel ist plötzlich nur noch eine Ahnung am Rande seines Bewusstseins.
 

„Du schaffst das. Es wird schlimm, das weiß ich. Aber du schaffst das!“
 

Da ist sie wieder, diese seltsame Stimme, die ihm so vertraut ist – auf eine gute Art. Das schwache Echo einer überirdischen Melodie, glockenartig, surreal, tröstlich. Und plötzlich ist der sanfte, warme Druck seitlich an seinem Oberkörper wieder präsenter.
 

Fünf.
 

„Sechs.“
 

„Gut so, Kiddo. Weiter geht‘s! Bleib bei mir … Zähl weiter!“
 

Sechs.
 

Es ist nicht Rowenas Stimme, die in seinem Kopf erklingt und mit einem Mal wird Sam klar, dass es Gabriel ist, der zu ihm spricht. Vielleicht war das mit der Verbindung gemeint, von der er gesprochen hat? Wenn er ihn mit seinem Flügel berührt – einem kleinen Stück seines wahren Selbst, seiner richtigen Gestalt – kann er dann mit ihm über Sams Gedanken kommunizieren?
 

„Du lässt dich zu leicht ablenken, Samshine.“
 

„Sieben.“
 

Rowenas Stimme durchdringt den schrillen Ton in Sams Kopf inzwischen kaum mehr.
 

„Ich bin bei dir, Sam. Los!“
 

S-sieben.
 

Plötzlich fühlt sich Sam, als würde er von innen verglühen. Als würde sein Herz schmelzen, aber dabei in heller Panik weiter schlagen. Dieses Gefühl hatte er schon einmal. Erst ein einziges Mal in seinem Leben. Und er hatte nicht nur gehofft, sich nie wieder so fühlen zu müssen. Er hat sich darauf verlassen. Die Angst vor Lucifer war immer da, ist nie gänzlich verschwunden. Und trotzdem hätte er nie damit gerechnet, dass er sich eines Tages wieder wie mit ihm im Käfig fühlen würde.
 

„Acht.“
 

Zumindest erinnert ihn dieses verbrennende, alles verzehrende Gefühl an damals.
 

„ACHT!“, schreit Sam vor lauter Schmerz und er kann spüren, dass Gabriel den Flügel mit einem Ruck von seiner Schulter reißt. Er will die Augen öffnen. Doch als er es tut, sieht er nur gähnendes Nichts, während das Blut in seinen Adern kocht und er vergeblich nach Sauerstoff japst.

 

 

 

*
 

Sam wusste nicht, wie schnell oder langsam die Zeit in der Hölle verging. Er wusste von Dean, dass wenige Monate auf Erden sich hier unten wie Jahre anfühlten. Hier gab es nichts, woran sich ein Verstreichen der Zeit festmachen ließ und schnell hatte er jegliches Gefühl dafür verloren.

Das einzige, was messbar war, waren die Qualen, die der Käfig für ihn bereithielt. Allmählich fühlte sich das Dasein in ihm an, wie bei lebendigem Leibe bis auf die Knochen zu verbrennen – und das ohne, dass er noch einen Körper besaß. Und da er nicht mehr verbrennen konnte, nicht wirklich, zumindest, nahm das Leid dieses Zustands auch kein Ende. Sam war eine lebende Fackel, die nicht verglühen konnte. Der Höllenkäfig selbst, ein ewiger Aufenthalt in ihm, war Folter genug und es brauchte nicht viel, um zu verstehen, warum diese Strafe für den Teufel als angemessen erachtet worden war: Ein Wesen mit eisigem Gemüt, dazu verdammt, auf ewig zu brennen.
 

Der Gedanke an Dean war ein schwacher Trost, wie ein Tropfen in einem brennenden Abgrund, und es dauerte nicht lange, bis Sam auch das letzte Stück Hoffnung entglitten war. Es gab keinen Ausweg. Das hier war für die Ewigkeit.

Das himmlische Brüderpaar hatte das Kriegsbeil längst nicht begraben, war sich nach einiger Zeit jedoch einig, dass besagte Ewigkeit innerhalb dieses Käfigs schnell langweilig wurde. Zumindest nach etwas, was Sam mindestens für ein paar Jahrzehnte hielt – und nach den Maßstäben zweier Erzengel. Seitdem Lucifer und Michael das erste Mal zu ihm gesprochen hatten, hatten sie tatsächlich nicht mehr miteinander gekämpft. Auch hatten sie ihre soliden, statuenhaften Gestalten abgelegt und sich für eine ganze Weile wieder in ihre ambivalenten, das Nichts des Käfigs ausfüllenden Formen zurückgezogen, von denen aus sie um Sam und Adam herum zu brüten schienen, als warteten sie auf ein Signal, das ein unbestimmtes Ereignis einläutete.
 

Das Warten und die Gewissheit, im Zentrum der Aufmerksamkeit zweier solch andersartigen, machtvollen und hasserfüllten Wesen zu stehen, war schlimmer, als ihren Kampf gegeneinander mitzuerleben. Es war zermürbend. Qualvoll.

Doch irgendwann fasste Sam genug Mut, um sich Adam tatsächlich zu nähern. Was gab es schon zu verlieren? Er hatte nichts mehr.
 

Es war schwer zu sagen, in welchem Zustand sich der Junge befand. Sie konnten nicht miteinander sprechen; in ihrer Körperlosigkeit hatten sie jedwede Möglichkeit des verbalen, mimischen oder gestischen Austausches verloren. Schnell wurde ihnen jedoch klar, dass ihre neue Daseinsform, aus reiner Energie bestehend, über direkten Kontakt miteinander kommunizieren konnte. Es war schmerzhaft, wenn ihre Seelen aufeinander trafen, nahezu unerträglich, wie ein heftiger Stromstoß. Aber es half auch ein wenig. Sie waren beide Menschen – oder zumindest das letzte Bisschen Essenz zweier Menschen, an diesem von Gott verlassenen Ort. Sie klammerten sich verzweifelt daran und an den zusätzlichen Schmerz ihres unmenschlichen Austausches, immer in dem Bewusstsein, dass die beiden Engel jede noch so kleine Regung beobachteten. Dass sie sie aus ihren tausend Augen heraus anstarrten, die in den unergründlichen Tiefen ihrer formlosen Körper verborgen lagen.

 

 

*

 

 

„Neun!“
 

„Sammy? Bleib bei mir. Komm schon!“
 

N- … N-neun.
 

„Zehn!“
 

„Samshine? Samshine! SAM!“
 

Zehn, denkt Sam. Die Schmerzen sind beinahe so schlimm, wie damals im Käfig. Er spürt, wie sein Körper schreit und schreit, aber er weiß nicht, ob auch nur ein Ton aus ihm herauskommt.
 

„Zehn, Sam! Samuel, ZEHN!“
 

In Gedanken ist er ganz ruhig, hört, wie Rowena die letzte Zahl wieder und wieder in sein Ohr ruft. Was will sie ihm damit sagen?
 

Sam spürt, dass er fällt. Spürt, dass sich jemand an ihn klammert, den er mit sich in die Tiefe reißt. Der Abgrund zu seinen Füßen führt direkt in die Unendlichkeit. Und die Unendlichkeit ist eine Strafe. Seine Strafe.
 

Unsere Strafe.
 

Aber wer ist es, der ihn nicht loslassen will? Oder ist es genau andersherum und Sam zwingt die zweite Gestalt zum Fall?
 

Ist es Adam? Lucifer? Michael?
 

… Gabe?
 

„SAM!“
 

Es sind zu viele Stimmen, die seinen Namen rufen. Zu viele Stimmen, die alle etwas völlig anderes meinen, etwas Unterschiedliches in ihm auslösen.
 

Dean.
 

Cas.
 

Mom. Jack. Jess.
 

Rowena.
 

Dad. Adam. Azazel. Ruby.
 

Lucifer.
 

Gabe. Gabriel.
 

Z-zehn. Zehn!
 

Und dann ist Lucifer bei ihm.

 

 

 

*

 

 

Der eigentliche Spaß begann erst, als Lucifer und Michael sich dazu entschlossen, ihre Hüllen wieder zu besetzen. Michael zog dabei ein wenig den Kürzeren; immerhin war Adam nicht seine wahre Hülle. Aber nachdem die Erzengel ihre sterblichen, menschlichen Körper rekonstruiert hatten, erreichten die Torturen Ausmaße, die sich Sam, selbst nach all dieser Zeit im Käfig, niemals hätte ausmalen können.
 

Lucifer und Michael nahmen den Kampf gegeneinander wieder auf. Dabei trugen sie Adam und Sam wie den lachhaften Abklatsch menschlicher Rüstungen. Aber das, was sie sich antaten, war grausam und fern jeglicher Humanität.

Michael war ein kontrollierter, jedoch reizbarer Gegner, während Lucifer grundsätzlich impulsiv und launenhaft agierte – im Kampf wie auch sonst in jeder Situation. Beide Techniken erwiesen sich gelegentlich als Vorteil und alles in allem gab es bei all den Kämpfen nie einen eindeutigen Ausgang. Es zeigte sich bald, dass sie an diesem Ort nicht töten konnten, weder einander noch sich selbst. Offenbar galt das auch für Sam und Adam. Ihre Körper mochten in Mitleidenschaft gezogen werden, doch sie ganz auszulöschen, bis zum letzten Aufflackern ihrer gemarterten Seelen, gelang den Erzengeln niemals.

Sobald die beiden die Lust an ihrer physikalischen Auseinandersetzung verloren hatten, heilten sie die Wunden von Sam und Adam bis zur vollkommen Unversehrtheit und wenn Lucifer langweilig, aber nicht nach Streitereien mit seinem Bruder zumute war, folterte er Sam in dessen eigenem Körper, während er ihn weiter von innen heraus besetzt hielt.
 

Es gab nichts im Käfig, keinerlei Gegenstände oder Gerätschaften, aber der Erzengel war einfallsreich und benutzte, was Sams Körper eben hergab – Fingernägel, Zähne, selbst Strähnen seiner Haare, um ihm Schmerzen und vor allem seelisches Grauen zu bereiten. An einem Tag skalpierte er Sam mit einem einzigen Griff seiner eigenen Hand. An einem anderen stach er ihm wiederholt die Augen mit den Fingern aus. An wieder einem anderen entmannte er ihn einige Male, bis er auch daran die Lust verlor. Was es zu brechen gab, brach Lucifer, was zu entfernen war, riss Lucifer heraus. Das ewige Brennen der Hölle im Käfiginneren begleitete jeden Schmerz, den der Lichtbringer ihm bescherte.
 

Michael beobachtete Lucifer bei alldem meist gelangweilt. Er zeigte keinerlei Interesse an derartigen Aktivitäten an oder mit Adam, jedoch schien er eine Art perverse Freude dabei zu empfinden, Adam zum Zuschauen zu zwingen.
 

Am schlimmsten war nicht, was Lucifer Sams Körper immer und immer wieder aufs Neue antat. Am schlimmsten war, dass Sam allmählich fühlte, wie seine Seele dabei zugrunde ging. Sie konnte nicht ausgelöscht werden, offensichtlich nicht, aber er fing an, sich danach zu sehnen. Nach dem Ende. Nach einem Nichts, das endgültiger und stärker und erlösender war, als das Nichts im Käfig, das sie umlauerte, wie ein hasserfülltes, vor Wut kochendes Tier.

Gegenwart und Fluch

„Geh zur Seite, Mutter.“
 

„Oh, und wie ich zur Seite gehe, Fergus! Ich bin weg!“
 

Rowenas Stimme klingt schrill und hysterisch, das erreicht Sam selbst durch den dichten Nebel, der sein Hirn wieder einmal einzulullen scheint. Wie oft ist er in der letzten Zeit eigentlich ohnmächtig geworden? Allmählich verliert er den Überblick …
 

„Rede nicht so viel und lass mich endlich durch, Frau!“, sagt Crowley scharf und Sam muss sein Gesicht dazu nicht sehen, um zu wissen, dass die dunklen Augen vor Zorn und Gereiztheit Funken sprühen.
 

Er spürt, wie ein Schatten über ihn fällt. Sam hat nicht die Kraft, schützend die Hände vors Gesicht zu heben, aber vermutlich ist das auch nicht notwendig. Er ist nicht in der Hölle, nicht mehr. Sam ist zu Hause und gerade ist niemand in der Nähe, der Gefahr bedeutet ... Sonst würden sie nicht alle um ihn herum so verhältnismäßig ruhig bleiben, während er selbst hier wie ein sterbender Schwan auf der kalten Erde liegt. Sam weiß übrigens instinktiv, dass der Schatten diesmal nicht Gabes Flügel ist, der sich schützend in der Luft über ihm ausbreitet, und seltsamerweise erfüllt ihn diese Erkenntnis mit tiefem Bedauern.
 

„Er wacht auf.“
 

Es ist eine Feststellung und, sollte sie Sam gelten, kann er sie nur als zutreffend bestätigen. Die reale Welt um ihn herum überlagert den Alptraum, den er endlich, endlich wieder verlassen zu haben scheint. Er versucht zu blinzeln. Seine Augenlider fühlen sich an wie zusammengenäht.
 

„Ich habe alles gesehen, Fergus. Alles. Wenn du wüsstest, wie –“
 

„Ich weiß, wie!“, faucht Crowley.
 

Den Geräuschen nach zu urteilen, findet über Sam in diesem Moment ein kurzes Gerangel statt und er stöhnt protestierend auf. Nicht einmal jetzt können sich diese Idioten zusammenreißen …
 

„HEY! Feierabend!“, schaltet sich eine erstaunlich bedrohliche Stimme ein, die den ganzen Raum auszufüllen scheint.
 

Gabe. Endlich.
 

Nicht zu fassen, dass ausgerechnet der Erzengel derjenige sein soll, der in dieser Situation angemessen reagieren kann. Sam spürt Hände, die nach seinen Armen greifen und ihn mit übermenschlicher Kraft, wenngleich behutsam, in eine aufrechte Position ziehen. Widerstandslos sinkt Sam gegen etwas, das sich wie ein fester Körper anfühlt, der seinen Rücken nun von hinten stützt. Abermals blinzelt er und diesmal gelingt es ihm, die Augen zu öffnen.

Es ist hell, viel zu hell, im Vergleich zu dem gähnenden Schlund aus seinem Traum, doch noch während sich seine Augen an die Umgebung gewöhnen, erkennt er Gabriel, der mit besorgtem Gesicht vor ihm kniet.
 

Wie merkwürdig. Wenn Gabriel direkt vor ihm ist – an wen gelehnt sitzt Sam dann auf der Erde? Die zu erwartende Panik bleibt aus. Es ist, als hätte sein Körper inzwischen auch den letzten Tropfen Adrenalin aus ihm herausgepresst und sei nun zu nichts anderem mehr als emotionaler Erschöpfung fähig. Er hat bereits alles gesehen, alles durchlebt; nun schon zum zweiten Mal in seiner jämmerlichen Existenz. Sam hat das Gefühl, dass er jetzt vor nichts auf der Welt mehr Angst haben kann. Selbst, wenn es Lucifer persönlich sein sollte, der ihn von hinten beinahe so liebevoll umarmt, wie ein Vater seinen Sohn, dem er Trost zu spenden versucht.
 

Trost
 

Auf der Suche nach etwas Vergleichbarem sucht Sam Gabes Blick noch einen Moment länger, findet jedoch statt Rückhalt oder Frieden für sich selbst nur Sorge und tiefes Beunruhigen in den bernsteinfarbenen Tiefen. Gabriel sieht so aus, als würde er gern die Hand nach ihm ausstrecken, aber sei sich nicht sicher, ob Sam es zulasse. Für das Warum? fehlt es seinem Kopf in diesem Augenblick jedoch an Kapazität. Er kann sich später darüber Gedanken machen.

Das Gezanke im Raum ist zu einem angeregten Tuscheln im Hintergrund geworden. Er blendet es ebenfalls aus, sieht stattdessen an sich herab und entdeckt, dass die Arme, die ihn halten, in den verblichenen Ärmeln eines beigefarbenen Trenchcoats stecken.
 

Cas.
 

Es ist Cas, der ihn fest umschlungen hält. Vor Erleichterung wäre er beinahe in Tränen ausgebrochen. Erleichterung, ja, ein Gefühl, das noch Raum in ihm einnehmen zu können scheint. Ein Gefühl, das ihm geblieben ist, ihm einen letzten Rest Menschlichkeit bewahrt.
 

Mit einem Mal ist es mucksmäuschenstill und Sam gelingt es, nun auch die anderen Gestalten um sich herum wahrzunehmen.

Hinter Gabe stehen Crowley und Rowena, einander halb zugewandt und jeder von ihnen in einer Haltung, als würde er dem jeweils anderen am liebsten jeden Moment an die Gurgel gehen, während Sam jetzt ihre erstaunlich betroffenen Blicke auf sich ruhen fühlt.
 

Sam tätschelt schwach mit der flachen Hand Cas‘ Unterarm, den der Engel um seine Mitte geschlungen hält, woraufhin dieser seinen Griff verstärkt, ihm noch mehr Halt gibt. Es tut gut, nicht allein zu sein. Doch etwas fehlt. Vielmehr jemand, der wichtigste Jemand in Sams gottverdammtem Leben.
 

„Wo ist Dean?“, krächzt er und fährt zusammen, sobald die erste Silbe seine Lippen verlässt. Einerseits tut das Sprechen höllisch weh, beinahe so, als hätte er sich stundenlang heiser geschrien. Und andererseits klingt seine Stimme selbst in den eigenen Ohren so fürchterlich, als träfe eben genau das zu. Sam schluckt und es fühlt sich an, als würde etwas Blut heiß und zähflüssig seinen Rachen hinab rinnen.
 

Das betretene Schweigen hält an. Niemand antwortet ihm. Er holt zitternd Luft, um genug Atem für die nächste Frage zu sammeln.
 

„Und Mom?“
 

Auch sie sollte unter den Anwesenden sein. Vermutlich haben sie genug Lärm gemacht, um so weitläufig im Bunker zu hören zu sein, dass es niemanden mehr unter ihnen geben dürfte, der nicht mitbekommen hat, an welche Art von Experiment sie sich hier gewagt haben. Wie viel Zeit wohl verstrichen ist, seit Rowena mit der Hypnose begonnen hat?
 

Noch immer macht sich niemand die Mühe, Sam eine Antwort zu geben. Seine tränenden Augen stechen in den Höhlen, als er sie suchend durch den Raum wandern lässt; nicht zuletzt, um den quälend mitleidigen Blicken vor sich zu entgehen. Keine Spur von Dean oder Mary – und übrigens auch nicht von Jack. Was geht hier vor?
 

Er seufzt, wobei seine Lungen ein bedenkliches, rasselndes Geräusch von sich geben und versucht, sich aus eigener Kraft so aufzurichten, dass er nicht länger gegen Cas lehnt. Der Engel hindert ihn nicht daran, aber er entfernt sich auch nicht aus seinem persönlichen Freiraum, so als wisse er ganz genau, dass Sams Muskeln jederzeit wieder schlapp machen könnten. Eigentlich ein lächerlicher Gedanke, wenn man bedenkt, wie viel Zeit und Training er in seinen Körper investiert. Soll das jetzt bedeuten, dass er sich weder auf seinen Geist, noch auf seinen Körper verlassen kann?
 

Also gibt es nichts mehr, was mir bleibt.

Vermutlich sollte ihn dieser Gedanke mehr aufwühlen.
 

„Leute, redet mit mir! Was haben wir?“, stößt er hervor und versucht sich an einem erzürnten Lachen. Sogar für ihn selbst klingt es wie Wimmern.
 

„Jetzt sagt schon! Rowena! B-bin ich verrückt oder ist es Lucifer?“

Sam keucht und bricht ab. Um mehr Fragen zu stellen, fehlt ihm der Atem. Wieder fühlt er sich, als sei er meilenweit vor den schrecklichen Vögeln davon gerannt. Die Vögel, von denen er noch niemandem erzählt hat.
 

Die Vögel, die er inzwischen ganz bewusst mit Castiel, Gabriel und Lucifer assoziiert. Vielleicht ist der Moment der Klarheit Resultat des Alptraums, aus dem er soeben erwacht ist. Vielleicht hat es etwas mit der Hypnose zu tun oder vielleicht erschließt sich sein Hirn all die Antworten selbst, die ihm niemand hier im Raum geben zu wollen scheint.
 

Sam spürt, wie Cas hinter ihm eine kleine Bewegung macht. Der schwarz-weiße Vogel, den er auf dem Waldboden zuerst hat sterben sehen, war ein Symbol für Castiel. Ganz klar.
 

Cas stirbt. Er wird sterben, wegen mir.
 

Magensäure bahnt sich unheilvoll ihren Weg nach oben, steigt ihm bitter in die Kehle, erneut begleitet von dem schweren, metallischen Geschmack seines eigenen Blutes.
 

Rowena gibt im Hintergrund einen unbestimmten Laut von sich. Es klingt wie eine Mischung aus Schmerz und Bedauern.
 

„Jemand gebe Samuel endlich etwas Wasser! Gabriel! Fergus! Macht euch nützlich!“
 

Crowley beugt sich dem herrischen Tonfall seiner Mutter nicht, sondern wirft ihr nur einen stirnrunzelnden Blick zu, als wollte er ihr damit sagen: ‚So leicht lasse ich dich nicht aus den Augen.‘

In Gabriel wiederum kehrt augenblicklich Bewegung; er springt auf und verlässt tatsächlich den Raum, als habe er einen Befehl erhalten. Ein ungewöhnliches Verhalten für den sonst so widerspenstigen Erzengel, doch statt sich darüber zu wundern, sieht Sam ihm nur nach, bis er um die Ecke verschwunden ist. Das Kriegszimmer fühlt sich mit einem Mal ein paar Grad kälter an.
 

„Cas, was ist los?“, flüstert Sam über die Schulter. Crowley und Rowena scheinen derweil erneut in ein halblautes Streitgespräch vertieft zu sein, denn sie haben wieder damit begonnen, sich gegenseitig anzufunkeln, während sie sich wütende Unverständlichkeiten entgegen zischen. Von dem bisschen, das Sam heraushören kann, scheint es wohl darum zu gehen, dass Rowena sich immer noch aus dem Staub machen will und sich offenbar weigert, eine klare Aussage über Sams Geisteszustand zu treffen.
 

„Dean und Mary scheinen nicht im Bunker zu sein“, antwortet Cas hinter ihm leise. Er klingt bedrückt.

„Jack sucht gerade nach ihnen. Ich habe ihn darum gebeten, als er vorhin zu uns gestoßen ist. Ich wollte nicht, dass er ...“
 

Cas unterbricht sich und seufzt unheilschwer.
 

„Du wolltest nicht, dass er Lucifer so nahe kommt. Oder dem, was er mir angetan hat“, schließt Sam für ihn. Es ist keine Frage. Alles hier hat mit Lucifer zu tun. Ob er nun in diesem Moment höchstpersönlich unter ihnen weilt, oder nicht – Sams Zustand ist auf jede erdenkliche Art dem Teufel zu verdanken.
 

„Ja“, sagt Cas schlicht und hilft Sam behutsam dabei, auf die Beine zu kommen. Als er endlich steht, muss er sich am Arm des Engels festklammern, der mit festem Griff beinahe sein ganzes Gewicht stützt. Sams Beine sind so wackelig, als gehörten sie überhaupt nicht zu seinem Körper. Eigentlich fühlt sich alles an ihm an, als gehöre es nicht zu ihm, als stecke sein Bewusstsein in einer hölzernen Marionette, deren Puppenspieler nicht die geringste Ahnung davon hat, wie sie zu führen sei. Gleichzeitig tut ihm alles weh, ist jede einzelne Faser seiner Existenz so schmerzlich präsent, dass ihm das Atmen immer noch schwer fällt. Wie gern würde er sich jetzt einfach ins Nichts sinken lassen. Nicht in das Nichts aus dem Käfig. Auch nicht in das Nichts seiner Seelenlosigkeit. Das tröstliche, beruhigende, stille Nichts, in der es weder Gestern noch Morgen gibt. Das Nichts, in dem er endlich aufhört, zu sein.
 

„Sam.“
 

Gabriel steht plötzlich vor ihm. Sam hat ihn gar nicht kommen sehen. Der Erzengel hält ein Glas Wasser in der Hand. Sam nimmt es fahrig entgegen, ist dankbar dafür, dass Gabe das Glas erst los lässt, als er schon im Begriff ist, es sich gierig zu Munde zu führen, und selbst dann hält Gabriel die Hand darunter ausgestreckt, so als rechne er damit, dass Sam das Glas jeden Moment fallen lassen könnte. Um ehrlich zu sein, rechnet auch Sam damit.
 

„Sam, sieh mich an.“
 

Sam leert das Glas in zwei großen Zügen, an denen er sich fast verschluckt. Er erwidert Gabes durchdringenden Blick. Die albernen Spitznamen fehlen ihm plötzlich. Er setzt zu einem Lächeln an, erinnert sich dunkel an das bemitleidenswerte Geräusch, das ihm zuvor anstatt eines Lachens entwischt ist. Also lässt er es lieber.
 

„Danke, Gabe“, haucht er stattdessen rau. Seine Kehle brennt noch immer, aber das Wasser hat die schreckliche Trockenheit darin etwas gelindert.
 

„Ich weiß, dass du mir geholfen hast. Du warst da.“
 

Sams Wangen schmerzen. Sein Gehirn scheint nicht begriffen zu haben, dass er sich gegen ein Lächeln entschieden hat. Die Grimasse, die er stattdessen zieht, muss scheußlich aussehen, denn aus Gabes Gesichtsausdruck spricht nun mehr Sorge als je zuvor.
 

„Ich war da.“

Gabe nickt langsam.

„Ich habe alles gesehen, Sammy. Und du solltest dich jetzt ausruhen.“
 

Nenn mich nicht Sammy, will Sam sagen. Es ist ein Reflex, so wie Niesen oder Blinzeln. Nur Dean darf ihn so nennen. Aber Dean ist nicht da.

Nenn mich nicht Sammy, will Sam sagen, wie um damit Deans Abwesenheit nicht zu laut im Raum werden zu lassen, um die Leere, die er hinterlässt, wenigstens ein klein wenig zu füllen. Doch stattdessen fällt ihm das Glas aus der Hand. Gabriel fängt es auf und Castiel fängt Sam auf. Er war nicht in der Lage, das Glas zu halten oder auf den Beinen zu bleiben – genau so, wie beide Engel es vorhergesehen haben. Gabe weiß, wann Sam die Dinge zu entgleiten drohen. Cas weiß, wann Sam dazu neigt, sich selbst zu überschätzen. Die schmerzliche Lücke im Bild hinterlässt Dean. Dean weiß, wann Sam seinen Bruder braucht.
 

Eigentlich weiß er das ...
 

„Bring ihn in sein Zimmer, Cassie. Ich mache das schon. Ich kümmere mich um ihn ...“, ist das letzte, was Sam hört, bevor ihn das Nichts heimsucht, nach dem er sich so sehr gesehnt hat.
 

 

*
 

Als Sam das nächste Mal aus einem erfreulich traumlosen Dunkel heraus zu sich kommt, ist die Abwesenheit Gabriels abermals eines der Dinge, die er an seiner Umgebung zuerst wahrnimmt. Zwar konnte sein schützender Schatten ihm gegen die Bedrohung aus seiner Vergangenheit nicht beistehen, doch ist es das erste Mal gewesen, dass ihn jemand in seine Abgründe hinein begleitet hat, ohne ihn dort allein zurückzulassen. Ohne vor Entsetzen sofort wieder Kehrt zu machen.

Aber allein ist er auch nicht; an Gabriels Stelle ist jemand anders da, das kann er deutlich spüren.
 

Sam reißt die Augen auf. Er weiß, dass er nicht im Käfig ist, nicht im Käfig sein kann, aber er braucht die Gewissheit. Als könnte ein Blick allein die Bestätigung dafür liefern, ob er sich noch in der Realität befindet … Schließlich hat der Lucifer seiner Erinnerung immer äußerst überzeugend darauf bestanden, dass Sams Wirklichkeit die wahre Illusion sei. Und die letzten verstörenden Bilder, die Sam gesehen hat, waren einfach zu real – mehr als nur eine Erinnerung an das, was einmal wirklich gewesen ist.
 

Real fühlt sich glücklicherweise auch das zerknüllte Bettlaken in seinen zu Fäusten geballten Händen an; nahezu schmerzhaft wirklich ist das matte Licht der Nachttischlampe in seinen empfindlichen Augen, selbst gedimmt durch den schweren, in die Jahre gekommenen Schirm. Und Dean und Rowena, die am Fuße seines Bettes sitzen und tief in ein flüsternd ausgetragenes Streitgespräch versunken zu seinen scheinen, wirken ebenfalls äußerst überzeugend und leibhaftig in ihrer Anwesenheit in seinem Schlafzimmer.
 

„Tu, was du nicht lassen kannst“, presst Dean in diesem Moment zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Seine Stimme ist ein bedrohliches, lautes Zischen; offensichtlich hat er Sams Erwachen bisher nicht bemerkt.

„Lass dich nicht aufhalten, geh! Aber tu nicht so, als würd‘s dir leidtun und vergeude unnötig unsere Zeit -!“
 

Rowena wirkt auf Deans scharfe Worte hin erstaunlich niedergeschlagen, das fällt Sam selbst in seinem benommenen Zustand auf. Nichtsdestotrotz gelingt es ihr, die Vorwürfe seines Bruders mit einem spitzzüngigen Konter niederzuschmettern.
 

„Liebes, so gern ich mir normalerweise auch deine undankbaren Unverschämtheiten anhöre, wir sollten dieses Gespräch auf ein andern Mal verlegen. Samuel!“
 

Dean ist nur für den Bruchteil einer Sekunde verdattert, als sich die Hexe von ihm abwendet. Sobald er sieht, dass Sam bei Bewusstsein ist, springt er von seinem Stuhl auf und schießt förmlich an seine Seite.
 

„Sammy!“
 

Sams Kopfschmerzen sind zu einem dumpfen Hämmern in Schläfen und Nacken verebbt, doch das bedeutet nicht, dass die ruppige Umarmung, in der Dean seinen Oberkörper von der Matratze hochreißt, seinem geschundenen Körper besonders willkommen ist. Mit einem erschöpften Grunzen und einer willenlosen Stoffpuppe gleich fällt er in Deans Arme, bis es ihm schließlich gelingt, eine Hand zu heben, um seinem Bruder beruhigend auf die Schulter zu klopfen.
 

Endlich ist er da, denkt Sam und, trotz Schmerzen, schwelgt er für einen winzigen Moment in der Welle aus Zuneigung, Erleichterung und in der Wärme der brüderlicher Umarmung.

Dean ist da!
 

- Aber helfen kann er dir nicht. Wird er nicht. Er hat dich allein gelassen. Wo war er, als du ihn einmal in deinem Leben wirklich gebraucht hast?
 

Die leise Stimme in seinem Ohr ist zu leicht zu ignorieren, um ihr viel Beachtung zu schenken und wer kann schon sagen, ob ihm sein malträtierter Geist nicht nur wieder einen Streich spielt? Der Stich in seiner Brust ist trotzdem so schmerzhaft, dass ihm kurz der Atem stockt.
 

Ein und aus, ein, wieder aus …
 

Dean muss sein Keuchen zweifelsohne bemerkt haben, denn er lässt ihn sofort los, und ausnahmsweise einmal ist Sam ihm dafür dankbar, dass sein Bruder grundsätzlich auf gefühlsbetonte Fragen, wie der nach seinem Wohlbefinden, verzichtet. Vielleicht allein deshalb, weil Sams Zustand nach außen hin mehr als offensichtlich sein muss. Unbeholfen zerquetscht Dean ihm nun die Hand, als wolle er ihn mit dem Klammergriff daran hindern, aus dem Bett zu fliehen oder sich gar in Luft aufzulösen.
 

‚Hölle, Sammy‘, scheint sein gehetzter Blick zu sagen und Sam bemerkt auf einmal, dass Deans Gesicht einen ungesund gräulichen Ton angenommen hat, zu dem seine blutrot zerkauten Lippen einen unangenehm scharfen Kontrast bilden.

‚Schon wieder die Hölle. Und ich war nicht da.‘

Deans Selbstvorwürfe mögen unausgesprochen sein, doch erscheinen sie Sam fast genau so greifbar wie das körperlose boshafte Flüstern zuvor.
 

„Nun, da du dich vergewissert hast, dass ich deinem Liebsten während der Hypnose nicht ein Haar gekrümmt habe – nicht wirklich, jedenfalls – muss ich darauf bestehen, ein paar Worte allein mit ihm zu wechseln!“, unterbricht Rowena sie mit einer Art drängenden Bedauerns.

Dean wirft ihr einen vernichtenden Blick zu, doch Rowena winkt nur ab und flicht ihrer Stimme mit spielerischem Geschick den Hauch einer Mahnung ein:
 

„Erinnere dich daran, was wir besprochen haben, Darling! Ihr schuldet mir etwas.“
 

Nach sichtlichem inneren Ringen, einem langen Blick in Sams Gesicht, das von Verwirrung und Erschöpfung deutlich gezeichnet sein muss, und nachdem Dean ein letztes Mal zugedrückt hat, gibt sich sein großer Bruder doch geschlagen – und Sams Hand endlich frei.
 

„Ich warte vor der Tür!“, sagt er warnend in Richtung der Hexe, so als könne er sie mit der verbalen Drohung und seiner Wache auf dem Gang in Schach halten.

Gemeinsam, Rowena mit einem kleinen, bedrückten Lächeln auf den perfekt bemalten Lippen, sehen sie ihm nach, bis die Tür hinter seinen schweren Schritten ins Schloss fällt.
 

 

*
 

Die Schwere in seinem Herzen scheint auch von außen auf seinen Schultern zu lasten, auf seinen Schläfen, seinen Armen und Augenlidern – er spürt dieses gewaltige Gewicht überall an seinem Körper an sich zerren, als wolle es ihn durch Matratze und Lattenrost hindurch zu Boden drücken.

Sam gibt sich Mühe, sich etwas mehr im Bett aufzurichten. Er weiß, dass es albern ist; Rowena stellt zwar mit Vorliebe ihr Beharren auf Etikette zur Schau, aber Sam ahnt, dass sie ihm in diesem Zustand eine Menge verzeiht. Immerhin saß sie bei seinen gelebten Erinnerungen während der Hypnose direkt mit Gabriel in der ersten Reihe.

Sam fragt sich, ob sie, wie er selbst, Lucifers und Michaels grausame Stimmen hören, den Geschmack von Blut und sengendem Fleisch wie Säure im Mund brennen fühlen konnten …

Alles nicht mehr als ein Echo der Jahre zurückliegenden Ereignisse, und doch so fürchterlich und greifbar, dass Sam unter der Bettdecke heimlich seine Gliedmaßen zählt. Nur, um ganz sicher zu gehen.
 

Rowena scheint in etwa eine Vorstellung davon zu haben, was in seinem Kopf vor sich geht. Nachdem er sich, auch ohne nachzusehen, sicher ist, noch alle zehn Zehen zu haben, wird er sich ihres nachsichtigen Blickes gewahr, mit dem sie ihn nun wohl schon seit einer ganzen Weile mustert. Nervös ballt Sam die rechte Hand zur Faust, spürt mit Genugtuung, wie sich seine Nägel tief in die wulstigen Erhebungen der alten Narbe auf seiner Handfläche graben. Die Narbe ist echt. Sie erinnert Sam stets daran, dass er lebt, und was wirklich ist. Sie gibt ihm beinahe das Gefühl, dass Dean noch im Raum ist, um ihm bei den unbestreitbar schrecklichen Neuigkeiten beizustehen, die Rowena ihm jeden Moment eröffnen wird.
 

„Es gibt keinen Weg für mich, dir das, was ich zu sagen habe, schonend beizubringen, Kiddo“, beginnt sie schließlich, nachdem sie sich vergewissert zu haben scheint, dass seine Aufmerksamkeit bei ihr in der Gegenwart weilt.
 

Sam schluckt hart, und ist sich noch im selben Moment bewusst, dass ihre Augen der Bewegung seines nervös hüpfenden Kehlkopfes folgen. Dass sie jedes noch so winziges Anzeichen seiner Angst von ihm wahrnimmt, wie ein besonders lästiger Seelenklempner.
 

Vielleicht ist genau das, was ich brauche, denkt er. Einen Therapeuten, jemand, der mich nicht infrage stellt, sondern zuhört, wenn ich schon auseinander genommen werden muss …
 

„Es muss schlimm genug sein, wenn du uns deshalb verlassen willst“, sagt Sam schlicht und stellt fest, dass seine Stimme nicht annähernd so furchtbar klingt, wie noch unmittelbar nach der Hypnose.
 

Rowena wirkt nicht überrascht davon, dass er ihre Pläne in all dem Durcheinander mitbekommen hat; andersherum erstaunt es Sam, den Anflug eines schlechten Gewissens über ihre eleganten Züge huschen zu sehen.
 

„Ich dachte eigentlich, du wüsstest, wie schrecklich Lucifer wirklich sein kann … Du hast sein wahres Gesicht gesehen!“
 

Bei der Erwähnung des Namens zuckt sie zusammen, so als habe er ihr einen Schlag verpasst.
 

„Ich konnte nicht alles von dem sehen, was du in deiner Trance durchgemacht hast, Samuel“, haucht sie mit bebenden Nasenflügeln, ihre Augen vor unverhohlener Angst geweitet. Dunkel erinnert sich Sam daran, dass sie vor Crowley noch etwas anderes behauptet hat.

„Aber es war genug. Mir ist noch nie jemand begegnet, der solchen Schrecken erlebt hat. Zumindest niemand, der noch lebt und halbwegs bei Trost ist, der gehen und sprechen kann und ein mitfühlendes Wesen mit wenigstens dem Hauch eines Verstands ist! Du bist ein Wunder, Sam Winchester!“
 

Ein Wunder.
 

So hat ihn bisher noch niemand genannt. Eine Absurdität, eine böswillige Laune der Natur vielleicht, ja, aber noch nie ein Wunder. Sam ist sich nicht sicher, ob er in diesem Zusammenhang überhaupt eines sein möchte. Viel lieber wäre er manchmal einfach tot – allerdings hat er genug von dem gesehen, was ihn für seine Taten auf der anderen Seite erwarten wird, was seinem Überlebenswillen, insbesondere in der letzten Zeit, noch einmal einen gewaltigen Schub verpasst hat.
 

Sam geht also über Rowenas eigentümliches Kompliment hinweg, nicht ganz sicher, ob es überhaupt als solches gemeint war.

„Du hast zu mir gesagt, die Hypnose würde mich an den Punkt bringen, an dem Lucifer das letzte mal persönlich Einfluss auf mich hatte. Ich habe … Du weißt, was ich gesehen habe. Das ist acht Jahre her. Bedeutet das, dass ...“
 

„Dass du verrückt geworden bist, Sammylein, nichts anderes!“
 

Die Matratze senkt sich plötzlich unerwartet rechts neben ihm unter dem Gewicht eines menschlichen Körpers, der sich, wie aus dem Nichts heraus, nun darauf niederlässt. Sam hält den Blick fest auf Rowenas Gesicht gerichtet. Er versucht alles, um zu ignorieren, dass sich die vertraute Gestalt der vom Zerfall zerfressenen Hülle Lucifers neben ihm auf dem Bett fläzt.
 

Rowena antwortet nicht, sondern betrachtet ihn immer noch eingehend, so als versuche sie abzuschätzen, wie viel Wahrheit er heute noch verkraften kann.

Fest ballt Sam die Faust, drückt auf die Narbe in seiner Handfläche. Die Haut darüber ist, seit die Verletzung vollständig abgeheilt ist, leider vollkommen gefühllos geworden, weshalb der von ihm gewünschte Effekt ausbleibt.
 

„Rowena!“, entweicht es ihm unter vor Anspannung angehaltenem Atem. Er weiß nicht, was er tun soll. Jetzt, da er sich so schrecklich bewusst darüber ist, dass der einzig bewährte Schutz gegen die Halluzinationen für immer der Vergangenheit angehört, findet er nach dem heutigen Tag nicht die Kraft, Lucifer noch lange zu ignorieren.
 

„Sag mir, dass es nicht echt ist! Sag mir, dass niemand in Gefahr ist!“
 

Er hört sich selbst flehen und betteln, hilflos, wie ein kleines Kind, glaubt nicht daran, dass die Wahrheit der Hexe tatsächlich einen Unterschied für ihn machen wird, während Lucifer neben ihm amüsiert auflacht.

Er sieht das Grauen in Rowenas angsterfülltem Gesicht, das sie hinter einem beruhigenden Lächeln zu verbergen versucht und er weiß, dass sie nicht sehen kann, was er sieht, nicht hören kann, was er hört, aber dass sie eine ungefähre Ahnung von dem haben muss, was sich für ihn in diesem Augenblick im Zimmer abspielt.
 

„Mein Sammy steht im Walde,

ganz still und stumm!

In ihm ist der Teufel,

bringt alle ander‘n um!

Seht doch, wie mein Sammy weint,

er ist ein Mörder, wie es scheint,

mit dem purpur ro-ho-ten Blut am Mund!“
 

„Es ist nicht Lucifer persönlich, aber es ist ein Teil von ihm …“, sagt sie leise, aber doch fest und klar genug, um damit Lucifers grausigen Singsang zu übertönen.

„Es ist der Rest seiner Gnade, den er in dir nach all der Zeit in der Hölle zurückgelassen hat und der jetzt, da sein Besitzer in dieser Welt erneut zu Kräften zu kommen versucht, zu ihm zurückstrebt!“
 

Erinnerungen an Gadreel und Cas‘ Erklärung über das Zurückbleiben von Gnade in einer Hülle, nachdem ein Engel sie wieder freigegeben hat, flackern durch seinen Geist. Sollte die Dauer, die ein Engel eine Fleischhülle in Anspruch nimmt, eine Rolle bei der Menge der Gnade spielen, die sich im menschlichen Körper ansammelt, muss das, was von Lucifer in Sam selbst zurückgeblieben ist, beachtlich sein. Wie kommt es aber, dass bisher kein Engel etwas davon bemerkt hat – nicht einmal Gadreel, der immerhin über Wochen hinweg versucht hat, seinen Geist von innen heraus zu heilen?
 

„Ich habe immer noch einen Rest von Lucifer in mir?“, flüstert Sam und spürt, wie die vorherige Schwere in seinen Gliedmaßen einer eisigen Kälte weicht, die nichts mit der tatsächlichen Temperatur um sie zu tun hat.
 

„Genau so, wie es sein sollte, Sammy. Wir sind eins!“, flüstert Lucifer und spielt mit Sams Haar.
 

Nur am Rande bekommt er mit, dass sich Rowenas Augen über das Grauen in seinem eigenen Gesicht mit Tränen füllen.

Persönlicher Freiraum

Lucifer ist irgendwann von selbst aus seinem Zimmer – oder seinem Kopf – verschwunden, nachdem Sam sich lange genug auf die Worte der Hexe konzentriert hat. Rowena hat sich nicht leicht damit getan, herauszurücken, warum sie den Bunker bis auf Weiteres verlassen will, aber es fällt Sam andersherum nicht schwer, nachzuvollziehen, dass ihr eigenes Trauma mehr als Grund genug ist, sich von ihm fernzuhalten. ‚Wunder‘, wie sie ihn genannt hat, hin oder her – seine Besonderheiten machen ihn nicht gerade zu der Gesellschaft, in der es sich am angenehmsten die eigenen Wunden lecken lässt.
 

Aber da ist noch mehr; überaus vorausschauende, überraschend logische Hintergründe, die Rowena dazu bewegen, den Winchesters und Team Free Will den Rücken kehren zu wollen und so schnell das Weite zu suchen, wie Dean, der sich vermutlich immer noch ungeduldig vor der Tür die Beine in den Bauch steht, es zulassen wird:

Natürlich wird Lucifer, in seinem Streben nach alter Größe und um den ganzen Planeten seinem persönlichen Vergnügen zu unterwerfen, kein Mittel zu schade sein, und unter Garantie schreckt er auch nicht davor zurück, jedem noch verbliebenen Engel auch den letzten Tropfen Mojo abzuzapfen, den dieser in sich trägt. Rowena macht allerdings ihre Überzeugung davon deutlich, dass die eigene Gnade ihren ganz besonderen Reiz auf den Teufel ausüben muss. Hinter all der Impulsivität und kindischen Zerstörungswut gegen die Schöpfung seines Vaters steckt eine gute Portion Eitelkeit, die auch Sam über die Jahre hinweg nicht verborgen geblieben ist. Lucifer schätzt die eigene Handschrift viel zu sehr, als dass er sich dauerhaft mit Alternativen begnügen würde, wenn er auf anderen Wegen das zurückerlangen kann, was ursprünglich sein ist.
 

Die Frage ist nur, wie lange er verzweifelt und geschwächt genug war, um sich mit der Gnade anderer Engel auszuhelfen, die irgendwann wieder aufgebraucht ist …
 

Und wann ihm die Idee kam, nach der eigenen zu suchen.
 

Sam kann Rowena nicht dazu bringen, Vermutungen anzustellen, wann dieser Zeitpunkt in etwa eingetroffen ist – zu groß sind ihre eigene Unruhe und der Drang, davonzulaufen.

Feststeht jedenfalls, dass es nur eine einzige Möglichkeit für Lucifer gibt, an Rückstände seiner Gnade heranzukommen, die sich derzeit außerhalb seiner Präsenz befinden: Es ergibt in Sams Augen erschreckend viel Sinn; insbesondere die Szenen, die Lucifer ihn in den letzten Tagen hat sehen lassen, scheinen Rowenas Befürchtung zu bestätigen, dass er auf der Jagd nach jedem ist, der irgendwann einmal in Berührung mit seiner Gnade gekommen ist.

Möglicherweise auch ein Grund, warum Lucifer so interessiert daran sein mag, sich mit Jack, seinem eigen Fleisch und Blut, in Verbindung zu setzen. Die Quelle von dessen Gnade ist schließlich sein Erzeuger, Satan, allein. Mit Schaudern muss Sam an das Szenario von vor zwei Tagen zurückdenken, als er Lucifer das erste Mal gestaltlich im Bunker hat auftauchen sehen: Die unverhohlene Begeisterung darüber, Jack, Sam und Gabe auf einem Haufen versammelt zu sehen. Alle drei haben im entferntesten Sinne eine Verbindung zur Gnade des Teufels – sogar Gabriel als dessen einziger noch lebender und auf Erden verweilender Bruder. Gabes Mojo muss dem Lucifers ähnlicher sein als von jedem anderen noch existierenden Engel, wovon Lucifer sich zweifellos irgendetwas zu versprechen scheint.
 

Sam ist sich nicht im Klaren darüber, wie die Familienbande unter Engeln tatsächlich funktionieren; sowohl Gabe als auch Cas bezeichnen einander als ‚Brüder‘ und auch ihr derzeitiger Umgang miteinander lässt nichts anderes vermuten als das, wenngleich sich ihr Verhältnis zueinander nicht mit dem von Sam und Dean vergleichen lässt. Was vermutlich gut ist. Sam ist sehr wohl bewusst, dass er und sein Bruder nicht immer in gesündester Beziehung zueinander stehen.

Aber auch fast alle der anderen himmlischen Soldaten, die Sam je begegnet sind, wurden von den beiden Engeln in seinem Leben als ‚Geschwister‘ bezeichnet, obwohl sich ihr Verhältnis zueinander von Fall zu Fall gravierend unterscheiden konnte.

Die vier Erzengel scheinen, abgesehen davon, dass sie lange Zeit die einzigen gewesen sein sollen, die das Antlitz Gottes tatsächlich gesehen haben, nicht nur eine Art Sonderstellung unter den anderen Engeln zu genießen; ihre Verbindung zueinander schien einmal deutlich intensiver gewesen zu sein, als zu sämtlichen anderen Engeln, bevor das Band zwischen ihnen unwiderruflich in die Brüche ging. Sam ist sich bis heute nicht ganz sicher, ob die Bezeichnung ‚Erzengel‘ einen Rang oder eine Unterart meint, weiß sehr wohl, dass Cas ein Seraph ist, aber da die Bezeichnung in seinem Fall synonym benutzt wird, wie ‚Nephilim‘ bei Jack, ist es schwer zu sagen, ob es sich nicht um zwei völlig verschiedene Dinge handelt.
 

Vielleicht können Erzengel auch gleichzeitig Seraphim sein …?
 

Wirklich mit Gewissheit sagen kann er nur, dass Erzengel (normalerweise) deutlich mehr Macht besitzen als andere Engel. Das empfindet er als entschieden zu wenig handfestes Wissen; gerade vor dem Hintergrund, wie viele Jahre Engel nun schon fester Bestandteil seines Lebens sind. Vor allem, um in Zukunft noch besser auf Jack eingehen zu können, den bestmöglichen Zugang zu ihm und seinen Bedürfnissen zu finden, könnten derartige Informationen noch von Nutzen sein. Aber ihm hämmert der Kopf nach all den neuerlichen Überlegungen zu sehr, so dass Sam den Gedanken, Gabe bei ihrem nächsten ‚Schäfchenzählen‘, wie Dean es heute Mittag noch so spitz genannt hat, auf all das anzusprechen, schnell wieder verwirft. Andererseits wäre es wohl an der Zeit, Gabe oder auch Cas endlich einmal nach den näheren Hintergründen zu all diesen Dinge zu fragen, denn würde es Sam nicht so schlecht gehen, wäre die ganze Angelegenheit um Lucifer nicht so himmelschreiend brenzlig, würde er seine Unwissenheit über die beiden Engel, die er inzwischen als festen Bestandteil seiner Familie betrachtet, beinahe als eine Art Unverschämtheit werten müssen.
 

Außerdem hängt Rowenas bevorstehender Abschied schwer und unnachgiebig wie eine Drohung über ihrer beider Köpfe, hält die Stimmung bedrückt, auch nachdem Lucifers verhältnismäßig harmlose Mätzchen Sam nicht mehr in seinem eigenen Bett terrorisieren.

Rowena verspricht ihm hoch und heilig, sich nicht einfach mitten in der Nacht aus dem Staub zu machen, sondern ihre Flucht, so wenig sie ihn verständlicherweise auch darüber wissen lassen will, genau zu durchdenken. Und sich vorher noch einmal von ihm zu verabschieden. Sam versucht, es nicht persönlich zu nehmen, dass sie bei dieser letzten Bitte aussieht, als koste es sie größte Überwindung, sie ihm zu gewähren. Im Anbetracht der Befürchtung, dass sie selbst noch einen Rest der Gnade Lucifers in sich tragen könnte, und sei dieser auch noch so winzig, scheint ihre Angst vor dem abtrünnigen Erzengel jedenfalls mehr als berechtigt. Schließlich ist da auch noch Cas, der ebenfalls vor gar nicht allzu langer Zeit und erschreckend lange unbemerkt lebende Fleischhülle für den Lichtbringer gespielt hat …

Im Bunker treffen zu viele potentielle Quellen des Teufelsmojos aufeinander, scheinen auf das Erscheinen des echten Lucifers zu warten, wie ein besonders schmackhaft hergerichtetes Buffet.

Wenn er könnte, würde Sam selbst die Beine in die Hand nehmen, um die Gefahr für die anderen zu verringern und Lucifer auf eine falsche Fährte zu locken.

 

*
 

Rowena hat die Tür nicht richtig hinter sich geschlossen, und die schattenhaften Bewegungen, die Sam durch den Türspalt an der Steinwand im Flur ausmachen kann, erinnern ihn daran, dass Dean draußen immer noch darauf wartet, allein mit ihm zu sprechen. Sein Bruder muss eigentlich gesehen haben, wie Rowena sein Zimmer verlassen hat, doch seltsamerweise macht er keinerlei Anstalten, zu ihm hereinzukommen. Langsam aber sicher wird Sam unruhig. Er traut seiner Stimme nicht die nötige Stabilität zu, um bis auf den Gang hinaus zu rufen, also rappelt er sich aus dem Bett auf, um selbst nach Dean zu sehen. Das Herz schlägt wieder einmal so schnell in seiner Brust, dass das Pochen die meisten Außengeräusche zu übertönen scheint.

Das Gespräch mit Rowena war nach den Ereignissen des Tages nervenaufreibend genug, und flatternde Schatten lösen in Sam derzeit alles andere als positive Gefühle aus. Aber er will jetzt nicht klein bei geben; vielleicht gerade weil Rowena sich dazu entschieden hat, den Bunker zu verlassen. Es fühlt sich an, als wäre die Anzahl der viel zu wenigen Vertrauten gegen den mit Abstand größten seiner Gegner um eine wertvolle Person geschrumpft. Was bedeutet, dass er sich jetzt doppelt ins Zeug legen muss, um nicht vor Lucifer – oder vor den durch dessen Gnade hervorgerufenen Halluzinationen – einzuknicken.
 

Vor der Tür ist nur Dean. Nur Dean. Nichts anderes! Niemand anderes, sagt er sich in Gedanken immer wieder, als er barfuß und auf unsicheren Beinen in Richtung Tür schleicht. Erst jetzt, außerhalb der vermeintlichen Sicherheit seines Bettes, fällt ihm auf, dass jemand ihn in saubere Jogginghosen und eines der Shirts gesteckt hat, die er üblicherweise zum Schlafen trägt.
 

War das Dean? Seit wann ist er überhaupt wieder zurück im Bunker?
 

Vielleicht Cas …?
 

Außerdem ist der Verband von seinem linken Unterarm verschwunden; vermutlich hat jemand bei dem Versuch, ihn zu wechseln, bemerkt, dass von der vermeintlichen Wunde darunter nichts mehr zu sehen ist. Dunkel erinnert Sam sich daran, welch heilende Wirkung die bloße Berührung von Gabes Flügel auf ihn gehabt hat.
 

Wieder sieht er Bewegungen in Form von Schatten im Gang. Sam hält den Atem an und stößt die Tür behutsam noch ein winziges Stück weiter auf, um von draußen nicht bemerkt zu werden.
 

„Hallo, Dean!“
 

Cas‘ dunkle, raue Stimme ist in ihrer Vertrautheit eine Wohltat gegen Sams Anspannung, auch wenn er aus diesem Winkel weder den Engel noch seinen Bruder durch den Türspalt sehen kann. Cas muss in diesem Augenblick um die Ecke gebogen sein und wäre, den Geräuschen nach zu urteilen, offensichtlich beinahe mit Dean zusammengeprallt.
 

„Cas, uhm … Hey!“
 

Dean lacht nervös auf, und er klingt dabei so hilflos, dass Sam kurz in Erwägung zieht, die Tür einfach zu schließen und ihnen etwas mehr Privatsphäre zu gönnen. Er selbst würde nicht wollen, von Dean in einer derart verletzlichen Lage belauert zu werden. Aber entgegen seiner Moral überwiegt Sams natürliche Neugier. Er schämt sich wirklich, ein bisschen zumindest, allerdings ist das Schweigen vor seinem Zimmer nach Deans Gestammel so laut und ungemütlich, dass er einfach nicht anders kann, als angestrengt in den Gang hinaus zu lauschen. Wenn er könnte, würde er seinem Bruder gern einen Schubs geben.
 

Komm schon, Dean! Reiß dich zusammen …
 

Mit einer Hand noch am Türgriff und gespitzten Ohren fragt er sich kurz, ob Cas vielleicht bemerken könnte, dass Sam die beiden belauscht, doch falls dem so ist, scheint es den Engel nicht unbedingt zu stören.
 

„Du gehst mir aus dem Weg“, sagt er nämlich in diesem Moment ungeachtet des heimlichen Lauschers – und es ist keine Frage.
 

„Ich ... Nein. Wie kommst du darauf?“
 

Sam schließt gequält die Augen. Spätestens jetzt hat Dean den Punkt erreicht, an dem Sam ihn gerne bei den Schultern packen würde, um ihn kräftig zu schütteln.

Cas scheint einen Schritt auf Dean zugemacht zu haben, denn plötzlich schiebt sich Dean rückwärts gehend, und so, als würde er dem Engel vor sich ausweichen wollen, in Sams durch die angelehnte Tür sehr beschränktes Sichtfeld. Außerdem kann Sam nun Cas‘ Hand an der Wange seines Bruders sehen, und er erkennt von seinem Lauschposten aus unschwer die tiefe Röte, die Dean allmählich bis in den Nacken kriecht. Die Hand verschwindet wieder.
 

„Deine Lippen, Dean. Was machst du nur?“
 

Cas klingt so sanft und traurig, dass es Sam einen Stich versetzt. Wie wird es dann Dean erst ergehen? Vorsichtig wagt er, die Tür noch eine Winzigkeit weiter aufzustoßen, bis er nicht nur das Profil seines Bruders, sondern auch das des Engels sehen kann. Sie stehen einander gegenüber, Deans Gesichtsausdruck wie versteinert. Cas umfasst seine Oberarme und auf die Entfernung ist Sam nicht ganz klar, ob er Dean so an der Flucht hindern oder sich selbst mit der Armeslänge Abstand davon abhalten will, ihm um den Hals zu fallen.
 

„Warum machst du das, Dean?“, wiederholt Cas, den Blick immer noch auf Deans Mund gerichtet, wie Sam mit leichtem Schaudern registriert.

Münder, Lippen, Blut – selbst im Rahmen einer derart zärtlichen Szene fällt es ihm schwer, bei diesen Reizbildern nicht die Fassung zu verlieren.
 

„Ich mach‘ gar nichts!“

Deans Antwort entfährt ihm viel zu hoch, zu laut, ist zu überstürzt, so dass seine Stimme fast ins Stolpern gerät.
 

„Du beißt dir seit neun Tagen die Lippen wund, Dean! Bitte hör damit auf, dir weh zu tun!“

Es ist mehr als nur eine Bitte; Cas klingt nahezu flehentlich und Dean senkt den Blick, während er mit sichtlichem Unbehagen das Gewicht von einem Bein aufs andere verlagert.
 

„Kann nicht“, presst er unwirsch hervor.
 

„Natürlich kannst du!“
 

„Nein, ich meine, ich will nicht, dass... Oh, Fuck.

Er stößt einen so tiefen Seufzer aus, dass Sam ihn sogar auf die Entfernung hören kann.
 

„Darf ich?“, fragt Cas behutsam und bringt Dean so dazu, endlich wieder aufzusehen.

„… dich heilen?“
 

Sam erwartet, dass Dean ablehnt, weiter mauert, um Castiel von sich und seinen wahren Gefühlen für ihn fernzuhalten. Doch zu seinem großen Erstaunen nickt Dean schließlich langsam, nachdem er Cas für einen Augenblick stumm gemustert hat. Etwas muss im Blick des Engels gelegen haben, das ihn weich werden lässt.

Sam erwartet außerdem, dass Cas, wie unzählige Male zuvor, zwei Finger heben und sie zum Heilen an Deans Stirn legen wird. Cas hebt tatsächlich den Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand und überrascht Sam (und diesmal wohl auch seinen Bruder) abermals – denn er legt sie sacht und ohne Umschweife an Deans zerkaute, schorfige Lippen.

Deans Augen weiten sich für einen winzigen Moment und er hält sichtlich den Atem an, bevor er sie schließt und wie in Trance nach Cas‘ Hand vor seinem Gesicht greift. Gleißend hell verbirgt die heilende Gnade den zärtlichen Kontakt zwischen ihnen. Sam blinzelt und wendet den Blick ab, bis das bläuliche Licht verblasst ist. Noch nie zuvor hat er sich wie ein Störenfried dabei gefühlt, einem Engel beim Heilen zuzusehen …

Doch als er wieder durch den Türspalt schaut, hält Cas noch immer seine Finger gegen Deans Mund gepresst. Sam kann sich plötzlich des Eindrucks nicht erwehren, dass Dean Cas' Fingerspitzen küsst. Was er offenbar wirklich tut, denn er hört, wie Cas einen Laut von sich gibt; tief und grollend, seltsam widerhallend, nahezu unmenschlich in seinem Echo. Eine Sehnsucht schwingt darin mit, deren Intensität selbst Sam durch Mark und Bein geht. Er fühlt ein flaues Ziehen in der Magengrube. Es ist eine Mischung aus Beschämung, dieser Intimität ungefragt beizuwohnen, und Triumph darüber, dass Dean sich endlich in winzigen Schritten über die albernen, selbstgesteckten Grenzen hinauswagt. Und, möglicherweise, eine Prise Bedauern für sich selbst, diese Art von Nähe schon seit geraumer Zeit nicht mehr erfahren zu haben. Vielleicht sogar so etwas wie Neid, dass Dean zu Engeln im Allgemeinen einen so viel besseren Draht zu haben scheint, als Sam ihn hat.

Er schlägt sich erschrocken die Hand vor die Mund, als hätte er diesen einen letzten Gedanken laut ausgerufen, während sich die Beklemmung allmählich auch in seiner Brust breit macht, sich mit eiserner Faust unnachgiebig um sein Herz schließt. Der einzige Engel, der immer noch auf Sam zu setzen scheint, ist der Teufel höchstpersönlich. Und der Teufel ist außerdem der einzige, über den er sich jetzt Gedanken machen sollte! Nicht über die überaus komplizierte Liaison zwischen seinem Bruder und seinem besten Freund, nicht über die eigene Einsamkeit, die Sehnsucht …
 

Cas entzieht sich behutsam Deans Griff, der in diesem Moment die Augen wieder aufschlägt.
 

„Besser?“, fragt der Engel mit einer Zärtlichkeit, bei der Sam sich wundert, dass sie Dean nicht auf der Stelle zum Schmelzen bringt. Oder dazu, Castiel endlich richtig zu küssen. Aber Dean schüttelt den Kopf.
 

„Es ...“

Er muss sich räuspern. Seine Stimme ist unwahrscheinlich rau. Prüfend fährt er mit der Zunge über die geheilten, sichtlich glatteren Lippen, bevor er den Satz endlich vollendet.

„...tut weh.“
 

Sam braucht einen Moment, um zu begreifen, dass Dean nicht über seinen Mund spricht. Einen Moment, in dem Cas Dean prüfend ansieht, so dass Deans Wangen schließlich erneut unter seinem Blick zu glühen beginnen.
 

„Es gibt Dinge, die kann ich nicht heilen, Dean“, sagt Cas ernst und wieder klingt er so unendlich traurig und liebevoll zugleich.

„Sag mir, wie ich dir helfen kann. Was soll ich tun?“
 

Sam fragt sich, wie Dean mit dem unverhohlenen Flehen hinter Cas‘ ernstem Tonfall fertig wird, als ihm auffällt, wie hilflos Dean erneut wirkt. Sein Bruder hebt die Schultern, durch die ein eigenartiges Beben fährt, was Indiz für höchstens einen Bruchteil seines inneren Kampfes sein mag. Einen Moment lang befürchtet Sam, dass Dean in Tränen ausbricht und alles in ihm schreit danach, sich endlich zurückzuziehen, seinem Bruder in seiner Verletzlichkeit die Privatsphäre zu gönnen, die er benötigt. Doch bevor er sich zurück schleichen kann, stolpert Dean den halben Schritt vorwärts, der sie noch voneinander trennt. Und endlich, endlich küsst er Cas richtig – mitten auf den Mund.
 

Wenn es einen Moment zwischen den beiden gegeben hat, in dem es Sam schwer fällt, sich von ihrem Anblick zu lösen, dann ist es unbestreitbar dieser. Sam weiß nicht, ob einer der beiden ein Feuerwerk hinter geschlossen Liedern sieht, aber er sieht es beinahe selbst, so sehr schwillt ihm das Herz in diesem Moment an, als er das Bild vor sich betrachtet: Sein Bruder und sein bester Freund, seine Familie, vielleicht nun endlich doch noch vereint.

Er ist sich nicht sicher, ob tatsächlich Tränen über Deans Gesicht laufen und er weiß auch nicht, ob das Lächeln ein glückliches ist, das die Winkel von Cas' geschlossenen Augen kräuseln lässt. Aber die beiden liegen sich in den Armen und küssen sich mit einer Art leidenschaftlichen Vorsicht, als wüssten sie selbst nicht, ob sie gerade Traum oder Realität durchleben.
 

Als Deans Hand ihren Weg in Cas' Haar findet, wendet Sam sich endlich ab. Er hat mehr als genug gesehen. Ihm ist klar, dass ein Kuss für die beiden kein Happy End bedeutet und dass Deans Ängste damit nicht für alle Zeiten behoben sind. Auch wird Sam sich jetzt, wie aus heiterem Himmel, mit dem beinahe glücklichen Bild der beiden im Herzen, all der Schwierigkeiten gewahr, die einer gemeinsamen Zukunft für sie im Wege stehen. Immerhin handelt es sich bei ihnen nicht nur um ein ungleiches Paar, sondern um zwei völlig verschiedene Spezies, deren Liebe zueinander spätestens durch Deans Altern, wenn nicht schon erheblich früher durch äußere Umstände, ein jähes Ende finden wird.

Nichtsdestotrotz hofft Sam von Herzen, dass es ein guter Schritt in die richtige Richtung war. Und als er die Tür leise hinter sich zuzieht, glaubt er, Deans Stimme heiser „... brauch' dich, Cas!“ zwischen zwei Küssen flüstern zu hören.
 

 

*
 

Die heimliche Freude über Deans und Cas‘ Annäherung reicht nicht aus, um Sam gänzlich vor dem Abgrund zu bewahren, in den ihn sein Grübeln zurück zu drängen versucht. Rowenas Entscheidung, das Gespräch mit ihr, und nicht zuletzt die Nachwirkungen der Hypnose sind eine Menge zu schlucken. Nüchtern stellt Sam fest, dass sein Sehnen nach dem schützenden Nichts dennoch wie in weite Ferne gerückt ist. Fürs erste hat er sich bei weitem genug Zusammenbrüche und Ohnmachtsanfälle geleistet; er ist fest entschlossen, auf den Beinen und bei Bewusstsein zu bleiben, bis er irgendeine Lösung für die Probleme gefunden hat, die sich seit den Ereignissen des Vormittags nur noch höher vor ihm aufzutürmen scheinen. So kommt es, dass er sich nach der Rückkehr von seinem Lauschposten nicht wieder zurück ins Bett, sondern an seinen Schreibtisch begibt und den Laptop hochfährt. Den zusätzlichen Stuhl, den Rowena oder Dean mit hereingebracht haben, schiebt er achtlos neben den Tisch an die Wand, und trommelt ungeduldig auf der Tischplatte herum, während er seufzend darauf wartet, dass sein Computer ungebetene Systemupdates durchführt.
 

Sam rechnet nicht allzu schnell mit Deans Rückkehr, ist, um ehrlich zu sein, nicht allzu betrübt über die Zeit, in der er sich, zum ersten Mal seit langem, beinahe allein und ungestört fühlt. Es ist nicht nur die Angst vor Lucifer und dem, was ihm der Rest seiner Gnade, der in Sams Körper umherirrt, als nächstes präsentieren könnte. Auch Rowena und selbst Gabriel haben sich während der Hypnose angefühlt wie Eindringlinge in etwas, in dem er eigentlich mit sich selbst allein sein sollte. Sam kommt nicht umhin, sich seltsam schmutzig zu fühlen und plötzlich ist auch der unbequeme Opfer-Gedanke wieder da. Er unterdrückt das dringende Bedürfnis nach einer heißen Dusche, will das Zimmer jetzt nicht verlassen, denn …
 

… vielleicht knutschen sie immer noch vor der Tür …
 

… und außerdem hat er das Gefühl, den Verlust Rowenas als Verbündete durch ein persönliches Erfolgserlebnis wieder wettmachen zu müssen. Er will endlich weiterkommen, zumindest den Ansatz einer Lösung für sein größtes Problem in Sicht wissen. Und das erreicht er nicht, indem er sich weiter in Selbstmitleid suhlt.

Sam zwingt sich dazu, jede der Halluzinationen noch einmal in Gedanken Revue passieren zu lassen, und beginnt sogar damit, sich Notizen zu machen, während er immer noch auf seinen Laptop wartet. Eisern meidet er dabei gedanklich alles, was direkt mit der Hypnose zu tun hat.
 

Obwohl plötzlich eine Menge von dem, was er gesehen und erlebt hat, Sinn zu ergeben scheint, kann er sich doch auf Vieles noch keinen rechten Reim machen:

Warum ist Lucifer (oder seine Gnade) so besessen davon, ihn mit blutigen Mündern zu terrorisieren? Hat er Sam am Vortag in der Küche wirklich Whiskey mit Milch verwechseln lassen, um Sam betrunken zu machen? Aus welchem Grund? Und die Szene mit den Vögeln im Wald mag auf metaphorischer Ebene vielleicht stimmig erscheinen– Sam versteht sie als deutliche Botschaft dafür, dass Lucifer sowohl Cas als auch Gabe töten wird, bevor er sich Sam selbst widmet – aber das erklärt nicht, wieso Sam in Sportkleidung und voller Moos und Erde und mit einer echten Verletzung in seinem eigenen Bett zu sich gekommen ist.

Und da ist noch mehr; Kleinigkeiten, die er bislang gänzlich ignoriert hat und von denen er befürchtet, jetzt vielleicht zu viel in sie hinein zu interpretieren. Beispielsweise glaubt er nun mit ziemlicher Sicherheit sagen zu können, warum ihn im Wald diese niederschmetternde Gier danach befiel, dem elsterfarbenen Bussard Federn auszureißen, um sie selbst zu besitzen. Er versucht, sich nicht zu sehr in seiner Abscheu vor sich selbst zu verirren und konzentriert sich lieber auf das Gefühl, die eigene Seele in seinem Körper umherschwappen gefühlt zu haben, als er Lucifer das erste Mal im Bunker zu sehen glaubte. War das in Wahrheit ein Rest seiner Gnade, der mit aller Macht aus ihm herauszudrängen versuchte, als Sam sich in Gabriels und Jacks Nähe befand?
 

Dabei hat Gabe im Moment selbst so wenig Gnade, seit er von Asmodeus gefangen gehalten wurde … Wieso haben die Rückstände in mir so stark auf seine Anwesenheit reagiert, als Jack dabei war?
 

Mit Schaudern kommt Sam in den Sinn, dass Gabriels Trauma große Ähnlichkeit mit seinem eigenen haben muss; der ständige Entzug der eigenen Gnade, die Sam in ihrer Bedeutung insgeheim mit der menschlichen Seele vergleicht, die körperliche Folter, und nicht zuletzt die emotionale Erniedrigung durch ein Geschöpf Lucifers über Jahre hinweg.
 

Vielleicht ist das der Grund, warum Gabe sich so viel Mühe gibt. Warum er sein Mojo aufspart, damit ich schlafen kann?
 

Sam schämt sich für seinen vorherigen Gedanken, Lucifer sei der einzige Engel auf seiner Seite. Wie konnte er nur Gabe vergessen? Oder Cas?

Aber sentimental zu werden, hilft ihm jetzt nicht weiter. Sam öffnet den Browser und seine bevorzugte online Suchmaschine, nachdem es sein Laptop endlich geschafft hat, in den Arbeitsmodus zu fahren. Während er weiter grübelt, durchsucht er alte Überlieferungen und Folklore nach Anzeichen von Besessenheit, die durch das Aussprechen bestimmter Worte oder Phrasen wachgerufen werden.

Vielleicht war es nicht nur das Zusammentreffen von Lucifers Bruder, seinem Sohn und seiner wahren Hülle, sondern auch die Tatsache, dass sie über den Teufel gesprochen haben. Wenn Sam sich richtig erinnert, ging es in dieser Situation um Jacks wahren Vater, aber ob der Name Lucifer tatsächlich gefallen ist, kann er nicht mehr sagen, lediglich, wie sehr Sam versucht hat, dessen Erwähnung aus der Unterhaltung vor dem Jungen herauszuhalten.

Ein weiteres Mal kommt ihm dabei der Begriff ‚Dissoziationen‘ in den Sinn und, in diesem Zusammenhang, auch erstmalig der Ausdruck Trigger. Er schaudert bei der Wendung, die seine Suche plötzlich in Richtung Psychologie zu nehmen droht, denn das ist wirklich nichts, womit er sich jetzt auch noch befassen will.
 

Sams Flut aus Überlegungen und Recherche findet ein jähes Ende, als es plötzlich an seiner Zimmertür klopft.
 

Dean!, ist sein erster Gedanke und es ist ein willkommener, denn ja, natürlich hat er etwas Ruhe für sich gewollt und selbstverständlich hat er seinem Bruder nach den neusten Entwicklungen mehr Zeit mit Cas gegönnt. Aber auch zwischen Dean und Sam gibt es nun die ein oder andere Angelegenheit, die es zu klären gilt und nicht zuletzt trägt Deans Anwesenheit dazu dabei, die eigene Panik ein wenig besser in Schach zu halten. Zumindest meistens.
 

Aber als sich mit Sams hoffnungsvollem „Herein!“ die Tür öffnet, ist es nicht Dean, der unsicher über die Schwelle tapst. Es ist Jack.

Tragödie

„Darf ich reinkommen?“, fragt Jack und Sam fühlt sich bei seinem Anblick unweigerlich an sich selbst erinnert; daran, wie er am Abend zuvor Cas aufgesucht hat, um ihn um Rat zu bitten, während er sich wie ein Schuljunge vorkam, der auf einen Tadel wartet.

 

Eine Welle aus Mitgefühl und schlechtem Gewissen schlägt über Sam zusammen und er nickt eilig, bietet Jack den bislang noch überflüssigen Stuhl neben seinem Schreibtisch an.

 

Jack ist in den letzten Tagen total untergegangen, denkt er beschämt, als er sieht, wie geknickt der junge Nephilim neben ihm auf der Stuhlkante hockt, und Sam gibt sich alle Mühe, die eigene Erschöpfung bestmöglich vor ihm zu verbergen.

 

„Wie geht‘s dir?“, fragt er mit aller Behutsamkeit, die ihm möglich ist, da ihm ein ‚Alles in Ordnung?‘ überflüssig erscheint – es ist Jack an der Nasenspitze anzusehen, dass eben nicht alles in Ordnung ist.

 

Jack runzelt auf die Frage die Stirn, so als müsse er erst darüber nachdenken und Sam wird auf einen Schlag klar, dass er das wahrscheinlich wirklich muss. Es ist eine Sache, einen Zugang zu den eigenen Gefühlen zu finden, eine gänzlich andere ist es jedoch, die Empfindungen auch beim Namen nennen zu können. Und im Bunker gibt es sicher nicht die größte Auswahl an Vorbildern, die Jack in seiner Unerfahrenheit mit dem Leben und der eigenen Menschlichkeit als positives Beispiel dienen könnten. Es ist für Sam an der Tagesordnung, in einem Gebäude mit Personen zu leben, von denen jeder auf die ein oder andere Art leidet. Vor allem ist es für ihn etwas völlig Normales, dass ein jeder hier seinen Kummer um jeden Preis mit sich selbst auszumachen versucht, am liebsten kein Wort darüber verlieren will. Meistens fällt es Sam schwer, diesen Umgang mit Problemen zu akzeptieren, auch wenn er sich selbst nicht gänzlich davon freisprechen kann. Leider unterdrücken die meisten seiner Mitbewohner auch mit Vorliebe jedes gegenteilige Gefühl; Emotionen wie Zuneigung, Zufriedenheit, Liebe werden niemals beim Namen genannt, um von der eigenen Verletzlichkeit abzulenken, wie es sie das Leben alle miteinander gelehrt hat. In der letzten Zeit gab es natürlich nicht allzu viel, um in Optimismus und Frohsinn zu schwelgen, aber Sam nimmt sich fest vor, dem Nephilim in Zukunft ein besseres Vorbild zu sein. Der erste Schritt, um diesen Weg beschreiten zu können, besteht leider aus der Art von unbequemen Offenheit, die sich Sam in seiner jetzigen Lage eigentlich nicht zutraut.

 

Jack hat dir gesagt, dass du eine Vaterfigur für ihn bist, versucht er, sich selbst gut zuzureden, als von dem Jungen nichts weiter als unsicheres Schweigen zu vernehmen ist.

Mach nicht die gleichen Fehler wie Dad …

 

„Vielleicht hilft es dir, wenn ich dir zuerst sage, wie es mir geht“, beginnt Sam nervös und stellt überrascht fest, dass unmissverständliche Dankbarkeit in den hellblauen Augen aufblitzt. Sein Ansatz kann also nicht der schlechteste gewesen sein, auch wenn er noch nicht weitergedacht hat, als bis zu diesem Punkt.

 

„Cas hat mir erzählt, dass du dazu kamst, als Rowena mich in Hypnose versetzt hat.“

 

Jack nickt und obwohl sein grundsätzlich so offenes Gesicht einen bekümmerten Zug angenommen hat, kann Sam darauf keinen Schrecken feststellen, kein Urteil – nichts, was er bei Crowley, Rowena, Gabe oder Cas gesehen. Es ist eine eigentümlich beruhigende Reaktion, denn sie verrät Sam, dass der Junge nicht allzu viel von dem mitbekommen haben kann, wovor Cas ihn berechtigterweise schützen wollte.

 

„Er hat mir auch erzählt, dass er dich weggeschickt hat, um nach Mom und meinem Bruder zu suchen.“

 

Jack nickt erneut, runzelt abermals die Stirn, als käme ihm dazu ein Gedanke, den er allerdings nicht ausspricht. Er scheint Sam nicht unterbrechen zu wollen, was er mehr als zu schätzen weiß. Es fällt ihm verflucht schwer, schon wieder über den heutigen Tag zu reden, ohne dass er sich dabei zu sehr in dessen Ereignissen verliert. Sam will nichts hervorrufen, was einen weiteren Zusammenbruch provozieren könnte, insbesondere nicht vor Jack.

Trotzdem wird ihm mit einem Mal bewusst, dass niemand, absolut niemand ihn bisher danach gefragt hat, wie es ihm eigentlich geht. Vielleicht haben das bisher alle vermieden, weil es im Bunker so an der Tagesordnung ist. Man spricht nicht über Gefühle; gerade dann nicht, wenn sie über den körperlichen Zustand hinausgehen. Vielleicht sind bisher auch einfach alle davon ausgegangen, zu wissen, wie es Sam geht.

Die Wahrheit ist, dass es eben keiner von ihnen weiß. Die meisten von ihnen sind in der Hölle gewesen, die meisten von ihnen haben unvorstellbar unter Lucifer gelitten – aber ihre Erfahrungen sind nicht Sams. Und niemand hat es bisher für nötig befunden, ihn nach seiner Geschichte und seinen Gefühlen zu fragen. Vielleicht hätte er auf besagte nie gestellte Fragen ohnehin antworten müssen, dass er nicht darüber sprechen will, es nicht kann. Aber darum geht es nicht, nicht im Geringsten. Da spielt es auch keine Rolle, dass er vorhin bei Dean noch für einen kurzen Moment dankbar dafür war, dass dieser ihn nicht über seinen Zustand gelöchert hat. Und wieder ist Sam nach Weinen zumute. Nicht, dass er daran glaubt, dass es helfen würde. Aber es fühlt sich an, wie sein verdammtes Recht. Der Punkt, an dem er endlich einmal Schwäche zeigen darf, ist seit Ewigkeiten überschritten.

 

Reiß dich zusammen, befielt er sich trotzdem, wenigstens vor Jack!

 

„Ich weiß nicht, wie viel du heute von dem mitbekommen hast, was mit mir passiert ist“, setzt er erneut an und hasst sich dafür, wie gebrochen seine Stimme plötzlich klingt. Er zwingt sich, weiterzusprechen, auch wenn er Jack mit einem Mal nicht mehr ansehen kann.

 

„Aber ich bin verdammt erleichtert, dass Cas versucht, dich davor fernzuhalten. Ich habe … Es sind … Weißt du ... Jack.“

 

Etwas Feuchtes landet auf seinem Handrücken und vielleicht ist es ganz gut, dass er den Blick weiter gesenkt hält, so dass ihm der Junge gerade nicht in die überlaufenden Augen sehen kann.

 

„Ich hätte dir gern erspart, dass du überhaupt irgendetwas davon mitbekommst. Ich will nicht, dass du Angst hast – ganz egal, wovor, ob vor mir oder Lucifer. Obwohl Angst vermutlich die einzig gesunde Reaktion ist. Du solltest Angst haben! Vielleicht rettet sie dir das Leben.“

 

Zum Glück weiß Jack nicht, dass ein Jäger, ein Winchester, ein Mitglied von Team Free Will, nicht darüber spricht, wie schlecht es ihm geht. Zum Glück weiß Jack nicht, dass Tränen Schwäche bedeuten; Schwäche, die sich Sam im Moment nicht erlauben kann, ganz gleich, wie sehr es ihn danach verlangt. Aber er kann auch einfach nicht anders. Vielleicht ist das überhaupt erst der Grund dafür, dass sich sämtliche Schleusen unaufhaltsam öffnen, als habe er darüber nicht das geringste Mitspracherecht. Sam muss schniefen, wenn er nicht will, dass sich zu den unaufhörlich tropfenden Tränen, die auf seinem Handrücken und nun auch dunkel auf dem weichen Stoff seiner Jogginghose landen, Schlimmeres gesellt.

 

Wie erbärmlich bist du eigentlich? Brichst zusammen vor einem Kind …

 

Ihm fällt kaum auf, dass er seit einer ganzen Weile abfällige Gedanken in der zweiten Person an sich selbst richtet, fast schon Lucifers Platz in seinem Kopf einnimmt, der ihn in diesem so verletzlichen Moment doch ironischerweise in Ruhe zu lassen scheint. So gut hat ihn der Teufel inzwischen gedrillt.

 

„Ich habe Angst, Jack. Ich … ich glaube, ich kann nicht darüber sprechen, was ich erlebt oder heute gesehen habe und auch nicht, wie es mir deshalb geht. Aber ich habe Angst um dich und um euch, um euch alle. Um Dean, Cas, Mom … Auch um Rowena und Gabriel, sogar um Crowley. Und ich habe Angst vor mir selbst, weil ich das Gefühl habe, dass … dass so viel Böses in mir steckt, dass es inzwischen ein Teil von mir geworden ist. Ich weiß nicht, wo dieser Teil aufhört und wo ich anfange, aber da kann einfach nichts Gutes mehr sein, ich bin … ich bin … weg. Es gibt mich überhaupt nicht mehr.“

 

Das Schrillen in seinen Ohren ist wieder so laut, dass es die Stille im Raum vollkommen übertönt. Sam würde sich selbst hassen, wenn er könnte. Bis zu einem gewissen Grad tut er das ohnehin schon, aber nach dem, was ihm gerade über die Lippen gekommen ist, müsste die Abscheu vor sich selbst eigentlich noch unendlich größer sein. Das Problem daran, das einzige zu fühlen, was er jetzt verdient, nämlich unermesslichen Hass auf sich selbst, ist nur, dass er es nicht kann. Er ist zu leer. Zu ausgelaugt. Einfach nur dumpf, hohl. Selbst Lucifer lässt ihn in Ruhe.

 

Wie konnte ich nur? Vor Jack. Vor überhaupt jemandem …

 

Geblendet von den eigenen Tränen sieht Sam nicht, wie Jack vom Stuhl aufgestanden ist, spürt nur, wie er plötzlich die Arme voll Nephilim hat, die ihn so fest an sich drücken, dass es fast wehtut. Er ist dankbar dafür, dass seine ohnehin schon müden Knochen und ausgezehrten Muskeln zerquetscht werden, während es ihm noch gelingt, aus Jacks Umklammerung mehr als nur willkommenen körperlichen Schmerz zu ziehen.

 

Lässt dich von dem Kind trösten, das du gerade wer weiß wie verstört hast …

 

Das Kind, das dich als einen seiner Väter sieht …

 

Armer Junge.

 

Schmerz bedeutet Realität. Schmerz ist das, was ihm zusteht. Schmerz hält ihn zusammen. Zumindest gerade noch so.

 

„Ich habe auch Angst, Sam“, flüstert Jack. Und: „Ich wünschte so sehr, ich könnte dir helfen!“

 

Und das tut er. Gnade tanzt plötzlich über Sams bloße Unterarme, mit denen er Jack fest umschlungen hält, kriecht unter die kurzen Ärmel seines Shirts, über den Rücken und den Rest seines Körpers, bis sie ihm durch die Haut und bis in die Knochen hinein zu dringen scheint und jedwede Beschwerde seit der Hypnose hinfort wäscht. Es ist ein eigenartiges Gefühl, den eigenen Körper plötzlich als so unversehrt und wohlauf zu empfinden, während sein Innerstes sich anfühlt wie die blutigen Überreste von etwas, das einmal Sam geheißen hat. Kurz zieht er fast in Erwägung, Jack zu bitten, damit aufzuhören, ihn nicht weiter zu heilen – denn er vermisst den Schmerz, das dumpfe Pochen, das ihn noch in der Realität hält. Oder dem, was er zuletzt dafür gehalten hat. Sicher kann er sich nicht mehr sein, schon gar nicht, als das elektrisierende Kribbeln der Gnade verblasst.

 

Er spürt, wie Jack an seiner Schulter zitternd Luft holt und ihn schließlich erstaunlich behutsam aus der Umarmung entlässt. Es ist nun an ihm, nicht zu wissen, was er sagen soll. Viele Worte gewechselt haben sie nicht. Aber nachdem Sam so dermaßen die Fassung vor Jack verloren hat, gibt es vielleicht auch einfach nichts mehr, was man der Situation noch hinzufügen könnte.

 

*

 

 

Jack hat Mary und Dean während der Hypnose im Hauswirtschaftsraum vorgefunden, wie sich schließlich herausstellt. Der Erzählung des Nephilim nach zu urteilen, hat es Mary dorthin verschlagen, weil Sams Laufschuhe in der Waschmaschine im Schleudergang lautstark in der Trommel rumort haben. Außerdem hat der ganze Dreck aus dem Wald den Ablauf der Maschine verstopft, so dass ein Großteil des Raumes wohl bereits während des Waschvorgangs unter Wasser gestanden haben muss. Sams morgendliche Laufrunde hat offenbar noch deutlich weitere Kreise gezogen, als er es sich hätte ausmalen können, hat sie in ihren Folgen doch dafür gesorgt, dass am anderen Ende des Bunkers genug Lärm stattgefunden hat, um von seinen Schreien im Kriegszimmer abzulenken.

Dean muss irgendwann zu Mary gestoßen sein und während sie gemeinsam versucht haben, die in die Jahre gekommene Industriewaschmaschine der Men of Letters zu reinigen und wieder in Gang zu bringen, hat sich Dean offensichtlich in die mehr als willkommene Ausrede gestürzt, sich von Cas fernzuhalten. Arbeit mit den Händen, um dem Tumult in seinem Kopf zu entkommen – ganz das Element seines Bruders.

 

Deans Abwesenheit in einem der schrecklichsten Momente seines Lebens tut nach wie vor weh, aber fairerweise muss Sam sich eingestehen, dass er nicht wissen konnte, dass die beiden Engel nach seiner Flucht aus der Küche sofort zur Tat schreiten und Sam zu Rowena schicken würden. Das schlechte Gewissen, das Dean deshalb plagt, war ihm vorhin in Anwesenheit der Hexe deutlich anzusehen, auch wenn Sam sich nicht erklären kann, was seinen Bruder jetzt noch davon abhält, endlich nach ihm zu sehen. Irgendwann müssen er und Cas schließlich auch fertig sein mit dem, was … was auch immer sie gerade tun.

 

Weil Sams Leben derzeit noch nicht aus genug Traumata und Scherben besteht, kommt zu der (laut Jack nach wie vor) kaputten Waschmaschine und den unrettbar ruinierten Laufschuhen als Krönung auch noch das Problem, dass Mary bis zum heutigen Tage überhaupt nicht wusste, dass Sam in einem anderen Leben Lucifers Spielzeug in einem Käfig in der Hölle war, nicht wusste, dass ihn die Folgen davon vor noch gar nicht allzu langer Zeit bis in eine geschlossene Anstalt gebracht haben. Jack berichtet freimütig, dass Dean die vermutlich alles andere als leichte Aufgabe übernommen hat, Mary in diese Details einzuweihen, während der Nephilim von ihnen beauftragt wurde, Crowley herbeizuholen.

 

Im ersten Moment kommt sich Sam erneut irgendwie verraten vor; Dean hat ihm hoch und heilig versprochen, nicht mit Jack oder Mom über die ganze Angelegenheit zu sprechen und außerdem hat er sich davor schon ohne seine Einwilligung an Gabriel gewandt. Was sich im Nachhinein als gut herausgestellt hat, denn schließlich war Gabe der erste, der Sam bedingungslos geglaubt hat – aber darum geht es nicht. Gleichzeitig muss er Dean wohl aber doch dankbar sein; Sam weiß gut, wie schwer ihm derzeit der Umgang mit ihrer Mutter fällt, dass nichts ihm mehr verhasst ist, als Reden, und dass er vor allem auch selbst immer noch an den Erinnerungen von Sam ohne Seele oder Sam mit Halluzinationen zu knabbern hat. Außerdem sieht sich Sam gerade nicht auch nur im Entferntesten in der Lage dazu, mit seiner Vergangenheit so sehr ins Detail zu gehen, dass er jemanden, der bis dato absolut nichts davon weiß oder mitbekommen hat, auf den neusten Stand seiner Probleme bringen könnte. Genau aus diesem Grund weiß er es auch so sehr zu schätzen, dass Jack seinen Aussetzer von vorhin ruhen lässt, sich seinerseits darum kümmert, Sam darüber in Kenntnis zu setzen, was er in den letzten Stunden alles verpasst hat.

 

Egal, wessen Gnade oder Gene es sind, die Jacks Existenz ins Leben gerufen haben – er ist ein guter Junge. Darüber besteht für Sam nicht der geringste Zweifel.

 

 

*

 

 

Rowena hat den Bunker schon vor einer ganzen Weile verlassen, wie Crowley ihn bei einem äußerst ungemütlichen Zusammenstoß in der Bibliothek wissen lässt. Sie hat sich also entgegen ihres Versprechens nicht von Sam verabschiedet und obwohl es ihm bitter aufstößt, dass sich absolut niemand darum zu scheren scheint, was er braucht oder will, kann er es ihr nicht wirklich verübeln. Unruhig tigert er eine ganze Weile vor den Bücherregalen auf und ab, während er darauf wartet, dass sich Crowley endlich mit seinem Whiskey verzieht. Der Abgang des Dämons sorgt nicht unbedingt dafür, dass Sam mehr zur Ruhe kommt; dazu ist er viel zu kopflos und zu groß ist sein Drang, sich blindlings in Recherche zu stürzen. Wenigstens ist es ihm gelungen, seine Misere auf die vielleicht für ihn spannendste aller Fragen herunterzubrechen:

 

Wie bekomme ich die Rückstände der Gnade aus mir heraus?

 

Vielleicht ist der Gedanke zu einfach, dass das Grauen für ihn ein Ende findet, sobald er nicht mehr unter dem Einfluss des Teufels steht. Vielleicht ist das nicht einmal das dringlichste aller Probleme, denn nur, weil Sam nicht mehr an der Schwelle zum Wahnsinn steht, bedeutet das nicht, dass sie damit automatisch sämtliche von Lucifers Plänen vereiteln.

Und wohin überhaupt mit der Gnade, wenn sie erst einmal extrahiert ist? Beim letzten Mal konnte Cas Gadreels Gnade aus Sam herausholen, weil er sie unmittelbar in sich selbst aufgenommen hat. Das kommt in diesem Fall natürlich überhaupt nicht infrage, denn was wird ein Rest der Gnade des Teufels erst mit einem Engel anstellen können, wenn sie schon Sam so sehr zusetzt? Außerdem hat auch Cas lange genug unter dem Teufel gelitten, deshalb schließlich selbst seine Zeit in der Klinik verbringen müssen, und ein weiteres Mal kann und will Sam ihm nicht einmal die potentielle Möglichkeit dieser Tortur aufbürden. Auch wissen sie immer noch nicht, ob in Cas oder Rowena ebenfalls Rückstände der Gnade stecken und ob Lucifer nicht doch einen Weg finden wird, Jack oder Gabriel für seine Zwecke auszunutzen.

Beschäftigt sich außer ihm eigentlich irgendjemand mit diesen Dingen? Oder sind sie alle viel zu sehr von ihren eigenen Dramen abgelenkt?

 

Würde er Cas nicht immer noch bei Dean vermuten, hätte Sam sich jetzt unmittelbar an seinen besten Freund gewandt. Vielleicht wäre es auch nicht das Schlechteste, einmal nach Mom zu sehen, die gerade schließlich mit einem Haufen fürchterlicher Informationen allein fertig zu werden hat. Sam schämt sich dafür, aber genau das ist der Grund, warum er seiner Mutter jetzt nicht unter die Augen treten kann; es erscheint ihm unmöglich, sich auch noch damit auseinanderzusetzen, was seine Probleme vielleicht bei Mary anrichten. Er hat anderen schon genug Kummer bereitet, was ihn Jack gedanklich direkt als Gesellschaft überspringen lässt, zumal er den Jungen ohnehin nicht um Rat in dieser Angelegenheit fragen würde.

Rowena ist fort, Crowley kann ihm gestohlen bleiben – also bleibt nur noch einer übrig, von dessen Nähe Sam sich jetzt noch etwas verspricht. Übrigens vielleicht auch so etwas wie … Trost.

 

*

 

 

TRAGEDY

When you lose control and you got no soul

It's TRAGEDY

When the morning cries and you don't know why

It's hard to bear

With no one beside you, you're goin' nowhere

...

 

Es ist nicht ganz die Art von Musik, die Sam je erwartet hätte, laut im Bunker zu hören, aber eine willkommene Abwechslung zu all dem ‚80er Jahre Friseursalon Rock‘ ist es allemal. Vielleicht haben ihm Zepp, CCR und Bon Jovi mit der Zeit zu sehr das Hirn durchweicht, vielleicht verbindet er AC/DC, die Stones und Def Leppard inzwischen einfach nur noch mit dem unvermeidlichen Hintergrundgeräusch, das den Fahrtwind, den Straßenlärm und das Schnurren des Motors schluckt, während sie einmal mehr von einem Winkel der USA in in den anderen ziehen.

Nicht, dass die Bee Gees annähernd in die Kategorie ‚zeitgemäße Popmusik‘ fallen würden – in diesem Punkt hat Gabriel Dean offensichtlich nichts voraus (vor allem nicht, wenn man Deans nicht ganz so heimlich Vorliebe für Taylor Swift bedenkt). Auch lässt Sam die Wahl des Songs kurz innehalten, bevor er es wagt, die Hand zu heben und an die Zimmertür des Erzengels zu klopfen.

 

Die Bee Gees haben auch optimistischere Songs gemacht ...

 

Er hört Gabriels beruhigend menschliche Stimme ein knappes „Ja?“ über den Lärm hinweg rufen, bevor die Musik mit einem Schlag verstummt. Achselzuckend öffnet Sam die Tür und tritt ein.

Beim ersten Blick durch das Zimmer kommt ihm etwas seltsam vor, worauf er sich nicht sofort einen Reim machen kann. Beim zweiten schiebt er es darauf, dass das Bett ungemacht ist, so als sei es erst vor kurzem zum Schlafen benutzt worden. Da er weiß, wie gern Gabe es bequem hat, denkt er sich nichts weiter dabei, schiebt die Irritation vorerst beiseite, als er ihn mit einem Kopfnicken und etwas begrüßt, das er für ein freundliches Lächeln hält. Die Motivation dahinter kommt mehr von Herzen als der eigentlich Drang danach, aber er scheint an seinem Versuch einer netten Geste auch nicht völlig zu scheitern. Zumindest ist Gabriels Reaktion darauf ebenfalls ein Lächeln, das allerdings vielleicht eine Spur zu gezwungen wirkt. Sams Begrüßung erstirbt auf seinem Gesicht, aber der Erzengel hat den Blick schon wieder abgewandt. Er sitzt im halben Schneidersitz auf dem Tisch an der Wand. Ein Bein baumelt über der Kante, während er im Schoß eine große Plastikschüssel hält, die mit etwas gefüllt ist, das flüchtig nach gezuckerten losen Maiskörnern aussieht. Sam achtet nicht weiter darauf (Gabes unmenschliche Essgewohnheiten sind schließlich nicht sein Problem), schließt stattdessen die Tür hinter sich, noch bevor er den Erzengel überhaupt gefragt hat: „Störe ich?“.

 

Gabriel schüttelt den Kopf und lässt den körnigen Inhalt seiner Schüssel ohne hinzusehen durch die gespreizten Finger seiner rechten Hand gleiten. Er trägt immer noch die erstaunlich schlichte Kleidung, Jeans und Hemd, vom Nachmittag. Schon beinahe vierundzwanzig Stunden, in denen Sam ihn nicht mehr in obszönen Pyjamas, Unterwäsche mit Lebensmittel-Print oder seinem flauschigen roten Bademantel gesehen hat und allmählich beginnt er fast damit, die Ungezwungenheit hinter diesen Auftritten zu vermissen. Auch will Gabes jetzige nahezu alltagstaugliche Erscheinung nicht recht zu der zerwühlten Bettdecke passen. Sam kann immer noch nicht genau sagen, was es ist, aber da ist noch mehr, was ihn am Anblick des Erzengels stört. Je länger der Eindruck – Gabe in seinem Zimmer – auf ihn wirkt, desto schwieriger lässt sich sein Unbehagen abschütteln.

 

„Was führt dich zu mir, Samantha?“, fragt Gabe, bevor Sam sich dazu entscheiden kann, dem mulmigem Gefühl doch auf den Grund gehen, oder aber auf der Schwelle wieder Kehrt zu machen. Vielleicht liegt es wirklich nur an der Tatsache, wie ungewohnt die Vorstellung eines wahrhaftig schlafenden Engels (minus Jack) für ihn ist.

 

„Hast du mitbekommen, dass Rowena uns verlassen hat?“, will Sam also vorsichtig wissen.

 

Gabes Augenbrauen schießen augenblicklich in die Höhe, kräuseln seine Stirn in Unglauben auf dem Weg über der Nasenwurzel, so als habe er nicht mit Sams Worten gerechnet. Zugegeben, Sam selbst ist ein wenig von dem überrascht, was seinen Mund gerade verlassen hat.

Rowena war nicht der Grund dafür, Gabriel aufzusuchen, und er schlägt sich innerlich die Hand an den Kopf, ausgerechnet jetzt die Hexe zur Sprache zu bringen, da das kürzliche Techtelmechtel doch so offensichtlich für Komplikationen und Unstimmigkeit zwischen den beiden gesorgt hat. Darüber nachzudenken, sorgt außerdem für ein Gefühl wie ein Stein ins Sams Magengrube, der merkwürdig in ihm zu brennen scheint, fast bitter aufstößt. Wenn er sich von Gabes Gegenwart auch nur annähernd so etwas wie Trost versprochen hat, macht er sich gerade nur selbst unnötig das Leben schwer.

 

Klassischer Fall von Eigentor.

 

Am schlimmsten ist, dass Gabe Sams Wehmut zu bemerken und sie nicht gerade zu befürworten scheint, denn seine schmalen Lippen sind plötzlich nur noch eine dünne Linie, weshalb Sam sich so getroffen zu fühlen beginnt, als liege ihm die unausgesprochene Abweisung wie ein weiterer, fast noch schwerer wiegender Stein im Magen.

 

„Stell dir vor, sie hat sich von mir persönlich verabschiedet, Kiddo“, verkündet Gabe schließlich unbekümmert, und sein Tonfall will weder zu seinem skeptisch distanzierten Blick passen, noch zu dem, was Sam seit seinem Eintreten schlicht als bedrückend empfindet. Auch stäubt sich alles in Sam gegen die unweigerliche Vorstellung, wie genau ein Abschied zwischen dem Erzengel und der Hexe ausgesehen haben mag; gleichgültig, wie schlecht sie zuvor auch aufeinander zu sprechen waren.

 

„Rowena hat dir erzählt, was sie bei der Hypnose gefunden hat …?“, fragt Gabriel schließlich, und rettet ihn einerseits davor, sich zu sehr in seiner unerklärlichen kindischen Eifersucht zu verlieren, lenkt das Thema andererseits automatisch mehr in eine Richtung, in die Sam eigentlich genau so wenig gehen will – aber muss.

 

Die gerade noch aufgesetzte Unbekümmertheit hat Gabes Stimme ganz und gar verlassen und plötzlich ist Sam klar, was ihm bisher so merkwürdig vorkam: Es verbirgt sich kein Schalk in den bernsteinfarbenen Augen. Nicht einmal die Andeutung von Witz lauert in Gabriels Mundwinkeln und sein Gesichtsausdruck lässt sich tatsächlich nicht anders als todernst beschreiben. Als todernst und müde – weitaus zu müde für ein Wesen, das keinen Schlaf benötigen sollte.

 

Ist das meine Schuld?

 

Sam würde diesem Blick liebend gern ausweichen. Nachdem Gabriel ihn in die Hölle in seinem Kopf begleitet hat, fällt es ihm nicht leicht, den richtigen Umgangston mit ihm zu finden, was ihm erst jetzt so richtig bewusst wird. Die Sache mit dem Traum hat sich so vertraut angefühlt, dass die plötzliche unerklärliche Distanz, die Gabriel zwischen ihnen aufbaut, nahezu wehtut. Nicht zu vergessen die ganze Angelegenheit mit dem Flügel, dem Gerede von einer Verbindung zwischen ihnen; im Angesicht seines Traumas zwar nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber definitiv einer, der noch im Verdunsten einen gewaltigen Unterschied ausgemacht hat.

 

Vielleicht war ihm das alles zu viel. Wer weiß, was er alles wirklich bei Asmodeus durchgemacht hat. Vielleicht hat ihn irgendwas heute daran erinnert …

 

Vielleicht ist es meine Schuld.

 

Sam versucht, sich nichts weiter anmerken zu lassen, auch wenn es ihm schwer fällt. Er ist immer noch am Ende, hat keine Energie für zwischenmenschliche Spielereien und interaktive Feinheiten übrig. Er nickt also bloß kleinlaut auf die Frage – ja, Rowena hat ihn in ihre Theorie eingeweiht – und sieht mit Schrecken, dass die einfache Geste ausreicht, um Gabriels Ausdruck noch undurchdringlicher werden zu lassen.

 

„Sie sagte zu Crowley, sie hätte alles gesehen“, sagt Sam leise und senkt den Blick jetzt wirklich, um sich nicht länger dem Ausdruck in Gabriels Gesicht stellen zu müssen, den er immer noch als persönliche Zurückweisung empfindet.

 

Gabe hat auch alles gesehen. Vielleicht will er jetzt auch gehen, genau wie Rowena.

 

Der Gedanke überfällt ihn aus dem Hinterhalt und er fühlt sich mit ihm fast so beschämend kindlich, wie mit seinem Wunsch nach dem Traum über den kleinen Prinzen – bloß um eine gehörige Portion hilfloser dabei.

 

Es ist wirklich deine Schuld.

 

Jack mag dafür gesorgt haben, dass er körperlich nicht mehr Leiden als den vertrauten Kopfschmerz, der mit dem anhaltenden Ohrenklingeln einhergeht, zu beklagen hat und auch mag sein Schlaf vor dem Gespräch mit Rowena traumlos gewesen sein, was Sam die Möglichkeit gegeben hat, annähernd so etwas wie Erholung zu finden. Das ändert nichts daran, dass er sich innerlich so zerrissen fühlt, als sei sein gesamtes Nervenkostüm immer noch eine einzige klaffende Wunde, die er nur mit Mühe und Not zusammenhalten kann. Leider scheint er dabei nicht einmal allzu gute Arbeit zu leisten, denn aus heiterem Himmel beginnt Sam sich vorzustellen, wie Gabe die Hypnose-Szenen in seinem Kopf durch seine, Sams, Augen gesehen hat. Als Sams Gedanken das Thema Hölle auch nur annähernd auf dieser Ebene streifen, schießt ihm Säure so schnell nach oben in die Speiseröhre, dass er ein ersticktes Geräusch nicht schnell genug unterdrücken kann, bevor er heftig durch die Nase zu atmen beginnt, um jeden weiteren Würgereiz in Zaum zu halten.

 

Ruckartig und in sichtlicher Alarmierung richtet sich Gabe auf dem Schreibtisch auf, macht Anstalten, sofort zu Sam hinüber zu eilen. Aber Sam hebt die Hand, stolpert röchelnd einen Schritt rückwärts, während er hektisch durch die Nase atmet und versucht, die Contenance zu bewahren – wenigstens zum Schein. Er sieht sich jetzt einfach nicht dazu in der Lage, den Erzengel näher an sich heran zu lassen, so lange er noch nicht durchschaut hat, was es wirklich ist, das auf einmal so unnachgiebig und bedrohlich zwischen ihnen steht. Er fühlt sich zu verletzlich, zu aufgewühlt, um aufgefangen und wieder fallen gelassen zu werden und vor allem kann er den Gedanken nicht ertragen, wieder einmal Opfer zu sein.

 

Es ist schon seltsam: Früher einmal hat der den Begriff ‚Opfer‘ automatisch mit einem Täter assoziiert. Dass Opfer zu sein die unmittelbare Anwesenheit eines aktiv handelnden Täters erfordere. Erst jetzt fällt ihm auf, dass ein Täter weder vor Ort, noch zwingend real sein muss. Um zum Opfer zu werden, reicht es aus, in den Augen eines anderen, eines völlig Unbeteiligten, am Boden zu sein. Und zweifellos sehen sowohl Rowena als auch Gabriel ein Opfer in ihm.

Das Gefühl von Unreinheit, das ihn nun schon so quälend lange begleitet, wird wieder stärker und er kann spüren, wie Gabriel ihn prüfend mustert; kommt sich wieder einmal wie geröntgt durch den Blick eines Engels vor. So viele von ihnen haben für zu lange Zeit auf seiner Widerwärtigkeit beharrt …

 

Weil du es bist. Du bist widerwärtig.

 

Doch Gabriel ist anders. Er scheint Sams unausgesprochene Bitte nach Abstand nicht nur verstanden, sondern auch akzeptiert zu haben. Sie beide tun so, als sei nichts passiert, als wäre Sam nicht kurz davor gewesen, die Fassung und wieder einmal das Bewusstsein zu verlieren, als Sam den Inhalt seiner Frage wiederholt: „Mir hat sie was anderes gesagt. Nur, dass sie genug gesehen hat. Genug, um gehen zu wollen, aber nicht … alles.“

 

„Hat sie nicht“, antwortet Gabe schlicht, bestätigt damit Sams Verdacht.

„Rowena hat nicht alles gesehen. Konnte sie nicht.“

 

Sam fragt nicht, woher Gabriel diese Gewissheit hat. Er räuspert sich einmal, schluckt, um stattdessen um den widerwärtigen Geschmack in seinem Mund herum fragen zu können: „Aber du hast …?“

 

„Alles gesehen? Habe ich.“

 

„Und …?“

 

Gabe seufzt laut auf, unterbricht damit befreienderweise eine Frage, die seine Zunge zu stellen versucht hat, bevor sein Herz auch nur annähernd den Mut oder sein Kopf die richtigen Worte dafür finden konnte.

 

Er wird auch gehen. Er wird dich alleine lassen. So wie Rowena.

 

Wie Dean.

 

Wie Cas.

 

Wie Mom.

 

Wie alle.

 

Du Opfer.

 

„Kiddo“, setzt Gabriel an, schüttelt dann aber kurz den Kopf, als sei er dieses eine Mal nicht ganz zufrieden mit der Wahl seiner Anrede.

 

„Samshi- … Sammich. Ich schäme mich für meine Brüder, für meinesgleichen. Ich wusste immer, dass das, was du erlebt hast, die pure Hölle war – verzeih mir das Wortspiel.“

 

Er macht erneut eine kurze Pause, in der Sam nur das Knistern der Körnchen in Gabriels Hand hören kann, die er wieder durch seine Finger gleiten lässt. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er gesagt, der Erzengel sei mit einem Mal nervös.

 

„Ich kenne die beiden schon mein Leben lang und mein Leben lang habe ich sie geliebt und mein Leben lang wusste ich, wozu sie fähig sind.“

 

Wieder macht er eine Pause, in der Sam die Körnchen näher betrachtet. Sein erster Eindruck scheint richtig gewesen zu sein; es handelt sich tatsächlich um gezuckerte Maiskörner, die Gabe mit bloßen Fingern in der Schüssel rührt, als habe er vor, damit jeden Moment eine Schar Hühner zu füttern.

 

„Besonders Lucifer habe ich geliebt. Bewundert, sogar. Er war mein Vorbild, ein Vertrauter. Er hat mir Dinge beigebracht und ganz offensichtlich hat er seinen Eindruck bei mir hinterlassen.“

 

Es ist nicht leicht, den Namen aus Gabes Mund zu hören, der das Klingeln in seinen Gehörgängen um mindestens eine Oktave erhöht, doch gleichzeitig ist es fast eine Wohltat. Gabe ist nicht wie Rowena, erzittert nicht vor einem Namen. Gabe läuft nicht davon.

 

Gabe ist anders, denkt Sam wieder.

Und der Gedanke gibt ihm Hoffnung.

 

Aber Lucifer ist auch Sams Trauma, nicht das des Erzengels. Und geflohen ist Gabriel in der Vergangenheit sehr wohl, sogar mehr als einmal.

 

Und nicht nur das …

 

Das Schrillen in Sams Ohren schwillt an, bis es erneut fast unerträgliche Ausmaße angenommen hat.

 

Er hat recht mit dem, was er sagt … Seine Tricks und Illusionen – das, was er für Scherze hält … Er ist nicht so sadistisch wie Lucifer, nicht so hasserfüllt oder voller Zerstörungswut. Aber manchmal ist er wirklich … bösartig.

 

Sam widersteht dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten. Ob vor seinen Gedanken oder dem schrecklichen Störgeräusch in seinem Kopf – er weiß, dass es weder gegen das eine, noch gegen das andere etwas ausrichten kann.

 

Er hat dir wehgetan, Sammy“, summt Lucifer plötzlich hinter ihm und Sam fährt zusammen. „Schlimmer, als ich es je getan habe: Er hat dir Deanieweanie weggenommen!“

 

Sam ist sich sehr wohl bewusst, dass Gabe sein Zucken gesehen hat und er ahnt, dass er sich seinen Teil dazu denkt. Der Gedanke, gegen den sich Sam jetzt allerdings mit aller Macht sträuben muss, ist der, dass Lucifer recht hat: Auch Gabriel hat Sam wehgetan – und das ist eine Tatsache, die er bisher meisterhaft verdrängt hat, seit Gabe wieder in seinem Leben aufgetaucht ist. 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich weiß, dass es mit Sicherheit nicht so wirkt, aber ich habe ein Happy End geplant. Falls es irgendjemandem weiterhilft, das an dieser Stelle mal zu lesen …

Bis dahin ist es aber noch ein Stückchen und der Rest des Weges sieht leider auch nicht allzu rosig aus.


Passt auf euch auf.


Bis bald!


Dino Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (14)
[1] [2]
/ 2

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  JoeyB
2019-09-22T18:19:07+00:00 22.09.2019 20:19
Hallo :)

Das ging ja richtig fix mit den neuen Kapiteln. Mir gefällt die Richtung, die die Geschichte jetzt einschlägt, richtig gut. Die Idee, dass Sam nicht verrückt wird, sondern tatsächlich noch etwas von Lucifers Gnade in ihm steckt, birgt eine Menge Storypotential... Ich bin echt gespannt, wie du das ganze weiterentwickelst!

Du schilderst die Charasktere auch wieder sehr gut. Dass Rowena sich zurückzieht (und deshalb offenbar ein sehr schlechtes Gewissen hat) passt einfach total zu ihrer Vergangenheit mit Lucifer und den Momenten, in denen sie auch in der Serie über ihn spricht. Sie weiß genau, dass es falsch ist, Sam in so einer Situation im Stich zu lassen, aber ihre Angst ist einfach größer.
Und es gefällt mir auch richtig, dass Sam sich nicht kampflos ergibt, sondern das Problem auf seine Weise angeht - durch Recherche vergleichbare Situationen und Lösungsansätze finden. Das wird zwar vermutlich nicht viel bringen, aber ich kann mir vorstellen, dass es ihm hilft, beschäftigt zu sein und zumindest das Gefühl zu haben, aktiv etwas gegen Lucifer zu tun.

Irgendwie bin ich gerade ein bisschen enttäuscht von Deans Verhalten. Einerseits Cas gegenüber (obwohl sich das ja langsam zu lösen scheint) und andererseits gegenüber Sam. Natürlich fühlt er sich jetzt hilflos, aber ich finde es trotzdem traurig, dass er nicht zu Sam ins Zimmer geht und einfach mit ihm redet. Sogar Rowena hat sich dazu überwunden, obwohl sie vermutlich am liebsten sofort ihre Sachen gepackt hätte und abgehauen wäre...

Ich bin gespannt, wie es weitergeht :D

LG
Von:  JoeyB
2019-09-17T19:00:02+00:00 17.09.2019 21:00
Hallo :)

Nach dem ersten Teil der Story bin ich irgendwie mit einer falschen Erwartungshaltung an die FF hier rangegangen... so amüsant und locker die Destiel-Geschichte war, so krass und verstörend ist die Fortsetzung. Wow. Ich bin gerade ehrlich beeindruckt und gefesselt - und es ist wirklich schlimm, dass es an der spannendsten Stelle plötzlich aufhört ;___; Ich ringe schon die ganze Zeit mit mir, weil ich eigentlich seit über einer Stunde den Computer hätte ausmachen wollen, ich das Weiterlesen aber nicht auf morgen verschieben konnte.

Dein Schreibstil ist wirklich grandios! Ich finde es vor allem irre, wenn man die beiden Geschichten, die ich jetzt von dir kenne, miteinander vergleicht - wie amüsant-machohaft du aus Deans Perspektive geschrieben hast (bzw. süffisant-spöttisch aus Gabriels Sicht im letzten Kapitel) - und wie ernst dein Schreibstil aus Sams Sicht plötzlich wird. Das passte jeweils extrem gut zum erzählenden Charakter und sorgt dafür, dass ich mich richtig in die Geschichte "hineingeschleudert" gefühlt habe.
Richtig irre waren übrigens die Beschreibungen aus dem Käfig. Gänsehaut.

Obwohl den Tonfall in der FF hier sehr schnell sehr düster geworden ist (ich bin eigentlich ein happy-Leser), gefällt mir die Fortsetzung deutlich besser als der erste Teil (und den fand ich ja schon toll!). Diese Halluzinationen und die Frage, was davon real ist, ist einfach megaspannend. Du beschreibst Sams Gefühle total nachvollziehbar, genau wie seine Interaktionen mit den einzelnen anderen Charakteren. Um ehrlich zu sein, wollte ich einfach nur eine nette Sabriel-FF lesen - und jetzt ist das Pairing für mich ziemlich in den Hintergrund gerückt, weil der Rest der Handlung so spannend ist. Und das ist ein großes Kompliment - dass sich die Verbindung/Beziehung zwischen Sam und Gabriel langsam aufbaut/festigt, passt sehr gut zu der Geschichte. In Sams Lage wäre es absolut schädlich, wenn er und Gabriel plötzlich ein Paar werden würden. Er braucht ihn zur Zeit weniger als Liebhaber als als jemanden, der ihn irgendwie versteht und für ihn da ist. Ich finde, das stellst du sehr gut da und ich hoffe, dass die beiden es auch in den nächsten Kapiteln nicht überstürzen, sondern es bei diesem extrem langsamen Aufbau bleibt.

Und jetzt hoffe ich, dass du schnell weiterpostest :3

LG
Von:  Samael87
2019-09-15T15:24:12+00:00 15.09.2019 17:24
Hallo hallo

Habe deine Geschichte bis jetzt durch gesuchtet und frage mich jetzt - wird sie beendet? Schreibst du weiter? Liegt die Geschichte auf Eis?

Du kannst wirklich beeindruckend gut schreiben und ich hoffe inständig dass es mit Sam und Gabe weitergeht.
Auch ich bin ein riesiger Fan dieses parrings ♡

Also ich hoffe es geht bald / irgendwann weiter und man hört noch von dir


Liebe Grüße aus Berlin

Die SaSa
Antwort von:  Platypusaurus
16.09.2019 18:05
Heya!

Es ist witzig, dass du gerade jetzt zu dieser Geschichte
gefunden hast - ich habe alle bisherigen Kapitel überarbeitet und gestern (bzw. am selben Tag, an dem du diesen Kommentar gepostet hast) auf ff/de die aktualisierte Fassung hochgeladen (hier leider noch nicht, also musstest du dich leider mit der low quality Fassung begnügen - I'm sorry!).

Das nächste Kapitel ist fast beendet - ich hoffe, damit in den nächsten Tagen endlich mal zu Rande zu kommen, denn ich arbeite tatsächlich ungelogen seit März diesen Jahres dran und bisher wollte es einfach nicht so recht. Dafür schreibe ich parallel schon am übernächsten Kapitel und die ganze Story ist in Notizen (und meinem Kopf) fertig ausgearbeitet. Also ja, sie wird beendet, ist noch aktuell und ich hoffe sehr, sie bald zu einem (hoffentlich zufriedenstellenden) Ende bringen zu können!

Ich danke dir herzlich für dein Interesse, für den lieben Kommentar und dein dickes Lob. Hat mich sehr gefreut und mich noch mal darin bestärkt, trotz einiger kreativer Hürden nicht aufzugeben. Hoffentlich bis bald und hoffentlich weiterhin viel Spaß!

Sabriel Fans united! ;)

Lg
Dino
Von:  Natsuno
2019-03-02T09:00:59+00:00 02.03.2019 10:00
Ein tolles Chapitel, ich hab teilweise echt Gänsehaut beim lesen bekommen.
Du schreibst wirklich beeindruckend detailiert und verständlich, das es mich persönlich so mitreißt, hier zu lesen. Danke dafür!

Bin schon gespannt aufs nächste Kapitel ^^
Antwort von:  Platypusaurus
03.03.2019 15:11
Ich habe zu danken; für die Lesetreue, das geduldige Warten und die Kommentare. Vielen Dank!
Von:  Angel_of_Thursday
2019-02-28T11:18:30+00:00 28.02.2019 12:18
Mehr, mehr, mehr!!!
Antwort von:  Platypusaurus
03.03.2019 15:11
War schon unterwegs! ;)
Von:  Natsuno
2019-02-24T17:09:02+00:00 24.02.2019 18:09
Es kam lange nicht mehr vor, das ich so sehnsüchtig auf ein neues Kapitel bei einer FF gewartet habe, aber hier war das genau der Fall und ich wurde nicht Enttäuscht. Ich bin echt schon gespannt, was kommt :D
Antwort von:  Platypusaurus
03.03.2019 15:10
Das ist ein großes Lob! Habe mich sehr darüber gefreut - dankeschön. Hoffe, ich kann diesen Erwartungen auch weiter gerecht werden. :)
Von:  lammaschta
2019-02-14T22:15:49+00:00 14.02.2019 23:15
und direkt beim stalkten die fortsetzung gefunden. hammer!
wer hätte gedacht das meine hoffnung so schnell wahr wird :D
Antwort von:  Platypusaurus
03.03.2019 15:12
Ich hoffe, dass es dir weiterhin gefällt. Schön, dass du auch hierher gefunden hast. :)
Von:  Angel_of_Thursday
2019-02-04T08:44:10+00:00 04.02.2019 09:44
Mal wieder unglaublich gut geschrieben!
Bin sehr gespannt, wie es weiter geht.
Von:  Natsuno
2019-02-03T13:37:34+00:00 03.02.2019 14:37
Wirklich sehr sehr gut geschrieben, ich hab jetzt alle Kapitel bis hier durchweg gelesen, weil ich nicht aufhören konnte.
freu mich schon auf neuen Lesestoff ^.^
Von:  Natsuno
2019-02-03T10:49:23+00:00 03.02.2019 11:49
Ein schöner Anfang, das Kapitel liest sich super und ich bin schon gespannt, was passieren wird ^^


Zurück